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Nicola Bardola

Licht im Bunker

Die Debatte um Gewalt in der Jugendliteratur

Eine Dokumentation



Deutscher Taschenbuch Verlag

Über Nicola Bardola

© Klaudia Schmidt

 

Nicola Bardola, geboren in Zürich, studierte Germanistik, arbeitete als Bibliotheks- und Verlagslektor und ist seit vielen Jahren als Journalist und Autor tätig. Als Literaturkritiker hat er die Debatte von Anfang an mit begleitet.

Impressum

Originalausgabe

© 2015 dtv Verlagsgesellschaft mbH und Co. KG, München

Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen

Umschlaggestaltung: Katharina Netolitzky

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Wir danken den Rechtegebern für die Genehmigung der Zitate.

 

eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-42788-3 (epub)

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website

www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423427883

Vorwort

Gewalt in der Jugendliteratur ist kein neues Thema. Und doch verwirrt es immer wieder aufs Neue viele Leserinnen und Leser, die als Eltern, Erzieher oder Pädagogen darauf stoßen. Auch Verleger, Lektoren, Buchhändler, Bibliothekare und viele weitere Multiplikatoren von Jugendbüchern sind oft ratlos, wohin der offenbar immer weiter gewaltverherrlichende Trend im Jugendbuch geht und was man Jugendlichen zumuten kann.

Diese Dokumentation will Licht ins Dunkel der Jugendliteratur bringen, die Gewalt thematisiert. Anlass ist das fast zeitgleiche Erscheinen zweier ähnlich gearteter Bücher im Frühjahr 2014. Kevin Brooks' »Bunker Diary« (dtv) und Friedrich Anis »Die unterirdische Sonne« (cbt). Diese beiden Bücher stehen im Mittelpunkt der hier beleuchteten Debatte.

Als ich im Oktober 2013 der Fachzeitschrift buchreport (Spezial Kinder und Jugend) ein Interview unter dem Titel »Erfundene Brutalität als Gegengewicht« gab, konnte der Jugendliteraturbetrieb noch nicht ahnen, wie rasch das Thema danach wieder alle Beteiligten beschäftigen würde. Das Gespräch mag als Basis für diese Dokumentation hilfreich sein:

Buchreport: Nimmt die Gewalt im Jugendbuch zu? Wird sie immer expliziter?

NB: Ich habe tatsächlich den Eindruck, dass in letzter Zeit, vielleicht seit der dystopischen Romantrilogie »Die Tribute von Panem« von Suzanne Collins' mehr Bücher erscheinen, die Gewalt darstellen. Dabei nimmt aber auch die Vielfalt zu: Es erscheinen zunehmend Bücher, die sich auf innovative und zum Teil hoch literarische Weise mit dem Thema beschäftigen.

Buchreport: Welche Funktion hat Gewalt im Kinder- und Jugendbuch?

NB: Ich unterscheide zwischen unterschiedlichen Arten und Darstellungsformen von Gewalt, da diese immer im Kontext gesehen werden muss. Auf der einen Seite gibt es die zum Teil explizite Gewalt in Science-Fiction und Fantasy, wo es oft regelrechte Schlachtszenen gibt. Hier dient die Gewalt dem puren Konsumvergnügen. Das ist aber nicht unbedingt etwas Negatives. Natürlich ist – wie auch schon seit je bei Märchen – der positive Effekt umstritten. Ich glaube allerdings, dass Gewalt als Unterhaltungselement ihre Berechtigung hat. Es wäre falsch, natürliche Aggressionen zu leugnen und Gewalt aus Büchern zu eliminieren. Es ist schließlich bekannt, dass auch Kinder und Jugendliche Gewaltfantasien haben und diese kompensieren wollen und müssen. Die Lektüre von entsprechenden Texten kann dann als Ausgleich funktionieren: Erfundene Brutalität dient als Gegengewicht zur wirklichen. Trotzdem ziehe ich bei Weitem Kinder-und Jugendbücher vor, die in der Auseinandersetzung mit dem Thema Gewalt über diese Art der bloßen Darstellung hinausgehen. Dort wird das Motiv Gewalt bewusst eingesetzt und auch die Frage nach Täter und Opfer thematisiert. Dies regt Kinder und Jugendliche zur kritischen Auseinandersetzung an.

Buchreport: Welche Rolle spielen Medien in der Gewaltkompensation?

