Entdeckungen

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Die Lewis-&-Clark Expedition

„Gegenstand Ihrer Mission ist die Erforschung des Missouri River und eines ebensolchen Hauptstroms zu ihm; denn dessen Verbindung mit den Wassern des Pazifischen Ozeans könnte die direkteste und praktikabelste Wasserverbindung zu Handelszwecken durch diesen Kontinent bieten.“
Thomas Jefferson

Sie waren die ersten – sie zogen auf Pfaden, die vor ihnen fast noch nie ein weißer Mann betreten hatte. Sie befuhren Flüsse, die noch namenlos, klar und unverdorben waren. Sie durchquerten Prärien und Berge, die allein von Indianern beherrscht wurden. Sie öffneten das Tor für die großen Trecks nach Westen. Mit ihnen begann der Traum von einem neuen Land. Sie waren die Pfadfinder: Meriwether Lewis und William Clerk wiesen Amerika den Weg.

*

Am Anfang stand Thomas Jefferson, der 3. Präsident der Vereinigten Staaten. Einer der gebildetsten amerikanischen Politiker seiner Zeit, ein Mann mit einer Vision. Die Vereinigten Staaten sollten sich nach Westen ausdehnen, wenn möglich bis zum Pacific. Sollte dies nicht gelingen, sah Jefferson den Bestand des jungen Staatenbundes in Gefahr – und damit hatte er recht.

Als er ins Amt kam, waren seit Gründung der USA ganze 25 Jahre vergangen. England hatte sich nicht mit der Unabhängigkeit seiner ehemaligen Kolonien abgefunden. Frankreich verfügte mit dem Lousiana-Territorium über einen enormen Landanspruch vor der Haustür der Vereinigten Staaten, und im Südwesten beharrte Spanien auf seinen Kolonien.

Das Staatsgebiet der USA war nur schwach besiedelt. Im Jahr 1800 lebten etwa 5 Millionen Menschen in den Vereinigten Staaten, von denen sich die meisten auf einen Landstreifen von etwa 50 Meilen Breite am Atlantik verteilten. Alles, was weiter westlich war, war Wildnis, leeres Hinterland, das für die Stabilität des Staates kaum eine Bedeutung hatte.

Die Staaten im Süden, die ihre landwirtschaftlichen Erzeugnisse über den Mississippi nach New Orleans transportieren mussten, um sie nach Europa auszuführen, überlegten im Jahr 1800 bereits, sich wieder aus den USA zu lösen und sich Frankreich anzuschließen, um die ständigen bürokratischen Probleme mit den französischen Behörden in der Hafenstadt zu umgehen..

Im Interesse des Zusammenhalts der Vereinigten Staaten beabsichtigte der Präsident, Frankreich das Angebot zu machen, New Orleans zu kaufen. Zugleich wollte er – diesen Plan hatte er bereits seit seiner Zeit als Außenminister entwickelt – eine Expedition nach Westen schicken, um mögliche Handelswege zum Pacific zu erkunden, um die Verbindung in den asiatischen Raum abzukürzen, und um Kontakte mit den Indianervölkern des Westens aufzunehmen, um sie als Partner zu gewinnen, da die meisten dieser Stämme enge Beziehungen mit England und Frankreich pflegten.

Thomas Jefferson

Präsident Thomas Jefferson, Gelehrter, Staatsmann, Visionär.

Bei Jeffersons Amtsantritt wäre die öffentliche Verfolgung dieses Vorhabens ein glatter Bruch des Völkerrechts gewesen, da die Gebiete, durch die die Expedition ziehen sollte, sich formal im Besitz anderer Staaten befanden. Für den Präsidenten stand allerdings die Ausführung außer Frage, weshalb er gleich nach seiner Vereidigung den Miliz-Captain Meriwether Lewis zum persönlichen Sekretär ernannte – eine Entscheidung, die in Washington Erstaunen auslöste, da Lewis dafür bekannt war, dass er nicht unbedingt ein Meister der englischen Schriftsprache war. Aber Jefferson kannte ihn als fähigen, entschlossenen Offizier mit vielen Talenten und hatte ihn als Kopf der geplanten Expedition vorgesehen.

Als er erstmals mit seinem Plan vor das amerikanische Parlament trat, verlangte er von den Abgeordneten die Mittel für ein „Korps der Entdeckung“, das aus „einem intelligenten Offizier und zehn oder zwölf ausgewählten Männern“ bestehen sollte. Die Kosten veranschlagte er auf bescheidene 2.500 Dollar – wohl wissend, dass diese Summe und das Personal für dieses ehrgeizige Unternehmen nicht reichen würden. Aber Jefferson kannte seine Abgeordneten, überwiegend provinzielle Kleingeister, die kaum über den Tellerrand ihrer Wahlbezirke hinausdachten und denen seine Vision von einem Staat, der den Kontinent beherrschte und in der Welt eine führende Rolle spielen sollte, fremd war.

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Meriwether Lewis.

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William Clark.

Tatsächlich sollten sich die Kosten der Expedition schließlich über 40.000 Dollar belaufen – eine in jenen Tagen horrende Summe, deren Kaufkraft – im Vergleich mit dem Dollar im 21. Jahrhundert – etwa das Fünfzigfache betrug. Ferner teilte er dem Parlament nicht mit, dass die Vorbereitungen für das Unternehmen schon im Gang waren.

Dabei wurde Jefferson von den politischen Entwicklungen in Frankreich begünstigt. Als seine Emissäre in Paris bei Napoleon Bonaparte vorsprachen, um die New Orleans zu kaufen, berührten sie eine offene Wunde. Napoleon wollte in der Tat nicht nur die Hafenstadt loswerden, sondern die gesamte Kolonie Louisiana.

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Die Landkarte zeigt, welche Ausmaße Jeffersons Erwerb von Louisiana hatte.

Er hatte dieses Territorium erst im Jahr 1800 von Spanien gekauft und dabei die Bedingung akzeptiert, dieses riesige Gebiet von über 800.000 Quadratmeilen zwischen dem Mississippi und den Rocky Mountains keinesfalls den Amerikanern zu überlassen. Spanien wünschte sich diese Region als „Puffer“ zwischen den eigenen Kolonien und den Vereinigten Staaten.

