Titelseite

Impressum

Hobbit Presse Paperback

www.hobbitpresse.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Wicked – The Life and Times of the Wicked Witch of the West«

im Verlag Regan Books, ein Imprint von HarperCollins Publishers

© 1995

Für die deutsche Ausgabe

© 2008 / 2017 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Umschlaggestaltung: Birgit Gitschier; Illustration Max Meinzold, München

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96210-9

E-Book: ISBN 978-3-608-10156-0

Dieses Buch ist Betty Levin gewidmet und allen,
die mich das Gute lieben und fürchten gelehrt haben.

Es ist sehr sonderbar, wie gern die Menschen böser erscheinen möchten, als sie sind.

Daniel Defoe: A System of Magick

Bei historischen Ereignissen sind die sogenannten großen Männer nur die Etiketten, die dem Ereignis den Namen geben; sie stehen aber, ebenso wie die Etiketten, mit dem Ereignis selbst kaum in irgendeinem inneren Zusammenhang. Jede ihrer Handlungen, die sie als das Resultat ihres freien Willens betrachten und um ihrer eigenen Personen willen getan zu haben meinen, ist im geschichtlichen Sinn nicht ein Akt des freien Willens, sondern steht mit dem ganzen Gang der Geschichte in Verbindung und ist von Ewigkeit her vorausbestimmt.

Lew Tolstoj: Krieg und Frieden

(Übers. Hermann Röhl)

»Nun gut«, sagte der Kopf, »ich werde dir meine Antwort geben. Du kannst nicht von mir erwarten, dass ich dich so einfach nach Kansas schicke, ohne dass du auch etwas für mich tust. In diesem Land muss jeder für alles, was er bekommt, bezahlen. Wenn du willst, dass ich meine Zauberkräfte benutze, um dich heimzuschicken, musst du mir zuerst einen Dienst erweisen. Hilf mir, und ich werde dir helfen.«

»Was muss ich tun?«, fragte das Mädchen.
»Die Böse Hexe des Westens töten«, erwiderte Oz.

Lyman Frank Baum: Der Zauberer von Oz

(Übers. Freya Stephan-Kühn)

VORSPIEL
Auf der Gelben Ziegelstraße

Eine Meile hoch über Oz hing die Hexe hart vor dem Wind wie ein von den Luftturbulenzen aufgewirbeltes und fortgewehtes grünes Bröckchen Erde. Weiße und dunkelrote Sommergewitterwolken türmten sich ringsum auf. Unten beschrieb die Gelbe Ziegelstraße einen Bogen wie eine schlaffe Schlinge. Winterliche Unwetter und die Stemmeisen von Unruhestiftern hatten die Straße aufgerissen, doch das änderte nichts daran, dass sie wie eh und je zur Smaragdstadt führte. Die Hexe sah die Gefährten dahinstapfen, die kaputten Abschnitte umgehen, Gräben ausweichen, fröhlich hüpfen, wenn der Weg frei war. Sie schienen nicht zu ahnen, was sie erwartete. Doch es war nicht die Sache der Hexe, sie darüber aufzuklären.

Sie saß auf ihrem Besen, als wäre er ein Treppengeländer, und kam so vom Himmel herabgesaust wie einer ihrer fliegenden Affen. Ihr Sturzflug endete auf dem obersten Ast einer Schwarzweide. Unter ihr, vom Laubwerk verborgen, hatten die Verfolgten eine Ruhepause eingelegt. Die Hexe klemmte sich den Besen unter den Arm. Lautlos kletterte sie Stückchen für Stückchen abwärts, bis sie nur noch fünf Meter über ihnen war. Der Wind bewegte die hängenden Zweige des Baumes. Die Hexe spähte und lauschte.

Sie waren zu viert. Sie konnte eine große KATZE erkennen – ein LÖWE, oder? – und einen metallisch glänzenden Holzfäller. Der Holzfäller, der aus Blech sein musste, zupfte Nissen aus der Mähne des LÖWEN, und der LÖWE brummelte und zuckte jedes Mal vor Unbehagen. Eine lebende Vogelscheuche fläzte in der Nähe und blies Pusteblumen in den Wind. Das Mädchen war hinter den wehenden Weidenvorhängen nicht zu sehen.

