Informationen zum Buch

Eine sensationelle Erstveröffentlichung:

Einer der scharfsichtigsten Chronisten deutscher Geschichte über die »wilden Münchner Tage« 1919

»Eine unentbehrliche Lektüre.« Christopher Clark

Zum ersten Mal gedruckt: Victor Klemperers Schilderung des Chaos nach dem Ersten Weltkrieg und des Scheiterns der Münchner Räterepublik. Solch genaue, anschauliche Momentaufnahmen aus der belagerten Stadt findet man nirgendwo sonst. Ein bewegendes, mit Spannung zu lesendes Gesamtbild von diesem entscheidenden Wendepunkt der deutschen Geschichte – aus der Revolution von 1918/19 ging nicht nur die erste deutsche Demokratie hervor, zugleich kündigte sich in ihr das kommende Unheil an.

Mit einem Vorwort von Christopher Clark und einem historischen Essay von Wolfram Wette

»Klemperer ist vergleichbar mit Heine, der in seinen Artikeln über die Revolution gleich nah und gleich genau und gleich erzählmächtig ist wie Klemperer.« Martin Walser

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Die erste Manuskriptseite aus Klemperers Erinnerungen (1942) an die Revolution von 1918/19.

Victor Klemperer

Man möchte immer weinen und lachen in einem

Revolutionstagebuch
1919

Mit einem Vorwort
von Christopher Clark

und
einem historischen Essay
von Wolfram Wette

Aufbau

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Vorwort. Von Christopher Clark

Hinweis zum Text

Man möchte immer weinen und lachen in einem Revolutionstagebuch

Politik und Bohème
Februar 1919

Revolution

Zwei Münchener Feiern
Februar 1919

Revolution

München nach Eisners Ermordung
22. Februar 1919

Revolution

Die Vorgänge an der Universität München
8. April 1919

Revolution

Die dritte Revolution in Bayern
9. April 1919

Revolutions-Tagebuch

17. April 1919

18. April 1919

Revolution

Revolutions-Tagebuch

19. April 1919

Revolution

Revolutions-Tagebuch

20. April 1919

21. April 1919

22. April 1919

Revolution

Revolutions-Tagebuch

30. April 1919

Revolution

Revolutions-Tagebuch

2. Mai 1919

4. Mai 1919

10. Mai 1919

Revolution

Münchener Tragikomik
17. Januar 1920

Anhang

Die deutsche Revolution von 1918/19
Ein historischer Essay. Von Wolfram Wette

Anmerkungen

Zeittafel. Victor Klemperer

Personenregister

Bildteil

Zu dieser Ausgabe

Bildnachweis

Über Victor Klemperer

Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

Vorwort

Von Christopher Clark

Die Welle politischer Tumulte und Revolutionen, die Deutschland am Ende des Ersten Weltkrieges überrollte, gehört zu den Schlüsselepisoden des 20. Jahrhunderts. Eine durch Krieg und Niederlage gezeichnete Gesellschaft wurde erneut in ihren Grundfesten erschüttert. Die Entstehung einer dem sowjetischen Vorbild verpflichteten kommunistischen Linken einerseits und schwerbewaffneter konterrevolutionärer und rechtsradikaler Verbände andererseits sorgte für eine drastische politische Polarisierung. Die rhetorische Eskalation ging bald in Gewalt über. Freikorpstruppen und Spartakisten lieferten sich erbitterte Gefechte.

Nirgendwo war die Erweiterung des herkömmlichen politischen Spektrums dramatischer spürbar als in München. Am 7. November 1918 wurde der bayerische König als erster deutscher Monarch gestürzt. Die Armee lief zu den Revolutionären über, der König floh ins Exil. Nach der Ermordung des Ministerpräsidenten Kurt Eisner (USPD) am 21. Februar 1919 spitzten sich die Machtkämpfe zwischen linken und gemäßigten Sozialisten zu. Die Regierung des neuen Ministerpräsidenten Johannes Hoffmann (SPD) wurde am 7. April gestürzt und durch eine zunächst von pazifistischen und anarchistischen Intellektuellen geprägte bayerische Räterepublik abgelöst. Nach kaum einer Woche ergriffen jedoch die Kommunisten unter Eugen Leviné die Macht. Das inzwischen ins Exil ausgewichene Kabinett Hoffmann bat die Berliner Regierung um Hilfe. Mitte April rückten Reichswehrtruppen und Freikorpseinheiten gegen die bayerischen Revolutionäre vor. Es folgte die brutale Niederschlagung der Räterepublik, bei der schätzungsweise 2000 – auch vermeintliche – Anhänger ermordet, standrechtlich erschossen oder zu Haftstrafen verurteilt wurden.

Victor Klemperer führt uns durch die Wirren dieser bewegten Münchner Tage mit Empathie, Feinsinn und scharfem Blick. Versammelt in diesem Band sind Zeitberichte für die »Leipziger Neuesten Nachrichten«, von denen nur ein Bruchteil damals veröffentlicht wurde, sowie einschlägige Passagen aus einem späteren Erinnerungswerk, das 1942 abgebrochen werden musste. Dank seiner 1995 im Aufbau Verlag veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen aus der Zeit des Dritten Reiches gehört Klemperer zu den meistgelesenen Augenzeugen des 20. Jahrhunderts. Das scharfe Urteil, der Blick für prägnante Details und die schriftstellerische Begabung jener epischen Zeitchronik finden sich in den Aufzeichnungen des jungen, um seine akademische Zukunft besorgten Münchner Romanisten ebenso wieder.

Hier beschreibt Klemperer das Einrücken der Truppen bei der Zerschlagung der Räterepublik in der bayerischen Hauptstadt Anfang Mai 1919:

… heute bis in den späten Nachmittag hinein, wo ich diese Zeilen schreibe, tobt buchstäblich eine donnernde Schlacht. Ein ganzes Fliegergeschwader kreuzt über München, das Feuer lenkend, selber beschossen, Leuchtkugeln abwerfend; bald ferner, bald näher, aber immerfort krachen Minen und Granaten, daß die Häuser beben, ein Sturzregen aus Maschinengewehren folgt den Einschlägen, Infanteriefeuer knattert dazwischen. Und dabei marschieren, fahren, reiten immer neue Truppen mit Minenwerfern, Geschützen, Fouragewagen, Feldküchen durch die Ludwigstraße, bisweilen mit Musik, und am Siegestor hält eine Sanitätskolonne, und in alle Straßen verteilen sich starke Patrouillen und Abteilungen verschiedener Waffen, und an allen Ecken, wo man gedeckt ist und doch Ausblick hat, drängt sich das Publikum, häufig das Opernglas in der Hand.

