Ute Schall

KLEOPATRA

KÖNIGIN AM NIL

GELIEBTE DER GÖTTER UND FELDHERREN

Meinen Enkelkindern

Anna und Gabriel gewidmet

Die schwere Stunde der Geburt

Gespenstische Stille herrschte in dem weitläufigen Palast. Die Sommernacht hatte sich schwarz und schwer auf Alexandria gelegt. Nur ein paar Sterne leuchteten. Niemand war zu sehen. Mitternacht war längst überschritten, und bald würde Helios-Re seinen Sonnenwagen aufziehen und Hausangestellte und Sklaven würden sich an ihre tägliche Arbeit machen.

Ab und zu durchdrang ein schriller Schrei die unheimliche Dunkelheit. Die Königin lag in den Wehen. Sie erwartete ihr erstes Kind, sie war noch sehr jung.

Vor wenigen Monaten hatte Ptolemaios, der Herr über Ober- und Unterägypten, geruht, mit ihr das Lager zu teilen; mit ihr, die nicht königlicher Abstammung und also nicht seines Blutes war, das das Königsgeschlecht auf jenen Ptolemaios zurückführte, den der große Alexander vor undenklichen Zeiten auf den Thron des alten Landes am Nil gesetzt hatte, damit er Ägypten zu seiner einstigen Größe zurückführe. Sie war stolz darauf, dem König mit der Jugend ihres Leibes dienen zu dürfen. Aber sie würde an diesem Hof immer eine Fremde bleiben. Niemals würde sie einen Platz in den Geschichtsbüchern erhalten, ja nicht einmal Erzählungen und Legenden würden ihren Namen an Nachgeborene weitergeben. Das war der Preis, den sie zu zahlen hatte, um ihr Leben an der Seite des geliebten Mannes verbringen zu dürfen. Aber sie beklagte sich nicht. Sie hatte es nicht anders gewollt.

Gewiss, es war nicht leicht, Pharao Ptolemaios, den sie den „Neuen Dionysos“ nannten, zu lieben: Er war von wenig ansprechender Erscheinung, schon in seinen noch jungen Jahren zu Fettleibigkeit neigend und aufgedunsen vom Genuss griechischen Weins, den er stets unvermischt und in reichlichen Mengen zu sich nahm. Ob man ihm deshalb den Beinamen des Weingotts gegeben hatte? Die junge Königin wusste es nicht. Auch „Auletes“ nannten ihn seine Untertanen, den Flötenspieler, ein Name, den er besonders schätzte, denn er liebte die Hausmusik. Und oft hörte man im Palast den Klang seiner Flöte und die zarten Töne der Harfe, die sie, die große königliche Gemahlin, anschlug.

Vor einem knappen Jahr war er nach Memphis gekommen, um dort in einem noch immer herrlichen Tempel aus altägyptischer Zeit nach dem Rechten zu sehen und den Gott Osiris-Apis, den verstorbenen heiligen Stier, den die Griechen Serapis nannten, Schutzgeist von Memphis, zu Grabe zu tragen. Mit den Priestern waren die religiösen Feierlichkeiten zu Ehren des Verstorbenen zu besprechen, die Griechen und Ägypter gemeinsam begehen sollten. Traditionsgemäß wurden seit vielen Jahrhunderten die heiligen Stiere einbalsamiert und in gewaltigen Steinsarkophagen im Serapeum bei Memphis beigesetzt. Dann hoffte man ungeduldig auf das Erscheinen eines neuen Apis, der Sonne und Mond, Tag und Nacht und damit Leben und Tod in sich vereinte. Nur ein Tier, das das heilige Zeichen des hellen Dreiecks auf der Stirn trug, konnte dieser Ehre teilhaftig werden …

Ptolemaios war bestrebt, die alten Kulte beizubehalten und mit den Bräuchen der Eindringlinge zu versöhnen, um so Aggressionen von Einheimischen gegen die Eroberer und von Eroberern gegen die Einheimischen abzubauen. Wie keiner seiner Vorgänger beherrschte er die Politik des Ausgleichs und der hohen Diplomatie.

