Paul Lendvai • Leben eines Grenzgängers

PAUL LENDVAI

Leben eines
Grenz­gängers

ERINNERUNGEN

Aufgezeichnet im Gespräch
mit Zsófia Mihancsik

Aus dem Ungarischen übertragen
von Ernő Zeltner

Gefördert durch die Kulturabteilung der Stadt Wien,
Wissenschafts- und Forschungsförderung

ISBN 978-3-218-00870-9
Copyright © der erweiterten deutschsprachigen Ausgabe
2013 by Verlag Kremayr & Scheriau KG, Wien
Die ungarische Originalausgabe ist unter dem Titel „Három Élet“ 2012 bei Kossuth Kiadó, Budapest, erschienen.
Alle Rechte vorbehalten
Schutzumschlaggestaltung: Kurt Hamtil, Wien
unter Verwendung eines Fotos aus dem Archiv des Autors
Typografische Gestaltung: Kurt Hamtil, Wien
Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien

Inhalt

Vorwort

Im knöchellangen Wintermantel

Paul Landy, György Holló und Árpád Bécs

Tutus, Justus, Stalin

Parajd, Üllői-Straße, Auschwitz

Zwischen Wien und London

Irgendeiner findet sich immer

Das Kreisky-Wunder

Die Geschichte hat kein Libretto

Verleumdungsarie

Altaussee, Serbien, Trianon

Juden, Ungarn, Rumänen

Wieder in Budapest

Namenregister

Die Bücher von Paul Lendvai

Vorwort

In mehrfacher Hinsicht ist dieses Buch ein neues Kapitel in meinem langen und abwechslungsreichen Leben. Erstmals seit ich im Januar 1957 Ungarn verließ, habe ich darin meine Gedanken, Eindrücke und Erinnerungen nicht auf Englisch oder Deutsch, sondern in meiner Muttersprache formuliert. Zum ersten Mal wurde auch eines meiner Bücher zunächst auf Ungarisch gedruckt und dann erst in eine andere Sprache übersetzt. Bisher war es stets umgekehrt.

Neu ist für mich auch, dass dieses Buch im Laufe mehrerer langer Gespräche zustande kam. Und so bin ich Zsófia Mihancsik, dieser herausragenden ungarischen Journalistin, sehr dankbar, dass es ihr gelungen ist, mir bislang vergessene, vielleicht auch verdrängte Erlebnisse und vage Erinnerungen zu entlocken. Und vor allem hat sie Struktur in meine ungeordneten, zum Teil fast chaotischen Schilderungen gebracht.

Die Idee, meine Erinnerungen in Form eines Interviews festzuhalten, verdanke ich András Kocsis, dem Leiter des Kossuth Verlages in Budapest. Ganz besonderen Dank sage ich meiner Frau Zsóka, die bei dieser wahrlich schweren Geburt von Anfang an und immer wieder Hebammendienste geleistet hat.

Warum dieser Titel: „Leben eines Grenzgängers?“, oder, wie er in der ungarischen Ausgabe lautet, „Drei Leben“. Mein erstes Leben bis 1957 habe ich in Budapest verbracht. Darauf folgten vierzig Jahre in Wien. Schließlich, nach der politischen Wende und als Folge einer neuen Partnerschaft, meiner Ehe mit Zsóka, begann mein drittes Leben, in dem ich zwischen Wien und Budapest pendle. In diesen Erinnerungen verschmelzen die drei Leben zu einem autobiografischen Band. Ich hoffe, die Leser finden in allen drei Teilen interessante neue Erkenntnisse und ihnen bisher nicht bekannte Informationen über mich und meine Zeit.

Erfolge können und sollen nicht die Jahre der Angst und der Feigheit in meinem ersten, auch nicht die Fehler und Irrtümer meines zweiten Lebens nach 1957 kaschieren. Mein drittes Leben – das auch im Zeichen des Kampfes gegen Bosheit, Hass und Dummheit steht – hat mich letztlich zu diesem so ausführlichen Interview angeregt.

Vor meiner abenteuerlichen Reise aus Warschau über Prag nach Wien im Januar 1957 im Alter von siebenundzwanzig Jahren, ohne wohlhabende Verwandte oder Freunde im Ausland, lagen fünf zum Teil sehr schwierige Jahre im Nachkriegskommunismus hinter mir: Militärdienst, Verhaftung, Internierung als unzuverlässiger politischer Abweichler und drei Jahre Berufsverbot. Als ehemaliger junger Linkssozialist, aber während des von den Sowjets brutal niedergeschlagenen Aufstandes im Oktober 1956 nicht „kompromittiert“, fand ich dann Anstellung bei einer neuen Tageszeitung, bei Esti Hírlap. Bald nach der Gründung trat ich die erste Auslandsreise meines Lebens an. Mit Reformfreunden abgesprochen, hatte mich eine Zeitung nach Warschau eingeladen. Polen verkörperte damals die letzte trügerische Hoffnung auf einen friedlichen Übergang vom Stalinismus zur Reform. Mit diesen unvergesslichen, von der noch anhaltenden Aufbruchsstimmung geprägten Wochen in Warschau und mit der Vorgeschichte zu meinem Weg in die Freiheit fängt das erste Kapitel dieses Buches an.

Wien, im November 2012 Paul Lendvai

Im knöchellangen Wintermantel

Wieso warst du im Westen von Anfang an so erfolgreich? Noch dazu so unglaublich schnell? 1957 bist du aus deiner Heimat nach Wien geflohen, hast in Rekordzeit nicht nur dein Auskommen, sondern auch eine beneidenswerte Beschäftigung gefunden, konntest für österreichische Zeitungen arbeiten, und auch für die Financial Times hast du geschrieben. Aufgrund welcher Eigenschaften hast du es geschafft, dich in so kurzer Zeit an die ganz anderen Gegebenheiten im Westen anzupassen? Wieso gab es für dich von Anfang an die Möglichkeit, kreativ zu arbeiten, zuerst unter Decknamen und dann auch unter deinem eigenen Namen?

Vor allem hatte ich einfach Glück, viel Glück. Eine besondere Fügung des Schicksals war es schon, dass ich im Januar 1957 nach Warschau gelangt war, dort fanden nämlich Wahlen statt, und ich bin vielen wichtigen Vertretern der internationalen Presse begegnet. Polen spielte ja 1956 in Europa eine Vorreiterrolle, nicht nur wegen seiner aufmüpfigen Aktionen gegen die Diktatur, sondern auch im Kampf für mehr Pressefreiheit unter den Verhältnissen eines kommunistischen Regimes. Deshalb kamen 1957 aus Anlass der Wahl auch so viele bedeutende Vertreter unserer Zunft nach Warschau. Ich war damals Gast von Trybuna Ludu, dem damals auch von Reformern geführten Zentralorgan der Kommunistischen Partei. Die Zeitung hat auch die Kosten für meinen Aufenthalt übernommen.

