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Brigitte Melzer

Der Schwur des MacKenzie-Clans

Roman

hockebooks

20

Sessany saß in Lachlan MacMathains Empfangszimmer. Lachlan selbst hatte ihr einen Sessel vor den Kamin gerückt, ihr eine Decke um die Schultern gelegt und dafür gesorgt, dass sie einen Becher dampfenden Gewürzweins bekam. Sie war erleichtert, weil Iomaér das Gespräch bestritt, während sie sich damit begnügen konnte, einen verstörten Eindruck zu erwecken. Wie oft hatte sie sich in den letzten Tagen gefragt, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, Iomaér zu überreden sie nach Dùntràth zu bringen?

Ihre Finger klammerten sich um den Weinkelch. Sie sog den würzigen Duft ein und wartete, dass die beruhigende Wirkung der Kräuter einsetzte. Seit geraumer Zeit folgte sie der Unterhaltung zwischen Iomaér und Lachlan. Die beiden saßen einander an einer ausladenden Tafel gegenüber. Vor Iomaér stand ein Becher Wein, den er noch nicht einmal angerührt hatte. In allen Einzelheiten gab er die Geschichte ihrer Entführung wieder, die sie auf dem Weg hierher unzählige Male durchgesprochen hatten. Sie war froh, dass niemand von ihr erwartete, sich an dem Gespräch zu beteiligen. Wenn ich den Mund halte, wird er nicht bemerken, dass nichts davon wahr ist.

Hin und wieder wanderte ihr Blick zu Bran, der mit ausdrucksloser Miene neben der Tür stand. Iomaér hatte ihn als seinen Jagdgehilfen vorgestellt und Lachlan hatte ihm nicht mehr Aufmerksamkeit gewidmet, als es einem Dienstboten gebührte.

»Seit MacDonalds Flucht war meine Schwester seine Gefangene. Es grenzt an ein Wunder, dass es ihr gelungen ist, ihm zu entfliehen.« Die Wut war aus Iomaérs Stimme gewichen, als er fortfuhr: »Ich fand sie vor drei Tagen. Entkräftet und vollkommen verstört irrte sie an den Ufern des Loch Linneh nahe der Grenze zu MacDonalds Land umher. Da Dùntràth näher war als Eilean Donan, dachte ich, ich bringe sie zu dir, ehe ich Vater Bericht erstatte.«

MacMathain fuhr auf. »Dieser verdammte Hundesohn! Hat er …?«

Iomaér schüttelte den Kopf. »Er hat sie nicht geschändet, falls du das meinst.«

MacMathains Verhalten überraschte sie. Dieser Mann hatte sie bisher nur ein einziges Mal zu Gesicht bekommen – eine Begegnung, an die sie sich nicht einmal erinnern konnte – und dennoch war er ihr gegenüber voller Freundlichkeit und Mitgefühl. Das entsprach nicht dem Monster, das sie sich in ihrer Vorstellung ausgemalt hatte. Wann immer sein Blick in ihre Richtung wanderte, wich die Kälte aus seinen blauen Augen und machte offener Besorgnis Platz.

»Allein der Gedanke, dass meine Braut in der Gewalt dieses Abschaums war …« Er schlug mit der Faust so hart auf den Tisch, dass das Holz erzitterte. »Dafür wird er bezahlen!« Er erhob sich. »Er wird keine Freude mehr an Finlaggan haben. Alasdair MacDonald ist ein toter Mann!«

Über seinen Wutausbruch erschrocken, wandte sie den Blick ab. Ihre Augen hefteten sich auf den Finger, an dem sie vor wenigen Stunden noch Alasdairs Ring getragen hatte. Jetzt hing er – verborgen unter ihrem Kleid – an einem Lederband um ihren Hals.

Als sie das nächste Mal aufsah, kniete Lachlan vor ihr nieder und schloss seine Hände um ihre. Im flackernden Schein des Kaminfeuers schimmerte sein schulterlanges Haar golden wie Sommerweizen. »Ihr habt viel durchgemacht, Herrin. Verabschiedet Euch jetzt von Eurem Bruder. Ein Diener wird Euch Euer Zimmer zeigen. Legt Euch nieder und ruht Euch aus. Es wäre mir eine Ehre, wenn Ihr mir heute Abend das Vergnügen bereiten würdet, mit mir zu speisen.«

»Das werde ich gerne tun«, brachte sie hervor.

Er gab ihre Hände frei, erhob sich und zog seinen Plaid zurecht. Mit einem letzten Nicken in Iomaérs Richtung verließ er den Raum. Sessany stand auf und schloss Iomaér in die Arme. Eine Umarmung, die all das ausdrückte, was sie nicht auszusprechen wagte. Iomaér hatte versprochen, Alasdair eine Nachricht zukommen zu lassen. Ebenso hatte er gelobt, alles in seiner Macht Stehende zu tun, damit ihre Scharade nicht zu früh entdeckt würde. Zu ihrer Erleichterung habe er Lachlan gedrängt, Bran als ihren Leibwächter aufzunehmen. Er hatte behauptet, nach allem, was sie erlebt habe, könne ein vertrautes Gesicht in ihrer Umgebung Wunder wirken.

»Du musst Alasdair vor MacMathains Rachedurst warnen«, raunte sie ihm ins Ohr. »Er soll auf der Hut sein.«

Iomaér gab sie frei. »Das werde ich.« Er nickte ihr ein letztes Mal zu, dann ging er.

*

An diesem Abend saß sie mit Lachlan zu Tisch. Nachdem das Essen aufgetragen war, hatte er die Diener fortgeschickt. Er erwies sich als angenehmer Gesprächspartner, der sich nicht daran störte, den größten Teil der Unterhaltung allein zu bestreiten. Immer wieder versicherte er ihr, wie erleichtert er über ihre sichere Ankunft sei und wie sehr er sich auf die bevorstehende Vermählung freue. »Ich bin wirklich froh, dass wir endlich Gelegenheit haben, uns näher kennenzulernen, Sessany. Ihr habt Euch verändert, seit ich Euch zum ersten Mal gesehen habe. Ihr seid erwachsen geworden«, sagte er lächelnd, während er ihr Wein nachschenkte. »Wenn ich in Eure Augen blicke, weiß ich, dass es richtig war, Euren Vater um Eure Hand zu bitten.« Er rückte näher, nahm ihr den Weinkelch aus der Hand und stellte ihn zur Seite. Sein Blick hing noch immer an ihren Augen, seine Lippen näherten sich den ihren.

»Ist es nicht zu warm hier?« Sie hob die Hand und fächelte sich Luft zu. Ehe er etwas erwidern konnte, sprang sie auf. »Warum gehen wir nicht spazieren? Zeigt mir Eure Burg, Lachlan.«

Einen Moment lang wirkte er enttäuscht. Dann kehrte das Lächeln in seine Züge zurück. »Natürlich.« Er erhob sich und reichte ihr den Arm. »Wie konnte ich vergessen, Euch mit Eurem neuen Zuhause vertraut zu machen.«

Zuhause? Nicht an diesem Ort. Mit gezwungenem Lächeln nahm sie seinen Arm und ließ sich aus dem Raum führen. Dùntràth war klein, eng und zugig. Das Fackellicht vermochte es kaum, die Gänge zu erhellen. Selbst um diese Jahreszeit saß die Kälte zwischen den Mauern, als lauere sie den Bewohnern auf. Während Lachlan ihr die Große Halle und seine privaten Gemächer zeigte, beschrieb er ihr den Weg zur Küche und zu den Dienstbotenquartieren. Je mehr Sessany von Dùntràth zu Gesicht bekam, desto stärker wurde ihr Unbehagen. Es mochte an der Stille auf den engen Gängen oder an der Unterwürfigkeit liegen, mit der die Diener ihrem Herrn begegneten – oder an der Art, wie er an ihnen vorüberschritt, ohne sie wahrzunehmen. Er blickte durch sie hindurch, als wären sie nicht vorhanden. Vielleicht lag es auch nur daran, dass ihr mit jedem verstreichenden Augenblick deutlicher bewusst wurde, wie weit sie von Alasdair entfernt war.