Für Napoleon stellte sich Louisiana jedoch als Bürde heraus. Die Ansiedlung von unerwünschten Elementen aus Frankreich brachte nicht die erhofften Erfolge. Tropische Krankheiten grassierten unter den hier stationierten Soldaten. Sklavenaufstände in Louisiana und in der Karibik zwangen den französischen Kaiser, ständig Geld in die marode Provinz zu pumpen, Geld, das er in Europa für die Bekämpfung seines Erzrivalen England einsetzen wollte.

Als die Amerikaner wegen New Orleans anklopften, brach Napoleon somit kurzerhand seinen Vertrag mit Spanien und verkaufte 1803 den USA das ganze Louisiana-Territorium für 15 Millionen Dollar.

Mit diesem politischen Paukenschlag, der in den USA keineswegs nur Begeisterung auslöste, vergrößerte Jefferson die Landansprüche der Vereinigten Staaten um mehr als das Doppelte.

Kielboot

Ein Kielboot, wie Lewis und Clark es benutzten.

Skizze

Skizze eines Expeditionsteilnehmers von dem ersten Treffen mit Indianern bei Council Bluffs.

Statuen

Mit einer lebensgroßen Statuengruppe wird des Treffens heute gedacht.

Von diesem Moment an musste die Expedition nicht mehr als Geheimnis behandelt werden. Jefferson bestimmte jetzt in aller Offenheit seinen Sekretär, Meriwether Lewis, zum Führer des Korps. Er hatte den 29jährigen inzwischen bereits in Schnellkursen in mehreren wissenschaftlichen Disziplinen unterweisen lassen: Geografie, Geologie, Naturgeschichte, Astronomie, Landvermessung, Medizin und Navigation. Der Präsident schrieb selbst die Anweisungen für das „Korps der Entdeckung“ nieder. Hier hieß es:

„Gegenstand Ihrer Mission ist die Erforschung des Missouri River und eines ebensolchen Hauptstroms zu ihm; denn dessen Verbindung mit den Wassern des Pazifischen Ozeans könnte die direkteste und praktikabelste Wasserverbindung zu Handelszwecken durch diesen Kontinent bieten.“

Die Reise, auf die die kleine Mannschaft geschickt werden sollte, war unter damaligen Verhältnissen nur mit dem ersten Flug zum Mond zu vergleichen. Sie führte in ein Land, von dem allenfalls fragmentarische Beschreibungen existierten, dessen genaue Ausdehnung niemand kannte. Es war eine Reise, deren Ausgang völlig ungewiss war.

Die Expedition erhielt Waffen aus dem Armeedepot Harpers Ferry. Zur Ausstattung gehörte auch indianische Handelsware: 21 Ballen Perlen, Tabak, Stoffbänder, Angelhaken (Hillman, 1971). Als Lebensmittel wurden Mehl, gepökeltes Schweinefleisch, 100 Gallonen Whiskey, Salz und Mais mitgeführt.

Weiter wurden wissenschaftliche Instrumente eingepackt: Sextant, Thermometer, Teleskop und Quadrant. Gleichfalls wurden medizinische Texte und Instrumente benötigt, um für Krankheit und Verwundung vorzusorgen. Und dann gehörten viele Notizbücher in die Ausrüstung. Niemand ahnte, dass sie einst Aufzeichnungen enthalten sollten, die die ganze Nation verändern und bis zum heutigen Tag maßgebliche Quellen für die Geschichte der USA sein würden.

Die Wahl des Stellvertreters von Meriwether Lewis fiel auf den ehemaligen Infanterieoffizier Lieutenant William Clark.

Fort Mandan

Fort Mandan im heutigen North Dakota.

Earthlodges

Blick in ein Mandan-Dorf mit mächtigen Earthlodges.

Obwohl die Kommandostruktur offiziell Lewis als Captain und Clark als Lieutenant vorsah, galt während der gesamten Expedition die stillschweigende Übereinkunft, dass beide als gleichberechtigte Führer des Unternehmens fungierten. Nie kam es darüber zu Auseinandersetzungen, nie zu Rivalitäten. Die Wahl Jeffersons erwies sich als Glücksfall der Geschichte. Lewis und Clark ergänzten einander in geradezu idealer Weise – Lewis, der manchmal introvertierte, zu Depressionen neigende, eher intellektuell veranlagte Führer und Clark der Praktiker, Pragmatiker, sachliche und zupackende Offizier.

Zur Mannschaft gehörten, entgegen den Vorschlägen, die Jefferson dem Parlament gemacht hatte, 43 Mann. Es waren alles Freiwillige, ehemalige Milizsoldaten, raue „Grenzer“, die als Pelzhändler und Jäger Erfahrungen in der Wildnis gesammelt hatten und die Indianer kannten; so etwa die Brüder Reuben und Joseph Field aus den Wäldern Kentuckys, John Colter oder der Waldläufer George Drouillard (halb Franzose, halb Shawnee), sowie franco-kanadische Flussschiffer und auch Soldaten der regulären Armee.

William Clark brachte seinen schwarzen Sklaven York mit, der sich auf der Reise, vor allem bei Begegnungen mit Indianern, als äußerst nützlich erweisen sollte und sich mit diesem Unternehmen seine Freiheit verdiente.

Der Mannschaft standen drei Schiffe zur Verfügung, ein ca. 20 m langes Kielboot, das in Pittsburgh (Pennsylvania) nach den Wünschen von Meriwether Lewis gebaut worden war und das gestakt, gerudert und gesegelt werden konnte, sowie zwei große Kähne.

Das Basislager der Expedition wurde am Wood River eingerichtet, eine knappe halbe Stunde unterhalb der Mündung des Missouri in den Mississippi.

Am 14. Mai 1804 schiffte sich der größte Teil der Expedition bei strömendem Regen unter dem Kommando von William Clark auf dem Missouri ein, erreichte bei strahlendem Sonnenschein am 16. Mai die ehemalige französische Siedlung St. Charles und erwartete hier Meriwether Lewis, der am 21. Mai zu der Truppe stieß.

Bei wechselhaftem Wetter fuhr die Expedition den Missouri aufwärts. Mit jeder Meile drang sie tiefer in die Wildnis vor.