Galt die Einladung von Trybuna Ludu dir persönlich?

Ja, sie galt mir als einem Mitarbeiter der Budapester Zeitung Esti Hírlap. Endre Gömöri, mein bester Freund, war nämlich als Sonderkorrespondent des Ungarischen Rundfunks gerade in Polen, als am 23. Oktober 1956 in Budapest die Revolution ausbrach. Er hat den Fehler begangen, mit der ersten Rot-Kreuz-Maschine nach Budapest zurückzufliegen. Hätte er den ersten fahrplanmäßigen Flug abgewartet und wäre dadurch entsprechend später heimgekommen, so wäre er nicht Mitglied des Redaktionskomitees des Freien Senders Kossuth geworden und man hätte ihn nicht 1957 aus dem Rundfunk hinausgeworfen. Auf jeden Fall hatte er Verbindungen nach Polen und empfahl mich bei der Trybuna Ludu. So bekam ich Gelegenheit, eine Reihe polnischer, aber vor allem ausländischer Journalisten kennenzulernen.

Für mich waren die Gespräche, die ich dort führen konnte, in vielerlei Hinsicht von entscheidender Bedeutung. Zum Beispiel mit Sydney Gruson, dem Berichterstatter der New York Times für Osteuropa-Fragen, und auch mit seiner Frau, Flora Lewis, ebenfalls eine angesehene Journalistin, die später mehrere Bücher schrieb. Wir unterhielten uns über die ungarische Revolution, und ich beklagte mich über das Verhalten der Vereinigten Staaten und Eisenhowers, also darüber, dass man uns etwas versprochen, dann aber nichts Konkretes getan habe. Worauf Gruson bemerkte, er habe Eisenhower schon immer für einen „stupid man“ gehalten. So hatte ich das noch nie gehört, und es imponierte mir mächtig, dass ein Journalist vom Zentralorgan des Imperialismus – dafür hielten wir in Ungarn nämlich die New York Times – gegenüber einem osteuropäischen Pressekollegen so zu reden wagte.

Diese Gespräche beeindruckten mich so sehr, dass sich für mich die Frage stellte, ob ich überhaupt noch nach Budapest zurückkehren sollte. So kam es, dass ich nicht die Route über Prag nach Budapest wählte, sondern in Richtung Wien reiste. In Prag habe ich dann Flora Lewis nochmals getroffen. Sie lud mich zum Abendessen ein und erklärte mir an diesem Abend, ich solle mich nicht täuschen lassen und glauben, im Westen wären alle Menschen so nett und anständig, wie ich es erlebt hatte. Sie hielt mir vor Augen, dass im Westen ein harter Konkurrenzkampf herrschte und es nicht leicht sein würde, da auf die Beine zu kommen.

Du hattest ihr erzählt, dass du, wie es damals hieß, dissidieren, also Ungarn endgültig verlassen wolltest?

Ja. Ich hatte mich ja schon in Warschau entschieden, dass ich nicht mehr zurückkehren würde. Ich sparte die Spesen, die ich von Trybuna Ludu bekam, damit ich mich über Wasser halten konnte, bis ich im Ausland Arbeit fände. Es war mein ganzes Vermögen, alles, was ich damals besaß.

Mein wertvollstes Stück war ein bis zu den Knöcheln reichender Wintermantel, den ich mir zu Hause gebraucht gekauft hatte und den man mir später auf meiner ersten Italien-Fahrt in Florenz aus dem offenen Auto gestohlen hat.

Aber um deine erste Frage zu beantworten: Eine meiner wichtigsten Fähigkeiten war schon damals, dass ich Verbindungen knüpfen und sie auch pflegen konnte. Ich bin nicht schüchtern, habe keine Hemmungen. Sobald ich in Wien war, rief ich einfach jeden an, von dem ich dachte, dass er mir vielleicht helfen könnte.

Waren das lauter neue Bekannte aus Warschau?

Ja. Schon in Warschau hatte ich in Erfahrung gebracht, welche Nachrichtenagenturen und Zeitungen es in Wien gab. Also begann ich, diese durchzutelefonieren, und dann führte der eine oder andere Kontakt zu weiteren Verbindungen.

Du hast ja in Budapest auch bei MTI, der Ungarischen Nachrichtenagentur, gearbeitet. Hattest du nicht schon dort Informationen darüber, wen man im Ausland, also speziell in Wien, ansprechen könnte und mit wem ein Kontakt lohnend wäre?

Nein, aus dieser Zeit hatte ich keinerlei Informationen oder Beziehungen. Schon deshalb nicht, weil ich zu Hause doch drei Jahre lang gar keine Stelle bekommen hatte, also von September 1953 bis Oktober 1956 auch in keiner Redaktion war.

Man hätte mich damals wie den Dichter Joseph Brodsky in der Sowjetunion wegen „dem Gemeinwohl schädlicher Arbeitsscheu“ in die Verbannung schicken können. Aber bei mir war es bloß so, dass ich einfach keine Stelle bekam, keine Arbeit, kein Einkommen hatte, auch keine Versicherung – aber mit dreiundzwanzig interessierte mich Letzteres damals noch am wenigsten.

Also, von daheim kannte ich hier in Wien niemanden richtig, allerdings hatte ich in Warschau auch schon Journalisten getroffen, deren Namen ich aus vertraulichen MTI-Unterlagen kannte.

Wie gesagt, in Wien fing ich an zu telefonieren. So kam ich mit Ronald Preston, dem Korrespondenten der Times, in Verbindung; er hatte früher von Belgrad aus gearbeitet, und seine Frau war eine sehr attraktive Serbin. Ich kam mit Nachrichtenagenturen in Kontakt, aber auch mit dem stellvertretenden Chefredakteur der österreichischen Tageszeitung Die Presse, und dem Leiter des Auslandsressorts, Adam Wandruszka, der später Professor für Geschichte an der Universität Wien wurde. Und ich wurde auch mit Hugo Portisch, dem damaligen Chefredakteur des Kurier, bekannt, mit dem ich in Österreich am längsten freundschaftlich verbunden bin.

Ich kann also sagen, dass mein Mut und die wilde Entschlossenheit, mein zweites Leben zu beginnen, von entscheidender Bedeutung für mich gewesen sind.

Wie ist es dir damals finanziell ergangen? Denn die ersparten Spesen aus Warschau werden ja nicht lange gereicht haben.

Es ging mir ziemlich bescheiden. Ich bekam zwar für meine Arbeit Geld, aber nur sehr wenig. So habe ich zum Beispiel Leslie Bain, den aus Ungarn stammenden amerikanischen Journalisten, besucht, der eines der besten Bücher über den Ungarn-Aufstand geschrieben hat. Ich erinnere mich, dass ich mit der Straßenbahn bis ans Ende der Welt zu ihm hinausgefahren bin, aber ich traute mich damals nicht, von ihm ein Honorar für meine Informationen zu verlangen. Bei anderen habe ich mich dann doch getraut, bekam allerdings viel weniger, als ich mir erhoffte.