NB: Eine große Rolle. Audiovisuelle Medien bieten beispielsweise ein enormes Kompensationspotenzial. Im Vergleich zu ihnen ist die Kinder- und Jugendliteratur ein Garten der Unschuld. Bei Videospielen oder auch in Filmen ist dabei oft problematisch, dass der Abstand des künstlerischen Werks zur Realität fehlt. Man muss jedoch auch hier stark differenzieren. Nicht jede Gewaltdarstellung im Fernsehen regt zur Nachahmung an. Im Gegenteil: Wenn sie in einen bestimmten Kontext gesetzt wird, kann gefilterte Gewalt durchaus abschreckend wirken. Diese Diskussion ist im literarischen Bereich aber nicht von so großer Bedeutung: Hier sind Autoren und Leser ohnehin meist auf der sicheren Seite, weil der Leseprozess selbst ja bereits ein guter Filter ist.

Buchreport: Die Gefahr einer Traumatisierung ist also nicht so groß?

NB: Ich glaube nicht, dass jemand durch Kinder- und Jugendliteratur traumatisiert werden kann.

Buchreport: Was ist dann Ihre Sorge bei zu expliziten Buchszenen?

NB: Es kommt immer auf die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Thema an. Wenn bei der realistischen Gewaltdarstellung ein Filter fehlt und der Rezipient aufgrund einer verherrlichenden Darstellung glaubt, Gewalt führe zu tollen Ergebnissen, ist das sehr problematisch. Gewalt darf nicht als legitimes Mittel zum Zweck dargestellt werden. Die deutschen Verlage sind diesbezüglich allerdings meist vorsichtig genug.

Buchreport: Wie stark sollte das Alter der Leser berücksichtigt werden?

NB: Es gibt kein Patentrezept. Im Zweifelsfall empfehle ich, vorsichtig zu sein und das empfohlene Lektürealter lieber um ein oder zwei Jahre anzuheben. Da sollten Verlage nicht kommerziell denken. Meine Erfahrung ist aber auch, dass Kinder selbst merken, wenn sie ein Buch überfordert – und es dann weglegen.

Folgende Fragen ziehen sich wie rote Fäden durch diese Dokumentation:

 

Die Ereignisse in dieser neuen Gewaltdebatte sind hier chronologisch geordnet, damit das häufige Wechselspiel von Provokation und Reaktion, von These und Antithese deutlich wird. Im Verlauf der Debatte wird immer wieder Bezug auf frühere Diskussionen genommen. Deshalb ist dieser Dokumentation ein Kapitel vorangestellt, das einen kurzen historischen Exkurs über die Gewaltdiskussion in der Kinder- und Jugendliteratur enthält. Denn spätestens mit Bruno Bettelheims Deutungen von Gewaltdarstellungen in Märchen wird die nicht nachlassende Brisanz des Themas deutlich. Und selbstverständlich endet diese Debatte nicht hier und heute. Dieses Buch will im Wesentlichen die Entwicklung von 2013 bis heute festhalten.

Nicola Bardola, München im Mai 2015

Kurze historische Betrachtung – Die Gewaltdebatte im Spiegel der Geschichte

Das Thema »Gewalt in der Jugendliteratur – von den Anfängen bis heute« könnte nur in einem eigenen Buch einigermaßen erschöpfend behandelt werden. Daher kann hier nur eine kleine Auswahl der wichtigsten Werke vorgestellt werden.

Wut, Hass und Gewalt von Kindern und Jugendlichen sind wiederkehrende Motive in Kinder- und Jugendbüchern, oft kombiniert mit Amokläufen, Missbrauch, Mobbing oder anderen Themen, die mit Gewalt im Zusammenhang stehen. Da im Verlauf dieser Dokumentation immer wieder auf frühere Gewaltdebatten verwiesen wird, folgt hier eine kurze Zusammenfassung der wichtigsten Etappen.

Eskapismus, Realismus und Nihilismus

Bereits 1954 erscheint William Goldings Roman für Jugendliche »Herr der Fliegen«, der schnell zum internationalen Bestseller wird und heute als moderner Klassiker gilt, auf den sich u.a. auch Friedrich Ani und Kevin Brooks, deren Bücher im Folgenden thematisiert werden, berufen. Seine literarischen Qualitäten werden allerdings nicht überall auf Anhieb erkannt. Im Gegenteil: Zu Beginn regt sich heftiger Widerstand. Es erscheinen Verrisse, Pädagogen warnen vor der Lektüre und zahlreiche Bibliotheken und Buchhändler weigern sich, das Buch anzubieten. Warum?