Vor ihnen lag unbekanntes Land. Vereinzelt waren französische, britische und spanische Trapper bis zu den Mandan am Oberen Missouri vorgedrungen, aber niemand kannte die Entfernung von hier bis zum Columbia River, niemand war je bis zu dessen Mündung gezogen.

Am 25. Mai passierten die Schiffe St. John, die letzte weiße Siedlung am Missouri. Das Abenteuer hatte begonnen.

Die ersten Berichte, die die Seiten der mitgeführten Notizbücher füllten, enthalten vorwiegend Jagderlebnisse und die Schilderungen einer grandiosen Natur. Mitte Juni begegneten ihnen französische Pelzhändler, die von den Pawnee-Dörfern herunterzogen, und am 4. Juli wurde ein Mann der Expedition von einer offenbar ungiftigen Schlange gebissen.

Im Juli kam es bei Council Bluffs in Iowa zu einer Konferenz mit Omaha-, Missouri und Oto-Indianern, denen die Grüße des „Großen Weißen Vaters“ in Gestalt von Medaillen mit Thomas Jeffersons Konterfei überreicht wurden. Clark notierte:

„Sie schienen ernstlich zu wünschen, mit der ganzen Welt in Frieden leben zu können.“

Erste Begegnungen mit Tierarten, die im Osten der Vereinigten Staaten unbekannt waren, fanden ihren Niederschlag in den Notizen der beiden Captains. Eifrig wurden Pflanzenproben gesammelt, Skizzen angefertigt, kartografiert. Der Wild- und Fischreichtum des Landes, das sie durchzogen, überwältigte die Männer. Am 15. August fing Lewis mit 12 Begleitern binnen weniger Stunden über 700 Fische im Omaha Creek, darunter mehr als 160 große Hechte. Lewis notierte sein „Vergnügen beim Anblick ungeheurer Herden von Büffeln, Rotwild, Elchen und Antilopen.“

Earthlodges

Ein Dugout-Kanu, wie die Expedition es benutzte. Mehrere Männer konnten so einen Einbaum innerhalb 5 Tagen bauen.

Am 20. August 1804 (Montag) starb Sergeant Floyd vermutlich an einem Blinddarmdurchbruch. Gemessen an den medizinischen Kenntnissen und Versorgungen jener Tage, wäre er vermutlich auch in einem Hospital in Boston oder New York gestorben, so dass sein Tod nicht unbedingt etwas mit der Tatsache zu tun hatte, dass er sich in der Wildnis aufhielt. Er sollte erstaunlicherweise der einzige Tote der Expedition bleiben.

Kurz danach versuchte ein Mann, Moses Reed, zu desertieren. Mit eiserner Hand sorgten die Captains für Disziplin. Reed wurde aus einem Oto-Lager zurückgeholt und musste Spießrutenlaufen.

Der Soldat John Newman wurde, nachdem die Expedition über 400 Meilen zurückgelegt hatte, wegen grober Pflichtverletzung mit 75 Peitschenhieben bestraft und nach St. Louis zurückgeschickt.

Indianer, die Zeuge der Auspeitschung wurden, waren entsetzt. Sie äußerten Lewis und Clark gegenüber, dass bei ihnen niemand geschlagen wurde, nicht einmal Kinder. Aber die Sicherheit und das Überleben der gesamten Gruppe hingen von der Zuverlässigkeit jedes Einzelnen ab; es konnte keine Kompromisse geben.

Missouri

Der Missouri.

Ende September erreichte die Gruppe das Gebiet der Teton Sioux, wo sich die einzig wirkliche bedrohliche Situation auf dem Weg zum Pacific abspielte:

„An der Mündung des Teton River in South Dakota traf das Korps mit einer Gruppe Teton Sioux zusammen. In dem Bemühen um Diplomatie, luden Lewis und Clark den Häuptling an Bord ihres Kielbootes ein. Die Indianer zeigten jedoch wenig Neigung, sich freundlich zu verhalten, so dass Clark ihn schließlich mit seinen Männer zum Ufer zurückrudern ließ.“
(Bil Gilbert, 1973)

Hier kam es zu einer verbalen und körperlichen Auseinandersetzung. Am Ende hatten die Indianer ihre Bogen schussbereit, und über die Reling der Boote schoben sich die Gewehrläufe. Clark blieb aufrecht, nur mit dem Säbel in der Faust, in der Schusslinie stehen, schickte seine Ruderer zurück, um Verstärkung an Land zu holen und begegnete der Bedrohung mit eisiger Ruhe. Sein Auftritt war beeindruckend, und die Indianer senkten die Bogen und zogen sich zurück.

Yellowstone

Der Yellowstone.

Ungleich erfreulicher verlief die Begegnung mit den Arikara, bei denen sich vor allem die Frauen den Männern des Expeditionskorps als äußerst entgegenkommend zeigten. Die Männer wohnten indianischen Tänzen und Zeremonien bei, und ihr Erscheinen löste entlang des ganzen Flusses Interesse aus: In allen Indianerdörfern, wo die Boote landeten, fanden große Empfänge statt.

Ende Oktober erreichten die Reisenden am Oberen Missouri die Dörfer der Mandan, eine der Schlüsselstationen ihre Reise. Die Mandan gehörte, obwohl sie in den 1780er Jahren von einer Pockenepidemie bereits stark reduziert worden waren, zu den einflussreichsten und bedeutendsten Völkern der Region.

Pillar

Pompey‘s Pillar. Lagerplatz der Expedition.

Lewis und Clark entschieden, hier zu überwintern. Die Mannschaft errichtete mehrere befestigte, mit Palisaden versehene Hütten. Die Anlage erhielt den Namen „Fort Mandan“. Von hier aus wurden in den Wintermonaten enge Beziehungen zu den Indianer-Dörfern geknüpft. Es wurden Geschenke ausgetauscht, Lebensmittel und Pelze erhandelt. Die Männer beobachteten das tägliche Leben der Mandan, ihre Rituale und Feste. Eine Begegnung wurde entscheidend:

„Während des Winters fragte ein Mann namens Charbonneau, der bei den Indianern lebte, nach einer Anstellung als Dolmetscher der Expedition. Er beherrschte einige Indianersprachen und Französisch – kein Englisch. Aber ein Soldat namens LaBiche konnte Französisch ins Englische übersetzen. Er hatte zwei indianische Frauen. Eine, etwa 16 Jahre alt, war eine Shoshone (Snake), die einige Jahre zuvor von den Minitaris gefangen worden und dann an Charbonneau verkauft oder verspielt worden war. Ihr Name war Sacajawea.“
(Dan Murphy, 1994)

Während sich Toussaint Charbonneau nur als wenig nützlich erwies, sollte die junge Sacajawea – ihr Name bedeutete „Vogelfrau“ – der Expedition gute Dienste erweisen. Im Februar brachte sie ihren ersten Sohn zur Welt, wobei Lewis und ein fremder Pelzhändler Geburtshilfe leisteten. Der kleine Jean Baptiste wurde zum Liebling der Expeditionsteilnehmer, die ihm den Beinamen „Little Pomp“ gaben.