Aber bald hatte ich dann doch etwas Fixes. Ich begegnete nämlich John MacCormack, dem Wiener Korrespondenten der New York Times, der mir unglaublich viel geholfen hat. Er lud mich zum Mittagessen ein, wir haben uns lange unterhalten, und danach sagte er mir, er würde mich anstelle seines Ostmitarbeiters, also des Mannes, der ihm bisher mit Informationen für seine Artikel über den ost- und südosteuropäischen Raum, über die Tschechoslowakei und Ungarn zugearbeitet hatte, engagieren. Ich werde ihm das nie vergessen. Er bezahlte mir 1400 Schilling dafür – das war damals viel Geld –, dass ich für ihn die weitere Entwicklung in Ungarn verfolgte und ihm Material lieferte, schriftlich oder mündlich.

Ich kaufte mir ein altes Radio, hörte Rundfunkberichte, durchforstete Zeitungen nach Material, das Ungarn betraf, und bin so zum „Ungarn-Experten“ der New York Times und anderer Blätter geworden.

Und woher wussten diese Menschen, die du in Wien angerufen oder besucht hast, dass du für diese Arbeit geeignet bist?

Aus Gesprächen mit mir. Vermutlich konnte ich ihnen aufgrund persönlicher Erfahrungen und aus dem, was ich inzwischen an Informationen zusammengetragen hatte, einleuchtend über die frühere und aktuelle Situation in Ungarn berichten.

Von der ungarischen Revolution habe ich kein idealisiertes Bild gemalt, nicht gesagt, dass hier ein Volk mit bloßen Händen über seinen großen Feind hergefallen wäre, habe auch nicht behauptet, dass meine Landsleute schon jahrelang vorher auf eine Gelegenheit gewartet hätten, um den Kampf mit der Diktatur aufzunehmen, und auch von mir habe ich nicht gesagt, ich wäre ein tapferer Freiheitskämpfer gewesen.

Ich berichtete vielmehr, wie ich die ungarische Lage damals gesehen hatte, und vermutlich hielt man meine Berichte und Einschätzungen für plausibel und authentisch.

Vielleicht ist es auch eine glückliche Begabung, dass ich meine Gedanken klar zu formulieren verstand und es mir gelang, die ungarische Situation ausgewogen und detailliert zu erklären, und das alles auf Englisch und auf Deutsch.

Das haben meine Partner wohl erkannt, und vor allem, dass ich ihnen nützlich sein konnte. Die Kooperation war also für beide Seiten interessant. Für Auslandskorrespondenten zählt, dass sie ihren Blättern besseres Material liefern als die Kollegen. Der Wiener Korrespondent der Sunday Times, der herausragende Journalist Antony Terry, konnte sich zum Beispiel von mir 1957/1958 authentischere Informationen über Ungarn beschaffen und die Zeitung dadurch sämtliche britischen Blätter schlagen, die sich allein auf das Material der Agenturen stützten. So entwickelten und festigten sich meine beruflichen Kontakte.

In dieser Zeit begegnete ich übrigens dem Ehemann meiner späteren zweiten Frau, Boris Kidel, dem Korrespondenten der liberalen News Chronicle.

Wie ich schon gesagt habe, suchte ich den Kontakt zur Wiener Presse, der damals führenden Tageszeitung Österreichs. Dort arbeitete auch ein ebenfalls aus Ungarn stammender Journalist, Eugen Géza Pogány, der ein Buch über die ungarische Revolution geschrieben hatte. Mein Freund Stephan Vajda (später profil-Mitarbeiter) sagte von ihm, er sei ein „Mensch ohne Sprache“. Und wir beide fürchteten damals, dass wir auch solche „Menschen ohne Sprache“ werden könnten, die am Ende keine Sprache mehr richtig beherrschten.

Pogány stammte aus Pressburg, aber er sprach auch Ungarisch und natürlich Slowakisch. Und er war ein ausgesprochen gutmütiger Mensch. Für mich hat er, als ich endlich einen Kredit bewilligt bekam, um mir meine erste kleine Wohnung zu kaufen, die Bürgschaft übernommen, was mir sehr viel bedeutete.

Durch Vermittlung von Stephan Vajda habe ich auch von einem emigrierten früheren ungarischen Sozialdemokraten, er hieß Paul Oroszlán, viel Unterstützung bekommen. Dank seiner Hilfe konnten wir beide um die österreichische Staatsbürgerschaft ansuchen, und er spielte eine wichtige Rolle dabei, dass ich diese nach zweieinhalb Jahren schließlich bekam. Wäre ich ein Spitzensportler wie Sándor Rozsnyói (Silbermedaillengewinner im 3000-Meter-Hürdenlauf bei den Olympischen Spielen) gewesen, ich hätte sie vielleicht schon nach ein paar Wochen gehabt, so aber dauerte es zweieinhalb Jahre.

Du hast gesagt, es sei dir erst in Warschau in den Sinn gekommen, gar nicht mehr nach Ungarn zurückzukehren. Hast du früher, in Ungarn, nie daran gedacht?

Nein. Aus mehreren Gründen nicht. Der wichtigste war, dass wir Ende 1956 das Blatt Esti Hírlap gegründet hatten. Zudem war meine Verbindung mit István Szirmai die Garantie dafür, dass mir dort alle Türen offenstanden. Szirmai war früher Chef des Ungarischen Rundfunks gewesen, und man hatte ihn im Zuge des geplanten Zionisten-Prozesses Anfang 1953 verhaftet, ungefähr zur selben Zeit wie mich. Dann wurde er rehabilitiert. Später, schon zu Anfang der Sechzigerjahre, ernannte man ihn zum Leiter des Informationsamtes, und noch später wurde er zum Mitglied des Politbüros. Als er im Sommer 1956 Chefredakteur von Esti Budapest wurde, hat er auch mich zur Mitarbeit eingeladen, mir sogar eine Stelle als Chefkorrespondent angeboten. Deshalb habe ich beim Rehabilitationskomitee darum gebeten, mich nicht in die Nachrichtenagentur MTI zurückzuversetzen, sondern zu Esti Budapest. Damit hatte ich nach drei Jahren wieder Arbeit und auch gute Karriereaussichten, konnte sogar hoffen, dass sich in Ungarn ein Selbstverwaltungsregime nach jugoslawischem Muster etablieren und eine Art sozialistische Demokratie eingeführt würde. Aber gerade nach jenem 13. Januar 1957, als ich bereits in Warschau war, kam es in Ungarn zu Ereignissen, die das Land erneut in eine völlig aussichtslose Situation brachten.