Dynamisch wird das Augenmerk von den Fliegern oben auf die Truppenmassen unten gelenkt; der Blick schweift über die Vielfalt von Waffen, Menschen und Fahrzeugen hinweg, um dann bei den Trauben von Zuschauern zu verweilen, die das Ganze als Spektakel durch Operngläser beobachten. Klemperer versteht es, die Theatralik der politischen Ereignisse, das Element der Inszenierung einprägsam zu vermitteln. Ja, er sieht darin sogar ein Wesensmerkmal der Münchner Revolution. »In anderen Revolutionen, in anderen Zeiten, an anderen Orten«, schreibt er Anfang Februar 1919, »tauchen die Führer von der Straße, aus Fabriken, aus Redaktions- und Rechtsanwalts-Schreibstuben auf. In München sind sie vielfach aus der Bohème gekommen.« Unter solchen Umständen erscheint die Politik nicht als Beruf, sondern als Bühne, auf der Träume (und Alpträume) ausgespielt werden. »Ich bin ein Phantast, ein Schwärmer, ein Dichter!«, ruft der Ministerpräsident Kurt Eisner einer großen Versammlung im Hotel Trefler zu. Klemperer stellt zu seinem Erstaunen fest, dass Eisner, den er als »zartes, winziges, gebrechliches, gebeugtes Männchen« wahrnimmt, mit diesen Worten beim Münchner Publikum tobenden Beifall erntet, und schließt daraus, den Münchnern gehe es nicht primär um Politik, sondern um Unterhaltung.

Einmalig an diesem Band ist die Überlagerung zweier Zeitebenen: die Zeitberichte aus München werden durch rückblickende Passagen aus Klemperers Erinnerungen ergänzt. Die Münchner Erlebnisse werden damit in ihren biographischen und historischen Kontext gestellt. Daraus ergibt sich eine beachtliche Vertiefung der Reflexion: was dem jungen Zeitgenossen im Frühjahr 1919 bisweilen lächerlich an der Münchner Revolution vorkommt, erscheint später dem verfolgten Juden im nationalsozialistischen Dresden in einem eher tragischen Licht. In der Rückschau erkennt Klemperer die wachsende Virulenz des im Nachkriegsdeutschland aufkeimenden Antisemitismus. »Ich will nicht übertreiben: es gab in München damals eine ganze Reihe von Dozenten und Studierenden, die diese aufflammende Judenfeindschaft durchaus verwarfen, und persönlich habe ich die ganze Münchener Zeit über niemals unter Antisemitismus zu leiden gehabt, aber bedrückt und isoliert fühlte ich mich doch durch ihn.« Mit diesem Band legt der Aufbau Verlag eine unentbehrliche Lektüre vor.

Christopher Clark

Mai 2015

Hinweis zum Text

1919, als »Antibavaricus« im Dienst

Die zweispaltig gesetzten Zeitberichte verfasste Victor Klemperer unmittelbar im München der Revolutionszeit, zwischen Februar 1919 und Januar 1920, unter dem Pseudonym »A.B.-Mitarbeiter« (= Antibavaricus) für die »Leipziger Neuesten Nachrichten«. Ein Großteil der Berichte wird hier erstmals zugänglich gemacht: Damals konnte nur jeder dritte in dem Blatt veröffentlicht werden – die anderen gelangten in den Revolutionswirren zu spät an ihr Ziel oder erreichten es aufgrund abgeschnittener Postwege nie.

1942, auf die Revolution zurückschauend

Texte in normalem Satzspiegel sind 1942 verfasst und Teil von Klemperers Erinnerungen. Sie sind nicht in das Konvolut »Curriculum vitae. Erinnerungen 1881–1918« (1989) eingegangen, da sie ursprünglich Teil eines größeren Kapitels (»Privatdozent«) sein sollten, das nicht mehr geschrieben werden konnte, nachdem Klemperer die Arbeit 1942 abrupt hatte unterbrechen müssen – zu groß war die Gefahr geworden, dass das Manuskript von der Gestapo entdeckt würde. Es ist bislang unveröffentlicht.

Politik und Bohème

(Von unserem A.B.-Mitarbeiter)

München, im Anfang Februar [1919]

Das Münchner Rätsel. – Die Urbayern Eisner, Mühsam und Levien. – Die politische Bohème. – Das Kommunisten-Gut mit zweierlei Liebe. – Die Wirkung aufs Ausland. – Eisners Zukunftsaussichten.

Es ist jetzt mit der Münchner Politik, wie es mit der Münchner Kunst war; man fragt sich: Wo stecken die Münchner oder die Bayern? In der Kunst stieß man auf ostpreußische, auf württembergische, auf alle möglichen Namen – und es war doch »Münchner« Kunst. Und jetzt in der Politik? Es ist wahrhaftig unnötig, dem Ministerpräsidenten Galiziertum unterzuschieben und an seinem deutschen Namen zu zweifeln. Er ist ja selber geständig, ein »Preiß« zu sein und nun gar ein Berliner. Und seine Hauptgegner auf der linken Seite, die in manchen Kreisen ebenso hohes Ansehen genießen wie Eisner, denn er besitzt Ansehen, auch heute noch, wo die Wahlen doch einigermaßen gegen ihn entschieden haben! –, auch seine radikalen Gegner sind nicht bayerischer als er. Erich Mühsam, der Edelanarchist, dessen Stern im Berliner Café des Westens aufging und in München lange sanften literarischen Glanz ausstrahlte (trotz aller edelanarchistischer Lichter), ehe er sich mit wirklicher blutiger politischer Röte erfüllte, Mühsam, der von Natur immer ein liebevolles, hilfreiches, unkriegerisches Geschöpf war und über dessen revolutionäres Heldentum man auch heute gern lächeln würde, wenn es nicht doch auch verwirrend und gefährdend wirkte, ist ja als Berliner W-Pflanze bekannt genug. D.h., er ist erst dorthin verpflanzt worden. Aufgewachsen ist er als Sohn eines Lübecker Apothekers in der damals noch so stillen Hansestadt.