Der Besuch des Königs war schon viele Wochen zuvor angekündigt worden, und die Apis-Priester hatten dazu aufgerufen, ihm ein herzliches Willkommen und einen angenehmen Aufenthalt zu bereiten. Die Neugier war groß gewesen. Noch hatte keiner den Pharao gesehen. Aber überall wurde die Erinnerung an seine Vorgänger bewahrt; jene Ägypter und gottähnlichen Menschen, die seit vielen Jahrhunderten am Westufer des Nils in gewaltigen Steinburgen wie Osiris ihrer Auferstehung harrten. Pyramiden nannte man die Grabstätten und sie wurden längst zu den Weltwundern gezählt. Die Zeit der großen Pharaonen war freilich vorbei.

Wie Ptolemaios, der Fremdherrscher, mit dem man sich allerdings gut arrangiert hatte, wohl aussah? Erwartungsvoll und von weiblicher Neugier getrieben, fieberte die Tochter des Hohepriesters der Ankunft des Königs entgegen. Hatte ihr nicht ein alter Seher erst kürzlich geweissagt, mit Ptolemaios’ Erscheinen stünden ihr ein großes Glück und eine tiefgreifende Veränderung ins Haus? Eigentlich gab sie nichts auf solche Vorhersagen. Jedermann in Memphis bescheinigte ihr neben außerordentlicher Schönheit die Gabe eines scharfen Verstandes, und dass Menschen zuverlässig in die Zukunft sehen konnten, mochten Dümmere glauben als sie. Allzu viele Speichellecker und Möchtegern-Propheten biederten sich ihrer Familie, der vornehmsten weit und breit, immer wieder an, in der Hoffnung, sich persönliche Vorteile zu verschaffen. Doch diesmal war es anders. Nachdem der Alte ihr die günstige Wendung in ihrem jungen Leben vorhergesagt und sie zur Bestätigung den Orakelspruch des Gottes Apoll aus Delphi eingeholt hatte, schwanden alle Zweifel und wuchs ihre Vorfreude, sodass sie das Kommen des neuen Herrschers kaum erwarten konnte. Vielleicht würde er sie ja nach Alexandria mitnehmen und dort seiner Gemahlin als Hofdame zum Geschenk machen!

Sie stand auf der Terrasse ihres väterlichen Palastes hoch über dem golden schimmernden Fluss und bestaunte mit geweiteten Augen den Prunk, mit dem der König seine Ankunft inszeniert hatte. Boote nach Art römischer Trieren, wie sie sie von Abbildungen her kannte, prächtig mit Girlanden, Fahnen und bunten Tüchern geschmückt, begleiteten die königliche Barke, auf der Ptolemaios unter einem purpurroten Baldachin stand, einer Statue des Gottes Osiris gleich, angetan mit einem fließenden weißen Gewand, auf den Schultern ein Pektoral aus Lapislazuli und die Doppelkrone Ober- und Unterägyptens auf dem stolz erhobenen Haupt. Seine Hände hielten Krummstab und Geißel und waren über der gewölbten Brust gekreuzt.

Das Herz der Priestertochter pochte vor Aufregung. Sie konnte ihren Blick nicht abwenden von diesem verschwenderischen Schauspiel, das ihr die große Vergangenheit ihrer Heimat wiederbrachte, von all der Prachtentfaltung, mit der der Fremde seine Untertanen ehrte. Sie wusste später nicht zu sagen, ob sie sich zuerst in den prunkvollen Auftritt verliebt hatte oder in die erhabene Haltung des Mannes, der einer Gottesstatue gleich auf dem Nil daherkam. Sie wusste nur, dass sie diesem Mann nie mehr von der Seite weichen, mit ihm eins sein wollte, solange die Götter Ägyptens ihr zu leben bestimmt hatten.

Nur wenige Tage nach seiner Ankunft waren sie ein Paar.