»Wisst Ihr«, sagte er, als sie den Hof überquerten, »ich kann es kaum erwarten, Euch mit Vater bekannt zu machen. Er weilt in Cromarty, von wo aus er auch den Clan führt. Natürlich wird er zu unserer Vermählung kommen. Ihr werdet ihn mögen.« Mit einem versonnenen Lächeln fügte er hinzu: »Wenn ich erst Chief bin, werden auch wir in Cromarty leben. Es wird Euch dort gefallen. Eine mächtige Burg. Kein abgelegener Landsitz.«

Abgelegen? Wie Dùntràth? Sie musste sich nicht lange fragen, warum er sich diesen Ort ausgesucht hatte, wenn er ihm so wenig zusagte. Die Antwort lag auf der Hand. Hier kannst du ungestört deine Intrigen spinnen.

Der einzige Ort, der ihr vom ersten Moment an gefiel, war der kleine Garten. Ein farbenprächtiger Spiegel des Herbstes, voller bunter Blätter und saftig grüner Rasenflächen. Eine Mauer trennte das Kleinod vom übrigen Burghof und der einzige Zugang war ein kleines Türchen mit einem schwergängigen Riegel.

»Gefällt es Euch?«, fragte Lachlan, als sie durch den Garten spazierten.

»Sehr.« Ihr Blick wanderte zu der niedrigen Wehrmauer, die die Burganlage umgab. »Aber sagt mir, ist Dùntràth nicht ausgesprochen … ich weiß nicht, wie ich sagen soll, aber im Vergleich zu Eilean Donan erscheinen mir die Mauern …«

»Wenig wehrhaft?« Als Sessany nickte, fuhr er fort: »Dùntràth ist nicht auf eine Belagerung eingerichtet. Das ist wahr. Es ist tatsächlich nicht mehr als ein befestigter Landsitz. Die Mauern würden einem Sturm nicht standhalten.« Er lachte. »Gott, sogar der Garten hat eine eigene Pforte, die aus der Burg führt. Dort hinten, seht Ihr? Im Angriffsfall bliebe uns nichts anderes übrig, als uns im Bergfried zu verschanzen und auf Hilfe von außen zu warten.« Er griff nach ihrer Hand. »Aber macht Euch keine Sorgen. Niemand wäre verrückt genug uns anzugreifen. Jeder weiß, dass binnen kürzester Zeit Krieger meines – und Eures – Vaters hier wären, um uns beizustehen. Ihr seht, es gibt nichts zu befürchten.«

Sieht ganz so aus. Sessany hatte Mühe, nicht zu offensichtlich auf die kleine Pforte zu starren, die zwischen Efeuranken in der Burgmauer eingelassen war. Das wird einfacher, als ich zu hoffen gewagt habe.

Auf dem Rückweg passierten sie eine offen stehende Tür, die in einen Turm führte. Der Wachposten davor nahm sofort Haltung an, als er seinen Herrn erblickte. Im Innern fiel eine Treppe in die Tiefe. Sessany tat einen Schritt darauf zu. Lachlans Finger bohrten sich in ihren Oberarm, als er sie zurückhielt. »Ich weiß, Ihr seid es gewohnt, Euch frei zu bewegen. Aber nicht hier.« Nach einer kurzen Pause lockerte er seinen Griff und fügte mit entschuldigendem Lächeln hinzu: »Dùntràth ist alt und baufällig. Ich möchte nicht, dass Euch etwas zustößt.« Er verneigte sich. »Gestattet mir, Euch in Euer Zimmer zu geleiten. Nach allem, was Ihr durchgemacht habt, solltet Ihr Euch schonen.«

Sessany konnte seinen Worten nur schwer folgen. Für sie gab es nur einen Gedanken: Der Turm. Ich muss mir den Turm genauer ansehen.

*

»Das kann nicht euer Ernst sein!«

Sessany hielt auf dem Gang inne, als sie Lachlans Gebrüll vernahm. Rasch warf sie einen Blick nach allen Seiten. Niemand zu sehen. Vorsichtig schob sie sich näher an die offene Tür heran und spähte in den Raum.

Lachlans Wut entlud sich auf die beiden Männer, die mit gesenktem Haupt vor ihm knieten. Eine Schicht Straßenstaub lag über ihren Plaids und hatte selbst vor den Claymores auf ihrem Rücken nicht Halt gemacht.

»Dieser Narr versucht tatsächlich die Zusammenkunft einzuberufen! Hat er denn aus dem, was seinem Clan zugestoßen ist, gar nichts gelernt! Er sollte längst tot sein!«

Sessany hielt den Atem an.

»Bisher scheint er mit seinem Unterfangen nicht gerade auf offene Ohren zu stoßen, Herr«, berichtete der eine, ohne den Blick vom Boden zu heben. »Die Chiefs halten sich zurück und warten ab.«

»Ganz wie mein Vater«, knurrte Lachlan. »Es wird Zeit, dass seine halbherzige Politik endlich ein Ende findet.«

»Wie lauten Eure Befehle?«

»Im Augenblick bedarf ich eurer Dienste als Leibwache nicht. Behaltet MacDonald im Auge.« Lachlan beugte sich zu ihnen. »Haltet mich auf dem Laufenden. Und jetzt geht.« Die Männer erhoben sich. Erst jetzt sah Sessany, dass sie einander wie ein Ei dem anderen glichen. Dasselbe dunkelblonde Haar, die gleichen grünen Augen und kantigen Gesichtszüge. Als die Männer sich vor ihrem Herrn verneigten, trat sie von der Tür zurück. Zu langsam. Lachlan hatte sie bemerkt. Seine Miene hellte sich auf. »Sessany.«

Erstarrt hielt sie inne. Die Zwillinge nickten ihr zu, als sie den Raum verließen, dann war sie mit Lachlan allein. Er winkte sie zu sich. »Kommt zu mir.«

Wie angewurzelt stand sie im Türstock. Die Angst um Alasdair klammerte sich wie eine eiserne Faust um ihr Herz. »Werdet Ihr etwas gegen MacDonald unternehmen?«

Als sie noch immer keine Anstalten machte, einzutreten, kam er zu ihr, nahm ihren Arm und führte sie in den Raum. Er geleitete sie zu einem Sessel und reichte ihr einen Becher Wein, bevor er nach einem Glöckchen griff. Wenige Augenblicke nachdem er geläutet hatte, erschien ein Diener auf der Schwelle.

»Bring Obst«, forderte Lachlan. Mit einer Verneigung zog sich der Diener zurück. Da endlich wandte Lachlan sich ihr zu. »Macht Euch keine Sorgen. Alasdair MacDonald wird Euch nichts mehr zuleide tun. Keragh und Ruadh behalten ihn im Auge.«

»Werden sie ihn …«, sie schluckte, »… töten?«

»Belastet Euch nicht damit.« Er nahm ihr gegenüber Platz.