Eine neuere Erscheinung ist der Doktor Levien – wie aus München gemeldet, ist Dr. Levien dieser Tage verhaftet worden, der hier im A.- und S.-Rat und auf der Spartakusseite die ernstlichste Rolle spielt und der Regierung, die natürlich keine Märtyrer schaffen möchte, mehr als unbequem ist. Um es vorwegzunehmen: der Doktor Levien ist kein russischer Jude, er hat Germanenblut in den Adern, er schüttelt mit mächtiger Gebärde blonde Locken, er blitzt aus blauen Augen, er zerrt mit der Linken am herznächsten Knopf der feldgrauen Uniform, wenn er, mit der hochgereckten oder vorgestoßenen Rechten agierend, sich gegen den Einwurf des Ausländerseins, des Nichtmitredendürfens verwahrt. So wenigstens sah und hörte ich ihn in einer Versammlung, wo er gegen den »reaktionären« Eisner donnerte. Aber freilich, wenn er dann die armen, verketzerten Bolschewisten in den richtigen, nämlich den rosig sanften, menschheitsbeglückenden Farben malte und nun plötzlich dem anderen Einwurf gegenüberstand, woher er denn die russischen Verhältnisse so genau kenne, da donnerte er mit gleicher Überzeugung und gleichem Gebärdenaufwand wie vorhin sein: »Ich habe als Deutscher im Felde gestanden!« diesmal: »Ich bin in Rußland geboren!« Mit dem Bayerntum dieses Volksführers stimmt es also auch nicht ganz. Nein, er ist als Sohn eines Deutschen in Rußland geboren, er hat russische Luft und bald russische Gefängnisluft eingeatmet. Er war blutjung in die russische Revolutionsbewegung geraten, er verband sich im Gefängnis eng mit einer russischen Revolutionärin, er kam später mit ihr nach Zürich; beide studierten und lebten ganz in der eigentümlichen Atmosphäre der russischen Schweiz – es hat immer eine russische, eine englische Schweiz gegeben mitten in den bekannteren deutschen, französischen und italienischen Teilen des Landes. Erst kurz vor dem Kriege fiel es dem Dr. Levien ein, daß er endlich, in letzter Minute, seiner deutschen Militärpflicht genügen müsse, wenn er nicht der deutschen Staatszugehörigkeit verlustig gehen wollte. Ein Freund schilderte ihm München verlockend, er trat bei den »Leibern« hier ein: da brach der Krieg aus. Ein Weilchen stand er wirklich im Felde, erhielt auch eine leichte Wunde; aber dann war er lange Zeit in der Ostetappe und in der Heimat tätig. Es heißt, man habe ihn hierher zurückgeholt, weil er im Osten zu gute Verbindungen zu den Bolschewisten hatte. Und nun ist er radikalster Münchner Volksführer.

Das Münchner Rätsel. Der Bayer ist so stolz auf sein Volkstum, so abweisend gegen alles Fremde, besonders gegen alles Nordische, das er gern unter dem Sammelnamen des »Preußischen« zusammenfaßt. Und nun regieren, jeder in seinem Kreise, die Herren Eisner, Mühsam und Levien! Man hat das Rätsel sehr einfach lösen wollen. Man hat von Eisner gesagt (und auf Levien trifft ja das gleiche verstärkt zu), er herrsche in München, weil er aufs heftigste Berlin befehde. Das spielt ja gewiß auch mit. Eisner hat, mehrfach wenigstens, sich stark auf den bayerischen Partikularismus gestützt; und wenn Levien gegen die Bluthunde Ebert und Scheidemann antobt, zu denen jetzt der Oberbluthund Noske getreten ist, so sind es eben Berliner Mörder und blutgierige Preußen. Aber dennoch: beide Männer sind ja ganz unbayerisch in ihrem Wesen und vor allem auch, was hier von großer Wichtigkeit, in ihrem Dialekt, daß das Antipreußentum allein die Möglichkeit ihrer Führerrollen keineswegs bilden kann.

Nein, es ist mit der Münchner Politik wie mit der Münchner Kunst: man braucht dazu weder geborener Bayer noch geborener Münchner zu sein. Und das ist mehr als ein Vergleich, das ist die gleiche Sache! Hier nämlich liegt die Lösung des Rätsels. In anderen Revolutionen, in anderen Zeiten, an anderen Orten tauchen die Führer von der Straße, aus Fabriken, aus Redaktions- und Rechtsanwalts-Schreibstuben auf. In München sind sie vielfach aus der Bohème gekommen. Man muß nur in Betracht ziehen – und hier liegt eine Aufgabe für den künftigen Kulturhistoriker und Romanschriftsteller –, daß sich der Begriff der Bohème, daß sich ihr Umkreis während des Krieges erweitert hat. Vor 1914 war man als Bohémien Dichter oder Maler oder Journalist oder Musiker. Auch heute ist man dies alles noch, sei es im Haupt-, sei es im Nebenfach. Aber man ist auch Politiker, man ist auch Nationalökonom geworden; einfacher und deutlicher ausgedrückt: man interessiert sich auch sehr für Schleichhandel und Schiebertum, man interessierte sich (meist negativ) für das Verhältnis des einzelnen zum Heer, man richtete sozusagen sein Augenmerk allgemein auch auf die früher als unästhetisch verpönten Dinge über dem Feuilletonstrich der Zeitung. Der Zusammenhang zwischen Bohème und Politik ist hier in München der denkbar engste. Ist nicht Eisner durchaus Bohémien, fühlt er sich nicht als Künstler und Dichter, wie er selber ja immer wieder betont? Von der Bohème aber verlangt das Münchner Volk nicht, daß sie bayrisch sei; vielleicht ist ihm ein richtiges Münchner Blut zu schade für diesen Kreis. Die Münchner Bohème ist eine Fremdenlegion, erhalten zur Belustigung, zur Gaudi des Münchener Bürgers. Und jetzt ist an die Stelle der künstlerischen Belustigung die politische Gaudi getreten 