Oberflächlich betrachtet, handelt es sich um einen Abenteuerroman, der den Strukturen einer Robinsonade folgt: Die Geschichte ist klar und linear erzählt und sorgt für Hochspannung. Zum Schluss kommt es zu einer Art Happy End. Allerdings entwickelt sich im Lauf der Handlung eine Spirale der Gewalt. Diese ruft die Pädagogen auf den Plan.

Der Atomkrieg ist ausgebrochen: Eine Gruppe von sechs- bis zwölfjährigen Jungen wird evakuiert, überlebt einen Flugzeugabsturz und versucht sich auf einer unbewohnten Pazifikinsel zurechtzufinden. Keine störenden Erwachsenen weit und breit. Abenteuer und Freiheit pur. Nach kurzer Zeit bilden sich zwei Lager, einerseits die vernünftigen, die versuchen, rational das Zusammenleben demokratisch zu organisieren und Rettung herbeizurufen, und andererseits die wilden und machtbesessenen, die egoistisch ihre momentanen Interessen durchsetzen wollen. Es entbrennt zwischen den Jungen ein brutaler Kampf. Am Ende bleiben zwei getötete Kinder auf der Insel zurück, die von den anderen ermordet wurden.

Im Verlauf des Romans werden Dinge gezeigt, die manche Erzieher lieber nicht lesen wollen: Es geht um die Brüchigkeit und Verlogenheit der Gesellschaft. Übertragen auf die Welt der Erwachsenen, verlieren hier Demokratie und Gerechtigkeit den Kampf gegen Diktatur und Tyrannei. Am Ende naht Rettung für die Überlebenden in Form eines Marineoffiziers. Aber der ist in Gedanken weniger bei der Tragödie der Kinder, sondern schon beim echten Krieg, dem von Erwachsenen geführten Atomkrieg. Gerettet sind die Kinder also keineswegs. Sie werden zurückgebracht in die sich vermutlich bald selbst vernichtende Zivilisation.

Die Märchendebatte der 70er-Jahre

Während Goldings Werk niemals in einem Kinder- und Jugendbuchverlag erschien, ereilte die Gewaltdebatte in den 70er-Jahren die speziell für Kinder geschriebene Literatur. Eine wichtige Wegmarke nach Golding bildet Astrid Lindgrens 1973 erschienener Roman »Brüder Löwenherz«, der von gefahrvollen Abenteuern in der Welt Nangijalas, von Freiheitskämpfern und Tyrannen erzählt. Der Autorin gelingt erstmals ein später oft kopiertes Verfahren, Realität und Fantasie im Zusammenhang mit schwierigen Themen wie Tod und Gewalt in ständigem Wechselspiel zu halten. Der Sprung des Romanhelden in den Tod, in eine Art Fantasyjenseits, brachte Lindgren einerseits den Vorwurf des Eskapismus ein, wirkte andererseits wie ein Tabubruch, da damit eine intensive Beschäftigung vieler Jugendbuchautoren mit dem Tod einsetzte. Pikant ist Lindgrens Gestaltung der Rahmenhandlung, die bis zuletzt die Lesart ermöglicht, das ganze Abenteuer sei ein Fiebertraum des todkranken Jungen, genannt Krümel, der dank seiner Vorstellungskraft zu Löwenherz wird und anhand der tödlichen Bedrohung existenzielle Fragen nach dem Dasein und nach der Vergänglichkeit stellt. Im Sterben verliert der Held nicht seine Identität, im Gegenteil: Es setzt ein grundlegender Entwicklungsprozess der Selbstfindung ein.