Sie traten vor den Vater der Schönen und baten ihn um seinen Segen, den der eitle Priester nur allzu bereitwillig erteilte. Zwar verstand er nicht, was seine Tochter an dem Fremden fand, der nach allgemeiner und auch seiner Ansicht wenig anziehend und noch nicht einmal Ägypter war. Nur seine Augen, tiefe, unergründliche Höhlen, schienen ihren Betrachter zu verschlingen, und wenn man sich ganz in sie versenkte, nahmen sie einen fast dämonischen Ausdruck an. Aber der Hohepriester war keine Frau und so vermochte er auch nicht zu sagen, was im Kopf einer solchen vorging. Sie sollte ihn haben, wenn ihr denn so viel an ihm lag, auch wenn der Brauch verlangt hätte, dass er als Vater den Ehemann für seine Tochter wählte. Schließlich konnte es nicht ganz verkehrt sein, den Inhaber des ägyptischen Thrones an die alteingesessene Priesterschaft zu binden. Und welches Band war stärker als das des Blutes?

Es spielte keine Rolle, dass Ptolemaios bereits verheiratet war, dass seine rechtmäßige Gemahlin, Kleopatra, die ihm die Tochter Berenike geboren hatte und den Beinamen Tryphaina trug, in Alexandria auf ihn wartete. Schon vor geraumer Zeit waren Gerüchte nach Memphis gedrungen, Ptolemaios würde sich nur allzu gern von der unliebsamen Frau trennen, die sich nach Berenikes Geburt als unfruchtbar erwiesen hatte und obendrein als überaus launisch galt. Freilich durfte darüber nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen werden. Wie Ptolemaios selbst, entstammte Kleopatra dem edlen griechischen Königsgeschlecht, und die Verwandten jenseits des Meeres hätten eine Trennung von ihr und eine Wiederverheiratung kaum geduldet und schon gar nicht die Verbindung mit einer Ägypterin, mochte die nun dem alten Landesadel entstammen oder auch nicht. Für die Tochter des Hohepriesters kam allerdings ein Zusammenleben ohne eine rechtmäßige Heirat nicht in Frage und sie beabsichtigte auch nicht, am Hof zu Alexandria die Nebenfrau zu spielen. Sollte sie Ptolemaios in die Hauptstadt begleiten, musste Kleopatra weg.

Tatsächlich hatte auch der König schon lange daran gedacht, die große königliche Gemahlin wie auch immer aus seiner Nähe zu entfernen, und so befahl er noch von Memphis aus ihre Verbannung, die unverzüglich zu vollziehen war. Er wollte ihr nicht mehr begegnen, denn er fürchtete sie, was er freilich nie zugegeben hätte. Durfte der große König, Herr über Ober- und Unterägypten, denn Furcht haben vor einem gewöhnlichen Weib? Doch wie würde das Volk, wie würden Griechen und Römer auf die Verbannung reagieren?

Den Römern, die immer größeren Einfluss auf sein Reich am Nil gewannen, wäre es sicherlich gleichgültig. Seine Herrschenden wandten noch ganz andere Methoden an, um sich den Rücken frei zu halten. Den Griechen freilich müsste die Trennung auf geschickte Weise verschwiegen werden. Ein Trick war zu ihrer Täuschung nötig. Niemand durfte von Kleopatras Verbannung erfahren. Die stolze Frau selbst würde stillschweigen, davon war Ptolemaios überzeugt. Denn kaum würde es ihre Eitelkeit zulassen, mit einer derartigen Kränkung an die Öffentlichkeit zu gehen. Zum anderen mochten ein ansehnlicher Geldbetrag und ein angenehmes Exil, das er ihr gewähren wollte, sie davon überzeugen, ihr Schicksal ohne Murren zu ertragen. Ohnehin hatte sie damals ihren Halbbruder Ptolemaios nur widerwillig aus familiären Gründen und im Sinne der Staatsräson geheiratet und sich als Ehefrau des Gottkönigs nie recht wohl gefühlt.