Es kostete sie alle Kraft, ihre Angst zu verbergen. Obwohl sie am liebsten davongelaufen wäre, wusste sie, dass sie die Gelegenheit, mehr über MacMathains Pläne zu erfahren, nicht verstreichen lassen durfte. Sie nippte gezwungen ruhig an ihrem Wein. »Man kann über MacDonald denken, was man will, doch diese Zusammenkunft scheint mir eine gute Idee zu sein. Ist das nicht eine Hoffnung für Schottland?«

»Hoffnung?« Lachlan lachte bitter. »So mag es für jemanden aussehen, der keinerlei Verständnis für Politik hat. Was nutzt die Zusammenkunft, wenn es nur darum geht, diesen Rat der Chiefs ins Leben zu rufen?« Er verzog das Gesicht, als würde ihn die bloße Vorstellung anwidern. »Wenn die Macht auf mehrere Köpfe verteilt wird, ändert sich nichts. Wie sollen wir uns der Engländer erwehren? Was dieses Land braucht, ist ein Mann, der die Fäden zieht, keine Marionetten, die daran tanzen. Ein Herrscher, mächtig genug, die Clans in Zaum zu halten. Ein Highland-König! Jemand, der den Chiefs den Weg in die Zukunft weist und die Lowlander ebenso im Zaum zu halten vermag wie die verdammten Engländer. Andernfalls wird es uns nie gelingen, das Blutvergießen zwischen den Clans zu beenden.«

Ein Blutvergießen, zu dem Ihr rege Euren Beitrag leistet.

»Männer wie Euer Vater sind es, die dem Land den Frieden bringen können. Seine Visionen sind unsere Zukunft«, erklärte er voller Inbrunst. »Wozu der MacDonald-Clan imstande ist, hat man daran gesehen, was Euch zugestoßen ist.«

»Aber Euer Weg führt in den Krieg!«, platzte es aus ihr heraus. »Die Clans werden sich niemals einem Einzelnen unterwerfen. Sie werden gegen Euch ins Feld ziehen!«

Lachlan quittierte ihre Worte mit einem flüchtigen Stirnrunzeln. »Manchmal ist Krieg der einzige Weg zum Frieden. Das werdet auch Ihr eines Tages begreifen.« Sein Blick ruhte auf ihr. Einen Atemzug später schüttelte er den Kopf. »Nein, vermutlich werdet Ihr das nicht. Von Politik versteht Ihr nichts. Schätzt Euch glücklich, dass Ihr Euch Euren hübschen Kopf nicht darüber zerbrechen müsst. Krieg und Politik sind den Männern vorbehalten. Und so soll es auch bleiben.«

»Aber hat der alte MacDonald es nicht vollbracht, die Chiefs von der Notwendigkeit dieser Zusammenkunft zu überzeugen?«, bohrte sie weiter.

»Und zu welchem Preis würde er sein Vorhaben in die Tat umsetzen?«, schnaubte er. »Den Chiefs Macht und Einfluss zu versprechen ist ein Fehler. Die Macht muss in einer Hand liegen. Nur dann wird es eine Zukunft ohne Krieg geben.«

»Dennoch erscheint es mir vernünftig …«

»Davon versteht Ihr nichts!«, fiel er ihr so heftig ins Wort, dass sie zusammenzuckte. Augenblicklich hatte er sich wieder unter Kontrolle. »Ich bin mir sicher, dass Eure Erfahrungen mit den MacDonalds einige Fragen über den Zustand und die Zukunft unseres Landes aufgeworfen haben. Dennoch tätet Ihr besser daran, das alles so schnell wie möglich zu vergessen und Euch darauf vorzubereiten, mir ein gutes Eheweib zu sein.«

Was sich zweifelsohne darauf beschränkt, Eure Kinder zu empfangen und den Mund zu halten.

»Belastet Euch nicht mit den Problemen der Männer!«, fuhr er gereizt fort. Zum ersten Mal sah sie die harten Linien um seinen Mund. Als er dieses Mal lächelte, wirkte es gezwungen. »Ihr habt eine Menge durchgemacht. Lenkt Euch ab und denkt nicht länger über Dinge nach, von denen Ihr ohnehin nichts versteht.«

»Aber …«

»Genug!«

Der Diener kehrte zurück, eine Platte gezuckerter Früchte vor sich her tragend. Auf Höhe des Tisches verfing sich sein Absatz in einem Läufer. Er geriet ins Stolpern. Es gelang ihm im letzten Augenblick, einen Sturz zu verhindern. Dabei rutschte ihm die Platte aus der Hand. Früchte und Honig verteilten sich auf dem Boden. Eine Flut von Entschuldigungen stammelnd warf sich der Diener auf die Knie und machte sich daran, alles aufzusammeln.

»Ungeschickter Nichtsnutz!« Lachlan trat nach ihm und traf ihn am Kopf. Der Mann fiel hin, richtete sich jedoch sofort wieder auf und fuhr fort das Obst aufzuklauben.

Lachlan sah Sessany an. »Verzeiht, dass Ihr das mit ansehen musstet. Man muss diesem wertlosen Pack von Zeit zu Zeit seinen Platz zeigen.«

Erschrocken starrte sie auf das Blut, das dem Diener über das Gesicht rann. Bei Gott, was hat dieser arme Mann schon getan? Obwohl sie noch nicht lange in Dùntràth war, waren ihr Lachlans häufige Stimmungswechsel nicht entgangen. Zu sehen, dass seine Launen in körperlicher Gewalt gipfelten, war mehr, als sie ertragen konnte. Entsetzt beobachtete sie, wie der Diener verzweifelt versuchte, gleichzeitig das Obst einzusammeln und zu verhindern, dass sein Blut auf den Boden tropfte. Mit eingezogenem Kopf und fahrigen Bewegungen kam er seiner Arbeit nach.

Lachlan machte ihr Angst. »Mit Verlaub, Herr, gestattet mir, mich zurückzuziehen.« Es gelang ihr nicht vollständig, das Zittern in ihrer Stimme zu verbergen.

»Hat Euch das Benehmen dieses Trampels die Laune verdorben?«

Nein, das seines Herrn. Sie schüttelte hastig den Kopf. »Ich bin nur noch immer ein wenig … angeschlagen.«

Er nickte. »Natürlich. Wie unaufmerksam von mir. Geht und ruht Euch aus.«

Sie erhob sich und verneigte sich. Sie hätte gerne gelächelt, um den Schein zu wahren, doch ihre Lippen wollten sich nicht bewegen. Fluchtartig verließ sie den Raum.

*

In den folgenden Tagen verwandte sie viel Zeit darauf, Lachlans Umgang mit der Dienerschaft zu beobachten. Schon Kleinigkeiten, wie verschütteter Wein oder ein vergessener Tischdolch, reichten aus, seinen Zorn zu wecken. Nicht selten verteilte er Ohrfeigen und Tritte. Den Sohn der Köchin – einen Jungen von nicht einmal sechs Jahren – ließ er mit dem Riemen züchtigen, weil er eine Pastete stibitzt hatte.

Tag für Tag wurde Sessany Zeugin seines Jähzorns. Sie sehnte sich nach Alasdair, vermisste seine Ausgeglichenheit und seine tröstliche Nähe. Mehr als einmal fragte sie sich, ob es nicht ein Fehler gewesen war, nach Dùntràth zu gehen. Immer wieder schob sie die Zweifel beiseite. Sie würde Donald von Islay finden und ihn befreien.

