Hubertus Lutterbach
Vom Jakobsweg zum Tierfriedhof

Hubertus Lutterbach

Vom Jakobsweg zum Tierfriedhof

Wie Religion heute lebendig ist

Butzon & Bercker

 

„Orientierung durch Diskurs“

Die Sachbuchsparte bei Butzon & Bercker, in der dieser Band erscheint, wird beratend begleitet von Michael Albus, Christine Hober, Bruno Kern, Tobias Licht, Cornelia Möres, Susanne Sandherr und Marc Witzenbacher.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Gesamtprogramm von Butzon & Bercker finden Sie im Internet unter www.bube.de

ISBN 978-3-7666-1862-7

E-Book (Mobi): ISBN 978-3-7666-4261-5

E-Book (PDF): ISBN 978-3-7666-4262-2

E-Pub: ISBN 978-3-7666-4263-9

© 2014 Butzon & Bercker GmbH, Hoogeweg 100, 47623 Kevelaer, Deutschland, www.bube.de

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Christoph M. Kemkes, Geldern

Satz: Schröder Media GbR, Dernbach

Printed in Germany

Inhalt

Einleitung

1. Religion – Ein gesellschaftliches Thema?

2. Aktuelle Trends: Individualität, Ganzheitlichkeit, Institutionenferne

3. Ziel: Das Aufspüren von religiösem Leben in unserer Gesellschaft

I. „… mitten im Leben“

1. Zwischen Selbstfindung und Gebeinverehrung – Pilgerschaft heute

a) Hape Kerkeling und andere Pilgerberichte

b) Das Christentum – Eine Religion des Weges

c) Fazit

2. Aktuelle partnerschaftliche Selbstinszenierungen – Liebesschlösser

a) „Irrste Hochzeiten“ – Private Events

b) Liebesschlösser – Individualität in der Öffentlichkeit

c) Fazit

3. Amtsverzicht – Warum zwei Bischöfe zurücktraten

a) Der Fall Margot Käßmann

b) Glaubwürdigkeit als Amtsideal

c) Walter Mixas Ende als Bischof von Augsburg

d) Menschenfreundlichkeit als Bischofsideal

e) Fazit

4. Einfach leben! – Anselm Grün

a) Das Credo von Anselm Grün – Tradition braucht Übersetzung

b) „Einfach leben“ – Bewährte Botschaft, neues Format

c) Anselm Grüns Impulse aus der Christentumsgeschichte

d) Fazit

5. Leben bis zum letzten Augenblick – Das Hospiz

a) Ein kurzer und steiniger Weg – Hospizarbeit in Deutschland

b) Cicely Saunders († 2005) – Wegbereiterin der Hospizbewegung

c) Christentumsgeschichtliche Wurzeln der modernen Hospizbewegung

d) Fazit

II. „vom Tod umfangen …“

1. Medizinisch tot, religiös fortlebend – Johannes Paul II. († 2005)

a) Johannes Paul II. – Ein Gottesmensch

b) Drei Gründe für das religiöse Fortleben eines Toten

c) Der Tote lebt – Nur wie lange?

d) Fazit

2. Respekt für einen Suizidenten – Robert Enke († 2009)

a) Selbsttötung – Aktuelle Verwirrung und historische Orientierung

b) Enkes Tod – Zwischen irdischer Depression und göttlicher Zusage

c) Fazit

3. Zeichen der Gemeinschaft – Unfallkreuze am Straßenrand

a) Vom ältesten menschlichen Zeichen zum Unfallkreuz

b) Das Unfallkreuz als Ort der Präsenz

c) Fazit

4. Trauer um die Opfer – Das Loveparade-Drama von Duisburg

a) Die Trauerfeier am 31. Juli 2010 in der Salvatorkirche

b) Die Trauerfeier im Pressespiegel

c) Öffentliche und private Trauer außerhalb des Gottesdienstes

d) Christentumsgeschichtliche Räume der Trauer

e) Fazit

5. Verstorbene Haustiere – Was sie mit verstorbenen Menschen teilen

a) Hundeluxus von Menschenhand – Die Vermenschlichung von Tieren

b) Das Tierkrematorium

c) Der virtuelle Tierfriedhof

d) Der herkömmliche Tierfriedhof

e) Bilder für das religiöse Fortleben verstorbener Tiere und Menschen

f) Fazit

Epilog

1. Subjektivierende Akzente

2. Streben nach Ganzheitlichkeit

3. Distanzierung von den kirchlichen Institutionen

4. Fazit

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Danksagung

Einleitung

Über Jahre hinweg habe ich als ehrenamtlicher Sterbebegleiter in einem Hospiz gearbeitet und Menschen in ihrer letzten Lebensphase unterstützt. Ich habe Schwerkranke erlebt, die von sich sagten, dass sie jahrzehntelang ihr Leben gemäß den kirchlichen Vorgaben gestaltet hätten. Doch in ihren letzten Wochen und Tagen hatten sie kein Verlangen mehr nach den ihnen vertrauten äußeren Zeichen. Stattdessen zogen sie sich in ihre eigene Stille zurück, waren wach für den Augenblick, öffneten sich für musiktherapeutische Angebote oder richteten ihre Blicke auf schöne Fotos. Umgekehrt traf ich auf Menschen, die mit ihrer grundsätzlichen Offenheit für Spiritualität keinen Kontakt zu einer verfassten Kirchlichkeit gepflegt hatten, allerdings in der Situation ihrer schweren Krankheit das Gespräch mit dem Pfarrer suchten, das Gebet guter Freunde erbaten oder sogar die Spendung des Krankensakramentes wünschten.

Während meiner Jahre im ehrenamtlichen Dienst der Telefonseelsorge habe ich immer wieder erlebt, wie überraschend sich „Religion“ in der Vielfalt der Lebensgestaltung zeigen kann – sowohl unter den ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern als auch bei den anonymen Anruferinnen und Anrufern. Ehrenamtliche, die sich schon vor Jahren vom kirchengemeindlichen Leben abgewandt hatten, schildern ihre Arbeit in der Telefonseelsorge als ihre eigentliche christliche Praxis. „Mein Gottesdienst ist die Nächstenliebe“, formulieren einige. Vom menschenfreundlichen Klima unter den Ehrenamtlichen inspiriert, fragen sie: „Kann es mehr Religion geben, als wenn Menschen sich in einem Geist der Aufmerksamkeit und der Gastfreundschaft miteinander verbunden fühlen und für Ratsuchende oder Einsame da sind?“ – Wie oft habe ich es erlebt, dass Anruferinnen und Anrufer zu Beginn eines Telefonates bei der Telefonseelsorge fragen: „Sind Sie Priester?“, und auf meine verneinende Antwort spontan reagieren mit den Worten: „Das macht auch nichts, Hauptsache Sie sind ein Seelsorger.“