Mit der Tochter des Hohepriesters stand es da anders. Nicht nur, dass die kluge Frau daran dachte, durch eine Heirat mit dem König ihrem Volk eine Aufwertung zu verschaffen, ja es mit den griechisch-makedonischen Herrschern zu versöhnen. Sie beabsichtigte auch, in der Politik ihres Gatten kräftig mitzumischen. Ptolemaios war Wachs in ihren Händen. Zudem liebte sie ihn aufrichtig. So war sie damals auch nach anfänglichen Bedenken bereit gewesen, Kleopatras Platz neben Ptolemaios einzunehmen und namenlos oder besser: auf ihre eigene Identität verzichtend, als Mutter seiner Kinder in die Geschichte einzugehen. Niemand sollte je erfahren, was am Hof vor sich gegangen war. So veränderte sich für die griechische Verwandtschaft nichts und auch nicht für das Volk, das von der Herrin vom Nil ohnehin keine konkrete Vorstellung hatte. Denn das hohe Herrscherpaar pflegte sich kaum in der Öffentlichkeit zu zeigen und wenn, dann verhüllt in der Sänfte oder auf der königlichen Barke am Nil, weit entfernt von den Augen der das Ufer säumenden neugierigen Menge. Und allen Palastdienern, die Zugang zu den Gemächern der Königsfamilie und Schlüssel zu den geheimen Kabinetten hatten, hatte man die Zunge herausgeschnitten, damit sie das Geheimnis um die neue Königin nicht ausplaudern konnten – allen, bis auf einer: Naoma, der treuesten Dienerin, die ihrer Herrin aus Memphis nach Alexandria gefolgt war und ihr nicht von der Seite wich.

„Du musst pressen, geliebte Herrin!“, forderte sie die junge Königin mit strenger Miene auf. Die Anrede ließ eine besondere Vertrautheit erkennen. „Das Köpfchen des Kindes ist bereits zu sehen“, tröstete sie. „Das Schlimmste ist überstanden.“ Dabei streichelte sie der Gebärenden sanft über die schweißnasse Stirn.

Ein erneuter Schrei durchschnitt die nächtliche Stille.

„Warum haben die Götter vor die Freude den Schmerz gestellt?“, hauchte die Königin. „Was denkst du, Naoma?“

„Ich denke, dass sie den Menschen klar machen wollen, dass der Weg zur Ewigkeit kein reines Vergnügen ist.“

„Bist ein kluges altes Mädchen, Naoma“, bemerkte die junge Frau und lächelte gequält. „Ich bin so froh, dass du mich damals nicht im Stich gelassen hast, als König Ptolemaios beschloss, mich nach Alexandria mitzunehmen und zu seiner Königin zu machen.“

„Ptolemaios, Ptolemaios, ich mag ihn nicht, deinen Ptolemaios. Und ich konnte unmöglich verantworten, dich ihm ganz und gar zu überlassen. Habe ich dir nicht Treue bis in den Tod geschworen?“ Die Alte schüttelte ungläubig den Kopf. Wie konnte ihre Herrin auch nur einen Augenblick lang daran zweifeln, dass sie ihrer alten Amme unbedingt vertrauen konnte? War Naoma nicht bei ihr gewesen seit fernem Anbeginn, hatte sie ihr nicht bis heute, so gut sie es vermochte, die bei ihrer Geburt verstorbene Mutter ersetzt?

Die Dienerin watschelte zum Fenster, das sich zum Garten hin öffnete. Die Luft war stickig in der engen Geburtskammer, die ganz am Ende eines langen Ganges in einem Nebenflügel des Palastes lag. Nichts zu spüren von der frischen Meeresbrise, die gewöhnlich nachts die Gemächer durchdrang. Der Atem Poseidons, wie sie die Alexandriner nannten, war heute ausgeblieben. Aber schon nach wenigen Augenblicken schwängerte schwerer Rosenduft den Raum. Frösche quakten im nahe gelegenen Teich, und die Grillen, die im Zirpen miteinander zu wetteifern schienen, kündigten den nahenden Tag an.

Noch einmal nahm die junge Königin all ihre Kraft zusammen. Noch einmal erklang ein markerschütternder Schrei. Dann war alles ruhig und des Pharaos große königliche Gemahlin fiel in einen tiefen, todesähnlichen Schlaf.

„Ruhe dich nur aus, meine kleine Prinzessin, schlaf gut, geliebtes Mädchen! Sie hier wird nicht das einzige Kind sein, das Pharao und deine Stellung von dir fordern. Mögen dir die Götter Ägyptens auch künftig beistehen!“, betete die Alte. „Und die der Griechen“, fügte sie leise hinzu. Damit warf sie einen mütterlichen Blick auf die erschöpfte junge Frau und nahm das Kind, das ihre Herrin soeben geboren hatte, in die Arme.