Bis zum 4. Februar, dem Tag, als ich in Prag eintraf, ließ sich bereits erkennen, dass zu Hause alles hoffnungslos geworden war. Im Januar hatte Tschou En-Lai einen offiziellen Besuch in Budapest gemacht – er vertrat übrigens eine Politik der Öffnung („Lasst hundert Blumen blühen“); vorher war er in Moskau und Warschau gewesen. Dort hatte ich ihn als ungarischer Journalist nach seiner Meinung über die Situation in Ungarn gefragt. China unterstütze die Kádár-Regierung mit allen Mitteln, deshalb wolle er nun auch nach Budapest reisen, gab er mir zur Antwort. Inzwischen wussten wir schon von den massenhaften Verhaftungen und auch, dass die Vergeltungsmaßnahmen in vollem Gange waren. In Warschau wurde vor der ungarischen Botschaft demonstriert, doch in Polen herrschte damals noch eine ganz andere Stimmung.

Zu Hause wartete auf mich ein Vertrag für ein Buch über Kenia. Aber wie hätte ich schreiben können, wenn sie inzwischen Endre Gömöri beim Rundfunk hinausgeworfen, Tibor Déry und andere ungarische Schriftsteller eingesperrt hatten? Sicher, ich hatte einen Arbeitsplatz, zum ersten Mal in meinem Leben eine eigene Ein-Zimmer-Wohnung – man hatte mir damals eine Wohnung in der Hollán-Straße zugewiesen, weil die Wohnung meiner Eltern während der Kämpfe in der Üllői-Straße durch Einschüsse unbewohnbar geworden war –, ich hätte auch eine Art Wiedergutmachung bekommen, ich hatte eine Freundin dort, aber alles zusammen reichte nicht, um mich zur Rückkehr zu bewegen. Denn im Januar 1957 war schon völlig klar, dass es Selbsttäuschung gewesen wäre, zu glauben, in Ungarn könnte es zu einer Öffnung kommen.

War es denn unproblematisch für dich, nach Wien zu gelangen?

Nicht ganz. Das Einreisevisum für Österreich, das man mir an der Warschauer Botschaft ausgestellt hatte, wurde in Prag für ungültig erklärt. Ich sollte erst nach Budapest zurückkehren und von dort aus nach Wien reisen. Daraufhin bin ich noch vier Tage in Prag geblieben und habe auch einen Bericht an Esti Hírlap geschickt, um keinerlei Verdacht zu wecken. Ja, ich sprach auch noch bei der ungarischen Botschaft in Prag vor; dort sollte man mir bestätigen, dass ich mich dienstlich in Prag aufhielt, doch die haben mich gar nicht empfangen. Trotzdem bin ich zum Prager Flughafen gefahren, wo man mich mit meinem Visum ohne Weiteres durchgelassen hat, und ich konnte das Flugzeug Richtung Wien besteigen.

In Wien begann ich sofort, hektisch zu telefonieren, und mit Hilfe des Korrespondenten der New York Post fand ich ein Hotelzimmer. Mein Glück war auch, dass ich noch in Warschau meine Złoty bei Kollegen in österreichische Schillinge umgetauscht hatte. In den Tagen darauf reichte ich bei der Polizei meinen Asylantrag ein. Und obwohl mich ein Kollege vom Kurier begleitete, hielt man mich bei der Behörde fest. Es nützte nichts, dass der österreichische Journalist bei mir war; auch bekannte Auslandskorrespondenten versuchten vergeblich, an höherer Stelle für mich zu intervenieren. Es war später Nachmittag, und kein Zuständiger war zu erreichen. So saß ich bei der Polizei fest und verbrachte die Nacht in der Kaserne an der Rossauer Lände. Das war ein seltsames Erlebnis nach meinen Erfahrungen von 1953 in der berüchtigten Haftanstalt utca in Budapest. Man konnte sogar Schokolade kaufen und unter mehreren Zeitungen auswählen. Und am Tag darauf ließ mich der dortige Chef rufen, entschuldigte sich wegen der Unannehmlichkeiten, und ich durfte gehen.

Aber immerhin bist du in Österreich nicht im Flüchtlingslager gelandet, weil du ja deine Verbindungen hattest?

Das stimmt nur teilweise. Ins Flüchtlingslager kamen nur Leute, die kein Geld hatten. Gezwungen wurde dazu niemand. Wer Geld, Freunde oder Verwandte hatte, konnte überall in der Stadt bleiben, aber man brauchte eine Aufenthaltserlaubnis. Stephan Vajda und ich bekamen vom österreichischen PEN-Club finanzielle Unterstützung, 60 Dollar im Monat, sechs Monate lang, damit wir uns eine Schreibmaschine mieten konnten. Später war das dann kein Problem mehr für mich, ich hatte Möglichkeiten genug, konnte bei einer Freundin oder bei der Nachrichtenagentur UPI schreiben.

Es ist bekannt, dass Anfang 1957 und auch noch lange danach die Hilfsbereitschaft für ungarische Flüchtlinge im Westen beispielhaft war. Ungarn wurden in großer Zahl aufgenommen, und auch die private Hilfsbereitschaft war groß. Du hast natürlich auch diese bemerkenswerte Hilfsbereitschaft erfahren, doch verglichen mit vielen deiner Landsleute hattest du darüber hinaus manche Vorteile: weil du die Landessprache und andere Fremdsprachen beherrschtest und vor allem, weil du auch etwas zurückgeben konntest, und zwar durch deine Arbeit, durch nützliche Informationen für deine Kollegen.

Ja, die Einstellung der Öffentlichkeit gegenüber ungarischen Flüchtlingen war in Österreich unglaublich positiv, aber du hast schon Recht, über diese Sympathie hinaus spielte natürlich auch eine Rolle, inwieweit man sich nützlich machen konnte. So hat zum Beispiel in den ersten zwei Wochen in Wien ein Journalist namens Sy Frieden meine Hotelrechnung bezahlt. Er arbeitete für das Boulevardblatt New York Post. Und, Zufall oder nicht, damals kamen gerade die berüchtigten Gábor-Schwestern, Zsazsa Gábor und Éva Gábor, mit ihrem ganzen Clan zu Besuch nach Wien. Ihre Mutter hatte hier nämlich einen viel jüngeren, gut aussehenden ungarischen Flüchtling geheiratet. Meine Aufgabe war es, sie zu begleiten, solange sie in Wien waren – und es ist gut gegangen. Wahrscheinlich war ich ihnen sympathisch. So konnte ich meinem Freund Frieden allerlei für ihn interessantes Material über die Gábor-Sisters liefern, und die New York Post übertrumpfte damit locker die anderen Blätter. Das war aber der einzige Kontakt, den ich je mit Hollywood und der amerikanischen Boulevardpresse hatte. Übrigens war Zsazsa Gábor laut Meinungsumfragen noch in den Siebzigerjahren für die Amerikaner die bekannteste Ungarin der Welt.