Im Bereich der ehrenamtlichen Gefangenenbetreuung sagt mir ein Gefangener: „Ob ich Christ bin, weiß ich nicht. Ich gehöre jedenfalls keiner Kirche an. Aber den Rosenkranz, den habe ich in meiner Zelle über dem Bett hängen und bete ihn täglich. Das brauche ich einfach.“ Ein anderer Gefangener betätigt sich bei der sonntäglichen Messe als Ministrant: „Das ist für mich die einzige Möglichkeit, mal aus der grauen Unscheinbarkeit aufzutauchen und mich meinen Mitgefangenen gegenüberzustellen, auch wenn ich von denen für diesen Dienst eher mit Verachtung als mit Bewunderung angeschaut werde.“

Zuletzt denke ich an eine kürzlich verstorbene, akademisch gebildete und hochbetagte langjährige Nachbarin, die sich selbst als Anhängerin sowohl des Anthroposophen Rudolf Steiner († 1925) als auch des Dalai Lama bezeichnete. Von beiden Vorbildern hatte sie beinahe das gesamte Schrifttum gelesen. Mit Blick auf ihre Nachbarschaft vor Ort sagte sie oft mit einem Schmunzeln: „Dass ein katholischer Theologe und ein evangelischer Allgemeinmediziner neben mir wohnen und ich mit beiden befreundet bin, betrachte ich als das Glück meines Alters. Was soll mir denn da noch passieren?!“

Die vorgetragenen Schlaglichter zur aktuellen Gestaltung religiös beeinflussten Lebens zeigen individuelle Zugangswege und persönliche Ausdrucksweisen. Über ihre Suche nach Authentizität hinaus stimmen sie im Bemühen um eine ganzheitliche Alltagsgestaltung und in der Überzeugung einer gewissen Institutionenskepsis überein.

Die angesprochene Vielfalt der Lebensgestaltung unter Einschluss des Faktors „Religion“ ist auch im öffentlichen Leben unseres Landes gegenwärtig: Seit fast zwanzig Jahren moderiert Jürgen Domian allabendlich seinen in Radio und Fernsehen übertragenen „EinsLive Talk“. Als das Ziel seiner live übertragenen Telefongespräche mit inzwischen weit mehr als 20.000 Anruferinnen und Anrufern über Themen wie Glück, Liebe, Sexualität, Glauben, Papst, Politik, Krankheiten, Tod etc. formuliert er: „Ich frage die Leute alles, und die Leute können mich alles fragen.“ Auch während seiner Sendungen will Domian „Privatperson bleiben“: „Nur so entsteht Vertrauen“, unterstreicht er.1 Ebenso versteht er sich in seinem monografisch publizierten „Interview mit dem Tod“, das der ehemalige evangelische Christ nach dem Tod seines Vaters aus einer nunmehr buddhistisch beeinflussten Fragehaltung führt, als „Privatperson“: persönlich ehrlich, ganzheitlich ausgerichtet und institutionenskeptisch vorsichtig.2

Nicht zuletzt zeigen sich die Spuren religiösen Lebens aktuell in den Bereichen Sport und Musik. Ohne hier näher auf die auch wissenschaftlich heiß diskutierte Frage einzugehen, wie weit die Parallelen von Fußball und Religion tatsächlich reichen, sei immerhin an den beliebten Song „An Tagen wie diesen“ erinnert. Mit diesem Lied, das reich ist an religiösen Anspielungen und Bildern („Das hier ist ewig, ewig für heute“), besingt die Musikgruppe „Die toten Hosen“ wie selbstverständlich den Fußball ihrer Lieblingsmannschaft. Auch hier stimmen individueller Enthusiasmus („Komm, ich trag dich durch die Leute. Hab keine Angst, ich gebe auf dich Acht“), Gemeinschaftszugehörigkeit als Ausdruck der Ganzheitlichkeit („Wir lassen uns treiben, tauchen unter, schwimmen mit dem Strom“) und eine gewisse Institutionenskepsis eine Rolle („An Tagen wie diesen wünscht man sich Unendlichkeit. An Tagen wie diesen haben wir noch ewig Zeit. Wünsch ich mir Unendlichkeit“).

Schon lange lassen mich die vielfältigen Ausdrucksweisen religiösen Lebens in der Gegenwart aufmerken und wecken immer wieder neu mein Interesse. Dass aus dieser Beobachtungsfreude ein Buch geworden ist, verdanke ich meinen Theologie- und Philosophiestudierenden an der Universität Essen ebenso wie manchen Rückfragen meiner Kolleginnen und Kollegen. Sie haben mich zu einer solchen Orientierungshilfe angeregt. Uns alle bewegt die Frage nach der Deutung von religiösem Leben in der Gegenwart. Um dieses Projekt, das den Fragehorizont vieler wacher Zeitgenossen erreichen mag, möglichst konkret zu gestalten, mische ich mich in die wissenschaftliche Diskussion mit zehn ausgewählten Fallstudien ein.

Der in Berlin lehrende Religionssoziologe Hubert Knoblauch teilt die wissenschaftliche Frage nach der Ausdeutung des gegenwärtigen Alltagslebens unter Einschluss des Religiösen3: „Die Vielfalt der gegenwärtigen Lebensführung schreit geradezu nach einer Beschreibung, die die Unübersichtlichkeit der eigenen Lebenswelt überwinden hilft. Denn während wir über historische Religionen (und historische Texte heutiger Religionen) enorm viel wissen, beschäftigen sich nur wenige mit dem, was man die gelebte Religion nennen kann. Das Verhältnis der Forschungen, die sich mit historischen Texten beschäftigen, zu denjenigen, die die gelebte Religion erkunden, fällt nach wie vor überdeutlich zu Ungunsten der Gegenwartsreligion aus. Entsprechend wissen wir zwar sehr viel über die ,Tradition‘ und die ,Schriften‘, wenig aber über die gelebte Religion der heutigen Menschen.“4

Die „gelebte Religion“ zeigt sich heutzutage vielfältig als „populäre Religion“: Genauerhin bildet die populäre Religion die Schnittmenge zwischen populärer Kultur und Religion und entwickelt sich zu einer immer bedeutenderen Arena, in der weltanschauliches und religiöses Wissen gelebt und vermittelt werden. So formt sie es in Weisen, die den sozial und kulturell unterschiedlichen Anforderungen der Subjekte auf den Leib geschnitten sind. Es verdient ausdrückliche Hervorhebung, dass die populäre Religion die Kommunikation in den Kirchen ebenso wie die zwischen den Kirchen und ihren Mitgliedern mit umfasst. Anders gesagt: Aufgrund der Mitberücksichtigung der spezifischeren kirchlichen religiösen Kommunikation geht der Fokus dieses Buches über die populäre Spiritualität mit ihrer Betonung von Erfahrung und Gefühl sowie mit ihrer Abstinenz hinsichtlich Lehre und geprägter Deutungsmuster deutlich hinaus.