Geburten waren Sache der Frauen und so hatte sich König Ptolemaios schon tags zuvor, als bei seiner Gemahlin die ersten Wehen eingesetzt hatten, heimlich aus dem Palast geschlichen, um sich inkognito in einem Edelbordell der Stadt die Zeit zu vertreiben. Aber er hatte bei all den schönen Damen, die ihn barbusig bedienten und ab und zu sogar ihren knappen Lendenschurz lüfteten, keine rechte Freude gefunden, nicht einmal Ablenkung, sodass er schon am frühen Morgen eher missmutig denn zufrieden das „Haus der Entspannung“ wieder verließ und den stummen Sänftenträgern durch Gesten bedeutete, dass er noch ein wenig durch die Stadt getragen, zum Grab seines berühmtesten Vorfahren und schließlich in den Palast zurück gebracht werden wolle. Was war das nur mit der Liebe? Seit gestern Abend ließ ihm diese Frage keine Ruhe. Seitdem ihm die Tochter des Hohepriesters in Memphis über den Weg gelaufen war, gelang es anderen Frauen immer seltener, ihn in Stimmung und sein Blut zum Wallen zu bringen, und oft genug hatte er schon vor fremden Schößen kläglich versagt.

Alexandria kam ihm heute nicht zum ersten Mal wie ein Kleinod vor, ein Juwel, und das sicherlich bedeutendste sichtbare Vermächtnis Alexanders des Großen, wie er inzwischen bei allen Völkern rund um das Meer und wahrscheinlich weit darüber hinaus genannt wurde. Kaum ein Herrscher oder Feldherr, der sich nicht bemühte, ihm nachzueifern, der ihn nicht als größten Heroen, der jemals unter der Sonne gelebt und gewirkt hatte, verehrte. Neugierig sah sich der König um. Rom, dachte Ptolemaios, die viel gepriesene Hauptstadt des Römerreiches, konnte kaum prächtiger sein. Breit waren Alexandrias marmorgepflasterte Straßen, gesäumt von bunten Säulenhallen, die Spaziergänger vor Sonne, Wind und Regen schützten. Inbrünstigen Gebeten gleich die zum Himmel emporstrebenden Tempel, die der Makedone den Göttern seiner Heimat gewidmet hatte. Vom großen Stadion her hörte er das Grölen der Massen und vom Musiktheater die zarten Töne einer Harfe. In der Ferne grüßte der Leuchtturm von Pharos, mit dem Alexanders Nachfolger die Stadt bereichert hatten und der die Seefahrer bei Dunkelheit sicher in den felsigen Hafen führte. Zu den Weltwundern wurde die gewaltige Anlage mittlerweile gezählt. Schiffe aller Herren Länder ankerten vor Alexandria, wurden entladen und beladen und mehrten mit ihrem Warenfluss den Wohlstand der Stadt, brachten aber auch manchen Neugierigen hierher. „Du kommst als Fremder und du gehst als Freund.“ Dieses Schlagwort hatten sich die Stadtväter auf die Fahnen geschrieben. Aber auch Gelehrte trieb es in Scharen hierher. Galt doch die Perle am Südufer des Mare Internum, wie die Römer – ein wenig überheblich, wie Ptolemaios fand, als gehöre das große Wasser nur ihnen – die Stadt nannten, neben dem viel älteren Athen als Mittelpunkt der Künste und Wissenschaften schlechthin, der all jene anzog, die nach Vervollkommnung in der Kunde des Heilens, der Rhetorik, des Steinhauens und der Jurisprudenz strebten. Nicht umsonst besaß Alexandria die größte Bibliothek der zivilisierten Welt oder zumindest dessen, was Griechen und Römer dafür hielten. Das gesamte Wissen der Menschheit war dort vereint. Ungeheure Schätze hatten sich im Laufe von vielen Jahrhunderten in den Bücherpalästen angehäuft.