Nicht nur über die »Brüder Löwenherz« wurde Anfang der 70er-Jahre heftig diskutiert – zur selben Zeit forderten »fortschrittliche« Pädagogen in der Folge der 68er-Bewegung, Märchen bei der Kindererziehung zurückhaltend einzusetzen, weil darin zu viel Gewalt vorkomme. Mit Märchen würde bürgerliche Unterdrückung schon früh durchgesetzt, so die These. Diese wurde nicht nur in Fachkreisen heftig diskutiert. Schließlich ist die Palette der Gewalt in Märchen bei genauer Betrachtung erschütternd: Kannibalismus, Sadismus, Sodomie, Vergewaltigung und viele weitere grausame Verbrechen aller Art werden detailreich in Märchen geschildert. Viele Pädagogen betonten daher das Böse als beherrschendes Thema in Märchen und forderten, bei der Erziehung von Kindern auf diese brutalen Geschichten zu verzichten. In diesem Reformklima erschien in deutscher Übersetzung 1977 das Buch »Kinder brauchen Märchen« des Psychoanalytikers Bruno Bettelheim, der sich mit seinen Vorträgen vehement für Märchen einsetzte und sie auch aus verschiedenen Blickwinkeln analysierte. Die Kompetenz Bettelheims, eines Österreichers, der in den Konzentrationslagern Dachau und Buchenwald gefangen war, in die Vereinigten Staaten emigrierte und dort besonders mit seinen Therapieerfolgen bei seelisch gestörten Kindern Berühmtheit erlangte, ist unbestritten. Sein Buch »Kinder brauchen Märchen« wurde ein internationaler Bestseller. Darin vertritt Bettelheim die These, dass Märchen Kindern helfen, »das Chaos in ihrem Unbewussten zu bewältigen«.

Bettelheim geht wie viele seiner Kollegen davon aus, dass Märchen als Träume gedeutet werden können und damit gleichsam Wachträume ganzer Gesellschaften sind. »Nur wenn ein Märchen das bewusste und unbewusste Verlangen vieler Menschen enthielt, wurde es immer wieder erzählt«, betont Bettelheim die Qualität der Märchen, die heute noch von Generation zu Generation überliefert werden. Deshalb werden in Märchen allgemeingültige seelische Vorgänge verhandelt. Dabei nehmen gewalttätige Fantasien viel Raum ein. Die Märchen wirken wie ein Spiegel für die geheimen Ängste der Kinder, die sie selbst oft in ihrer Vorstellung als gewalttätig und zerstörerisch empfinden.

Die Furcht vor dem Schrecklichen steigert sich beim Lesen oder Zuhören enorm, wie in einem Albtraum. Stufe um Stufe, Geschichte um Geschichte machen die Kinder dabei eine Entwicklung von der Unreife zur Reife durch. Und dank des in Märchen immer stattfindenden Happy Ends ist jeder Schluss einer Geschichte das Äquivalent zum Erwachen aus dem Traum – erfrischt und mit einer neuen Sicht auf das Leben und die Welt –, denn die Märchenhexe in den Ofen zu stecken und zu verbrennen wirkt befreiend. Bettelheim folgert, dass Märchen mit all ihren Grausamkeiten sowohl literarisch als auch pädagogisch deutlich empfehlenswerter sind als die oftmals von Erziehern bevorzugten harmlosen, der Erwachsenenmoral angepassten Geschichten, die von Gegenwartsautoren gleichsam als Auftragsarbeiten für verunsicherte Eltern und deren zu schonende Kinder verfasst werden.

Sucht man Gemeinsamkeiten bei den herausragenden Büchern, die Gewalt thematisieren und für Diskussionen sorgen, so fällt immer wieder auf, dass gut erzählte Geschichten auf grundlegende Weise die Möglichkeit bieten, erfahren zu können, wie Gewalt entsteht und was sie aus Menschen macht. Sie zeigen Animalisches und Böses in Kindern und Jugendlichen, die ja gemeinhin für Reinheit, Unbedarftheit und Unschuld stehen, oder zeigen, wie sie auf Animalisches und Böses der Erwachsenen reagieren. Dabei wird der komplexen Realität in der Welt der Erwachsenen entsprochen, zugunsten der Förderung eines kritischen Bewusstseins.

Die komplexe Märchendiskussion in Deutschland Anfang der 1970er-Jahre hatte ihre Entsprechung bei der neueren erzählenden Literatur für Kinder und Jugendliche. Die Erfolge von Michael Ende, Max Kruse, James Krüss oder Otfried Preußler irritierten die in der 1968er-Revolte politisierten Eltern und Pädagogen. Die fabelhaften Welten und sprachlichen Kunstwerke dieser Autoren waren vielen Intellektuellen unter gesellschaftskritischen Gesichtspunkten suspekt. Man sprach von Eskapismus und Verpreußlerung und forderte mehr realistische und problemorientierte Literatur für Kinder und Jugendliche, die nicht lange auf sich warten ließ: Peter Härtling, Mirjam Pressler und viele andere boten Alternativen. In seinem Nachruf auf Otfried Preußler am 20. Februar 2013 in der »Welt« erinnert Wieland Freund mit Witz und Humor an die damalige Debatte: »Wenn die Studenten im Fernsehen ›Ho-Ho-Ho Chi Minh!‹ skandierten, rief die jüngste Preußler-Tochter, angefeuert von den beiden großen Schwestern, ›Ho-Ho-Hotzenplotz!‹.«