Das klingt alles sehr komisch und sehr übertrieben. Wer darüber aber ernstlich nachdenkt, wird finden, daß es mit der Übertreibung nicht so viel auf sich hat, daß nur ein zentraler Punkt des hiesigen politischen Wesens einmal ganz für sich, von allem Nebenher entkleidet, nackt und somit, um im gastlichen Ästhetenstil zu sprechen, stilisiert herausgestellt ist. Und was die Komik anlangt, so ist sie sicherlich in überreichem Maß vorhanden. In einem dieser erweiterten Bohèmekreise, von denen der Weg in Eisners Sprechzimmer leicht zu finden ist, erzählte mir neulich ein netter, frischer, blonder Junge: »Wir sind Kommunisten, wir haben bei Augsburg ein Gut gekauft, um es zu bewirtschaften und den Beweis zu erbringen daß sich in neuer Gemeinschaft, friedlich ohne Geld, paradiesisch leben läßt.« Ich fragte, ob man dort eintreten dürfe, indem man einen Teil der Anlagekosten beisteuere, sich gewissermaßen einkaufe wie in ein Stift. Nein, mit Geld sei es nicht zu machen. »Ja, wie haben denn Sie das gemacht?« – »Wir haben’s gepumpt, selber besitzen wir gar nichts, wir sind seit langem gute Freunde, und wer einen Gönner hat, hilft den anderen mit.« – »Sind Landwirte unter Ihnen?« – »Eine Gärtnerin; die übrigen sind Studenten, Kaufleute und was der Bourgeois ›Entgleiste‹ nennt.« – »Also Frauen haben Sie auch in Ihrer Gemeinschaft?« – »Bisher zwei.« – »Wie verhält sich Ihr Kommunismus zur Frau?« – »Die legitime Ehe lehnen wir als bezahlte Prostitution ab. Im übrigen sind zwei Richtungen vorhanden und streiten noch miteinander. Die eine Richtung will freies paarweises Zusammenleben im Sinne der alten freien Ehe. Die andere Richtung will das Sexuelle ganz überwinden, es soll keine wesentliche Rolle mehr spielen.« – »Wie das?« – »Wir leben alle in freundschaftlicher unsexueller Gemeinschaft; erwacht in zweien die Bestie, so füttern sie die Bestie eben, und alles ist wie zuvor. Das ist belanglos, unwesentlich und eben Überwindung des Geschlechtlichen. So denken wir Fortgeschrittenen. Aber, wie gesagt, darüber herrscht noch Meinungsverschiedenheit.« – »Und wie stellen sich die beiden Damen Ihrer Gemeinschaft dazu?« – »Die Gärtnerin gehört der älteren Richtung an, die Studentin der neuen« 

Gewiß, das ist sehr komisch und ist nur ein Beispiel von vielen. Aber es liegt doch bitterster Ernst in diesem Ineinander von Bohème und Politik. Auch hierfür ein Beispiel. Ein italienischer Journalist, Berichterstatter einer großen Zeitung, ist von Innsbruck nach München gereist und geht hier frei herum, um über deutsche Stimmungen und Zustände zu berichten. Deutsch versteht er nicht, aber in diesen Bohèmekreisen versteht hier mancher das Italienische. Und aus diesem Kreis hat der Mann sich einen hilfreichen Führer gewonnen, in diesem Kreis sammelt er seine Eindrücke, die er getreulich nach Turin berichten wird. Ich war dabei, wie ihm ein begeisterter Spartakusmann am Teetisch die deutschen Zustände auseinandersetzte. Wir müssen und werden die Diktatur des Proletariats bekommen. Es handelt sich nur noch um ein bißchen Aufklärungsarbeit. Dann werden all die imbezilen Handwerker, Bauern, Ärzte, Gelehrten, kurz, alle, die sich heute bürgerlich nennen, mit Erstaunen und Entzücken einsehen, daß sie gar nicht Bürgerliche, sondern in Wahrheit selber Proletarier sind, daß sie also teilhaben sollen an der zu Unrecht gefürchteten und verschrienen Diktatur des Proletariats. Bürger, Bourgeois, Kapitalisten haben wir höchstens 100000 in Deutschland. Die haben all das Stimmvieh, das die reaktionäre Nationalversammlung gewählt hat, teils erkauft, teils nur in Dummheit und Unwissenheit erhalten. Nur gegen diese 100000 richtet sich die Diktatur, und wenn etwa noch ein bißchen Blut fließen sollte – – es kommt auf ein paar Tropfen mehr oder weniger nicht an. Wir müssen zum reinen Sozialismus hindurch wie die vorbildlichen, nur von einer Lügenpresse mit Schmutz beworfenen Bolschewisten … All das bei Tee, all das in sehr leidlichem Italienisch, all das ans Ausland gerichtet 

Übrigens dürfte Kurt Eisner es gerade diesem radikaleren Teil der politischen Bohème zu danken haben, wenn er, was sehr viel Möglichkeit für sich hat, auch nach dem Zusammentritt der Landesversammlung am Ruder bleiben sollte, trotzdem dort die Stimmenverhältnisse nicht günstig für ihn liegen. Er ist ja schon einigermaßen nach rechts gerückt, um die Möglichkeit des Weiterregierens nicht a priori zu verscherzen. Er wird auch heiß genug von der spartakistischen Seite her befehdet. Aber er versteht sich doch trotz aller Feindschaft mit diesen Radikalen, denn sie finden sich durch ihre Herkunft, ihren ehemaligen Kreis zusammen, durch ihr Bohèmewesen. Und so ließe sich doch wohl eine Art von Frieden beibehalten, solange Eisner, selbst ein gemäßigter Eisner, regiert. Während zwischen Bürgerlichen jeder Art und den Münchner Bohème-Radikalen keine Stunde Frieden herrschen könnte. Wenn Eisner bleibt, kann er sich bei Levien und Mühsam bedanken. Sie haben ihn durch ihre Opposition näher an das Bürgertum gedrängt. Zugleich fühlt das Bürgertum, daß Eisner schützend zwischen ihm und denen um Levien und Mühsam steht. Die ihn nur befehden, sich aber nicht ernstlich an ihm vergreifen. Dazu fühlen sie sich ihm doch zu verwandt. Feindliche Brüder, aber Brüder in der Bohème.