Mit stolz geschwellter Brust betrachtete der große König die zu Stein gewordene Herrlichkeit, wenn ihm auch mit einem Mal all die Pracht bedroht und vergänglich erschien. War sie denn echt, die Fröhlichkeit, die auf den Straßen herrschte? War sie ehrlich, die gegenseitige Achtung, mit der hier Griechen, Ägypter, Römer und auch Juden – denen ein eigenes Stadtviertel zugewiesen war, damit sie ihrer besonderen Lebensweise nachgehen konnten – friedlich nebeneinander lebten? Oder war das alles nur ein schöner Schein? Konnte nicht ein einziger Funke genügen, die ganze Stadt in ein Flammenmeer zu verwandeln? Eine Prügelei, ein Mord oder auch nur ein unbedachtes Wort? Ptolemaios war sich durchaus bewusst, dass auch die fast drei Jahrhunderte, die sein Geschlecht inzwischen über Ägypten herrschte – mit viel Fingerspitzengefühl, wie er meinte –, die Kränkung des besiegten Volkes mit seiner vieltausendjährigen Geschichte nicht hatte wettmachen können und dass die Herrschaft der Ptolemäer zu jeder Zeit bedroht war. Waren nicht sogar einige seiner Vorgänger vom Thron gestoßen und gewaltsam ums Leben gebracht worden? Nein, man durfte sich keinen Illusionen hingeben. Er tat, aller Kritik zum Trotz, sicherlich gut daran, sich mehr und mehr an die Römer zu halten, die ihm als einzige geeignet schienen, den ägyptischen Pöbel in Schach zu halten, und die kaum Interesse daran haben konnten, auch das alte Land am Nil ihrem Imperium einzuverleiben. Schließlich wurde es seit Generationen von Griechen beherrscht und jedermann wusste, mit welch großer Bewunderung, ja Hochachtung, Rom der griechischen Kultur begegnete, sie bereitwillig bei sich aufnahm und als heiliges Erbe an die kommenden Generationen weiterzugeben gedachte. Nein, von Rom drohte ihm und den Seinen sicherlich keine Gefahr. Es kam nur darauf an, die Herren der Welt, die die Römer ja längst waren, bei Laune zu halten. Und Ptolemaios wusste, wie das gelang.

Inmitten der Stadt, die seinen Namen trug, ruhte in einer gewaltigen Grabburg in gläsernem Sarg der große Heroe, mit Wachs und Honig einbalsamiert und damit der Vergänglichkeit entrissen. Nicht nur Griechen sah man an der heiligen Stätte inbrünstig beten. Auch viele Einheimische konnten sich der Anziehungskraft, die der Mythos Alexander noch immer ausstrahlte, nicht entziehen.

Ptolemaios bedeutete seinen Dienern anzuhalten. Er zwängte seine Leibesfülle aus dem engen Tragestuhl, befahl allen Bewunderern Alexanders zu verschwinden und näherte sich voll Ehrfurcht dem Toten. Kaum wagte er, den Blick zu heben. Demütig bat er den großen Ahnen um Wohlergehen für sein Geschlecht, die Dynastie der Ptolemäer, er möge die Götter der Griechen bitten, ihnen Gesundheit, ein langes Leben und die immerwährende Herrschaft zu gewähren. Als er aufblickte, meinte er, in den Zügen des Toten ein leichtes Lächeln zu entdecken. Aber er vermochte nicht zu sagen, ob es Freude oder Spott ausdrückte. Dann kehrte er einigermaßen beruhigt, da der Angerufene geantwortet hatte, in die Stille seines Palastes zurück.

Die namenlose Königin hatte sich inzwischen etwas erholt. Sie war aus dem Geburtszimmer, das von eifrigen Dienerinnen mit Weihrauch vom Geruch des Blutes befreit worden war, in ihre eigenen Gemächer gebracht, in ein golddurchwirktes Gewand gesteckt und aufwändig geschminkt worden. Aufrecht in fülligen Kissen sitzend empfing sie ihren Gemahl. Das Neugeborene, das man ebenfalls gebadet und mit dem königlichen Erstlingsgewand bekleidet hatte, hielt sie stolz im Arm.