In den Tagen, die sie zwischen eintönigen Handarbeiten im Kreise der Damen aus Lachlans Haushalt und seiner Gesellschaft verbrachte, war Bran ihre einzige Stütze. Er sprach ihr Mut zu, wenn sie darüber zu verzweifeln drohte, dass sie noch immer nichts Neues über den Aufenthaltsort des alten Chiefs in Erfahrung gebracht hatten. In seiner Eigenschaft als Leibwache war er häufig in ihrer Nähe. Einzig wenn Lachlan ihre Gesellschaft suchte, hatte er sich zurückzuziehen. Je schneller wir Chief Donald finden, umso besser. Gott allein wusste, wann Lachlan sich auf seinen Gefangenen besinnen und ihn für Alasdairs Handeln bezahlen lassen würde.

21

Der September schritt voran. Die Nächte wurden zunehmend kälter, die Tage kürzer und schon bald würde es den ersten Schnee geben. Brütend starrte Alasdair auf die Straße. Er hatte sich ein Stück von seinem Trupp abgesetzt und ritt mit Iain an der Spitze. Wochen waren seit seinem Aufbruch aus Finlaggan vergangen und was hatte er erreicht? Die Chiefs hielten sich bedeckt und quittierten seine Einladung mit Zurückhaltung oder Ablehnung. Manch einer war nicht einmal bereit, sein Anliegen anzuhören. Wohin er auch kam, schlugen ihm Argwohn und Misstrauen entgegen. Er sei nicht sein Vater, bekam er oft genug zu hören. Er solle sich nicht einbilden, in die Fußstapfen dieses großen Mannes treten zu können. Alasdairs Antworten waren stets ruhig und wohl überlegt, wenn er zu bedenken gab, dass auch sein Vater den Titel des Chiefs nicht als großer Mann angenommen hatte, sondern erst mit der Zeit in diese Rolle hineingewachsen war. Mit jedem Wort warb er um das Vertrauen der Chiefs und stellte ihnen in Aussicht, die Geschicke der Highlands in neue Bahnen zu lenken. Nur wenige ließen sich überzeugen. Die meisten hatten zu viel Angst vor der Reaktion der MacKenzies und MacMathains – kaum einer fand den Mut, es auszusprechen. Manche gaben zur Antwort, sie würden sein Anliegen überdenken, ehe sie ihn fortschickten. Andere wiesen ihn sofort ab. Jede Zusage war ein kleiner Sieg. Obwohl sein Erfolg gering war, war er fest entschlossen, die Zusammenkunft zu halten. Womöglich konnten auch wenige kleine Clans gegen die großen bestehen, wenn sie sich nur endlich dazu entschließen würden, zusammenzuhalten.

Die letzte Station seiner Reise lag endlich hinter ihm. Jetzt trennten ihn nur noch wenige Tage von Islay. Und von Sessany. Er konnte es kaum erwarten, sie endlich wieder in seine Arme zu schließen und zu hören, was sie erreicht hatte.

»Da folgt uns jemand!«

Alasdair sah sich um. Über die Köpfe seiner Männer hinweg konnte er lediglich eine Staubwolke ausmachen. Er wendete sein Pferd und lenkte es zum Ende des Trupps. Dort zügelte er das Tier und spähte dem Reiter entgegen, der sich in rasendem Galopp näherte. Iain gab den Männern ein Zeichen, die Bögen bis zum Anschlag zu ziehen.

Der Reiter gelangte in Schussweite. Ohne sich von den Waffen beeindrucken zu lassen, kam er näher.

»Das ist Sessanys Bruder!« Das ist kein gutes Zeichen. Alasdair bedeutete den Männern die Waffen zu senken, löste sich aus der Gruppe und ritt Iomaér entgegen. Iain folgte ihm wie ein Schatten.

Iomaér wirkte abgekämpft. Alasdair gab ihm einige Augenblicke, zu Atem zu kommen, bevor er sein Pferd näher lenkte.

»Ich grüße Euch, Iomaér MacKenzie.« Es kostete ihn all seine Willenskraft, nicht sofort mit den Fragen herauszuplatzen, die ihm auf der Zunge brannten.

Iomaér nickte knapp. »Für einen Mann, dessen Reise sich längst im ganzen Land herumgesprochen hat, seid Ihr nicht leicht zu finden. Ich habe tagelang nach Euch gesucht.«

Da konnte Alasdair sich nicht länger zurückhalten. »Geht es Sessany gut?«

»Als wir uns trennten, ging es ihr gut.« Alasdair gestattete sich aufzuatmen. Iomaér fuhr fort: »Ich bin in ihrem Auftrag hier. Ich soll Euch warnen, MacDonald.«

Verrat an Eurem Clan, um Eurer Schwester einen Gefallen zu erweisen? Alasdair zog eine Augenbraue hoch. »Das letzte Mal, als wir uns begegneten, wolltet Ihr mich töten und heute überbringt Ihr mir eine Warnung?«

Ein nachdenklicher Ausdruck lag in Iomaérs Augen. »Manchmal ändern sich die Dinge.« Mit dem Handrücken wischte er sich den Schweiß von der Stirn. »Sessany ist in Dùntràth. Sie …«

»Was!« Alasdairs Ausruf ließ sein Pferd unruhig tänzeln. Er packte den Zügel fester. »Das ist nicht Euer Ernst!«

»Verdammter MacKenzie, Ihr habt sie ihm ausgeliefert!« Iains Hand glitt zum Schwert.

»Nicht.« Alasdair packte ihn am Arm und hinderte ihn daran, die Waffe zu ziehen. Einen Atemzug lang sah es aus, als würde Iain sich nicht zurückhalten lassen. Schließlich ließ er die Hand sinken. Die Augen zu schmalen Schlitzen verengt, starrte er auf MacKenzie.

Es fiel Alasdair schwer, ruhig zu bleiben. »Erzählt mir alles. Jede Einzelheit. Ich muss wissen, was geschehen ist.«

Eine Weile betrachteten sie einander abschätzend. Endlich brach Iomaér das Schweigen. »Sie wollte wissen, wo Euer Vater ist. Und als ich es ihr sagte, war sie wild entschlossen, keine Zeit zu verlieren. Euer Freund hat versucht, sie zu überzeugen nach Finlaggan zurückzukehren und sich erst mit Euch zu besprechen, doch sie meinte, dafür bliebe nicht genug Zeit.«

»Vater ist in Dùntràth?« Ein bitterer Geschmack breitete sich in seinem Mund aus. »Und Sessany ebenfalls?« Bei dem Mann, den ihr Vater als ihren Gemahl ausgesucht hat.

»Sie trug mir auf, Euch zu sagen, dass sie es schaffen wird und Ihr Euch keine Sorgen machen sollt.«

Keine Sorgen! Wie sollte er sich keine Sorgen machen, wenn er wusste, dass sie in der Burg seines Feindes war? »Hat sie sonst noch etwas gesagt?«

»Ihr sollt die Zusammenkunft abhalten. Und Ihr sollt auf der Hut vor MacMathains Rache sein. Er wird alles daransetzen, Euch zu zerstören. Abgesehen davon weiß er inzwischen sicher, was Ihr vorhabt. Ihr solltet Euch auf das Schlimmste gefasst machen.«

Das Schlimmste ist bereits eingetreten. Sessany ist bei ihm.

»Ich muss fort, ehe uns jemand zusammen sieht. Haltet diese Zusammenkunft, MacDonald. Und seid vorsichtig.« Mit einem letzten Nicken wendete Iomaér sein Pferd und ritt in die Richtung davon, aus der er gekommen war.

22

Die Tage vergingen, ohne dass Sessany Gelegenheit fand, den Kerker in Augenschein zu nehmen. Sie wusste, ihr lief die Zeit davon. Lachlan traf sich immer häufiger hinter verschlossenen Türen mit seinen Männern oder sandte Boten an ihren Vater aus. Ihr gegenüber verlor er kein Wort über seine Pläne, und nach seinem Zornesausbruch, als sie versucht hatte, mit ihm über Politik zu diskutieren, wagte sie nicht, ihn danach zu fragen.