Das Winterlager wurde im April 1805 abgebrochen. Die Pirogge wurde nach St. Louis zurückgeschickt; es sollte auf lange Zeit das letzte Lebenszeichen der Entdecker sein, das den Osten erreichte. Mit zwei Booten und sechs Einbäumen, die im Winter gebaut worden waren, wurde der Weg den Missouri aufwärts fortgesetzt.

Unterschrift W. Clark

William Clarks Unterschrift im Fels.

Im Juni erreichten die Entdecker die mächtigen Great Falls im heutigen US-Staat Montana. Die Männer benötigten 25 erschöpfende Tage, die tosenden Wasserfälle und gefährlichen Stromschnellen zu umgehen; die gesamte Ausrüstung, einschließlich der Boote, musste über Land transportiert werden. Doch die größte Herausforderung erwartete sie noch: Vor ihnen zeichneten sich die schroffen Umrisse der Rocky Mountains ab, die ihnen den Weg zum Pacific versperrten.

Die Truppe teilte sich zeitweise. Meriwether Lewis zog mit einigen Männern zu Fuß voraus, um nach einer Verbindung zum Columbia River zu suchen. Währenddessen wurden die Seitenarme des Missouri, denen die Kanus inzwischen folgten, immer seichter; die Kanus mussten immer häufiger gezogen werden.

Als aus einer flachen Prärielandschaft unvermittelt ein massiger, rundlich geformter Felsbrocken emporragte, erinnerte sich Sacajawea, als Kind in dieser Gegend gewesen zu sein. Ihr Volk, die Shoshonen, hatten den Felsen als „Biberkopf“ bezeichnet. Die Entdecker übernahmen diesen Namen in ihre Tagebücher und standen wenig später einer Indianergruppe gegenüber, die sich als Shoshonen zu erkennen gab. Der Häuptling Camehawait war niemand anderes als Sacajaweas Bruder.

Beaverhead

Beaverhead Mountain. Hier traf die Expedition auf Shoshone-Indianer.

Spätere Chronisten haben in diese Tatsache viel hineinspekuliert. Tatsächlich waren die Bindungen von Sacajawea allenfalls locker, denn sie war schließlich als Kind entführt und jahrelang von ihrem Volk fort gewesen, aber sie beherrschte die Sprache, und die familiären Bindungen blieben nicht ohne Folgen. Überhaupt hatte Sacajawea sich in den zurückliegenden Wochen als sehr kundig bei der Bestimmung von Pflanzen und Tieren und zudem als mutig und unerschrocken erwiesen.

clatsop

Fort Clatsop. Winterquartier am Pacific.

Als eines der Boote in den Stromschnellen des Missouri kenterte und umschlug, warf sie sich beherzt ins tosende Wasser und half, lebenswichtige Ausrüstungsgegenstände, Aufzeichnungen und wissenschaftliche Proben zu bergen, während ihr Ehemann hysterisch schreiend am Ufer auf und ab lief. Lewis bescheinigte ihr „Entschlossenheit und Furchtlosigkeit.“

Sacajaweas Persönlichkeit ist ein interessantes Puzzle, das man aus den Tagebüchern der Expedition zusammensetzen kann. Um ihre Person hat sich eine glänzende romantische Legende gerankt, weit entfernt von den Aussagen der eher nüchternen Berichte. Sie wurde zu einer Schönheit, die die Herzen der sie umgebenden Männer rührte. Sogar eine Romanze mit William Clark wurde ihr angedichtet. Mehr noch: Manche frühen Autoren schrieben ihr die makellose Führung der gesamten Expedition durch die unwegsamen Bergregionen zu. Das ist natürlich alles Unsinn.

Unterkünfte

Die Unterkünfte waren sehr schlicht.

An den kritischen Punkten – dem Marias River mit seinen drei Armen – trafen die Captains ihre Entscheidungen aufgrund von Informationen, die sie im Winter in Fort Mandan gesammelt hatten, und nach ihren eigenen geografischen Erkenntnissen, ohne Sacajawea zu konsultieren. Bezüglich ihrer Erscheinung gibt es in den Tagebüchern überhaupt keinen Hinweis, und als die Expedition das Gebiet erreichte, aus der sie verschleppt worden war, schrieb Lewis:

„Ich kann nicht bemerken, dass sie irgendeine Gefühlsregung der Sorge in Erinnerung an dieses Ereignis zeigt, oder der Freude, wieder in ihrem Geburtsland zu sein. Wenn sie genug zu essen und etwas billigen Schmuck hat, würde sie, denke ich, überall völlig zufrieden sein.“ Und bezüglich der Führung der Expedition durch die Berge muss man ihr Alter berücksichtigen: Jetzt etwa 17, war sie kaum 12 als sie aus dieser Region von den Minitaris verschleppt worden war … Die Legende war ein Mythos.“
(D. Murphy, 1994)

So sachlich die historische Wissenschaft Sacajaweas verklärte Rolle heute auch bewertet – es steht außer Zweifel, dass die junge Frau ein akzeptiertes, sogar respektiertes Mitglied der Expedition, eine vorzügliche Dolmetscherin und kenntnisreiche Informantin für die wissenschaftlichen Aufzeichnungen der Forscher war.

Blackfoot

Kampf mit den Blackfoot. Skizze eines Teilnehmers.