Revolution

[November 1918]

Ich schlief ungestört bis zum frühen Morgen, wo wir die deutsche Grenze erreichten. Von da an hatte ich den ganzen Tag über wechselnde und vielfältige Gesellschaft. Zivilisten, Soldaten verschiedener Truppenteile, Matrosen. Alle redeten natürlich von der Revolution, und aus allen Erzählungen konnte ich entnehmen, daß es nicht überall so friedlich zugegangen war wie in Leipzig und Wilna; die meisten meinten auch, daß die eigentlichen Unruhen noch vor uns lägen, daß sich die Spartakusgruppe keineswegs kampflos zufrieden geben würde. Zwei Matrosen wollten bestimmt wissen, daß es morgen in Berlin etwas gebe. Ich erzählte von meiner Absicht, dort zu übernachten, teils um meine Angehörigen aufzusuchen, teils um meine Frau nicht aus dem Schlaf zu stöbern. »Fahren Sie lieber durch«, hieß es, »wer weiß, ob Sie morgen noch einen Zug erwischen.« So wechselte ich gleich vom Friedrich- zum Anhalter Bahnhof hinüber, ein alter gesprächiger Dienstmann karrte mein Gepäck zur Tram in der Dorotheenstraße und zeigte mir Häuser, aus denen geschossen worden war. »Ich hatte gerade eine Fuhre, uf eenmal jeht een MG los. Ich in ’n Hausflur, da spritzt et von der andern Seite ooch, und Menschen von der Elektrischen kriechen rein, und et war een Jedrängel. Nachher ham se drei Offiziere und welche von der Jugendwehr rausgeholt und gleich an de Mauer jestellt und in die Spree jeworfen.«

Es war meine selbstverständliche Absicht gewesen, nach kürzestem Aufenthalt von Leipzig aus weiterzufahren und mich bei dem Münchener Regiment zu melden. Auf der lehrreichen Reise lernte ich auch, daß es durchaus nichts Selbstverständliches mehr für einen Soldaten war, sein vorgeschriebenes Fahrtziel anzustreben; war man einmal aus dem Bereich seiner Kompanie oder Batterie entschlüpft, so konnte man sich irgendwohin begeben und sich, falls man keine Ansprüche auf Sold oder Beute stellte, von sich aus als entlassen betrachten – denn welche Behörde würde den einzelnen aus dem allgemeinen Chaos fischen wollen? Nach München gingen wir beide ungern und kamen wir früh genug zum Semesterbeginn; andererseits mochte ich Ordnung in meinen Militärpapieren haben: so wollte ich versuchen, meine Entlassung von Leipzig aus zu betreiben. Ich würde sagen, daß mich wesentliche Familien- und Berufsinteressen für einige Zeit an Leipzig fesselten. Aber es schien erst, als sollte das mißglücken. Auf der Bahnhofskommandantur und dem Generalkommando, die ich nacheinander aufsuchte, fand ich den gleichen Zustand. Feldgraue drängten sich in Knäueln um die Tische einfacher Soldaten mit roten Armbinden. Die Soldaten schrieben unablässig, und zwischendurch, ohne aufzusehen oder den Federhalter hinzulegen, wiesen sie ab und schimpften, schimpften und wiesen ab. Natürlich wurde aus den Knäueln der Umlagernden zurückgeschimpft, es war ein ständiges Spektakel. »Sie tun nichts«, sagte mir ein Abgewiesener, »als Fahrkarten zum Ersatztruppenteil ausschreiben und Heimaturlaub verweigern. Auf dieses Ja und Nein sind sie eingeschworen, und etwas anderes ist aus ihnen nicht herauszubekommen, Sonderfälle gibt es nicht.« Ich ging resigniert. Da kam mir auf der Treppe ein Gefreiter entgegen, ein älterer Mann, dem der Intellektuelle anzusehen war. Irgendein Amt mußte er in der revolutionären Verwaltung haben, denn auch er trug die rote Armbinde. »Kamerad«, sagte ich, »da drinnen ist nichts zu machen, die kennen nur ihr Schema – wissen Sie keinen Rat?« Und ich erzählte ihm kurz, worauf es mir ankam. »Das geht«, antwortete er. »Setzen Sie es schriftlich auf als Gesuch an das bayrische Kriegsministerium, und bringen Sie’s mir am Nachmittag zur Auskunftsstelle am Bahnhof – Gefreiter Hermann.« Dort schrieb er dann unter mein Blatt »Um baldigste Erledigung ersucht der Arbeiter- und Soldatenrat Leipzig«, stempelte Eingabe und Kuvert, stempelte auch meinen Fahrschein und wies mir auf ihm Nahrungsmarken »bis auf weiteres« an.