Obwohl er beschäftigt war, nahm er sich die Zeit, ihr häufig Gesellschaft zu leisten. Sie ritten gemeinsam aus oder unternahmen lange Spaziergänge. Mit jedem Tag wuchs seine Zudringlichkeit. Anfangs waren es Kleinigkeiten: ein Blick oder eine flüchtige Berührung. Dann versuchte er, sie zu küssen. Sessany entzog sich ihm und schob Unwohlsein vor. Sie wusste, dass sie damit nicht lange durchkommen würde.

Eines Tages ertrug sie es nicht länger, auf eine Gelegenheit zu warten, die womöglich niemals kommen würde. Lachlan war in einer seiner Besprechungen. Sie beschloss, die Zeit zu nutzen und einen Vorstoß in Richtung des Kerkers zu unternehmen. Niemand kümmerte sich um sie, als sie das Haupthaus verließ und scheinbar ziellos über den Hof schlenderte. Ihr Blick blieb an der Turmtür hängen. Sie stand offen. Ein einzelner Posten lehnte an der Wand, einen Speer in der Hand, und blickte gelangweilt über den Hof. Als er sie erblickte, nahm er Haltung an. Sie straffte die Schultern, nickte ihm zu und wollte an ihm vorbei in den Turm. Er streckte den Arm aus und versperrte ihr mit seinem Speer den Weg. »Herrin, ich darf niemanden passieren lassen.«

Sie zog eine Augenbraue hoch. »Darfst du nicht?«

»Nein, Herrin.« Sein Blick war starr geradeaus gerichtet, über ihren Kopf hinweg.

»Ich wollte lediglich einen Blick auf die Verliese werfen. Ich bin neugierig.«

»Ich bedaure.« Noch immer sah er sie nicht an.

»Ich ebenfalls.« Sie nickte. »Ich bedaure, dass du es auf dich nimmst, dir den Zorn meines Bräutigams zuzuziehen, der es sicher nicht schätzt, wenn du deiner künftigen Herrin einen Wunsch abschlägst.«

Schlagartig richteten sich seine Augen auf sie. Selbst im Blick dieses stolzen Highland-Kriegers spiegelte sich ein Funke der Furcht wider, die sie tagein und tagaus in den Gesichtern der Dienerschaft sah. Es schmerzte, diese Furcht zu ihrem Werkzeug zu machen, doch sie konnte es sich nicht erlauben, wählerisch zu sein.

Sie glaubte, ein misstrauisches Flackern in seinen Augen zu erkennen. Ein endloser Moment verstrich, in dem er sich nicht rührte. Dann zog er den Speer zurück und sagte: »Ich werde Euch führen.« Mit einer knappen Verneigung trat er vor ihr durch die Tür, griff nach einer Laterne und leuchtete ihr den Weg nach unten.

Treppenhaus und Gang waren schmal und niedrig, sodass er sich ducken musste, um nicht mit dem Kopf anzustoßen. An einigen Stellen musste selbst Sessany den Kopf einziehen. Ihre Schritte hallten von den Wänden wider, ihre Absätze knirschten bei jedem Schritt leise. Wasser rann von den Wänden und sammelte sich in kleinen Pfützen auf dem Boden. Der Geruch von Moder und Fäulnis lag in der Luft.

Als sie eine verlassene Wachstube passierten, spähte Sessany hinein. »Wo sind die Wachen?«

»Es gibt keine.«

»Keine Wachen? Was soll das für ein Kerker sein?«

»Die Zeiten sind hart«, sagte er mit steinerner Miene. »Es gibt dieser Tage nur wenige Vergehen, die nicht sofort mit dem Tode geahndet werden.«

Sessany schluckte. »Aber die Kämpfe … was ist mit den anderen Clansmen, die …?«

»In diesen Kämpfen werden keine Gefangenen gemacht.«

Sie war nicht in der Lage, etwas zu erwidern. Keine Gefangenen. Den anderen Clans drohte ein ähnliches Schicksal wie den MacDonalds und den MacLennans, wenn sich nicht bald etwas änderte.

»Ich wollte Euch nicht erschrecken, Herrin.« Er betrachtete sie mit schuldbewusster Miene. »Dieser Tage geschehen Dinge, die nicht für die Augen und Ohren einer jungen Dame bestimmt sind.«

»Ich bezweifle, dass diese Dinge für irgendjemandes Augen bestimmt sind.« Sie schüttelte den Kopf. »Niemand sollte mit ansehen müssen, wie seine Verwandten und Freunde sterben – ganz gleich auf welcher Seite er steht.« Die Worte waren über ihre Lippen gekommen, ehe sie es verhindern konnte. Erschrocken sah sie auf. »Ich wollte damit nur sagen, dass …«

»Ich weiß, was Ihr sagen wolltet«, unterbrach er sie mit gedämpfter Stimme. »Dennoch solltet Ihr vorsichtig sein. Nicht jeder wird Euch verstehen.« Er wandte sich ab und setzte seinen Weg fort. Sie musste sich beeilen mit ihm Schritt zu halten.

»Wie ist dein Name?«, fragte sie, als sie wieder zu ihm aufgeschlossen hatte.

»Torkal, Herrin.« Er hob die Laterne in die Höhe, um ihr die großen Zellen rechts und links des Ganges zu zeigen. Gewaltige Gitterstäbe trennten die Bereiche der Gefangenen von denen ihrer Wärter. Die einfachen Holzpritschen waren verlassen. Altes Stroh lag auf dem Boden und faulte vor sich hin. »Dies sind die Zellen und dort hinten ist ein Raum für Verhöre.«

»Gar keine Gefangenen?« Wo ist MacDonald? Er muss hier sein!

»Nicht hier. Der letzte Winter war hart. Unsere Vorräte sind zu knapp, als dass wir es uns erlauben könnten, viele Gefangene durchzufüttern.«

Sessany nickte geistesabwesend. Was, wenn ich ihn nicht finde? Was, wenn Lachlan ihn längst … Lachlan würde nicht wagen, ihn öffentlich hinrichten zu lassen. Wenn jemand erfuhr, dass sich Donald von Islay in seiner Gewalt befand, würde das viele Fragen aufwerfen. Was, wenn er ihn unbemerkt ermordet hatte? Es wäre ein Leichtes, seinen Leichnam im Loch Linneh verschwinden zu lassen … Nein. Lachlan MacMathain würde keinen Vorteil vergeben, den er gegenüber Alasdair hatte.

»Herrin? Ist Euch nicht wohl?« Torkal betrachtete sie mit gerunzelter Stirn. »Ihr seid blass!«

»Es geht mir gut. Danke.« Ihr Blick war auf die leeren Verliese gerichtet. »Ich weiß nur nicht, was bedrückender ist; Menschen in einem Kerker zu sehen oder einen leeren Kerker zu erblicken und zu wissen, dass jene, die sich darin befinden sollten, tot sind.«

»Ihr gehört nicht hierher«, sagte er plötzlich.