Link zum ganzen Artikel: http://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article113782102/Preusslers-Hotzenplotz-war-der-Anti-Ho-Chi-Minh.html

Die Gewaltdebatte im neuen Jahrtausend

Um existenzielle Werte geht es auch in Janne Tellers in Dänemark im Jahr 2000 erschienenen Roman »Nichts. Was im Leben wichtig ist«, der in der fiktiven dänischen Kleinstadt Taering spielt (Deutsch: hanser/dtv). In ihrer Heimat erntete Teller dafür zunächst heftige Kritik, gleichzeitig bekam das Buch aber auch Anerkennung und Preise. Das ließ das Ausland aufhorchen. Es dauerte noch einige Jahre, bis »Nichts« zum internationalen Bestseller wurde. In Deutschland ist »Nichts« bis heute ein großer und viel diskutierter All-Age-Erfolg. Ähnlich wie bei Brooks mutet die Story wie ein Experiment an, wie eine Versuchsanordnung, die gnadenlos bis zum brutalen Ende durchgespielt wird. Es beginnt damit, dass am ersten Schultag nach den Ferien der 14-jährige Pierre Anthon die Schule verlässt. »Nichts bedeutet irgendetwas«, sagte er. »Das weiß ich schon lange. Deshalb lohnt es sich nicht, irgendetwas zu tun. Das habe ich gerade herausgefunden.« Ganz ruhig bückte er sich und packte die Sachen, die er gerade herausgenommen hatte, wieder in seine Tasche. Mit gleichgültiger Miene nickte er uns zum Abschied zu und ging hinaus, ohne die Tür hinter sich zu schließen. Diese scheinbar harmlose rhetorische Zweideutigkeit und Pierres konsequente Verweigerung, weiterhin am Alltagsleben seiner Mitschüler teilzunehmen, führt zunächst zum Widerstand und letztlich zur Sinnkrise, zur existenziellen Katastrophe, an deren Ende Mord steht. Denn der Versuch, Pierre vom Gegenteil zu überzeugen, ihm zu zeigen, was Sinn ergibt, was Bedeutung hat und wo Werte liegen, scheitert. Die Kinder wollen etwas herzeigen und opfern, was für jeden persönlich große Bedeutung hat. Als Dennis die letzten vier seiner Dungeons & Dragons-Bücher abgeliefert hatte, schien der Bedeutungsstein so richtig ins Rollen zu kommen. Denn Dennis wusste, dass Sebastian sehr an seiner Angelrute hing. Und Sebastian wusste, dass Richard seinen schwarzen Fußball vergötterte. Und Richard hatte bemerkt, dass Laura immer ihre afrikanischen Papageienohrringe trug. – Wir hätten aufhören sollen, bevor es so weit gekommen war. Jetzt war es irgendwie zu spät. Im Lauf eines sich steigernden Opferrituals wird ein »Berg aus Bedeutung« angehäuft.

Die Leser müssen sich positionieren. Wie würden sie sich in einer ähnlichen Situation verhalten? Wie würden sie Pierre begegnen? Das mag aufgrund der Brutalität der Geschichte misslingen. Der radikal dargestellte Nihilismus verhindert im direkten Kontext des Romans eindeutige Antworten. Entscheidend ist vielmehr das Nachdenken über »nichts«, das Nachdenken über die eigenen und die Werte der anderen, um kompetent mit solchen Anforderungen umzugehen. Den Romanhelden – mit Ausnahme Pierres – fehlt dieses Vermögen distanzierter Reflexion.

Es sind aber nicht immer Autoren mit ihren Büchern, die Diskussionen anstoßen. Manchmal sind es auch reale Ereignisse (z.B. ein Amoklauf), die dazu führen, dass die Medien und insbesondere die Multiplikatoren der Kinder- und Jugendliteratur Fragen stellen, wie sich das wirkliche Leben mit der Gewalt in den Büchern für Jugendliche spiegelt. Dies ist beispielsweise Thema im Artikel von Barbara Bollwahn im Spiegel vom 21. Juni 2011: so Bollwahn. Sie folgert: 2009