Nun konnte ich für ein paar Wochen und auf die alte Art und im alten Kreise und doch besser als zuvor leben! Der Krieg hatte ein Ende, ich war wirklich frei für meine Arbeit, und sie hatte ein sicheres Ziel, denn wenn ich auch an meine Münchner Dozentur geringe Zukunftshoffnungen knüpfte, so gehörte sie mir doch wenigstens mit Bestimmtheit und konnte mir nicht abhanden kommen wie das Genter Katheder. Und die Revolution sollte mich nicht stören. Ich wollte arbeiten, nichts als arbeiten, die »Astrée« in Sicherheit bringen, ein großes literarhistorisches Kolleg vorbereiten. Im ganzen führte ich das auch durch, aber wirklich ausschalten ließ sich die Revolution doch nicht, sie war immer da, vom Morgen bis zum Abend. Am Morgen erzählte mir der Friseur, wie viele Gewehre er, das Stück für zehn Mark, von Soldaten gekauft habe, die auf eigene Faust abrüsteten, und wie er die Waffen bequem um den doppelten Preis loswerde. Am Abend ging ich zu einem Vortrag im Neuphilologischen Verein. Becker, noch immer sehr freundschaftlich, hatte mich persönlich eingeladen. Ich trug Uniform, es gab ja keinen Grußzwang und keinen Zapfenstreich mehr, und Zivilkleidung mußte gespart werden. Auf der Treppe kam mir ein Student aufgeregt entgegen, ob ich zum Soldatenrat gehörte, ob ich mich von der Harmlosigkeit der Veranstaltung überzeugen wollte. Vor einer Stunde war der Vortrag verboten, der Zugang zum Seminar militärisch gesperrt, vor zwanzig Minuten erst nach telefonischen Beschwörungen die irrtümliche Maßregel aufgehoben worden. Der Soldatenrat hatte eine gegenrevolutionäre Zusammenkunft gewittert, da in diesen Tagen um die Hissung der roten Fahne auf der Universität gekämpft worden und der Rektor zurückgetreten war. Nachher kommentierte Becker in einem Französisch, das ihm glatter von den Lippen floß als das Deutsche, ganz unpolitisch vor einem kleinen Studenten- und Lehrerhäufchen drei symbolische Gedichte Victor Hugos. Bei dieser Gelegenheit hörte ich übrigens zum erstenmal von den mir ganz unbekannten Dresdner akademischen Verhältnissen erzählen. Becker hatte für seinen Vortrag ein Blatt mit den drei Hugogedichten wie den Liedertext eines Konzertprogramms verteilen lassen. Dieser Druck war ursprünglich für einen Dresdner Ferienkurs hergestellt worden, den der Krieg vereitelt hatte. Dort gab es eine Technische Hochschule mit allerlei literarisch-philosophischen Ambitionen, u.a. mit einem richtigen romanistischen Katheder. Dessen Inhaber, Heiß, war während des Krieges in irgendeine Verwaltung nach Dorpat geschickt und in Dresden von Becker vertreten worden. Solche kleinen Erinnerungen an die Revolution, wie der Gewehrhandel des Friseurs oder die Anrüchigkeit des Neuphilologenvereins, gab es tagein, tagaus, und aus der Zeitungslektüre und den Gesprächen mit Harms und Kopke entnahm ich, wie die Spannungen in Deutschland überall wuchsen und wie man überall und so auch in Leipzig in jedem Augenblick mit dem Ausbruch des Bürgerkrieges rechnen mußte. Aber Harms und Kopke beobachteten die Lage sehr kalt und wie mit reinem Berufsinteresse, und Hans Scherner, der immer unpolitische, war von seinen Schularbeiten zum Abitur gänzlich ausgefüllt, und meine Frau dachte jede Stunde, die ihr noch in Leipzig vergönnt war, leidenschaftlich an ihr Orgelstudium; so drängte denn auch ich alle Emotionen und Ablenkungen zurück und konzentrierte mich um so eifriger auf die Vorbereitung meiner Lehrtätigkeit, als man jetzt von besonderen Kursen für die aus dem Felde heimkehrenden Studenten zu reden begann. Ein einziges Mal ging ich in eine politische Versammlung, ich wollte die Radikalsten kennenlernen. Die Spartakusleute tagten in den Coburger Hallen, einem ziemlich jämmerlichen Lokal am Brühl. Der lange, verräucherte Raum hier war, nach den Bildern an der Wand zu schließen, das Verbandszimmer eines Eisenbahnervereins gewesen; über vielen Gruppenphotographien von Lokomotivführern und Schaffnern hing ein großes Kaisergemälde, Wilhelm mit Kürassierhelm und Haby-Schnurrbart. An zwei langen Tischen saßen dicht gedrängt, rauchend und Bier trinkend, etwa 250 Leute, in der Mehrzahl Männer verschiedenen Alters, hauptsächlich wohl Arbeiter. Die Szene war so vollkommen friedlich, daß es noch immer der Stammtisch der Eisenbahner oder ein Vortrag eines Vereins der Kaninchenzüchter oder Laubengärtner hätte sein können. Und auch der sachliche Ton des Vortragenden paßte zu dieser Annahme, solange man nur auf den Klang der langsam und bedächtig geformten Sätze