Das vorliegende Buch greift das durch den Religionssoziologen Hubert Knoblauch formulierte Desiderat („Erforscht die gelebte Religion!“) in zweifacher Hinsicht auf. Erstens bietet es ausgewählte aktuelle Beispiele dafür, wo und wie Religion in ihren gelebt-populären Ausdrucksweisen im unübersichtlichen Alltag eine Rolle spielt. Wo lässt sich Religion „dingfest“ machen und wie wirkt sie sich in ihrer konfrontierenden Kraft oder in ihren hilfreichen Zeichen aus? Zweitens werden die zutage geförderten Ausprägungen von „gelebter Religion“ historisch eingeordnet: Inwieweit sind innerhalb des aktuell religiös pluriformen Verstehenshorizonts auch christentumsgeschichtlich geprägte „Erzählfiguren“ im Spiel? Sind sie den gegenwärtigen Akteuren unbekannt oder bekannt? Wie werden sie weitererzählt – in traditionellen oder neuartigen Weisen – und mit welchen Wirkungen? Überdies können die Leserinnen und Leser des vorliegenden Buches aus den historischen Vergewisserungen für ihr eigenes Religions- und Sozialleben umso mehr Orientierung ziehen.

1. Religion – Ein gesellschaftliches Thema?

Religionssoziologisch relevantes Zahlenmaterial gibt zu erkennen, dass die Religion in jüngerer Zeit auf ein rasant angestiegenes privates und öffentliches Interesse stößt. Besonders das „World Wide Web“ veranschaulicht durch die seit Jahren unaufhaltsam anwachsenden Trefferquoten, dass Religion in unserem Land und darüber hinaus ein einflussreicher gesellschaftlicher Faktor ist: Erzielte man bei www.altavista.de unter dem Stichwort „Religion“ 1999 noch 1,8 Millionen Treffer und 2004 etwa 105 Millionen Treffer, so werden im Jahr 2013 bereits 162 Millionen Treffer angezeigt. Bei www.google.de stiegen die Treffer von 610.000 im Jahre 1999 auf 9,1 Millionen im Jahre 2004, um bis 2013 auf 698 Millionen hochzuschnellen.5

Es ist fast unmöglich, aus diesen Zahlen und den „Klicks“ der User zu erschließen, wie Religion das persönliche und das öffentliche Leben konkret prägt. Sogar die mit Religion vielfältig befasste Sozialforschung tut sich schwer, klar zu sagen, wo in unserer Gesellschaft der Faktor Religion mitten im Alltagsleben der Menschen vorkommt und wie sich diese Ausdrucksformen des Religionslebens historisch einordnen lassen. Einen gewissen „Mangel an sozialer und historischer Tiefenschärfe“ ihrer Umfrage- und Untersuchungsergebnisse gestehen selbst die besten Religionssoziologen freimütig ein.6

Im Mittelpunkt dieses Buches stehen zehn Fallstudien zur „gelebten Religion“ in Deutschland im dritten Jahrtausend. Darin eingefügte historische Zwischenreflexionen machen die aktuellen Beeinflussungen auch des religiösen Lebens durch die um sich greifenden Trends der Individualisierung, des Ganzheitlichkeitsstrebens und der Institutionendistanzierung umso klarer erkennbar.

2. Aktuelle Trends: Individualität, Ganzheitlichkeit, Institutionenferne

Der Religionssoziologe Gert Pickel weist darauf hin, wie wichtig die „Behandlung religiöser Gegenwartsereignisse in der Öffentlichkeit“ ist.7 Diese Anregung greift das vorliegende Buch auf. Die hier untersuchten Erscheinungsformen des religiösen Lebens zeigen, dass gesellschaftlich relevante Trends und Vorlieben auch den Lebensbereich der populären Religion beeinflussen.

Erstens – die Zunahme der Individualisierung: Erst seit den 1960er Jahren bezeichnet die Privatisierung im Bereich der Religion die Tendenz, dass sich Religion mit ihren Themen immer mehr auf die Wünsche und Bedürfnisse des Individuums bezieht. Mit dieser neuartigen Entwicklung sind zwei Tendenzen verbunden: Zum einen verlagern sich die traditionellen Themen des religiösen Kosmos – Himmel, Hölle, Fegefeuer – auf die Anliegen und Fragen des privaten Lebens: das persönliche Glück, die individuelle Erfüllung, die subjektive Erfahrung, der gesunde Körper. Zum anderen unterliegt die Religion damit zunehmend der Tendenz, dass sie ihre soziale Gestalt verliert und zu einem individualistischen Kult wird. Also geht mit der strukturellen Individualisierung eine Auskoppelung des einzelnen Menschen aus den traditionellen sozialen Verbänden einher.

Zweitens – das Streben nach Ganzheitlichkeit: Je mehr das moderne Leben in immer kleinere Funktionseinheiten zerfällt, umso mehr regt sich ein Bedürfnis nach Ganzheitlichkeit. Wer aus finanziellen Gründen gleichzeitig mehrere Jobs erledigen muss, wer sich von einer Praktikumsstelle zur nächsten hangelt oder sein Berufsleben mit aufeinander folgenden Zeitverträgen bestreitet, hat ein hohes Bedürfnis nach allem, was einen übergreifenden Lebenszusammenhang erleichtert. Diese Menschen sehnen sich danach, ihr modernes Leben in ein verbindendes Ganzes einzubetten. Die Eröffnung eines solch konzentrierenden Horizonts, in den religiöse Lebens- und Deutungsmuster integriert sein können, erleben viele Menschen als hilfreich. Mit einer derart übergeordneten Perspektive halten sie die Einzelsegmente ihrer Alltagsbiografie zusammen und ordnen sich in einen größeren sozialen, ökologischen oder religiösen Zusammenhang ein.

Drittens – die Abkehr von den Institutionen: Tatsächlich fällt seit einigen Jahrzehnten auf, dass die Religion ihre Form verändert. Als Folge davon, dass sich die Religion zunehmend in den privaten Bereich verlagert, treten die Kirchen in Deutschland vermehrt als Anbieter von Dienstleistungen auf. Während den Kirchen und ihren Repräsentanten also die Möglichkeit verloren geht, auf die Werte, Einstellungen und Lebensformen ihrer Mitglieder Einfluss zu nehmen, treten sie umso mehr mit Serviceleistungen öffentlich in Erscheinung: mit Riten für die einschneidenden Situationen des Lebens bis hin zu Beratungs- und Therapieangeboten. Freilich darf auch die angesprochene Angebotspalette nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele Menschen die von den Kirchen inserierten Leistungen lieber bei anderen Sinnanbietern abrufen.

3. Ziel: Das Aufspüren von religiösem Leben in unserer Gesellschaft

Die Fallbeispiele dieses Buches vermitteln ein vielfältiges Bild davon, wie der Rückgriff auf Religion auch heutzutage unterstützt: bei der Begründung von Gemeinschaftsbildung und sozialer Integration, bei der Bewältigung von Ängsten und Traumata, bei der Verarbeitung von schweren Schicksalsschlägen, in der Konfrontation mit Ungerechtigkeiten und Leiden oder bei der Entscheidung zugunsten von Widerstand und Auflehnung gegen gesellschaftliches Unrecht und soziale Ungerechtigkeit. Hier greifen Menschen auf heilige Texte und lebenspendende Gebräuche zurück. Sie orientieren sich an spirituellen Virtuosen und entwickeln Halt gebende Liturgien.