»Wirklich, es geht mir gut.«

»Ich meine nicht nur diesen Kerker, Herrin.«

Sie sah auf. »Jetzt bist du es, der besser auf seine Worte achtgeben sollte.«

Er senkte den Blick. »Wenn es Euch beliebt, bestraft mich.«

»Was meintest du, als du sagtest, hier wären keine Gefangenen? Gibt es denn andernorts welche?«

Der Anflug eines erleichterten Lächelns glitt über seine Züge, als sie keine Anstalten machte, auf seine Worte einzugehen. Er hob die Hand und deutete auf eine massive Tür, halb in den Schatten am Ende des Ganges verborgen. »Der einzige Gefangene befindet sich in dieser Zelle.«

Sie lief los und hörte, wie Torkal ihr etwas zurief, ohne ihn zu verstehen. All ihre Sinne waren auf ein kleines vergittertes Fenster gerichtet, das in Augenhöhe in das Holz eingelassen war. Vor der Tür blieb sie stehen. Sie legte die Hände auf das feuchte Holz und stellte sich auf die Zehenspitzen, um in die Zelle spähen zu können. Ein beißender Gestank stieg ihr in die Nase, eine Mischung aus Urin, Schweiß und Fäulnis. Obwohl alles in ihr danach schrie, den Kopf abzuwenden, hielt sie den Atem an und starrte durch die dunkle Öffnung. Hinter ihr trat Torkal mit der Laterne näher. Der schwankende Schein erreichte sie und strömte in die Zelle. In einer Ecke erkannte sie eine zusammengekauerte Gestalt. Zu weit entfernt, als dass sie mehr als ein paar Umrisse hätte erkennen können.

»Warum ist er nicht in einer der großen Zellen?« Es kostete sie Mühe, nicht nach dem Namen des Gefangenen zu fragen.

Torkal zuckte die Schultern. »Diese Frage wird Euch nur der Herr beantworten können. Dieser Gefangene scheint etwas Besonderes zu sein.« Um ein Haar hätte sie erleichtert ausgeatmet. Sie hatte Donald von Islay gefunden. Und er war am Leben. »Herrin, wir sollten wieder nach oben gehen, bevor Euer Bräutigam Euren Ausflug bemerkt.«

»Er weiß, dass ich hier bin.«

Der Krieger schüttelte den Kopf. »Das bezweifle ich. Lasst uns gehen, ehe er es herausfindet.«

»Woher …?«

»Mit Verlaub, Herrin, Ihr seid keine gute Lügnerin.«

»Und dennoch hast du meinem Wunsch entsprochen, mir die Kerker zu zeigen.«

»Und ich bin froh, dass ich es getan habe.« Mit einem Lächeln verneigte er sich, hob die Laterne und leuchtete ihr den Weg zurück. Oben angekommen trat sie hinter Torkal auf den Hof. Geblendet vom plötzlichen Sonnenlicht bemerkte sie Lachlan erst, als er unmittelbar vor ihr aufragte.

»Habe ich mich nicht deutlich ausgedrückt, als ich sagte, Ihr habt dort unten nichts verloren?« Zornesröte überzog seine Wangen. »Wie könnt Ihr es wagen, Euch meinem Befehl zu widersetzen!«

»Herr, ich …«

»Haltet den Mund! Ihr werdet Euch mir weder widersetzen noch werdet Ihr mir ins Wort fallen!« Er ballte die Hand zur Faust. Unwillkürlich duckte sie sich. Einen Augenblick später hatte er sich wieder in der Gewalt. Seine Stimme wurde ruhiger. »Ich habe Euch nicht ohne Grund verboten, die Kerker aufzusuchen. Sie sind ein gefährlicher Ort. Was, wenn es dort unten Gefangene gäbe? Was, wenn einer von ihnen Euch durch die Gitter hindurch zu fassen bekäme? Nicht auszudenken, was Euch alles zustoßen könnte!« Er legte die Hände auf ihre Schultern. Sessany wollte zurückweichen. Seine Finger gruben sich in ihr Fleisch, hielten sie fest. Sein Blick heftete sich auf ihre Augen. »Der Gedanke, Euch zu verlieren, ist unerträglich.«

Sie senkte den Blick. »Verzeiht, ich wollte Euch keinen Kummer bereiten.« Die Worte fanden nur schwer den Weg über ihre Lippen.

Lachlan gab sie frei und wandte sich Torkal zu. »Du!« Die Wut kehrte in seine Stimme zurück.

Der Krieger neigte das Haupt. »Herr?«

»Wie konntest du zulassen, dass sich die Herrin in Gefahr begibt! Du nichtsnutziger Bastard!« Er holte aus und schlug dem Soldaten mit der flachen Hand ins Gesicht. Kein harter Schlag für einen Krieger, doch umso härter für seinen Stolz. Torkal nahm den Schlag in aufrechter Haltung entgegen. Lachlan holte erneut aus.

»Nicht!«, rief Sessany. »Es war meine Schuld.« Lachlan senkte die Hand. Erfüllt von neuem Mut fuhr sie fort: »Er kann nichts dafür! Ich habe mich an ihm vorbeigeschlichen. Er ist mir gefolgt und hat mich zurückgebracht.«

Erneut richtete sich sein Blick auf sie, stechend und kalt. »Ihr seid also an ihm vorbeigeschlichen«, stellte er ruhig fest. »Denkt Ihr, ich habe Blinde und Schwachköpfe in meinem Dienst?« Seine plötzliche Ruhe jagte ihr mehr Angst ein, als es sein Gebrüll je vermocht hätte. »Ich möchte, dass Ihr jetzt genau hinseht, Sessany. Seht Euch an, welche Konsequenzen Euer unbedachtes Handeln hat.« Ohne die Augen von ihr zu wenden, streckte er die Hand zur Seite aus. »Meine Peitsche!«

Einer seiner Krieger, die in gebührendem Abstand warteten, reichte ihm, wonach er verlangte. Sessanys Beine zitterten und drohten nachzugeben. »Herr, ich flehe Euch an, tut das nicht. Ich …« Ihre Stimme brach.

Lachlan wandte sich an seine Männer. »Bindet ihn.«

Widerstandslos ließ Torkal sich zum anderen Ende des Hofes führen, wo zwei Pfähle in den Boden getrieben waren. Sie lösten die Spange, die seinen Plaid auf der Schulter hielt, rissen ihm das Hemd vom Leib und banden ihn zwischen die Pfähle.

»Herr, bitte.« Tränen füllten ihre Augen. »Bestraft ihn nicht für etwas, das ich getan habe.«

»Seht Euch an, was Ihr angerichtet habt!« Als sie sich sträubte, packte er sie beim Arm und zerrte sie mit sich. Er suchte einen Platz nahe dem gebundenen Krieger und befahl seinen Männern auf sie achtzugeben. Dann entrollte er die Peitsche und ließ sie zweimal in der Luft schnalzen, ehe er zuschlug. Wieder und wieder biss sich der Lederstrang in Torkals Rücken, riss seine Haut auf und grub sich in sein Fleisch. Der Krieger bäumte sich unter jedem Schlag auf, doch er schrie nicht. Der Hof war in Stille erstarrt. Das Knallen der Peitsche war das einzig zu vernehmende Geräusch.

Immer wieder schlug er zu, bis sie es nicht länger mit ansehen konnte. »Herr, ich flehe Euch an, macht dem ein Ende. Er wurde genug bestraft.«

Lachlan hielt inne. »Ihr habt Eure Lektion noch nicht gelernt.«

»Ich schwöre Euch, dass ich es begriffen habe. Ich bitte Euch, haltet ein. Habt Erbarmen.«

Lachlan schlug noch einmal zu. Endlich gab er seinen Männern ein Zeichen. »Schafft ihn fort.« Tränen rannen über Sessanys Wangen, während sie zusah, wie Torkal, der in seinen Fesseln zusammengesunken war, losgebunden und fortgebracht wurde. Lachlan trat zu ihr. »Geht auf Euer Zimmer und denkt darüber nach, was Ihr getan habt. Wir sprechen uns später.«

Einer von Lachlans Männern geleitete sie und bezog vor ihrer Tür Posten. Bran war nicht hier. Seit ihn einer der Hauptleute am Morgen zu sich gerufen hatte, damit er ihm mit den Pferden zur Hand ging, hatte sie ihn nicht mehr zu Gesicht bekommen. Sessany ließ sich aufs Bett sinken und vergrub weinend das Gesicht in den Kissen. Sie sehnte sich nach Alasdair und wünschte, sie könne sich in seine Arme flüchten.