Nicht umsonst nahm William Clark „Little Pomp“ als Halbwüchsigen mit nach St. Louis, schickte ihn mit dem Herzog zu Württemberg nach Europa und ließ ihm eine gute Ausbildung zukommen. In der Nähe von Billngs (Montana) erinnert eine Felssäule an den Jungen, die von Clark „Pompey’s Pillar“ getauft wurde und die die einzige physische Hinterlassenschaft von einem Lager der Expedition, nämlich William Clarks Unterschrift im Felsen, trägt. (Little Pomp zog später allerdings als Trapper und Händler wieder in den Westen.)

Sacajawea handelte den Shoshonen 23 Pferde und 2 landeskundige Führer ab. Clark schrieb:

„Die Sachen, die wir für jedes Pferd im Tausch gegeben hatten, waren nicht über 3 – 6 Dollar wert, sodass also unsere sämtlichen Pferde nicht mehr kosteten als ungefähr 100 Dollar.“

Präriehunde

Lewis und Clark beschrieben Hunderte von unbekannten Tierarten des amerikanischen Westens. Zum Beispiel Präriehunde.

Die Prärieklapperschlange

Die Prärieklapperschlange.

Bisons

Bisons.

Die Expedition überquerte unter größten Mühen und Entbehrungen die Rocky Mountains auf einem Weg, den sie in ihren Tagebüchern „Lemhi-Paß“ nannten. William Clark schrieb darüber an seinen Bruder:

„Auf unserem Übergang über die Rocky Mountains mussten wir Hunger, Kälte und Strapazen in höchstem Grad ausstehen … Beinahe die ganze Reisegesellschaft wurde krank. Wir waren genötigt, Pferde und Hunde zu schlachten.“

Sie überwanden höllentiefe Canyons, schwindelerregende Höhenzüge, überquerten mit letzter Kraft die Kontinentalscheide, zogen auf einem alten Indianerpfad durch das Bitterroot Valley und fanden im September 1805 freundliche Aufnahme in den Dörfern der Flathead-Indianer, die sie freigebig mit Nahrung versorgten.

Sie kämpften sich den reißenden Clearwater River hinunter, dann durch die gefährlichen Stromschnellen des Snake. Endlich wurde ein Seitenarm des Columbia erreicht. Überwältigt von der Gastfreundschaft, die ihnen im Land der Nez Perce entgegengebracht wurde, zogen sie weiter und hörten am 7. November 1805 das Brausen und Rauschen des Pazifischen Ozeans. Am 7. Dezember schlugen sie ihr Winterlager nahe der Columbia-Mündung auf, an der heutigen Grenze der US-Staaten Washington und Oregon. Als im Januar die Palisade des Lagers fertig war, erhielt es den Namen „Fort Clatsop“, nach einem benachbarten Indianervolk.

Die Zeit am Pacific wurde zur Tortur. Die Männer hassten das nie verstummende Donnern und Rauschen des Meeres. Sie litten unter Langeweile. Winter an der Westküste Nordamerikas bedeutete nicht nur Kälte, sondern viel Regen. Ihre Kleidung wurde muffig, das Lederzeug verrottete. Die ständige feuchte Kälte ließ ihre Knochen und Gliedmaßen schmerzen. Sie waren daher froh, ihr Fort am 23. März 1806 verlassen zu können.

Sie zogen nach Osten – der Heimweg hatte begonnen. Für einige Wochen trennte sich das Korps: Während William Clark einen Teil des Yellowstone River erforschte, bewegte sich Lewis auf direktem Weg zum Missouri zurück.

Im fernen Washington wucherten derweil die Gerüchte. Die Opposition gegen Thomas Jefferson hielt die Mission für gescheitert. Dabei waren überraschend drei indianische Delegationen in der Bundeshauptstadt aufgetaucht, mit denen Lewis und Clark auf ihrem Weg konferiert hatten. Mit den Friedensmedaillen mit dem Portrait Jeffersons als „Reisepass“ erhielten sie Einlass beim Präsidenten, der damit die ersten greifbaren Ergebnisse der Expedition erhielt: Friedensvereinbarungen mit den Stämmen entlang des Missouri River.

Dennoch wurde immer lauter die Frage gestellt: Waren Lewis und Clark und ihre Männer nicht längst tot?

Tatsächlich stand der sechsmonatige Rückweg zeitweise unter einem schlechten Stern. Als die Männer im Blackfeet-Gebiet lagerten, versuchten Indianer, ihre Gewehre zu stehlen. Es kam zu einem Scharmützel, bei dem Reuben Field einen Blackfoot niederstach und Lewis einen Krieger erschoss. Dieser Zwischenfall begründete eine erbitterte Feindschaft dieses Stammes gegenüber den Amerikanern, die sich über mehrere Jahre gegen amerikanische Pelzhändler auswirken sollte.

Denkmal

In Fort Benton am oberen Missouri erinnert ein grandioses Denkmal an die Lewis & Clark Expedition. Zu Füßen der beiden Entdecker sitzt Sacajawea mit ihrem Sohn; sie gilt heute als Symbol für den Anteil der indianischen Völker an der großen Forschungsreise.

Bei einem Jagdausflug wurde Meriwether Lewis versehentlich von einem seiner Leute angeschossen. Für Wochen litt er an dieser Verletzung und musste zeitweise auf einer Bahre getragen werden. Aber Mitte August vereinigten sich beide Teile der Expedition wieder, und am 20. September 1806 passierte das „Korps der Entdeckung“ die französische Siedlung La Charette am Missouri.

Nach fast zweieinhalb Jahren kehrten die Männer in die Zivilisation zurück. Sie hatten etwa 8.000 Meilen (rd. 13.000 km) mit primitiven Booten, zu Pferde und zu Fuß in einem unbekannten, unwegsamen Land zurückgelegt. Sie hatten Hunger und Entbehrungen, den Gefahren der Natur und extremen klimatischen Verhältnissen getrotzt.

Die Ergebnisse der Expedition konnten sich sehen lassen. Lewis und Clark hatten mit über 50 indianischen Völkern Kontakte geknüpft und in ihren Tagebüchern deren Sitten und Lebensweisen beschrieben.

Sie dokumentierten fast 200 Pflanzenarten, die der Botanik bis dahin unbekannt gewesen waren – darunter die karottenartige Bitterroot, die sich als medizinisch wertvoll erwies. (Ihnen zu Ehren wurden mehrere Pflanzensorten mit den lateinischen Namen „Lewisia“ und „Clarkia“ versehen.)