Wenn ich sage, dass ich vom ersten Tag in Österreich an gearbeitet habe, so heißt das natürlich nicht, dass ich geheime Informationen gehabt hätte, aber ich verfügte natürlich über eine authentische Kenntnis der Verhältnisse in Ungarn und konnte die Vorgänge dort einschätzen. Natürlich war ich auch bemüht, mein Wissen laufend zu aktualisieren. Einerseits unterhielt ich mich, so oft ich konnte, mit Besuchern aus Ungarn, andererseits hatte sich ein Kontakt zum amerikanischen Informationsdienst United States Information Agency (USIA) ergeben, der kulturelle Veranstaltungen organisierte, aber auch Informationsmaterial und einen Pressespiegel publizierte. Diese Organisation gab beispielsweise die anspruchsvolle Zweimonatszeitschrift Problems of Communism heraus, in der so angesehene Autoren wie Zbigniew Brzeziński zu Wort kamen. Die Publikation war für mich eine besonders wichtige Informationsquelle, zudem schrieb ich unter dem Namen Paul Landy selbst Artikel für sie; und einmal widerfuhr mir sogar die große Ehre, dass mich eine so bedeutende Persönlichkeit wie Hannah Arendt zitierte.

Finanziell brachte mir diese Arbeit nicht allzu viel, etwa 200 bis 300 Dollar. Ungarische Großverdiener waren in dieser Zeit Personen wie Béla Király, „General der Revolution“, und der Schriftsteller Tamás Aczél, ein ehemaliger Stalin-Preisträger, die für Life schrieben und pro Artikel 2500 Dollar kassierten. Das wäre auch heute nicht wenig, aber damals galt es als sehr, sehr viel. Wenn die USIA einen Artikel von mir weitergab, brachte das höchstens noch einmal 50 bis 60 Dollar.

Warst du von Anfang an entschlossen, in Wien zu bleiben? Wolltest du nie in ein anderes Land weiterziehen?

Nein. Eine wichtige Rolle spielte dabei, dass meine neuen Kontakte allmählich zu soliden Verbindungen wurden. Ich hatte zwar eine Tante in Israel, aber auf die Idee, dorthin auszuwandern, bin ich nie gekommen. Wovon hätte ich denn dort leben sollen? Wie hätte ich in einem Land, dessen Sprache ich gar nicht sprach, überhaupt Journalist bleiben können?

Allerdings habe ich mich für die Einwanderung nach Kanada registrieren lassen, einer meiner Verwandten hatte mir dazu geraten, aber ich wurde nicht akzeptiert, weil ich ehrlich war und angab, in Ungarn Mitglied der KP gewesen zu sein. Dann versuchte ich, ermutigt von einem Diplomaten, in die Vereinigten Staaten zu kommen, aber auch dort wurde ich mit derselben Begründung abgelehnt. Später einmal lernte ich in Eisenstadt einen Herrn kennen, der 1956 Direktor des Hotel Bristol in Budapest gewesen war; er ist in die USA ausgewandert ohne anzugeben, was doch sonnenklar war, dass er nämlich nur als Parteimitglied Hoteldirektor hatte werden können. Doch ein netter ungarischer Landsmann hat ihn später angezeigt – auch dort gab es ja allerlei Missgunst und Intrigen –, woraufhin er sofort wieder ausgewiesen wurde. Da sah ich mich bestätigt; es war besser gewesen, gleich die Wahrheit zu sagen. Dass ich von Anfang an wusste, was ich in Österreich machen wollte, war für mein schnelles Einleben besonders hilfreich. In Ungarn war ich Journalist gewesen, und auch in Österreich wollte ich nichts anderes anfangen.

Doch um auf deine Frage zurückzukommen: 180.000 ungarische Flüchtlinge sind nach Österreich gekommen, und die meisten zogen weiter. Außer György Sebestyén, der später ein bekannter österreichischer Schriftsteller und Präsident des PEN-Clubs wurde, Stephan Vajda und mir seien nur Alte und Kranke in Wien geblieben, pflegte ich gelegentlich zu lästern.

Immerhin, schon im Sommer 1957, also ein halbes Jahr nach meiner Ankunft, habe ich mir ein gebrauchtes Opel-Cabriolet gekauft und war sehr stolz darauf, obwohl der Wagen damals schon einen Kilometerstand von 93.000 Kilometer aufwies. Aber ich lebte unglaublich sparsam, ging zusammen mit meinen Freunden oft zum Essen in die Wiener Öffentliche Küche (WÖK) und konnte mir deshalb den Luxus eines sieben Jahre alten Autos leisten.

Im Herbst 1957 bin ich dann zusammen mit Stephan Vajda auf große Fahrt durch Italien, die Schweiz und Deutschland aufgebrochen. Im Übrigen hatte ich Freunde und Freundinnen, arbeitete für eine Nachrichtenagentur und fand so schnell meinen Weg. Bis heute habe ich es nicht bedauert, dass ich in Österreich geblieben bin.

Gerade im Hinblick auf die gegenwärtigen Debatten über Flüchtlinge und Migranten kann man nicht oft genug an jene längst vergessenen Monate im Winter 1956/1957 erinnern, als sich fast ganz Österreich in einer durch die brutal niedergeschlagene Revolution ausgelösten pro-ungarischen Euphorie befunden hat.

Von Anfang an habe ich mich in Wien zu Hause gefühlt. Bis heute erinnere ich mich gerne an die Umgebung der ersten Unterkünfte als Untermieter in der Wiedner Hauptstraße und in der Rochusgasse im vierten bzw. dritten Bezirk, bevor ich 1960 als stolzer Hauptmieter in eine winzige Hausmeisterwohnung in der Josefstädter Straße im achten Bezirk einziehen durfte. Die Ablöse wurde durch den zinsfreien Kredit eines karitativen Vereins finanziert.

1966 reiste ich auf Einladung des amerikanischen Außenministeriums zum ersten Mal in die Vereinigten Staaten. Und auch dort hätte es für mich noch die Möglichkeit gegeben zu bleiben, als Gastdozent an einer Universität zu arbeiten und mich zugleich weiterzubilden – die Historiker und Universitätsprofessoren Charles Gati und István Deák haben es so gemacht, sie haben unterrichtet und dabei studiert.

Aber ich hatte damals mein Leben in Österreich schon auf Schiene gebracht. Allerdings erfüllte es mich in den ersten Jahren zunehmend mit Bitterkeit, dass ich nur Rohmaterial liefern durfte, viel lieber wäre es mir gewesen, die Artikel selbst zu formulieren, denn ich war der Meinung, dass man aus meinen Informationen Besseres hätte machen können. Immerhin stand ich jetzt dank meiner festen Arbeitskontakte und Verbindungen materiell auf sicherem Boden.