»Wenn man den Leuten glauben darf, ist die überlebende Schwester regelrecht verrückt«, sagte der LÖWE. »Eine Hexe, wie sie im Buche steht. Psychisch verkorkst, von Dämonen besessen. Geisteskrank. Kein schöner Anblick.«

»Sie wurde bei der Geburt kastriert«, bemerkte der blecherne Holzfäller sachlich. »Sie kam als Hermaphrodit zur Welt oder komplett als Mann.«

»Ach du, wo du hinschaust, siehst du Kastrierte«, sagte der LÖWE.

»Ich wiederhole nur, was die Leute sagen«, entgegnete der blecherne Holzfäller.

»Jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung«, sagte der LÖWE von oben herab. »Sie hat keine Mutterliebe bekommen, so habe ich’s gehört. Sie wurde als Kind misshandelt. Sie war süchtig nach dem Medikament gegen ihr Hautleiden.«

»Sie hat kein Glück in der Liebe gehabt«, sagte der blecherne Holzfäller, »wie wir alle.« Er verstummte und legte sich wie leidend die Hand auf die Brust.

»Sie ist eine Frau, die lieber mit anderen Frauen zusammen ist«, sagte die Vogelscheuche und setzte sich auf.

»Sie ist die verschmähte Geliebte eines verheirateten Mannes.«

»Sie ist ein verheirateter Mann.«

Die Hexe war so verblüfft, dass sie beinahe den Ast losgelassen hätte, an dem sie sich festhielt. Auf Klatsch hatte sie noch nie etwas gegeben. Doch sie war den Menschen schon so lange entfremdet, dass sie über die Behauptungen dieser hergelaufenen Wichte staunen musste.

»Sie ist eine Despotin. Eine gefährliche Tyrannin«, erklärte der LÖWE entschieden.

Der blecherne Holzfäller zog fester als nötig an einer Mähnenlocke. »Du findest alles gefährlich, du alte Memme. Wie ich höre, setzt sie sich für die Selbstbestimmung der sogenannten Winkies ein.«

»Sie mag sein, was sie will, aber sie ist bestimmt traurig über den Tod ihrer Schwester«, sagte das Kind mit einer ernsten Stimme, die für so ein junges Ding zu weihevoll, zu innig war. Die Hexe überlief es kalt.

»Werd jetzt bloß nicht rührselig. Mich rührt sie jedenfalls nicht.« Der blecherne Holzfäller rümpfte abfällig die Nase.

»Aber Dorothy hat recht«, sagte die Vogelscheuche. »Gegen Trauer ist niemand gefeit.«

Die Hexe ärgerte sich mächtig über diese gönnerhaften Betrachtungen. Sie schob sich um den Stamm des Baumes herum und machte einen langen Hals, um einen Blick auf das Kind zu erhaschen. Der Wind frischte auf, und die Vogelscheuche zitterte. Sie schmiegte sich an den LÖWEN und wurde von diesem zärtlich umfangen, während der blecherne Holzfäller ihm weiter Nissen aus der Mähne klaubte. »Ein Gewitter am Horizont«, sagte die Vogelscheuche.

In der Ferne hallte der Donner. »Dort am Horizont ist eine – Hexe!«, sagte der blecherne Holzfäller und kitzelte den LÖWEN. Der LÖWE erschrak und wälzte sich wimmernd auf die Vogelscheuche, und der Holzfäller warf sich auf alle beide.

»Liebe Freunde, sollten wir uns nicht vor dem Gewitter in Sicherheit bringen?«, sagte das Mädchen.

Endlich schob der Wind den grünen Vorhang beiseite, und die Hexe erblickte die Kleine. Sie hatte die Beine untergeschlagen und die Arme um die Knie geschlungen. Sie war kein zartes Geschöpf, sondern ein robustes Bauernmädchen in einem blauweiß karierten Trägerkleid. In ihren Schoß duckte sich winselnd ein hässlicher kleiner Hund.

»Das Gewitter macht dich nervös. Kein Wunder nach dem, was du durchgemacht hast«, sagte der blecherne Holzfäller. »Entspann dich.«

Die Finger der Hexe krallten sich in die Baumrinde. Das Gesicht des Mädchens konnte sie immer noch nicht sehen, nur die kräftigen Unterarme und den Hinterkopf mit den zu Zöpfen geflochtenen dunklen Haaren. Musste es ernst genommen werden, oder war es nichts weiter als ein vom Wind verwehter Pusteblumensame? Wenn ich das Gesicht des Mädchens sehen könnte, dachte die Hexe, wüsste ich wohl Bescheid.