122 Tierarten und Unterarten, die zum Teil neu für die Naturwissenschaft waren und nur im westlichen Nordamerika existierten – etwa die Rocky Mountain Goat -, wurden auf das Genaueste schriftlich und mit Skizzen geschrieben. In ihrem Gepäck befanden sich Felle, Hörner, Hufe, Vogelfedern, getrocknete Pflanzenteile und präparierte Insekten als wissenschaftliches Material, und sogar ein lebendiger Präriehund als Geschenk für Präsident Jefferson. Neue Landkarten vermittelten einen realen Eindruck von dem weiten Land im Westen. Ströme wie der Madison, Jefferson, Marias und Gallatin River tragen bis heute Namen, die die beiden Entdecker ihnen gaben.

Für die breite Öffentlichkeit aber waren es weniger die wissenschaftlichen Ergebnisse, die diese Reise bis heute zu einer der erfolgreichsten Forschungsexpeditionen der Welt machten, sondern das Unternehmen an sich, das Lewis und Clark zu Nationalhelden werden ließ.

Sacajawea

Gedenktafel an Sacajawea neben Sitting Bulls Grab am Missouri. Ihr genauer Bestattungsort ist unbekannt.

Lewis und Clark hatten der jungen Nation einen Begriff davon gegeben, über was für ein Land sie verfügten, welche Möglichkeiten dieses Land gab, und sie hatten demonstriert, was Entschlossenheit und Unternehmensgeist zustande bringen konnte – es war die pionierhafte Abenteuerlust, die sie zu Vorbildern werden ließ.

Schon im darauffolgenden Frühjahr brach ein nicht enden wollender Strom von Pelzjägern und -händlern auf, den Missouri hinaufzufahren und den Spuren der Expedition zu folgen.

Auch einige von Lewis und Clarks Begleitern kehrten in den noch wilden, fast unberührten Westen zurück: John Colter und Drouillard zogen für immer als Trapper in die Rocky Mountains; sie waren ganz und gar dem ungebundenen Leben in der Wildnis verfallen.

Colter durchstreifte als erster weißer Mann das Gebiet des heutigen Yellowstone Nationalparks, ohne dass seinen Geschichten von Dampf speienden Erdlöchern, Geysiren und Schlammvulkanen zunächst Glauben geschenkt wurde. Er wurde selbst zu einer Pionierlegende.

Auch Sacajawea und Charbonneau kehrten zurück. Sacajawea trennte sich 1809 von ihrem unsteten Mann, lebte bis 1811 in St. Louis und ging dann wieder in die Dörfer der Mandan und Hidatsa, bei denen sie Heimat gefunden hatte. Nach übereinstimmender Meinung von Historikern starb sie während einer großen Pockenepidemie, die unter den Mandan wütete.

(Eine einzige historische Erzählung berichtet, dass sie zu den Shoshone zurückgekehrt und als fast Hundertjährige in Wyoming gestorben sei, aber diese Geschichte gilt als reine Legende.)

*

Lewis und Clark hatten trotz ihrer enormen Leistungen keine Nordwest-Passage gefunden, wie selbst Thomas Jefferson gehofft hatte. Es gab sie nicht. Aber sie hatten den Amerikanern den Weg nach Westen gewiesen, sie hatten gezeigt, dass es möglich war, den Kontinent in Besitz zu nehmen– die Voraussetzung für den Aufstieg der USA zur Weltmacht. Jeffersons Kauf von Louisiana und die Erforschung der Wege nach Westen durch Lewis und Clark veränderten das Gesicht nicht nur Nordamerikas, sondern der ganzen Welt. Kaum 50 Jahre später waren die einstigen beherrschenden Kolonialmächte – England, Frankreich und Spanien – vollständig aus dem amerikanischen Einflussbereich verdrängt. 100 Jahre nach diesen Ereignissen standen die USA als führende Macht auf der Weltbühne. Die Vision Jeffersons war Wirklichkeit geworden.

*

Captain Meriwether Lewis wurde 1806 zum Gouverneur des Louisiana-Territoriums ernannt. Er geriet allerdings durch geschäftliche Fehlspekulationen in größte finanzielle Nöte. Der untadelige militärische Führer und Entdecker erwies sich auf dem schlüpfrigen Parkett der Politik und des Finanzwesens als hilflos. Die Regierung von Präsident Madison, die Jefferson folgte, zeigte kaum Interesse an dem großen Pionier, dessen Gesundheit zudem verfiel. Auf dem Weg nach Washington, wo er seine wirtschaftlichen Probleme lösen wollte, kam Lewis am 11. Oktober 1809, nur 35 Jahre alt, in einer Hütte in Natchez Trace in Tennessee auf bis heute nicht völlig geklärte Weise ums Leben. Ob er ermordet wurde oder Selbstmord beging, blieb immer im Dunkeln.

Patrick Gass

Zeitgenössische Skizze von Patrick Gass, dem Zimmermann der Expedition.

William Clarks Schicksal war glücklicher. Der „Red-Haired Chief“, wie die Indianer ihn nannten, erhielt 1807 zunächst die Ernennung zum Brigadegeneral der Louisiana Territorial Miliz. 1813 wurde er Gouverneur des Territoriums Missouri und zugleich erster Superintendent für Indianerangelegenheiten. Dieses Amt behielt er bis zu seinem Tod 1838 in St. Louis.

In dieser Zeit schloss er zahlreiche Friedensverträge mit Indianerstämmen und empfing berühmte europäische Edelmänner, die als Forscher in die Indianergebiete zogen, wie Maximilian Prinz zu Wied oder den Herzog Paul zu Württemberg.

Den Höhepunkt der Pelzjagd, die Ausbeutung des „braunen Goldes“, hatte er noch erlebt. Die endlosen Planwagenkolonnen der Pioniere, die das wilde Land im Westen besiedelten, sollte er nicht mehr sehen, und den drohenden Untergang der indianischen Völker, die er noch in der Blüte ihrer Freiheit getroffen hatte, hat er wohl allenfalls ahnen können.