achtete. Um so stärker wirkte ihr Inhalt auf mich. Der Redner, ein etwa vierzigjähriger massiger Feldgrauer, dem Akzent nach Ostpreuße, bewies seinen stillen Hörern die Notwendigkeit des Bürgerkrieges, so wie der Lehrer in der Schule einen mathematischen Lehrsatz entwickelt. »Wir sind die Armen«, sagte er, »und die Ungebildeten. Die Revolution hat uns gar nichts geholfen, eine bürgerliche Republik ist entstanden, die Regierungssozialisten haben uns verraten, sie sind uns mindestens ebenso feindlich wie die andern Rechtsparteien. Die Presse gehört den Besitzenden und Gebildeten, unter der allgemeinen Preßfreiheit sind allein wir unfrei. Die geplante Nationalversammlung wird eine Mehrheit der Besitzenden und Gebildeten aufweisen, wir werden dort in der Minorität und genauso einflußlos sein wie jetzt in der Presse. Es gibt keine allgemeine Freiheit, die uns helfen kann, wenigstens vorläufig nicht. Wir müssen das Zustandekommen der Nationalversammlung verhindern, wir müssen die Presse ganz in unsere Hand bekommen und allein in unsere Hand, wir müssen die Diktatur des Proletariats errichten und aufrechthalten, bis aller Besitz verstaatlicht und bis die uns vorenthaltene Bildung unser ist. Das ist nur mit Gewalt zu erreichen. Und warum sollten wir nicht Gewalt anwenden? Es ist soviel Blut für die Sache des Kapitalismus geflossen, warum soll nicht auch ein bißchen für die Sache des Proletariats geblutet werden?« Das Publikum nickte, rief bravo, klatschte, alles mit Ernst, mit Überzeugtheit und ohne Überschwang. Ein zweiter Redner, diesmal ein Zivilist, gewiß ein Leipziger Handwerksmeister, begann die Ausführungen des Ostpreußen zu paraphrasieren. Ich dachte: »widerwärtige Zeitvergeudung«, und ging. Nicht die geringste Sympathie verband mich mit diesen Leuten. Ich hoffte, daß es der Regierung gelingen möchte, sie ohne Blutvergießen im Zaum zu halten. Ging es aber nicht ohne Gewalt, nun, dann war die Regierung hoffentlich stark genug, sich zu behaupten und die Wahl der Nationalversammlung durchzusetzen. Das, was der Spartakist als bürgerliche Freiheit verächtlich gemacht hatte, war mir der Inbegriff des politisch Guten, und jedem, auch dem proletarischen Arbeiter, mußte sie gerecht werden, und nur von der Mitte her konnte Freiheit auf ein ganzes Volk ausstrahlen. Vielleicht war die Revolution in einem ungeeigneten Augenblick eingetreten, aber den Grundsätzen der neuen Regierung stimmte ich von ganzem Herzen zu (so wie ich auch heute noch das Weimarer Verfassungswerk liebe). Wenn ich einiges Verständnis für die Gegner der Republik aufbrachte, so geschah das nur der Rechtsopposition gegenüber. Wir mußten so Furchtbares von den Gegnern erdulden; vielleicht wären wir ihnen ohne die Revolution doch nicht ganz so wehrlos ausgeliefert gewesen. Ob man sie ohne den inneren Zusammenbruch nicht doch hätte vermeiden können? »In Aachen (oder in Jülich)«, notierte ich, »hat ein belgischer Kommandant bei Strafe standrechtlichen Erschießens angeordnet, daß deutsche Zivilisten die Offiziere der Besatzung ehren, indem sie den Bürgersteig verlassen und den Hut ziehen. Gewiß, im Sommer hat mir Beyerlein erzählt, daß wir’s in Rumänien geradeso gehalten haben, und heute erzählt mir Kopke: in Polen auch – aber es macht mich doch ganz elend, an diese Demütigung zu denken.« Doch wenn ich ein klein wenig mit der Rechtsopposition sympathisierte, so geschah das in der Annahme, daß von ihr der neuen Staatsform keine Gefahr drohe. Sie würde, dachte ich, den rechten Flügel der Nationalversammlung bilden, aber nicht auf Sprengung der Republik ausgehen. Aber es wurde mir nicht schwer, all diese Gedanken beiseite zu schieben und mich ganz an die vorklassische und klassische französische Literatur hinzugeben: Leipzig lag trotz aller Leitartikel und Versammlungen in tiefem Frieden, und im Merkur mischte sich in das Rascheln der Blätter das Aufklatschen der Skatkarten. Freilich ganz aus der Gegenwart löste mich diese Hingabe nicht los. »Die Grausamkeiten der Franzosen!« heißt ein anderer Tagebucheintrag dieser Tage. »Wie ist es möglich, daß ein und dasselbe Volk so viel grausame Rachsucht und Niedrigkeit an den Tag legen und eine so glorios menschliche Literatur hervorbringen kann?« Womit denn die Fragestellung gegeben war, aus der sich mein literarhistorisches und – das Wort war mir noch unbekannt, und ich weiß auch bis heute nicht, wann und von wem es zuerst gebraucht worden ist – kulturkundliches Programm in den nächsten Jahren entwickeln sollte.