Und schließlich möchte ich nicht verschweigen, dass mir beim Aufbau einer Existenzgrundlage für mein zweites Leben auch Frauen geholfen haben. Zum Beispiel die Sekretärin des Wiener Korrespondenten der New York Times oder eine Sekretärin bei der Sunday Times; schließlich war ich damals siebenundzwanzig oder achtundzwanzig, sah vielleicht gar nicht übel aus und war in meinen Kreisen gewissermaßen ein Exot. Denn ein Journalist aus Budapest zu sein, der diese Sprache spricht und ganz gut mit Frauen umgehen kann, das war zweifellos hilfreich. Jedenfalls machten es mir die Frauen leichter, mich einzuleben, halfen mir auch, mich sprachlich zu verbessern. Meine zweite Frau hat mir später zum Beispiel die englischen Artikel noch grammatikalisch und stilistisch geglättet.

Alles zusammen trug dazu bei, dass man nach einiger Zeit wusste, es gibt da diesen Paul Lendvai, einen vernünftigen und zuverlässigen Mann, der ziemlich genau über die ungarischen Verhältnisse Bescheid weiß und darüber berichten kann. Mir fällt dazu ein bezeichnendes Beispiel aus späterer Zeit, dem Jahr 1960, ein. Es gab damals zwei weltbekannte amerikanische Kolumnisten, Joseph und Stewart Alsop. Stewart Alsop hat mich bei einem seiner Wien-Aufenthalte zur Zeit der Berlin-Krise in meiner Wohnung besucht, mir die höchst gespannte Situation geschildert und mich dann gefragt, was wäre, wenn der amerikanische Präsident eine Rundfunkansprache hielte und die Ungarn zu einem neuen Volksaufstand ermunterte. Was dann wohl geschehen würde? Nichts, sagte ich. Auch vier Jahre nach der Revolution sind die Ungarn völlig desillusioniert wegen der 1956 versprochenen, dann aber ausgebliebenen Hilfe. Sie glauben nicht mehr an die Versprechungen des Westens. Gar nichts würde passieren.

Solche von mir geäußerten Einschätzungen haben dazu beigetragen, dass ich für glaubwürdig gehalten und als Zeitgenosse mit nüchternem Urteil eingeschätzt wurde. Es gab andererseits später den Vorwurf, ich sei inzwischen ein Karrierist geworden.

Selbstverständlich war ich immer bestrebt, beruflich weiterzukommen. Wichtigste Voraussetzung dafür war natürlich – die Sprache. Das war mir von Anfang an klar. Deshalb musste ich lesen, so viel wie möglich, auf Deutsch und vor allem auf Englisch. Lange Abhandlungen und Artikel habe ich gelesen, exzerpiert und gelernt, ganze Hefte vollgeschrieben mit politischen, wirtschafts- und finanztechnischen Fachbegriffen, mit Redewendungen und Spezialausdrücken.

Aber hast du nicht schon zu Hause in Ungarn Deutsch und Englisch gesprochen?

Ja, aber ich war in den beiden Sprachen anfangs noch nicht so weit, dass ich selbst hätte Artikel schreiben können. Ich besaß die Grundkenntnisse und den Wortschatz der Umgangssprache. „Perfekt“ bin ich leider in keiner dieser Sprachen je geworden. Das ist wohl auch gar nicht möglich. Ein achtjähriges Kind aus Wien verfügt über mehr sprachliche Routine und spricht grammatikalisch korrekt – ich nicht immer. Eine gewisse Unsicherheit wird man nie los, wenn man nicht in eine Sprache hineingeboren wurde. Aber ich hatte trotzdem keine Hemmungen. Vom Ungarn Arthur Koestler hat man gesagt, er habe deshalb nie öffentlich Reden gehalten, weil ihn sein Akzent selbst gestört habe. Mich störte und stört er nicht.

Hast du schon als Kind in der Schule die beiden Sprachen gelernt?

Ja. Aber nicht nur gelernt, sondern sogar unterrichtet. Schon 1947, als Gymnasiast, habe ich einer älteren Dame Englischstunden gegeben und mir damit etwas Taschengeld verdient, obwohl ich selbst noch Englisch lernte. Deutsch habe ich vor 1945 in der Schule gelernt.

Kurz vor und nach dem Krieg und schon etwas davor nahm ich bei einem ehemaligen amerikanischen Pastor Englischstunden; der hat mir die amerikanische Aussprache so eingehämmert, dass es lange dauerte, bis ich diesen Akzent ablegen konnte. Später unterrichtete mich eine sehr distinguierte ungarische Dame, die ich wiederum von dem Geld bezahlen konnte, das ich mit den Englischstunden verdiente.

Meinten deine Eltern in weiser Voraussicht, dass es wichtig sei, Sprachen zu lernen?

Nein. Es war mein eigener Ehrgeiz, schon deshalb, weil mein Vater immer wenig verdiente und für meinen Sprachunterricht nicht gern Geld ausgegeben hätte. Mein Vater hat mich aber insofern gefördert, als er mich regelmäßig ins Kaffeehaus mitnahm, wo es westliche Zeitungen gab; zum Beispiel die zensierte Weltwoche aus der Schweiz, die wollte ich selbst lesen und verstehen können. Natürlich las ich auch sämtliche Blätter, die mein Vater abonniert hatte.

Zeitungen waren meine Leidenschaft, wie überhaupt das Lesen. Immer wenn ich krank war oder zumindest behauptete, es zu sein, habe ich unaufhörlich gelesen. Einer meiner Lieblingsautoren war der deutsche Publizist und Buchautor Hans Habe, übrigens ein Sohn des berüchtigten Winkelschreibers Imre Békessy, den Karl Kraus aus Wien vertrieben hat.

Also wie gesagt, ich wollte Journalist werden, wollte Zeitungen und Bücher lesen, auch ausländische, aber dazu musste man Sprachen können. Offenbar hatte ich auch eine gewisse Begabung dafür, sonst hätte ich nicht so bereitwillig Englisch und auch Deutsch gelernt. Einmal habe ich sogar ein Stipendium für das Ruskin College in Oxford gewonnen, damals hatten die ungarischen Sozialdemokraten noch Verbindungen in den Westen. Ein Wettbewerb für ein englischsprachiges Essay war ausgeschrieben, und den gewann ich. Aber am Ende durfte doch nicht ich, sondern ein Schützling von Anna Kéthly, der großen alten Dame der ungarischen Sozialdemokratie, nach Oxford fahren. Diese Ungerechtigkeit hat mich damals schwer gekränkt; als ich im folgenden Jahr an der Reihe gewesen wäre, gab es die Sozialdemokraten in Ungarn nicht mehr. Dabei hatte ich an dem Wettbewerb nur teilgenommen, weil ich zum Sprachenlernen nach England wollte.

In der Zeit zwischen den Weltkriegen gehörte es wohl dazu, dass man als Angehöriger der gehobenen Mittelschicht, als Arzt oder Anwalt, wie dein Vater, eine Fremdsprache lernte, nicht wahr?