Ihre Unterwerfung, die Vertragsbrüche und ihre Verdrängung waren nicht seine Ziele gewesen. Aber als die große „Westward Expansion“ begann, war die Stimme des Mannes, der die Grundlage dafür geschaffen hatte, verstummt

Patrick Gass

Die Expedition rastet. Zwar ist die Route noch heute exakt nachvollziehbar, aber nur noch wenige Lagerplätze von Lewis und Clark sind eindeutig dokumentiert.

Ein Wort zuvor

Der amerikanische Westen ist Mythos, Legende und Realität zugleich. Er war die Bühne für ein dramatisches Stück Weltgeschichte, für überwältigende menschliche Leistungen und für Barbarei. Im stürmischen Zug nach Westen formte sich die amerikanische Nation. Fortschritt und Hinterwald gingen eine Symbiose ein, die zu ungeahnter Stärke wurde. Abenteuer und Romantik prägten das äußere Bild. Hinter dieser Fassade aber entstand auf unkonventionelle, zugleich auch sehr effektive Weise eine Weltmacht, die – als sich der Pulverrauch der Besiedelung verzogen hatte – unübersehbar die Weltbühne beherrschte.

Wer die Kolonisation der Neuen Welt nur oberflächlich betrachtet, steht oft verständnislos vor Ereignissen, die – losgelöst aus dem Zusammenhang – in sich widersinnig, häufig gewalttätig und menschenverachtend wirken. Im besten Falle verbreiten sie eine abenteuerliche Aura. Aber das ist zu kurz gedacht und wird der Geschichte nicht gerecht.

Die Regionalgeschichte des amerikanischen Westens – auf den ersten Blick vielleicht manchmal chaotisch, ungestüm, planlos – wurde prägend für die Mentalität einer ganzen Nation.

Die Eroberung der westlichen Weiten wird oft mit klischeehaften Bezeichnungen versehen. Man spricht von den „Flegeljahren Amerikas“, von der „Sturm- und Drangzeit“ eines Landes. Es wird so getan, als hätten die USA sich ihre Weltmachtposition auf eher unseriöse Weise erschlichen. Cowboys und Indianer gelten als Karnevalsgestalten – als ob die Geschichte der europäischen Staaten nicht ebenfalls ihre bizarren, ja absurden Züge und Charaktere gehabt hätte … Tatsächlich gab es in der Entwicklungsgeschichte Europas ebenso Stammeskriege, Landauseinandersetzungen, Staatenbildungen, Unterwerfungen, Ausrottungen, Barbarei, und die Geschichte der Entstehung des europäischen Adels als jahrhundertelange Führungsschicht war alles andere als ein Ruhmesblatt. (In einigen Regionen der „Alten Welt“ sind die aufgezählten Konflikte bis heute nicht gänzlich überwunden.)

Die Methoden zwischen dem, was sich in Nordamerika und in Europa abspielte unterschieden sich kaum; lediglich der Zeitrahmen differiert. Tatsächlich hatten die Amerikaner bereits urdemokratische Grundstrukturen entwickelt, als in weiten Teilen Europas noch absolutistische Monarchen herrschten.

Ein Grundproblem bei der Beurteilung der amerikanischen Lebenswelt mag sein, dass die Europäer in den Amerikanern immer eine Art „entfernte Verwandte“ sahen – aus den unterschiedlichsten Gründen fortgezogen, aber doch vom gleichen kulturellen Stamm. Im Ansatz richtig, und doch falsch. Diese Sichtweise missachtet oder unterschätzt zumindest die prägende Kraft eines geografischen Raums ebenso wie die soziale Dynamik von sich neu formierenden menschlichen Gesellschaften.

Amerika ist nicht Europa. Die räumliche Weite bedingte ein anderes Denken. Hinzu kam, dass die meisten europäischen Auswanderer sich schon vor ihrer Emigration geistig von ihren Wurzeln gelöst hatten oder aus verschiedenen Gründen von ihren Heimatländern ausgegrenzt wurden und genau aus diesem Grund in die Neue Welt zogen. Die Bedingungen, die sie hier antrafen, führten zu weiteren Veränderungen, die sie rasch von ihren Ursprüngen entfernten. Sprache, Kindheitserinnerungen, alte Sitten und Bräuche blieben noch für eine Weile als oberflächliche Zeichen ihrer Herkunft erhalten, tatsächlich passten sie sich schnell den neuen Bedingungen an – zwangsläufig; denn sie wollten ja in ihrer neuen Heimat ein besseres Leben führen als in der alten, also standen sie unter dem Druck, sich zu integrieren.

Während also die Zurückgebliebenen in den Ausgewanderten Anglo-Amerikaner, Deutsch-Amerikaner, Franco-Amerikaner usw. sahen, wurden diese in relativ kurzer Zeit richtige „Amerikaner“, deren Denken, Streben und Verhalten sich ganz erheblich von ihren früheren Landsleuten unterschied, wodurch sie für Europa immer unverständlicher wurden.

Interessanterweise gibt es heutzutage in den USA den Trend, die eigenen ethnischen und familiären Wurzeln wieder zu betonen, wobei es im Verhalten dieser Menschen, die stolz auf ihre polnischen, deutschen, italienischen Vorfahren verweisen, tatsächlich kaum echten Bezug zu diesen Kulturen gibt.

Kultur ist ein dynamischer Prozess, unterliegt der ständigen Bewegung und stetigen Fortentwicklung. In Nordamerika ist diese einfache Erkenntnis nationales Programm. Fortschritt, Ausprobieren, nie mit dem Erreichten zufrieden sein, ständiges Ausschauhalten nach Neuem, Anleihen und Adaptionen erfolgreicher fremder Elemente, Chancen wahrnehmen, das Risiko des Scheiterns bewusst akzeptieren, um vielleicht Vorteile zu erlangen – das sind seit der frühen Kolonialzeit amerikanische Eigenschaften, gepaart mit einem unverwüstlichen Optimismus, der selbst in der aussichtslosesten Situation noch Hoffnung erkennt. Niederlagen als Möglichkeiten für kommende Siege begreifen – das gehört zum amerikanischen Charakter und ist, wie auch alles andere, ein Erbe der Pionierzeit, als Millionen von Menschen in den Westen des Kontinents zogen und in einer Wildnis eine neue Welt schufen. Als sie mit Entbehrungen, Not, Angst und vielen Widerständen zu kämpfen hatten.