Mitte Dezember fuhr ich – allein und für möglichst wenige Tage – nach München. Vier Punkte standen auf meinem Programm, ein fünfter, nicht vorgesehener erwies sich nachher als der bedeutungsvollste. Bei der Hinfahrt geschah mir das erstmals, was meine hauptsächliche Erinnerung an alle Reisen während der Revolutionszeit bildet: ich fand keine Möglichkeit, durch die ordnungsmäßige Tür und die ganz verstopften Gänge in den überfüllten Zug zu kommen, dafür aber immer irgendwelche Kameraden in Uniform oder Zivil, die mich zum Fenster hereinhoben oder hinausbeförderten. Dies erste Mal, am Abend des 10. Dezember in Leipzig, ging das am schwungvollsten und dem Stil der Revolution angemessensten vor sich, zwei Matrosen holten mich mit lautem »Hiev up!« und einem einzigen Ruck an Bord. Von den vielfach wechselnden Szenen der langen, verspätungsreichen Fahrt prägten sich zwei ein. Ein alter sächsischer Landsturmmann verfocht in kläglichem Ton die Meinung, daß Deutschland das Elend der Revolution um seiner Sünden willen erleide. Ihm widersprach lachend und übermütig ein junger Hamburger, die karikierteste Gestalt eines Revolutionärs, die mir je zu Gesicht gekommen. Die blonde Mähne fiel ihm wild in die verwegen strahlenden blauen Augen, am Hals klaffte eine rote Narbe, die ebensogut in einer heimatlichen Hafenrauferei wie an der Front erworben sein konnte. Um den Arm des Waffenrocks war eine rote Binde gelegt, und an der Brust trug er eine mehr als handbreite Schleife, deren Enden über den Gürtel hinabhingen. Der Junge nannte die Revolution ein Glück und eine Erlösung. Er selber mache jetzt eine Studienreise durch Deutschland, um zu sehen, wo es am tüchtigsten vorwärtsginge. Er rühmte sich, überall kostenlos durchzukommen, es finde sich immer ein Soldatenrat, der ihm Fahrschein, Quartier und Verpflegung zuweise. Die andere Szene, erst auf bayerischer Seite am nächsten Morgen abrollend, schien aus einem Lustspiel aus vornaturalistischer Zeit zu stammen. Ein weißhaariger schwäbischer Onkel hatte zwei Nichten aus dem Pensionat geholt und brachte sie heim. Er wollte die Backfische behüten, aber er mußte doch das in dem Abort verstaute Gepäck bewachen. Die ausgelassenen Mädchen benutzten seine Abwesenheit zur Anfreundung mit lustigen Soldaten, die ihnen Zigaretten schenkten und Feuer gaben. Die Mädchen lachten, rauchten und husteten, die Soldaten neckten, der Alte flehte und schimpfte, verschwand mitten im Wort, weil er für das Gepäck fürchtete, kam gehetzt zurück und bat und schalt weiter. München, das ich am nächsten Mittag mit dreistündiger Verspätung erreichte, bot das überraschendste Bild. Wie oft in dem Tagebuch der letzten Jahre hatte ich Leipzigs strömendes Leben mit Münchens philiströser Verschlafenheit verglichen. Jetzt dagegen! Wenn ich das Recht auf Unlogik hätte, würde ich schreiben, jetzt lagen die Dinge mehr als umgekehrt: in Leipzig herrschte die nüchternste Ruhe, in München drängte sich das Außerordentliche, das bunt und leidenschaftlich Romantische dem ersten Blick auf. Die Stadt trug reichen, vielfarbigen Fahnenschmuck. Das bayrische Blau-Weiß überwog, Schwarz-Gelb, die Münchener Stadtfarben, und das großdeutsche und republikanische Schwarz-Rot-Gold waren beide nicht selten und hielten sich etwa die Waage, revolutionäres Rot flatterte nur vereinzelt, dafür von bedeutenden Punkten wie der Residenz und dem Kriegsministerium. Es wurde mir nicht klar, ob dieser Fahnenreichtum (in dem nur das alte reichsdeutsche Schwarz-Weiß-Rot fehlte) den heimkehrenden Frontregimentern oder noch immer der Freude über den raschen Sieg der Revolution galt. Auf die Truppenheimkehr wiesen zwei tannenumwundene Obelisken mit der Aufschrift »1914–1918« vor der Feldherrnhalle hin, auf die Revolution die vielen Zeitungsstände und Verkäufer von Flugblättern, dazu die Maueranschläge und die Plakate der Litfaßsäulen. Gerade dort, wo früher die Heeresberichte gehangen hatten, klebte jetzt eine Bekanntmachung, die mit dem »unnachsichtlichen Gebrauch der Schußwaffe« gegen jeden Ordnungsstörer »von rechts oder links« drohte, und an den Litfaßsäulen schob sich in Riesenformat zwischen die sonstigen Anzeigen ein Aufruf an die Bevölkerung, des Mangels an Betriebsstoff halber die »wilden Spazierfahrten mit Damen in Heeresautomobilen« zu verhindern. Aber nicht die Fülle der Zeitungen, Flugblätter und Plakate an sich war das Wesentliche, sondern daß all diese Literatur ein lebhaftes Publikum fand. Überall an den Säulen und Mauern und Zeitungsständen oder mitten auf dem Fahrdamm um einen Ausrufer bildeten sich traubenförmige Gruppen, in der Mitte wurde diskutiert, vom Rand her reckten sich Köpfe dem Zentrum zu. In den folgenden Monaten bedeuteten mir diese Menschentrauben ein vertrautes und sicheres Zeichen, sie erinnerten mich dann immer an das Blasenwerfen kochender Milch, das ihrem Überschäumen um ein paar Sekunden vorausgeht; ich wußte beim Auftauchen der runden Häufchen genau, daß wir in spätestens 24 Stunden bestimmt einen Streik der Trambahner, fast sicher Generalstreik und sehr wahrscheinlich ein Feuergefecht zu erwarten hatten. Damals im Dezember war mir die Erscheinung vollkommen neu, auch war sie zu dieser Zeit – das wurde erst durch Eisners Ermordung anders – noch ohne giftige Virulenz. Die Menschen schienen nur auf harmlose Weise angeregt und vergnügt, es war eine Gaudi, ein politischer Fasching. Die Vergnüglichkeit des Publikums fiel mir besonders an den vielen Feldgrauen auf, die sich von ihren sächsischen Kameraden himmelweit unterschieden. Sie trugen die runden Feldmützen verwegen schief auf dem Kopf, sie trugen an Schulter und Brust rote und blaue Zierate, als Schleifen, Bänder und Blümchen, sie trugen Reservistenstöcke mit langen Bändern in allen Farben. (Nur die Zusammenstellung Schwarz-Weiß-Rot war durchaus vermieden, wie denn auch an der Feldmütze die Reichskokarde fehlte und nur die bayrische geblieben war.) Am lustigsten ging es zu, wo eine lange Reihe gemeiner Soldaten am Stand eines Stiefelputzers wartete. Was war der Schniggel mit Stiefelputzen gequält worden! Ich glaube, er fühlte den Sieg der Revolution und die errungene Freiheit am stolzesten, wenn er den Fuß auf den Putztritt setzte und sich bedienen ließ. Es gibt ein wunderhübsches unter Paul Heyses Gedichten aus Italien, Stiefelsonett, darin zeigt er die Grandezza, mit der ein armer Teufel die Schuhe auf offener Straße reinigen läßt. »Wer einen Soldo hat«, so ungefähr lautet der Schluß, »kann sie sich putzen lassen, und wer sie putzen läßt, ist ein Signore.« Ich habe so oft auf die verlogene Italianità der Feldherrnhalle und der Ludwigstraße gescholten, so oft auf die Bierbäuche und Bierherzen der Münchner Kleinbürger. Ich habe ihnen doch wohl ein klein wenig unrecht getan, es lebt doch wohl ein italienisches Moment in ihnen, das jahrelang fettüberpolstert schlummert und plötzlich bald gut, bald böse, bald komisch, bald tragisch in all seiner animalischen Kindlichkeit hervorbricht. Und noch etwas unterschied das Münchner Stadtbild vom Leipziger und verstärkte den karnevalistischen Anstrich. In Leipzig begegnete man an ausländischen Soldaten nur manchmal einem Trupp russischer Gefangener, die armselig und bescheiden und ganz unauffällig einherkamen. In München flanierte gepflegtes französisches Militär. Es waren feine Kerle in feinen Uniformen, Offiziere, Kanzleisergeanten, Burschen irgendwelcher Kommissionen, ihre roten Hosen leuchteten, ihre graublauen Waffenröcke und Mäntel hatten tadellosen Schnitt, die weiche dunkle Sammetkappe des Alpenjägers wirkte gleich kühn und nicht so proletarisch wie die schiefsitzende vertragene Mütze des Schniggels. Diese Leute strahlten deutlich Sieg, aber sie schienen weder rachsüchtig noch auch nur hochmütig, sondern nur vergnügt und mit ihrer Aufnahme zufrieden. Und offenbar hatten sie auch Grund dazu, denn sie ernteten keinen feindseligen und manchen sympathisierenden Blick, und dies nicht nur weiblicherseits. Ich glaube, für die Bayern existierte der Krieg nicht mehr; der Krieg war ja doch eine Angelegenheit des verpreußten Reichs gewesen; das Reich hatte ein Ende, Bayern war wieder es selber, und warum sollte der neugebackene Freistaat nicht mit der französischen Republik Kameradschaft halten? Etwa um der vergangenen Rauferei willen? Eine Rauferei braucht der Kameradschaft keinen Abbruch zu tun.