Ja, es gehörte dazu, dass man eine Fremdsprache einigermaßen beherrschte, und die lingua franca war bei uns damals Deutsch. Die Schwester meines Vaters war Korrespondentin für eine deutsche Firma, und mein Vater hatte noch in der k.u.k.-Armee gedient und konnte ebenfalls Deutsch. Englisch sprach er nicht. Es war ein großes Familienereignis, als er einmal nach London reisen musste. Die jüngere Schwester meiner Mutter, eine außergewöhnlich hübsche und sehr anziehende Frau – von Beruf eine Art Modeschöpferin und Schneiderin – stand im Begriff, einen in England lebenden Ungarn zu heiraten. Der Bräutigam, ein sehr wohlhabender, aber misstrauischer Mann, ließ meine Tante allerdings durch einen Detektiv beschatten. Nun, sie hatte zwischendurch mal ein Rendezvous mit einem jungen Studenten, und so ging die Verlobung mit dem reichen Emigranten in die Brüche. Die Familie beauftragte nun meinen Vater, die heikle Angelegenheit in London zu bereinigen. Wie er dort ohne englische Sprachkenntnisse zurechtgekommen ist, kann ich nicht sagen.

Woher kam dein großes Interesse an der Politik? Du warst doch noch sehr jung?

Wahrscheinlich verdanke ich es meinem Vater. Er war Mitglied der Bürgerlich-Demokratischen Partei, hat zwar sehr viel gearbeitet, es in der Politik aber nicht weit gebracht. 1945 traten wir bei den Sozialdemokraten ein, so bekamen wir damals eine Mitgliedskarte, die in jenen unsicheren Tagen auch als Ausweis diente. Ein Jahr später meldeten sich bei mir plötzlich Aktivisten der Sozialdemokratischen Jugend und teilten mir mit, dass ich auf ihrer Mitgliederliste geführt werde, aber gar nichts tue; sie wollten nun auch die Passiven aktivieren. Ich sagte, ich hätte absolut keine Zeit, weil ich gerade an einem Aufsatz über Stefan Zweig arbeite. Gut, sagten sie, dann kommst du einfach zu uns zu einer Versammlung und liest aus deiner Abhandlung vor. Man ist als angehender Journalist ja schließlich eitel, also ging ich hin und habe vorgelesen. Das war im Grunde genommen der Anfang meiner politischen Aktivität und meiner Karriere in der sozialistischen Jugendbewegung des IX. Bezirks von Budapest.

Warum schreibt man als Siebzehnjähriger einen Essay über Stefan Zweig?

Ich begeisterte mich damals für Stefan Zweig. Habe ihn bewundert. Schon während des Krieges las ich Bücher von ihm. Vis-à-vis von uns gab es ein Antiquariat, meine Mutter holte sich dort regelmäßig ihren Lesestoff, und ich ging immer mit, bin also sozusagen unter Büchern aufgewachsen. Die Besitzerin nannte man Flórika, sie war mit einem Herrn Ádler verheiratet, der – wie es hieß – in seiner Freizeit auch pornografische Romane schrieb. Dieser Ádler hatte einen guten Bekannten, einen gewissen Andor Tiszai, der wiederum Redakteur bei einem literarischen Magazin für Damen war. Der hat mich ermutigt, doch einmal etwas über Stefan Zweig zu schreiben, da ich ihn doch so sehr verehrte. Deshalb also ging es in meinem ersten literarischen Versuch um den großen Stefan Zweig. Was ich über ihn geschrieben habe, weiß ich heute nicht mehr, aber ich habe ihn auch bewundert, weil er gegen Intoleranz und Rassismus und gegen den Krieg auftrat, weil er mit Romain Rolland befreundet war, großartige Stücke geschrieben hatte und weil er mich mit seinem wunderbaren Buch Die Welt von gestern und auch mit Brasilien, ein Land der Zukunft so faszinierte. Er hatte damals wirklich großen Einfluss auf mich. Aufgrund meines Aufsatzes über ihn machte ich also in der Sozialistischen Jugend Karriere: Ich wurde der für Erziehung zuständige Sekretär des Kreises der Mittelschüler, der nach Endre Ady, dem großen ungarischen Lyriker, benannt war. Später kam ich mit den Hochschulgruppen der Jugendbewegung in Verbindung und habe dort auch Pál Justus, den interessantesten Denker der Sozialdemokratischen Partei, kennengelernt. Offenbar wurde man in der Partei irgendwie auf mich aufmerksam; jedenfalls durfte ich schon mit siebzehn, achtzehn Jahren auf den sozialdemokratischen Parteiveranstaltungen Vorträge halten.

Ja, irgendetwas muss an dir gewesen sein. Das weiß ich aus einem Brief, den dir einer deiner Klassenkameraden geschrieben hat; er berichtete davon, dass du einmal auf dem Flur vor dem Lehrerzimmer die gesamte Klasse – lauter Buben – aufmarschieren ließest, sie paarweise hingestellt und ihnen einen Tanz beigebracht hast.

An die Geschichte kann ich mich nicht mehr erinnern, aber an eine andere: Wie ich nämlich die Klasse überredet habe, doch die Deutschstunde zu schwänzen, weil ich zu den Freudenmädchen in die Víg utca gehen wollte. Und noch eine Verrücktheit ließ ich mir einfallen: Ich war schon ein bisschen größenwahnsinnig geworden, prahlte damit, was für gute Beziehungen ich doch hätte. Ich ging also in das Amt der Bezirksschulaufsicht, um nachzufragen, was das Thema des Abituraufsatzes sein würde. Die Folge war, dass ich zum Abitur nicht zugelassen wurde. Ich musste dann von Pontius zu Pilatus laufen, um zu bewirken, dass ich doch noch antreten durfte.

Du musst wohl eine besondere Gabe zum Reden und zum Überreden gehabt haben, dass du so oft Mittelpunkt einer Gruppe warst?

Gut, ich war eben politisch aktiv.

Es ist wohl nicht direkt politisch zu verstehen, dass du die Klasse zu einem Besuch im Freudenhaus überreden wolltest?

Sie sind ja gar nicht mitgegangen. Ich war allein dort, hatte sie nur überredet, die Deutschstunde zu schwänzen, weil ich nicht der einzige sein wollte, der fehlte.

Aber in der sozialistischen Bewegung habe ich viele interessante Menschen kennengelernt. Wir hatten ein reges Vereinsleben, unsere Sitzungen dauerten oft bis Mitternacht. Bei den Sozialdemokraten gab es keine so strikte Hierarchie und strenge Disziplin wie bei den Kommunisten. Ich konnte ohne Weiteres eine der weiblichen Parteisekretäre zum Hotel Palace begleiten, wo unsere Parteizentrale war – eine Ehre für mich. Es half mir dann auch, im Februar 1948 Referent in der Bildungsabteilung der Partei zu werden; von dort kam ich zu dem Blatt Kossuth Népe und von da aus wiederum zur KP-Zeitung Szabad Nép. Mein Vater war nicht glücklich über meinen schnellen Aufstieg, er wollte nicht, dass ich eine politische Laufbahn einschlug. Wir haben oft darüber diskutiert. Er war für einen „anständigen“ Beruf, ich sollte Jura studieren. Also schrieb ich mich auch an der Juristischen Fakultät ein.