„Die womöglich von der Tradition abgekoppelten religiösen Elemente, die noch in der Kultur kursieren, können neu zusammengemischt werden, sodass auch neue religiöse Inhalte entstehen können, die sich an die geänderten Lebensverhältnisse anpassen.“8 Diese religionssoziologische Einsicht ruft die Leitfrage dieses Buches nochmals in Erinnerung: Wie wirken sich die gesellschaftlich „angesagten“ Veränderungen (Individualisierung, Ganzheitlichkeitsstreben, Institutionendistanzierung) auf die „gelebte Religion“ in Deutschland im dritten Jahrtausend aus?

Das Buch setzt bei gesellschaftlichen Schlüsselphänomenen an, also bei Ereignissen, Institutionen, Personen, Praktiken und Zeichen, die im gesellschaftlichen Leben der Bundesrepublik Deutschland jüngst Aufmerksamkeit bekommen haben und denen auf je unterschiedliche Weise auch eine religiöse Dimension eigen ist. Fünf gesellschaftliche Phänomene beziehen sich auf den Umgang mit dem Leben, mit der Lebendigkeit, während sich die übrigen fünf dem Umgang mit dem Tod und dessen Deutung widmen.

Entsprechend handelt der erste Teil des Buches unter der Überschrift „… mitten im Leben“ von der Erschließung des seit einigen Jahren höchst populären Pilgerns, von der Interpretation der Liebesschlösser, von den Reaktionen auf die Rücktritte von Margot Käßmann und Walter Mixa, von der Entschlüsselung jenes Erfolgs, der dem christlichen Bestsellerautor und Mönch Anselm Grün seit Jahren beschert ist, sowie vom Entstehen der gesellschaftlich einflussreichen – und im Dienste des Lebens stehenden – Hospizbewegung.

Auch der zweite Teil des Buches unter der Überschrift „Vom Tod umfangen …“ fragt nicht zuletzt nach der gemeinschaftlichen und der individuellen Bedeutung religiöser Interpretamente in der jüngsten Vergangenheit der Bundesrepublik Deutschland. So analysiert dieser Buchteil den öffentlichen Umgang mit dem Tod von Papst Johannes Paul II. († 2005), die auch medial intensiv thematisierte Selbsttötung des deutschen Fußballnationaltorwartes Robert Enke († 2009), die große Attraktivität von Unfallkreuzen am Straßenrand, die auch rituell gestaltete Trauer um die Opfer der Loveparade von Duisburg (2010) sowie den Umgang mit verstorbenen Haustieren.

Im Anschluss an die zehn Fallstudien fasst der abschließende „Epilog“ den Einfluss von Individualisierung, Ganzheitlichkeitsstreben und Institutionendistanzierung auf das religiöse Leben innerhalb der Gesellschaft zusammen. Dieses Ergebnis bietet denen eine Orientierungshilfe, die religiöse Ausdrucksweisen im persönlichen wie im öffentlichen Leben tiefer verstehen wollen oder die in unserer Gesellschaft für religiöses Leben in Deutung und Praxis gestaltend einstehen.

Es sei ausdrücklich angefügt, dass es zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch zu früh ist, um den Blick vom Christentum als Referenzpunkt auf andere Religionen auszuweiten. Eben diese Tendenz zeigen auch die Meinungsmacher und Elitejournalisten in ihrem aktuellen Umgang mit dem Thema „Religion in Deutschland“: „Bei ihrer Bestimmung des ,Religiösen‘ bleiben sie alle – in Anknüpfung oder Widerspruch – auf das Christentum und die in den christlichen Kirchen institutionalisierte Religion bezogen.“9 Tatsächlich lässt sich die bundesrepublikanische Gesellschaft aktuell immer noch dritteln in Katholiken, Protestanten und Menschen ohne Mitgliedschaft in einer religiösen Institution. Die Informationen des Zensus von 2011, in den auf Drängen der Kirchen in Deutschland auch Fragen nach der religiösen Organisiertheit und nach der religiösen Haltung der Menschen aufgenommen worden sind, liegen gegenwärtig noch nicht vor. So bleibt vorerst unklar, inwieweit nichtchristliche Religionen in Deutschland bereits „eingewurzelt“ und deutungsprägend sind.

I. „… mitten im Leben“

1. Zwischen Selbstfindung und Gebeinverehrung – Pilgerschaft heute

Hape Kerkeling: Ich bin dann mal weg, 2006 Piper Verlag GmbH, München

Auf den Buchcovern ihrer Erfahrungsberichte sind sie zu sehen: Pilger von heute in zünftigen Wanderschuhen, mit einer Jeans und einem Anorak, mit einem Rucksack auf dem Rücken und manchmal mit einem Wanderstab in der Hand, allein oder zu mehreren, unter blauem Himmel oder unter düsteren Wolken, meist in einer urtümlichen Landschaft oder vor einer Kirche. Sie betrachten das Pilgern als ein wichtiges Ereignis in ihrem Leben. – Dieses Buchkapitel handelt vom Pilgern als Ausdrucksweise der „gelebten Religion“. Es geht darum, inwieweit sich auch im aktuellen Pilgerboom die zunehmende Individualisierung, das vermehrte Ganzheitlichkeitsstreben und die wachsende Institutionendistanzierung zu erkennen geben. Ihren Ausgang nehmen die folgenden Überlegungen bei der provozierenden Frage: „Wo ist Hape Kerkeling?“

Ausgerechnet das von dem bekannten Komiker (und Katholiken) Hape Kerkeling 2006 veröffentlichte Buch Ich bin dann mal weg, das seinen Pilgerweg in den traditionsreichen spanischen Wallfahrtsort Santiago de Compostela beschreibt, erreichte in Deutschland erstaunlich hohe Verkaufszahlen. Bereits Mitte 2008 – also zwei Jahre nach Erscheinen – hatte es sich mehr als drei Millionen Mal verkauft. Mittlerweile ist die Marke von vier Millionen verkaufter Exemplare bereits überschritten. Länger als hundert Wochen behauptete sich das Buch auf Platz eins der SPIEGEL-Bestsellerliste. Und nun steht auch noch seine Verfilmung an. Jedenfalls hat sich der Produzent Nico Hofmann die Rechte für die „Ufa Cinema“ gesichert; die ARD ist als Fernsehpartner mit dabei: „Hape Kerkeling ist nicht weg, sondern immer noch da – und zwar in den Bestsellerlisten. Seine Reisebeschreibung ,Ich bin dann mal weg‘ ist das erfolgreichste deutsche Sachbuch“, wie „Welt Online Kultur“ bilanziert.10