Die frühen Pioniere lernten, das ein Scheitern nicht unbedingt das Ende bedeuten musste, dass die Aufgabe eines Traums die Geburt anderer Träume initiieren konnte, dass man stürzen, aber nicht liegen bleiben durfte. Auf diese Weise wuchsen Helden heran, die unbeschadet zu Verlierern werden und wieder zu Helden aufsteigen konnten. Das gehört zum amerikanischen Selbstverständnis.

Mit Recht ist der Pioniergeist noch heute identitätsstiftend für die meisten Amerikaner, vor allem für jene in den westlichen Gebieten.

Die Bildungseliten Europas waren von jeher bei ihrem Blick nach Nordamerika emotional und intellektuell hin und her gerissen. Schwärmerisch klang der Ausspruch Goethes (1827)

„Amerika, du hast es besser,
Als unser Kontinent, das alte,
Hast keine verfallene Schlösser,
Und keine Basalte.“

– gemeint waren die wirtschaftlichen, sozialen, persönlichen Freiheiten. Neben diesen positiven Betrachtungen, gab es auch ein negatives Spektrum, bis zur arroganten Verachtung „degenerierter Hinterwäldlerkultur“. An derartigen Klischees hat sich bis heute nicht viel geändert.

Die scheinbare Treulosigkeit der Davongezogenen, die das europäische Jammertal schnöde verlassen hatten, um in Amerika zu neuen Horizonten vorzustoßen, löste angesichts wirtschaftlicher, politischer und sozialer Freiheiten Neid aus. Lebensverhältnisse, in denen Analphabeten, die über enorme praktische Fähigkeiten verfügten, zu Entdeckern, Städtegründern, ja erfolgreichen Geschäftsleuten werden konnten, wurden mit größtem Misstrauen beäugt. Amerikanische Literatur, Malerei, darstellende Kunst galten als schlechte europäische Kopien – was anfangs vielleicht sogar stimmte. Die amerikanische Neigung zu improvisieren, den Schein manchmal höher zu werten als das Sein, galt als banausenhaft. Diktiert wurden diese Urteile – und werden sie teilweise noch heute – von der Unwissenheit der tatsächlichen Lebensverhältnisse. Amerikaner galten als primitiv, gewalttätig, grob – das Verhalten europäischer Kolonisten in Afrika und Asien im 18. und 19. Jahrhundert wurde dabei geflissentlich übersehen.

In Zeiten der Romantik wurden die Indianervölker als unschuldige Naturmenschen, die dem humanitären Ideal entsprachen, überhöht; eine Ansicht, die überraschenderweise manchmal auch heute noch anzutreffen ist. Dagegen war der weiße Kolonist in diesem Bild ein barbarischer Gewaltmensch. Diese Beurteilung mag sich abgemildert haben, sie fand aber in den Romanen Karl Mays, deren Einfluss auf das Amerikabild des 19. und auch des frühen 20. Jahrhunderts immens war, ihre Entsprechung.

Alles in allem: Den Urteilen fehlte (und fehlt) das Maß, und es fehlt das Wissen. Klischees haben die Geschichte Amerikas geprägt und begleiten sie bis heute. Klischees, die tatsächlich gelegentlich in den USA selbst entstanden sind; denn aufgrund der enormen Ausdehnung des Landes war der amerikanische Osten über die Vorgänge im westlichen Teil des Landes oft nicht viel besser informiert als die Europäer.

Was hierzulande bis ins 20. Jahrhundert hinein selten verstanden wurde, sind die enormen Selbstheilungskräfte dieser freien Gesellschaft, die sich jenseits des Atlantiks konstituierte und die mit ihren vielfältigen Krisen und Problemen oftmals besser fertig wurde als die europäischen Staaten. Hinzu kommen falsche Vorstellungen vom „Wilden Westen“ – einem uramerikanischen Begriff.

Die amerikanische Demokratie funktionierte auch in den Wildnisgebieten, selbst in scheinbar chaotischen Goldgräbercamps, Eisenbahnlagern, Trappergemeinschaften. „Gesetzlose“ Gesellschaften gibt es nicht. Jede menschliche Gesellschaft schafft sich Regeln des Zusammenlebens; sie mögen noch so schlicht sein, aber ohne Regeln gibt es keine Gemeinschaft. Auch das viel beschworene „Faustrecht“ ist eine Form von Recht, und das, was man außerhalb der Pioniergebiete darunter verstand, entsprach ohnehin nicht der Realität.

Improvisationsgabe und Wagemut waren Eigenschaften des Pioniers im Westen. Man glaube aber nicht, dass es keine Bürokratie an der westlichen „Frontier“ gab, sie war lediglich flexibel genug, sich den Tagesbedürfnissen anzupassen. Große kolonisatorische Leistungen wurden oft aus Not und Verzweiflung geboren – und waren im übrigen nicht selten das Ergebnis von Rücksichtslosigkeit und Egoismus. Engherziger Puritanismus rückte mit der Zivilisation in die Wildnisgebiete ein, aber er sorgte auch für Disziplin, Fleiß und Aufbauwillen.

Die Mischung, die aus negativen wie positiven menschlichen Eigenschaften entstand, charakterisierte letztlich den „Westerner“, vielleicht den Amerikaner schlechthin.

In diesem Buch werden verschiedene Aspekte beleuchtet, die charakteristisch für die Eroberung und den Aufbau Nordamerikas wurden:

Die Entdeckungen, die Öffnung von Wegen durch die Wildnis, die Pelzhandelsniederlassungen an der Zivilisationsgrenze, die Armeestützpunkte, die das Schild der Besiedelung waren, und markante Personen wie William Cody und Billy the Kid, die der Pionierzeit Amerikas ein Gesicht gaben. Ihre Biografien sind Ausdruck einer Mentalität, die noch immer im amerikanischen Volkscharakter zu finden ist, so wie die Art und Weise, in der die Besiedelung des Westens erfolgte den Geist einer Nation reflektiert, die mit Europa nicht vergleichbar ist. Angesichts der Resultate, haben die Amerikaner – trotz mancher Schatten – nicht viel verkehrt gemacht.

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Astoria

Der Beginn des amerikanischen Pelzhandels