Du hast ein paar Semester Studium absolviert, nicht wahr?

1947, nach dem Abitur, begann ich mein Studium, aber anderthalb Jahre später habe ich es aufgegeben. Ich hatte so viel Aufregenderes zu tun. Mein Vater besorgte mir über den Pedell der Uni noch das Testat im Studienbuch, so dass ich immerhin zwei Jahre Studium nachweisen konnte. Übrigens habe ich an der Universität gleich mit der politischen Arbeit begonnen. Ich war Sekretär der Sozialdemokratischen Jugendorganisation (SZIM) an der Fakultät und auch Mitglied des Studienkomitees der Universität. All das hat aber nicht lange gedauert, denn am 12. Juni 1948 haben Rákosi und seine KP die beiden Parteien, die Kommunistische und die Sozialdemokratische, zwangsvereinigt.

Als ich zur Nachrichtenagentur MTI kam, ließ ich das alles hinter mir. Ich bin Journalist und danach Soldat geworden, am Ende habe ich das Land verlassen. Aber gelegentlich begegne ich in Pest auch heute noch dem Mann, der damals an der Universität der KP-Sekretär war.

Noch bevor ich zum Militär kam, bewarb ich mich um eine Aspirantur, wollte also Assistent an der Uni werden. Diese Möglichkeit gab es damals, man konnte als wissenschaftliche Hilfskraft arbeiten und gleichzeitig weiterstudieren. Aber dann kam das Militär dazwischen. Die Parteihochschule habe ich offiziell nicht besucht, dort aber manche Vorlesungen gehört, zum Beispiel bei dem Soziologen Sándor Szalai. Und ein Semester habe ich auch an der Diplomatischen Akademie absolviert.

Als ich nach Österreich kam, war ein Studium eigentlich kein Thema mehr für mich, obwohl ich mich anfangs an der Universität Wien eingeschrieben habe. Aber ich wollte arbeiten, hielt es wie Walter Laqueur, der deutschstämmige amerikanische Historiker, wenn ich mich mit ihm vergleichen darf, der an vier Universitäten gelehrt hat, aber wegen des Kriegs nicht einmal das Abitur hatte ablegen können.

Obwohl ich keinen akademischen Abschluss vorweisen konnte, hat mir die österreichische Wissenschaftsministerin Hertha Firnberg 1980 im Rahmen einer schönen Feier den Ehrentitel „Professor“ verliehen.

Man hat dir also diesen Titel verliehen? Du hast dich nicht selbst darum bemüht?

Nein, man kann sich einen solchen Titel nicht wünschen oder darum bitten. Aber wenn wir schon bei den Orden und Ehrentiteln sind: Nachdem Bruno Kreisky Bundeskanzler geworden war, hat er mich einmal angerufen, ich solle doch ins Bundeskanzleramt kommen; dort hat er mir dann im Beisein von zwei seiner Mitarbeiter meine erste österreichische Auszeichnung, den Goldenen Verdienstorden, überreicht. Später bekam ich vom christdemokratischen Vizekanzler Erhard Busek das Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst. 2001 verlieh mir Bundespräsident Thomas Klestil den Großen Goldenen Verdienstorden.

Noch ein offenes Wort über Auszeichnungen. Wenn man in seiner alten Heimat so oft verfolgt und erniedrigt wurde, zählt die Anerkennung – in welcher Form immer – in der neuen Heimat doppelt. Die Orden und Preise sind für mich symbolträchtige Beweise dafür, dass ich in Österreich ein zweites Heimatland gefunden habe. Wenn man mich auf der Straße oder in einem Lokal freundlich grüßt, dann spüre ich immer wieder, dass die Österreicher mich – wohl mit der Ausnahme von Extremisten diverser Couleur – schlicht und einfach mögen.

War es für dich nie ein Nachteil, dass du keinen akademischen Abschluss hast?

Nein, nie. So hat mich etwa die Universität von Kalifornien nach Santa Barbara eingeladen, als „Regent’s professor“ dort zu lehren, aber ich wurde damals nicht nach einem Universitätsabschluss gefragt. Für mich sind meine fünfzehn Bücher gleichsam Diplome. Es gereichte mir nirgends zum Nachteil, dass mir Abschlusszeugnisse fehlen.

Aber zurück zum Ungarn der Fünfzigerjahre. Dein Vater hat sich also damit abgefunden, dass du das Studium abgebrochen hast?

Natürlich. Später, als ich anfing, für Zeitungen zu schreiben, war er sogar stolz auf mich. Aber Konflikte zwischen uns gab es natürlich auch weiterhin; etwa deshalb, weil ich mit einer Stenotypistin bei der Zeitung Kossuth Népe ein Verhältnis hatte. Zusammen mit ihr wurde ich dann zu Szabad Nép versetzt und vier Jahre später habe ich sie geheiratet. Das war ein Schlag für meinen Vater. Weil sie nämlich acht Jahre älter war als ich! Er schrieb einen Brief an die Redaktion, an dessen Wortlaut ich mich nicht mehr erinnere. Aber sinngemäß hieß es darin, er mache sich Sorgen, dass ein so begabter junger Mensch sich seine ganze Zukunft wegen einer so viel älteren Frau verbaue. Das Schreiben hatte damals keine unmittelbaren Folgen, trug aber offenbar später zu meinem Rausschmiss bei. Doch hat mein Vater wahrscheinlich keine Ahnung gehabt, wie es bei Szabad Nép zuging, welche Atmosphäre dort herrschte. Bewirkt hat dieser Brief aber sicherlich, dass ich von zu Hause ausgezogen bin und mir ein Untermietzimmer gesucht habe.

Hat sich das Verhältnis zu deinem Vater damit verschlechtert?

Ja. Ich habe aber den Kontakt zu meinen Eltern trotzdem nicht abgebrochen, sie auch materiell unterstützt, denn meinem Vater ging es damals ziemlich schlecht. Wir trafen uns auch immer wieder, allerdings nicht allzu oft.

Und deine Mutter? Was sagte sie zu dem Konflikt zwischen deinem Vater und dir?

Meine Mutter hing sehr an mir, ich war ihr Ein und Alles. Sie stammte aus Siebenbürgen, aus einfachen Verhältnissen, und das in Vaters Familie von Lateinern, wo jeder einen akademischen Abschluss hatte. Meine Mutter war nicht berufstätig und im Grunde vom Leben enttäuscht. Eine sehr gutherzige Frau, aber eine schwache Mutter. Sie hat mich nach Strich und Faden verwöhnt, las mir jeden Wunsch von den Augen ab, kochte, was ich mir wünschte, und ergriff immer für mich Partei.