Der Titel des Kerkeling-Buches ist inzwischen zu einem „geflügelten Wort“ geworden, das man auf alle möglichen Zusammenhänge des Alltags anwenden oder auf diese hin umdeuten kann. So überschreibt Der Spiegel seinen Beitrag zum Wechsel des Fußballtrainers José Mourinho vom italienischen Erstligaverein Inter Mailand – dem italienischen Fußballmeister und Pokalsieger 2010 und Champions-League-Gewinner 2010 – zum spanischen Klub Real Madrid mit den Worten „Ich bin dann mal weg“.11 Unter dem Titel „Kurz-mal-weg.de“ bieten Reiseveranstalter kostengünstige Kurzreisen an.12 Mit dem Slogan „Ich bin dann mal weg“ stellt das Zweite Deutsche Fernsehen in einer Internet-Präsentation die bedeutendsten Rücktritte von deutschen Prominenten im Jahre 2010 vor.13 Berufsberatende Hinweise für Menschen, die von einer Stellenkündigung betroffen sind, werden unter der Schlagzeile präsentiert: „Ich bin dann mal weg. So nehmen Profis ihren Hut“14. Der Tagesspiegel diskutiert unter der Überschrift „Ich bin dann mal weg“ die Frage der Urlaubsregelung für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in deutschen Firmen.15 Die SZ überschreibt im Jahr 2012 einen Artikel mit Vorschlägen, wie man „Brückentage“ verwenden soll, so: „Wir sind dann mal weg. Die außergewöhnlich vielen Brückentage dieses Jahres sind prima – wenn man weiß, wohin mit ihnen. Die Tipps von SZ-Autoren.“16 Jenas führende Hochschulzeitung lädt Studierende mit dem Slogan „Ich bin dann mal weg. Wenn Studenten der Uni den Rücken kehren“ zu einem „Freisemester“ für die eigene Selbstfindung ein.17 Also: Immer wieder greifen Menschen auf den Buchtitel von Hape Kerkeling zurück, weil sie den kernigen Spruch attraktiv finden, und verknüpfen ihn mit individuellen Aus-Zeiten oder mit der Abkehr von beruflichen Verpflichtungen. Insgesamt verbinden sie den Slogan „Ich bin dann mal weg“ mit der Einladung zu einem individuellen, selbstbestimmten und ganzheitlichen Lebensstil, der auf innere und äußere Mobilität ausgerichtet ist.

a) Hape Kerkeling und andere Pilgerberichte

Heutige Pilger bezweifeln vieles, was früher selbstverständlich geglaubt wurde: die Echtheit der Heiligenknochen, die Möglichkeit eines Wunders am heiligen Zielort oder den „Heilsnutzen“ einer solchen Strapaze auch für ein jenseitiges Fortleben. Stattdessen verbinden sie mit dem „Ausgeliefertsein“ auf dem Pilgerweg erstrangig neue Impulse für die möglichst entschiedene, individuelle und selbstbestimmte Fortsetzung des eigenen Lebensweges.18 Die vier Santiago-Pilger Hape Kerkeling, Lee Hoinacki, Carmen Rohrbach und Paulo Coelho, die sich den Mühen des weiten Weges ausgesetzt haben, veranschaulichen diese Feststellung in ihren Pilgerberichten auch durch die Art, wie sie sich – abgrenzend oder anknüpfend – auf die Geschichte der christlichen Pilgerschaft beziehen.

Kaum jemand hätte von dem bekannten Unterhaltungskünstler Hape Kerkeling erwartet, dass er, der erfolgsverwöhnte Showmaster, in eine Sinnkrise gerät und im Anschluss erst einmal nach Santiago de Compostela pilgert. Doch genau das tat er: „Da ich gerade einen Hörsturz und die Entfernung meiner Gallenblase hinter mir habe, zwei Krankheiten, die meiner Einschätzung nach großartig zu einem Komiker passen, ist es für mich allerhöchste Zeit zum Umdenken – Zeit für eine Pilgerreise. […] Wütend darüber, dass ich es so weit habe kommen lassen, bin ich immer noch! Aber ich habe auch endlich wieder meiner inneren Stimme Beachtung geschenkt, und siehe da: Ich beschließe, während der diesjährigen Sommermonate keinerlei vertragliche Verpflichtungen einzugehen und mir eine Auszeit zu spendieren.“19

Die Suche nach sich selbst ist tatsächlich Hape Kerkelings Hauptmotivation für sein Wandern auf dem Jakobsweg: „Als ich mit einer Fahrkarte den Bahnhof verlasse und mich gerade wieder frage, was ich hier eigentlich tue […], ob das alles denn auch vernünftig ist […], und überhaupt […] sehe ich vor mir ein Riesenwerbeplakat für eine neue Telekommunikationserrungenschaft mit dem Slogan: ,Wissen Sie, wer Sie wirklich sind?‘ Meine Antwort ist spontan und unumwunden: ,Nein, pas-du-tout!‘“20

Umso mehr quält ihn die Frage, wer er selbst ist, weil er sie auch für seine Gottesbeziehung als entscheidend ansieht: „Anscheinend weiß ich ja nicht mal so genau, wer ich selbst bin. Wie soll ich da herausfinden, wer Gott ist? Meine Frage muss also erst mal ganz bescheiden lauten: Wer bin ich? Damit wollte ich mich ursprünglich zwar nicht beschäftigen, aber da ich ständig von Werbeplakaten dazu aufgefordert werde, bleibt mir wohl nichts anderes übrig. Also gut – als Erstes suche ich nach mir; dann sehe ich weiter. Vielleicht habe ich Glück und Gott wohnt gar nicht so weit weg von mir. Sollte er jedoch in Wattenscheid leben, wäre ich hier allerdings ganz falsch!“21 In schonungsloser Ehrlichkeit hält er als Fazit des ersten Tages in seinem Pilgertagebuch fest: „Erkenntnis des Tages – Erst mal herausfinden, wer ich selbst bin.“22

Die Suche nach sich selbst erweist sich für den Pilger Hape Kerkeling als das tragende Motiv seiner gesamten Tour. Sein Pilgerbericht ist durchzogen von entsprechenden Tagesrückblicken: „Erkenntnis des Tages – Ich bin in mir zu Hause.“ Oder: „Erkenntnis des Tages – Keep on running. Ich halte mehr aus, als ich denke!“ Oder: „Erkenntnis des Tages – Es ist keine Frage der Zeit, wo man sich zu Hause fühlt.“ Oder: „Erkenntnis des Tages – Es ist die Leere, die vollends glücklich macht.“ Er sieht sich in einer großen inneren Nähe zu den vielen Pilgern, die gleichfalls mit der Frage nach sich selbst unterwegs waren: „Mit all den Menschen, die diesen Weg gegangen sind, fühle ich mich hier mit einem Male verbunden, mit ihren Wünschen, Sehnsüchten, Träumen, Ängsten, und ich spüre, dass ich diesen Weg nicht allein gehe.“23