Die junge Frau schien glücklich zu sein. Selbst unter der dicken Schicht von Bleiweiß konnte man das Strahlen ihres Gesichts erkennen, die leuchtenden schwarzen, nach altägyptischer Art mit Kohlenstaub vergrößerten Augen und den lächelnden Mund mit den aufgeworfenen Lippen. Sachte beugte sich der König über die geliebte Frau und küsste ihr dankbar die jugendliche Stirn. Gewiss, er hatte bereits eine Tochter, jene wilde Berenike, die ihm die Schwestergemahlin Kleopatra geboren hatte. Und da war auch noch Thea, seine Stieftochter, die sich allmählich zu einer blühenden Schönheit entwickelte. Kleopatra hatte sie aus einer früheren Ehe mit einem syrischen Prinzen mit an den Hof gebracht und Ptolemaios hatte sich des kleinen Mädchens angenommen und versucht, ihr ein fürsorglicher Vater zu sein. Jetzt freilich war Thea herangereift und es würde bald an der Zeit sein, für sie eine standesgemäße Verbindung zu suchen. Er hatte selbst schon daran gedacht, sie zu seiner Gemahlin zu machen. Er schätzte ihr sanftes Wesen und die stille Art, hinter der sich dennoch ein hervorragender Geist verbarg. Schon während der letzten Jahre hatte er sie öfter beobachtet und mit Erstaunen festgestellt, dass er Thea anders sah, als ein Vater seine Tochter sehen sollte. Aber dann war ihm sie, die Schöne aus Memphis, über den Weg gelaufen und er hatte sich Hals über Kopf in sie verliebt. In das ebenmäßige Gesicht mit dem Teint, der an die Farbe heller Oliven erinnerte, in die sprechenden Augen, die Liebe und Wärme ausstrahlten, in hoch gewölbte Brauen und langes, seidenglattes, glänzendes Haar. Er betrachtete voller Mitgefühl das von den Strapazen der Entbindung gezeichnete und dennoch zufrieden lächelnde Gesicht, dachte an ihren stolzen, aufrechten Gang, der einer großen Königin würdig war und erinnerte sich ihrer klugen und umsichtigen Ratschläge, mit denen sie Einfluss auf seine Herrschaft nahm. Er hatte wahrlich keinen schlechten Tausch gemacht und seinen Entschluss nie bereut. Kleopatra, die Verbannte, die, wie man ihm berichtet hatte, ihr freies Leben in vollen Zügen genoss, war sich selbst stets genug gewesen, hatte immer nur Sinn für Mode, Schmuck und die neuesten Frisuren gezeigt und sich vor allem dafür interessiert, was bei den römischen Damen gerade gefragt war.

Gewiss, er war etwas enttäuscht. Aber er würde es der Geliebten nie zeigen. Wie alle Herrscher vor ihm hatte er sich sehnlichst einen Sohn gewünscht, einen, der das ruhmreiche Geschlecht der Ptolemäer fortführen und ihn auf dem Thron beerben könnte, doch die Vorsehung hatte ihm nur diese weitere Tochter vergönnt. Dennoch würde er versuchen, ein guter Vater zu sein. Im Übrigen war seine Gemahlin noch jung. So es den Göttern gefiele, würden sie noch viele Kinder miteinander haben. Mit gemischten Gefühlen betrachtete er das kleine runzlige Gesichtchen, die winzigen Hände, den kahlen Kinderkopf. Dann schlug die Kleine die Augen auf, die grün und unergründlich schimmerten und an das Wasser des Nils erinnerten. Da war ihm, als spiegele sich in ihnen sein eigenes Sein. Und mit einem Mal erkannte sich der große König in diesem Kind selbst.

„Nun, ich denke, meine Geliebte, es ist auch in deinem Sinn, wenn wir unser erstes gemeinsames Kind in der Familientradition Kleopatra nennen. Wir werden sie gemeinsam erziehen. Ich werde ihr die Ideale der griechischen Welt vermitteln und du sollst sie die Sprache deines Volkes, der Ägypter, lehren. So wird unsere Tochter dereinst beiden Völkern dienen können.“