Die Nacht war bereits über Dùntràth hereingebrochen, als Lachlan zu ihr kam. Er schloss die Tür hinter sich und entzündete schweigend die Kerzen. Schließlich wandte er sich ihr zu. Im Kerzenschein wirkten seine Züge verzerrt. Sie glitt vom Bett und wich zurück.

»Fürchtet mich nicht, Sessany«, sagte er sanft. »Ich musste das tun. Es ist wichtig, dass Ihr einige Regeln begreift.« Langsam kam er auf sie zu. Sie wich weiter zurück, bis sie die Wand im Rücken spürte. Lachlan nahm sie beim Arm und führte sie zum Bett. Er wartete, bis sie Platz genommen hatte, ehe er sich neben sie setzte. »Ich vergöttere Euch, seit ich Euch das erste Mal sah. Damals habt Ihr mein Herz gewonnen. Dennoch kann ich nicht zulassen, dass Ihr Euch gegen mich auflehnt – schon gar nicht in der Öffentlichkeit.« Er griff nach ihrer Hand. »Ihr musstet heute eine harte Lektion lernen, das ist mir bewusst. Es war nur zu Eurem Besten.«

Zu meinem Besten? Um ein Haar hätte sie aufgeschrien. Sie biss sich auf die Zunge und unterdrückte jeden verräterischen Laut, der über ihre Lippen kriechen wollte.

»Macht Euch keine Sorgen um Torkal. Das Gesinde kümmert sich um ihn. Er ist bald wieder auf den Beinen.« Er streckte die Arme nach ihr aus und zog sie an sich. Er hielt sie umfangen und strich ihr über Haar und Rücken. Zitternd ertrug sie seine Nähe. »Es gibt keinen Grund, mich zu fürchten, solange Ihr beherzigt, was ich Euch eben erklärt habe.« Er hob den Kopf und sah sie an. Dann küsste er sie. Sie unterdrückte das Verlangen, ihn von sich zu stoßen. Sein Kuss wurde fordernder, sein Atem beschleunigte sich. Sessanys Gedanken begannen zu rasen, während sie fieberhaft nach einem Weg suchte, sich ihm zu entziehen. Sie glaubte seine Hände überall zu spüren, auf ihren Hüften, ihrem Rücken, ihren Brüsten. Seine Berührungen weckten Übelkeit und Schwindel in ihr. Gerade als sie dachte, sie könne es nicht länger aushalten, gab er sie frei und rückte ein Stück von ihr ab.

»Ich lasse Euch lieber allein, ehe ich mich vergesse«, stieß er keuchend hervor. »Ihr seid erschreckend bleich. Fühlt Ihr Euch nicht wohl?«

»Ich fühle mich ein wenig … schwach.«

Lachlan erhob sich. »Soll ich den Heiler rufen lassen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Das wird nicht nötig sein. Es geht schon wieder.«

Er hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. »Ruht Euch aus. Ich sehe morgen früh wieder nach Euch.«

Die Tür war kaum hinter ihm zugefallen, da stieß Sessany erleichtert den Atem aus. Der Gedanke, wie nahe ihr Lachlan gekommen war, ließ sie noch immer erschauern. Sie sank in die Kissen zurück und dämmerte in einen unruhigen Schlaf, bis ein Geräusch sie aufschreckte. Jemand betrat leise den Raum.

»Sessany?«

Als sie Brans Stimme erkannte, öffnete sie die Augen.

Bran musterte sie besorgt. »Ich habe gehört, was heute geschehen ist. Wie fühlst du dich?«

Es dauerte einen Moment, ehe sie begriff, wovon er sprach. Torkal. Dann war sie mit einem Schlag hellwach. »Ich weiß, wo der Chief ist. Wir müssen ihn noch heute Nacht befreien.«

Brans Miene hellte sich auf. »Gott sei Dank!« Als hätte ein Windhauch seine Erleichterung fortgeweht, veränderte sich seine Miene augenblicklich wieder. Nachdenklichkeit prägte nun seine Züge. »Wir sollten auf keinen Fall überstürzt handeln.«

»Nein. Dennoch müssen wir handeln.« Ich ertrage es einfach nicht, wenn er mich noch einmal anfasst. »Mit jedem Tag, den wir warten, wird es gefährlicher – für den Chief und für uns.«

»Dann sollten wir sehen, dass wir verschwinden.« Er grinste. »Es ist eine schöne Nacht für einen Ausflug.«

»Ich werde die Wache ablenken. Du befreist den Chief.«

»Was, wenn jemand merkt, dass du nicht in deinen Gemächern bist?«

»Ich bezweifle, dass jemand vor morgen früh nach mir sehen wird.«

Wieder ruhte sein nachdenklicher Blick lange Zeit auf ihr. »Bist du sicher, dass du das durchstehst?«

»Nein. Du?«

*

Der Hof lag verlassen da. In den Stallungen und im Küchenhaus waren die Lichter erloschen. Einzig eine Laterne am Turm verströmte schwaches Licht und entriss der Nachtschwärze einen einzelnen Wachposten. Sessany schlich an der Rückseite des Küchenhauses am Turmzugang vorbei bis zur Gartenpforte. In der Dunkelheit hinter ihr wartete Bran in seinem Versteck. Lieber Gott, was, wenn es mir nicht gelingt, die Wache vom Turm fortzulocken? Sie straffte die Schultern, atmete tief durch und schob jeden Gedanken an Versagen in weite Ferne. Ihre Augen wanderten über den Riegel und fanden ihn – wie erhofft – fest verschlossen. Beherzt griff sie zu und begann daran zu rütteln.

»Wer ist da?«, ertönte eine Stimme. Einige Atemzüge später trat der Wachmann um die Ecke des Turms. Als er seine Laterne auf sie richtete, kniff sie geblendet die Augen zusammen. »Was habt Ihr mitten in der Nacht hier zu suchen, Herrin?«

»Ich wollte ein wenig Luft schnappen.« Komm her! Geh weg von der Ecke! »Die Gartenpforte. Sie ist verschlossen. Vielleicht könntest du …?« Bran würde den Augenblick, in dem die Turmwache abgelenkt war, nutzen, um sein Versteck zu verlassen. Wenn sich der Mann jetzt umwandte, würde er ihn erblicken. »Bitte öffne sie für mich.«