Das Unterwegssein auf dem Jakobsweg hilft Hape Kerkeling, seine Suche nach sich selbst mit anderen religiösen Themen und Traditionen in Verbindung zu bringen. So fragt er sich, was eigentlich eine Erleuchtung sei und in welcher Weise sie einem am ehesten widerfahren könnte: „In meinem allwissenden Reiseführer steht, dass dieser Weg ein Erleuchtungsweg ist. Ich glaube allerdings, es ist ein Weg ohne Erleuchtungsgarantie. So wie Urlaub keine Erholungsgarantie bietet. Gut, ich will nicht zu viel erhoffen, aber Erleuchtung wäre schon nicht schlecht! Was immer das auch ist! Ich stelle mir die Erleuchtung wie ein Tor vor, durch das man schreiten muss. Wahrscheinlich darf man keine Angst haben, durch das Tor zu treten, und man darf es sich andererseits auch nicht zu sehr wünschen, hindurchzugehen. Je gleichgültiger man durch das Tor der Erleuchtung zieht, desto schneller und einfacher passiert es vielleicht? Man darf sich nicht nach dem sehnen, was hinter dem Tor ist, und nicht das hassen, was vor dem Tor ist. Es ist gleichgültig. Vielleicht ist Gleichgültigkeit ja Lebensfreude? Keine Erwartungen, keine Befürchtungen.“24

Besonders am letzten Tag des langen Weges wendet Hape Kerkeling seinen Blick von sich selbst auf den Zielort. Mit den vielen anderen Pilgern singt er das berühmte Pilgerlied, das die Anziehungskraft von Compostela zum Ausdruck bringt:

Jeden Tag nehmen wir den Weg,

Jeden Tag laufen wir weiter, weiter, weiter.

Tag für Tag ruft uns der Weg,

Es ist die Stimme von Compostela.25

Im Singen des Liedes empfindet sich Hape Kerkeling in Harmonie mit den vielen anderen Pilgern: „Da es im Wald ansonsten still ist, können wir sogar mit entfernt vor uns pilgernden Gruppen im Kanon singen. Ein absurdes Gefühl mit Menschen, die man gar nicht sieht und nie kennen wird, im Gleichklang zu singen. Wir stimmen in einen mystischen Chor mit Abwesenden ein.“26 Als er kurz darauf den Kathedralenvorplatz von Santiago de Compostela mit all dem bunten Treiben erreicht, spricht er von seinem Eintritt in den „Pilgerhimmel“. Der Empfang der Pilgerurkunde geht ihm so nahe, dass er sogar ihren lateinischen Text wiederholt:

Dominum Joannem Petrum Kerkeling hoc sacratissimum Templum pietatis causa devote visitasse. In quorum fidem praesentes litteras, sigillo ejusdem Sanctae Ecclesiae munitas, ei confero! Datum Compostellae die 20 mensis Julii anno Domini 2001.27

Im anschließenden Pilgergottesdienst wird er persönlich begrüßt. Den Ritus empfindet er wie aus einer anderen Welt: „Wir kommen uns vor wie im Jenseits.“ Doch hält ihn das gemeinschaftliche religiöse Erleben letztlich auf dem Boden: „Mit heißroten Backen und den schweren Rucksäcken stehen wir freudig erschöpft da. Natürlich umarmen wir im Anschluss an die Zeremonie, wie es sich gehört, die goldene Statue des Sankt Jakob über dem Apostelgrab.“28

In einem abschließenden Gedanken fasst Hape Kerkeling zusammen, wie er seine eigene Suche nach vertiefter Identität und den Traditionsreichtum des Pilgerweges miteinander verbunden sieht: „In unserer nahezu entspiritualisierten westlichen Welt mangelt es leider an geeigneten Initiationsritualen, die für jeden Menschen eigentlich lebenswichtig sind. Der Camino bietet eine echte, fast vergessene Möglichkeit, sich zu stellen. Jeder Mensch sucht nach Halt. Dabei liegt der einzige Halt im Loslassen.“29 Hape Kerkeling sieht den Camino gewissermaßen als einen von heiligen Traditionen und gläubigen Menschen vieler Jahrhunderte geprägten und göttlich „aufgeladenen“ Raum, der ihm in der Begegnung die Selbstannahme ermöglicht: „Gott ist das ,eine Individuum‘, das sich unendlich öffnet, um ,alle‘ zu befreien.“30

Inwieweit akzentuieren auch andere Berichte von Santiago-Pilgern der letzten Jahre die Suche nach der eigenen Identität und sprechen dabei zugleich religiösen Traditionen eine Orientierungskraft zu?

Viele deutschsprachige Pilgerberichte der vergangenen Jahre faszinieren, weil sie die individuelle Sinnsuche in Bezug setzen zu religiösen Vorgaben. Am ehesten lässt sich dieser doppelte Akzent anhand der Literaturhinweise erkennen, die bisweilen am Schluss der Pilgerberichte angefügt werden: „Erfahrungsberichte“ und „spirituelle Wegbegleiter“ finden sich hier, überdies Leseempfehlungen zur „Kulturgeschichte des Pilgerns und der Pilgerorte“ sowie Listen mit nützlichen Adressen für die Organisation des eigenen Pilgerns.31 – Eben diese Mischung aus persönlichen Reflexionen mit bisweilen existenziell-religiösen Fragestellungen einerseits und ortsbezogen-konkreten Eindrücken im Sinne eines Reiseberichts andererseits bestätigen auch die folgenden Beispiele.32

Einen eher „mystisch“ ausgerichteten Pilgertyp verkörpert der Philosoph, Theologe und Ökonomieprofessor Lee Hoinacki mit seinem 1997 auf Deutsch erschienenen Titel „El Camino“ – Ein spirituelles Abenteuer. Allein auf dem Pilgerweg nach Santiago de Compostela33: Als Pilger, der ehedem als Mitglied des Dominikanerordens in Lateinamerika arbeitete und später als Professor für Politologie tätig war, geht es ihm auf seinem Pilgerweg darum, dass er die Orte und deren Traditionen auf seine ganz eigene Art wahrnimmt: „Nun passen meine Schuhe genau in die Fußspuren von Tausenden, vielleicht Millionen, die vor mir hierher kamen und die zu demselben Ort gingen, zu dem ich jetzt gehe. Doch weiß ich aus den ,relatos‘ und der Reflexion über meine eigene Erkenntnis, dass wir alle sehr verschieden sind, jeder sucht die eigene Gnade, ein inniges, nicht mitteilbares Geheimnis in jeder Seele.“34

In einer anderen Tagebucheintragung hält Lee Hoinacki fest, wie stark er sich auch mit seiner Gottesbeziehung als „kleiner“ Pilger in die „große“ Pilgergeschichte hineinverwoben sieht: „Ich bin noch weiter in die Welt der alten Pilger hineingereist.“ Ihnen gegenüber empfindet Lee Hoinacki eine besondere Solidarität. Als Teil ihrer Pilgergemeinschaft fühlt er sich zugleich verbunden mit dem Leiden Christi, ja mit dem Leiden aller Menschen: „Wie ich schon verstanden habe, beteiligt sich der Schmerz notwendigerweise und unvermeidlicherweise an dem Schmerz des Herrn. Er ergänzt, was an dem Schmerz des Herrn fehlt. Daher muss mein Gebet für einen anderen ähnlich wirkungsvoll sein.“35

Andere Akzente als Hape Kerkeling und Lee Hoinacki setzt die Naturwissenschaftlerin Carmen Rohrbach in ihrem 1999 veröffentlichten Pilgerbericht Jakobsweg. Wandern auf dem Himmelspfad36. Ihre Beschreibung zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich auf dem Jakobsweg im ziellosen Kreislauf des Kosmos erlebt, der überhaupt nicht am Wohl des Individuums interessiert ist. Umso erstaunlicher wirkt es, dass die Autorin während ihrer Pilgerschaft zugleich eine besondere Geborgenheit fühlt. Ihre ehrliche Offenheit für die kosmische Einsamkeit des Menschen führt sie in eine Harmonie mit Gott und mit sich selbst. Am eindrucksvollsten bringt sie diesen schöpferischen Zusammenhang von allem Sein in der Passage zum Ausdruck, die über ihren weiteren Weg von Santiago de Compostela an jenen noch etwa 15 Kilometer entfernten Ort am Meer berichtet, den das Mittelalter mit dem biblischen „Ende der Welt“ (Finisterrae) identifizierte: „Es ist schön, wieder unterwegs zu sein. Von Santiago de Compostela hatte ich Abschied genommen. Eine wichtige Erfahrung für mich, doch konnte sie nicht der Abschluss meiner Pilgerreise sein. Ich glaube, erst wenn ich das ,Ende der Welt‘, Finisterrae, erreiche, wird sich mein Unterwegssein wirklich mit Sinn erfüllen. Ich denke darüber nach, was die Bezeichnung ,Ende der Welt‘ für mich bedeutet. Es klingt nach absolutem Ende: Ende der Welt – Ende des Lebens. Das ist aber für mich keine schreckliche Vorstellung. Nicht mehr als Lebewesen existent zu sein, ist für mich ein befreiender Gedanke. Die Auflösung ist eine Erlösung von der Verantwortung als Individuum. Meine Substanz als Einzelwesen kann sich dann überall hin verteilen, in alles einfließen, wieder dem Gesamten angehören.“37 Der Ort „Finisterrae“ lässt Carmen Rohrbach ihr Leben vom Ende her denken. So fällt sie während ihrer Pilgerschaft an diesem Ort die Lebensentscheidung, fortan allein zu leben.

Mehr als alle anderen bislang angesprochenen Pilgerberichte bezieht der von Paulo Coelho verfasste und 1999 auf Deutsch erschienene Pilgerbericht Auf dem Jakobsweg. Tagebuch einer Pilgerreise nach Santiago de Compostela religiöse Gebräuche und Deutungen mittelalterlicher Menschen ein.38 Diese Perspektive geht darauf zurück, dass der Autor zuvor über fünf Jahre hinweg in einer christlichen Gemeinschaft gelebt hatte („Regnus Agnus Mundi“), die 1492 gegründet worden war.

Paulo Coelho geht seinen Pilgerweg als Ausgleich für die ihm innerhalb der geistlichen Gemeinschaft verweigerte „Meisterweihe“. So beschreibt er sich als „Hochleistungsasket“. Sein religiös motivierter Verzichtseinsatz steht im Kontrast zu allen hier ansonsten vorgestellten Pilgerberichten. Doch eröffnet sich ihm nach allen Anstrengungen und nach allem Mühen schließlich eine gänzlich neue spirituelle Dimension: das Beschenktwerden. Er selbst hält diese innere Wende in bewegenden Worten fest: „Hier nun, kurz vor Cebreiro [in der Nähe von Santiago], merkte ich, dass das Wunder geschehen war. Bisher war ich den Jakobsweg gegangen, jetzt ,ging er mich‘“, wie Paulo Coelho überwältigt erkennt.39

Die unterschiedlichen Gesamtperspektiven der Pilgerberichte wirken sich auch auf die jeweilige Sicht des Wallfahrtsortes Santiago de Compostela aus. Lee Hoinacki und Carmen Rohrbach stimmen mit Hape Kerkeling darin überein, dass sie den Pilgerweg wichtiger finden als den Zielort. Die drei Pilger erleben ihre Ankunft beim heiligen Jakobus nicht als das Erreichen eines erhabenen Ortes, der Geborgenheit und Sicherheit ausstrahlt. So distanziert sich Lee Hoinacki ausdrücklich von jeder Gebeinverehrung im Zentrum der Kathedrale: „Ich habe nicht den Wunsch, irgendeine Reliquie zu sehen oder zu berühren.“40 Stattdessen bringt er seine inneren Begegnungen mit den Pilgern auf seinem Lebensweg und auf seinem Jakobsweg als seine ganz persönliche Berührung von Reliquien ins Wort: „Ich existiere nur insoweit, wie ich an den unzähligen Handlungen teilnehme, die in ihrer Summe die lebendige Tradition begründen, die mein Erbe ist, das meine Eltern und die Pilger mir gegeben haben. All die ,inneren‘ Erfahrungen dieser vier Wochen haben sich nur insofern ereignet, als sie wirkliche Verbindungen mit den Erfahrungen der Toten hatten, die mich begleitet haben. Ich habe gelernt, wie ich ein ehrliches ,wir‘ aussprechen muss, etwas grundsätzlich anderes als das unechte und selbstherrliche ,wir‘, das man heutzutage so oft hört. Die Reliquien, die ich berühre, das sind sie, das ist ihre wirkliche Anwesenheit. Ich habe sie getroffen, umarmt und geküsst; ihre Lippen waren nicht kalt. […] Die meisten sind dort draußen, auf dem ,camino‘, und warten darauf, den Pilger von heute willkommen zu heißen.“41

Ähnlich gefasst beschreibt Carmen Rohrbach ihre Ankunft in Santiago de Compostela in ausdrücklicher Abgrenzung von den mittelalterlichen Pilgergesängen („Herr Sankt Jakob, Großer Sankt Jakob, vorwärts jetzt und immerdar, Gott helfe uns“): „So sangen sie. Ich aber verspürte keinen Freudenrausch. Seltsam nüchtern stellte ich nur fest, dass ich nun wohl angekommen war. Das sollte mein Ziel sein, diese große Stadt? Aber was hatte ich denn anderes erwartet? Etwas Besonderes, ohne mir dessen jedoch ganz bewusst gewesen zu sein. Ich fühlte mich plötzlich innerlich sehr müde. Ich dachte, ich müsste einfach an diesem Wirrwarr der Dächer, Kirchtürme vorbeiwandern, einem imaginären Ziel entgegen, ohne jemals anzukommen.“42 Und mit Blick auf das Heiligtum des heiligen Jakobus hält sie fest: „Am stärksten in der Kathedrale beeindrucken mich die Menschen. Zu jeder Tageszeit habe ich in dem Gotteshaus Gläubige angetroffen, versunken in stiller Andacht.“ Einen zwiespältigen Eindruck hinterlassen bei ihr die zahlreichen Pilger, die die Statue des Heiligen umarmen: „Mich berührt der feierliche Ernst dieser Leute, aber mich erschüttert die Macht, die der Glaube auf die Vernunft ausübt.“43 – Auch mit Santiago de Compostela vor Augen erleben die beiden Autoren die Ausdrucksweisen christlicher Religion nicht so, als ob sie Gewissheit stifteten. Diese Beobachtung ist umso erstaunlicher, da der Jakobsweg mit seiner reichen mittelalterlichen Bausubstanz und der Zielort mit seinen legendarischen Sinnzuschreibungen einen für heutige Verhältnisse geschlossenen weltanschaulichen Deutungskosmos anbieten.