Einen endlos langen Augenblick fürchtete sie, er würde sich umwenden und auf seinen Posten zurückkehren, doch statt kehrtzumachen, kam er zu ihr. Ohne ein Wort hob er den Riegel und ließ sie ein. Sessany murmelte einen Dank und betrat den Garten. Die Pforte war kaum hinter ihr zugefallen, da hielt sie inne und lauschte seinen knirschenden Schritten, die sich wieder entfernten. Bange Momente verstrichen, in denen sie darauf gefasst war, gleich einen Alarmschrei zu hören. Als nach einer Weile noch immer kein Laut die Stille durchbrach, verließ sie ihren Platz an der Mauer und machte sich auf den Weg zu jenem verborgenen Ausgang, den Lachlan ihr an ihrem ersten Abend gezeigt hatte. Wie Lachlan gesagt hatte, war Dùntràth nicht imstande einer Belagerung zu trotzen. Woran er jedoch nicht gedacht zu haben schien, war, dass die Burgmauern es ebenso wenig vermochten, einen Gefangenen zu halten, wenn er erst seinem Kerker entkommen war. Das Gelände außerhalb der Burg war uneben und voller trügerischer Schatten. Wenn es ihnen gelang, einen Augenblick abzupassen, in dem die Mauerwachen ihnen den Rücken zuwandten, sollte es ein Leichtes sein, zu entwischen. An der Tür angelangt, tastete sie nach dem schweren Balken, der die Pforte gegen Eindringlinge sicherte, und hob ihn versuchsweise an. Er ließ sich bewegen. Erleichtert kehrte sie zur Mauer zurück. Plötzlich wurde ihr bewusst, wie hungrig sie war. Abgesehen von einem dürftigen Frühstück hatten ihr die Ereignisse des Tages keine Zeit mehr für eine Mahlzeit gelassen. Sie seufzte. So schnell wird sich daran wohl nichts ändern. Sie versuchte abzuschätzen, wie weit Bran gekommen sein mochte. Wie lange würde es dauern, bis er den Kerker erreichte? Wie lange, um den Chief aus der Zelle die Stufen hinaufzuschaffen? Die Zeit folgte eigenen Gesetzen, wenn man gezwungen war zu warten. Ungeduldig zählte sie jeden Atemzug, während ihre Gedanken durch die dunklen Kellergewölbe strichen.

Als sie glaubte, dass ausreichend Zeit vergangen war, pflückte sie eine Blume und schlüpfte durch die Pforte auf den Hof zurück. Sie ließ den Riegel ein Stück nach unten gleiten, während sie gleichzeitig mit aller Kraft daran zog, um zu verhindern, dass er in die Halterung fiel. Dann drehte sie sich um und folgte dem Verlauf der Turmmauer. Nachdem sie ein letztes Mal tief Luft geholt hatte, trat sie um die Ecke. Der Wachmann nahm augenblicklich Haltung an, als er ihrer ansichtig wurde.

»Wärst du so freundlich das Tor für mich zu schließen? Der Riegel scheint zu klemmen.«

»Natürlich, Herrin.« Mit einem knappen Nicken griff er nach seiner Laterne. Sobald er ihr den Rücken zuwandte, riskierte sie einen Blick ins Innere des Turms. Sie glaubte Brans Schopf in den Schatten auszumachen, war sich jedoch nicht ganz sicher. Hastig folgte sie der Wache. Ihre schweißnassen Handflächen schlossen sich um die Blume, während sie beobachtete, wie er einmal mit der flachen Hand gegen den Riegel schlug und ihn dann einrasten ließ. Viel zu schnell. Gerade als Bran im Durchgang erschien, eine gebeugte Gestalt stützend, machte die Wache sich auf den Rückweg.

Sessany trat ihm einen Schritt entgegen, um ihn ein Stück vor der Mauerecke abzufangen, und gab vor zu stolpern. Die Blume entglitt ihren Fingern, als sie sich mit einem leisen Aufschrei fallen ließ. Augenblicklich gehörte ihr seine ungeteilte Aufmerksamkeit.

»Herrin! Seid Ihr verletzt?« Er griff nach ihrem Arm. Sie lehnte sich mit vollem Gewicht in seinen Griff, sodass er sie nicht sofort zu fassen bekam und zweimal gezwungen war, seine Haltung zu verändern, ehe er ihr auf die Beine helfen konnte. Zu ihrer Erleichterung war es ihr gelungen, sich so zu drehen, dass er dem Hof den Rücken zuwenden musste, um ihr Halt zu geben.

»Ich bin mir nicht sicher.« Auf ihn gestützt, belastete sie versuchsweise das Bein, während sie über seine Schulter spähte. In seinem Rücken überquerte Bran mit seinem Begleiter den Hof. Sessany hob ein Bein und betastete vorsichtig ihren Knöchel. Als die beiden Gestalten in der Dunkelheit verschwunden waren, sagte sie: »Ich glaube, es geht.« Sie löste sich von ihm und machte ein paar vorsichtige Schritte über den Hof. Sich der Blicke des Wachmannes in ihrem Rücken bewusst, hinkte sie, bis die Schatten sie verschlangen. Erst dann änderte sie die Richtung und schlich vorsichtig weiter, bis sie auf Bran stieß. Neben ihm lehnte der Chief an der Rückwand des Schuppens, entkräftet und um Atem ringend. Sein graues Haar war lang und strähnig, seine Gestalt ausgemergelt, die Züge eingefallen.

»Wie kommt ihr hierher?« Heiser durchbrachen seine Worte die Stille. Sein Blick war auf Bran gerichtet, teilnahmslos und leer. »Was wollt ihr?«

»Wir bringen Euch nach Hause«, entgegnete Bran mit belegter Stimme.

»Ich habe kein Zuhause mehr. Sie haben mir alles genommen.« Seine Augen sprachen aus, was er nicht zu sagen wagte. Ich will nur noch sterben. »Alles ist sinnlos geworden.«

»Ich kann Euch versichern, dass nichts sinnlos ist.« Jetzt, da die Anspannung ein wenig von Sessany abfiel, fing sie an, zu zittern. »Wir brauchen Euch, Herr, und wenn Alasdair jetzt hier wäre, würde er Euch dasselbe sagen.«

»Alasdair?« Zum ersten Mal sah er sie an. »Ihr kanntet meinen Sohn?«

»Ich kenne ihn.«

»Er war verwundet«, sagte er leise. »Sie sagten, er sei tot.«

Sessany schüttelte den Kopf. »Er lebt.«

Ein Funken Leben zeigte sich in seinen Augen und ließ die einstige Stärke erahnen, die ihn zu einem so einflussreichen Mann gemacht hatte. »Wer bist du?«

Ehe sie antworten konnte, wurden auf dem Hof Stimmen laut. Sie bedeutete Bran, mit dem Chief zurückzubleiben, und schob sich leise ans Ende des Küchenhauses heran. Im Lichtkreis vor den Turm erkannte sie den Heiler, der mit dem Wachmann sprach.

»Ich werde die Nacht nutzen, um Mondkraut zu ernten«, erklärte er und hielt einen Weidenkorb in die Höhe. »Wundere dich also nicht, wenn du mich im Garten hantieren hörst.«

Das kann nicht wahr sein! Nicht heute Nacht! Sie schluckte einen Fluch hinunter und kehrte zu Chief Donald und Bran zurück. Mit wenigen Worten umriss sie, was sie gehört hatte. »Ich werde ihn ablenken.« Sie wandte sich an Bran. »Ich will, dass ihr in den Garten geht und euch durch die Pforte davonmacht. Lauft so schnell und so weit, wie ihr könnt.«

»Was ist mir dir?«

»Wartet nicht auf mich. Ich folge euch, sobald ich kann.« Als sie Brans entsetzten Blick sah, schenkte sie ihm ein aufmunterndes Lächeln. »Mach dir keine Sorgen. Wir sehen uns in Finlaggan.« Sie umrundete das Küchenhaus und trat auf den Hof hinaus, wo der Heiler soeben im Begriff war, die Gartenpforte zu öffnen.

»Hier seid Ihr.« Sie bemühte sich um einen Gang, von dem sie hoffte, dass er erschöpft wirkte. »Ich flehe Euch an, gebt mir etwas, damit ich endlich Schlaf finde.«

Es ist nur eine kleine Verspätung. In längstens einer Stunde folge ich Bran und dem Chief.