Allein der Pilgerbericht von Paulo Coelho ist von einem tiefen inneren Wissen um jahrhundertealte Glaubenstraditionen, ja vom Bemühen um die möglichst originalgetreue Übernahme der mittelalterlich-christlichen religiösen Ausdrucksformen durchzogen. So kann er mit Blick auf die in einer kleinen Kirche am Rande des Jakobsweges versammelten Reliquien – in diesem Falle Reste von konsekriertem Brot und Wein – hervorheben: „Die Reliquien, ein Schatz, der größer ist als aller Reichtum des Vatikans, werden noch immer dort in der kleinen Kapelle aufgehoben.“44 Coelhos Wertschätzung der Jakobusreliquien am Zielort seines Pilgerweges findet in seiner Erzählung ebenso klare wie knappe Erwähnung: „Bald werde ich zum Grab des heiligen Jacobus gehen und die auf die Jakobsmuscheln montierte Statue der heiligen Jungfrau von Aparecida dort niederlegen. Anschließend werde ich so bald wie möglich zurück nach Brasilien fliegen, denn ich habe viel zu tun.“45

Kurzum: Mit Ausnahme der Darstellung von Paulo Coelho tun die einbezogenen Berichte kund, dass die Pilgernden das „Eigentliche“ ihrer Pilgerschaft nicht länger im Zielort – in der Begegnung mit dem Heiligen in seinen Reliquien –, sondern in der Begegnung mit sich selbst und den Mitsuchenden auf dem Pilgerweg sehen. Auch eine praktisch-theologische Auswertung von aktuellen Pilgerberichten kommt hier zu einem vergleichbaren Ergebnis: „Die Verehrung des Apostels im traditionellen Sinn spielt heute nur noch bei den wenigsten Pilgern und Pilgerinnen eine Rolle. Für die meisten ist es nicht besonders wichtig, ob in dem Grab in der Kathedrale von Santiago nun tatsächlich die Knochen des Apostels liegen. Was zählt, sind die entlang des Weges gemachten Erfahrungen.“46 So ist die Pilgerschaft aktuell erstrangig geprägt von der Vertiefung der eigenen Individualität sowie von einem Mühen um Ganzheitlichkeit (Leib – Seele, Außenorientierung – Innenorientierung, Geschichte – Gegenwart etc.), jedoch kaum von institutionellen Vorgaben.

b) Das Christentum – Eine Religion des Weges

Etwa 16.500 Deutsche machten sich im Jahr 2011 gemäß einer Umfrage der Arbeitsgemeinschaft deutscher Jakobus-Vereinigungen auf, um den Jakobsweg zu gehen – 2000 mehr als im Jahr zuvor, etwa 10.000 mehr als noch im Jahr 2005. Pilgerreisen und Wallfahrten gelten eben auf breiter Basis – und weit über die vorgestellten Pilgerberichte hinaus – nicht länger als „mittelalterliche Phänomene par excellence“, denen der Geschmack des Gestrigen und Überholten anhaftet. Im Gegenteil, so unterstreicht ein Tourismusforscher: „Auf der ganzen Welt werden die ungebrochene Popularität und sogar eine Zunahme von Wallfahrten beobachtet.“47

Auch ohne dass verlässliche Angaben zur jährlichen Zahl der Pilger und Wallfahrer in allen Religionen vorliegen, ist das Jahresaufkommen an katholischen Pilgern beeindruckend. Unter den römisch-katholischen Wallfahrtsorten ist das mexikanische Marienheiligtum Guadalupe mit rund 14 Millionen Pilgern jährlich der meistbesuchte Wallfahrtsort der Welt. Mit 7,5 Millionen Besuchern folgt das süditalienische San Giovanni Rotondo, der Wohn- und Sterbeort des in Italien äußerst populären Pater Pio († 1968). An dritter Stelle in der Statistik der Wallfahrtsorte rangiert das brasilianische Marienheiligtum in Aparecida mit jährlich 7,3 Millionen Pilgern. Es folgen mit jeweils etwa fünf Millionen Besuchern der Marienwallfahrtsort Lourdes und der Montmartre von Paris in Frankreich, Tschenstochau in Polen, Fátima in Portugal, Luján in der Nähe von Buenos Aires in Argentinien und Padua in Italien. Gleich dahinter finden sich mit etwa 4,5 Millionen Besuchern jährlich die Wallfahrt zum heiligen Jakobus in Santiago de Compostela in Spanien sowie die Pilgerfahrt nach Assisi und Loreto in Italien. Dagegen pilgern an die Stätten Jesu im heutigen Israel jährlich nur ungefähr zwei Millionen Menschen, etwa ebenso viele wie zum afrikanischen „Petersdom“ in Yamoussoukro an der Elfenbeinküste.48

Ein seltsamer Kontrast: Zwar schätzen die Pilger in jüngerer Zeit eher die persönlichen Erfahrungen des Weges als den Zielort mit den heiligen Reliquien. Doch ist es offenbar weiterhin die Faszination des Zielortes, der die Menschen überhaupt erst zu ihrem Vorhaben der Pilgerschaft und den damit verbundenen Wegerfahrungen motiviert. – Umso mehr stellt sich die Frage, wie es im Christentum – innerhalb wie außerhalb Europas – überhaupt zu einem solchen Netz von heiligen Orten kommen konnte, das so viel religiös begründete Mobilität ausgelöst hat. Diese Überlegungen sehen sich zudem dadurch provoziert, dass das Neue Testament die Anlage solcher Orte weder kennt noch anmahnt.

Christliche Sakralorte und Pilgerschaft

Bekanntermaßen berichten die Evangelien, dass Jesus in seinem Erdenleben vielfältig umherzog und dass seine Anhänger ihn begleiteten. Unvorstellbar aber ist, dass Jesus eine christliche Wallfahrt angestoßen oder gar einen christlichen Pilgerweg initiiert hätte. Auch seine Jünger und Apostel richteten solche Gedenkstätten nicht ein.

In der Spur des Alten Testaments leiteten die frühen Christen jede Heiligkeit von der alles überstrahlenden Heiligkeit Gottes ab (Habakuk 1,12; Habakuk 3,3). Gemäß alttestamentlicher Überzeugung kann Gott auch „Menschen und Dingen, Orten und Zeiten“ Anteil an seiner Heiligkeit geben, sodass sie dadurch fortan aus der profanen Umgebung ausgesondert sind.49 Sogar eine Vermischung aus personen- und ortsgebundener Heiligkeit bezeugen die jüdischen Traditionen. Insofern seit der makkabäischen Verfolgung im 2. Jahrhundert v. Chr. die Blutzeugen und Märtyrer als besondere Freunde Gottes galten, wurden auch ihre Gräber geehrt und als Kraftquellen wertgeschätzt: „Die Wirkkraft des verstorbenen Gerechten geht von seinem Grabe aus, und deshalb werden die Heiligengräber von den Juden der jesuanischen Zeit hoch in Ehren gehalten.“50