Doch genau in dem Moment, als die Hexe sich weiter zur Seite streckte, drehte das Mädchen sich weg und wandte das Gesicht ab. »Das Gewitter kommt näher, und zwar rasch.« Der Wind wurde stärker und damit auch die Dringlichkeit in seiner gepressten Stimme. Es klang, als kämpfte es mit den Tränen. »Ich kenne solche Unwetter, ich weiß, wie sie plötzlich über einen hereinbrechen!«

»Hier sind wir am sichersten«, sagte der blecherne Holzfäller.

»Ganz gewiss nicht«, versetzte das Mädchen. »Dieser Baum ist der höchste Punkt weit und breit, und wenn der Blitz einschlägt, dann hier.« Es drückte sein Hündchen an sich. »Haben wir nicht weiter vorn an der Straße einen Schuppen gesehen? Kommt, kommt! Vogelscheuche, wenn es blitzt, brennst du als Erster. Kommt schnell!«

Es sprang auf und lief schwerfüßig los, und seine Gefährten folgten ihm, von jäher Angst getrieben. Als die ersten harten Regentropfen fielen, erblickte die Hexe zwar nicht das Gesicht des Mädchens, aber dafür die Schuhe. Die Schuhe ihrer Schwester. Sie funkelten selbst im Dämmerlicht des frühen Abends. Sie funkelten wie gelbe Diamanten und blutglühende Kohlen und dornige Sterne.

Wenn ihr die Schuhe gleich aufgefallen wären, hätte die Hexe dem Mädchen und seinen Freunden niemals zuhören können. Aber die Füße des Mädchens waren vom Kleid verdeckt gewesen. Jetzt fiel der Hexe wieder ein, was sie eigentlich wollte. Die Schuhe mussten ihr gehören! Hatte sie nicht genug gelitten, hatte sie sich diese Schuhe nicht verdient? Die Hexe hätte sich vom Himmel herab auf das Mädchen gestürzt und ihm die Schuhe von den dreisten Füßen gerissen, wenn sie gekonnt hätte.

Aber das Gewitter, vor dem die Gefährten auf der Gelben Ziegelstraße immer weiter und schneller davonliefen, beunruhigte die Hexe mehr als das Mädchen, das schon öfter im Regen nass geworden war, und die Vogelscheuche, die der Blitz verbrennen konnte. Die Hexe durfte sich in einem solchen heftigen, bis auf die Haut durchdringenden Guss nicht ins Freie wagen. Sie musste sich zwischen den freiliegenden Wurzeln der Schwarzweide verstecken, wo das Wasser ihr nicht zur Gefahr werden konnte, und warten, bis das Gewitter abzog.

Sie würde wiederkommen. Bis jetzt war sie immer wiedergekommen. Das mörderische politische Klima in Oz hatte sie niedergeworfen, ausgedörrt, weggeweht – wie ein Same war sie dahingetrieben, anscheinend zu vertrocknet, um jemals irgendwo Wurzeln zu schlagen. Aber der Fluch lag zweifellos auf dem Land Oz, nicht auf ihr. Oz hatte ihr zwar ein verpfuschtes Leben beschert, aber hatte es sie nicht auch stark gemacht?

Es spielte keine Rolle, dass die Gefährten ihr enteilt waren. Die Hexe konnte warten. Sie würden sich wiedersehen.

I
MUNCHKINS

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Die Wurzel des Bösen

Vom zerwühlten Bett aus sagte die Frau: »Ich glaube, heute ist es soweit. Sieh nur, wie erledigt ich bin.«

»Heute? Das würde dir ähnlich sehen, eigensinnig, wie du bist«, stichelte ihr Mann. Er stand in der Tür und schaute über den See, die Felder, die bewaldeten Hänge dahinter. Er konnte ganz schwach die Schornsteine von Binsenrain erkennen, den Rauch der Frühstücksfeuer. »Am denkbar unpassendsten Zeitpunkt für meine Amtspflichten. Natürlich.«

Die Frau gähnte. »Man hat dabei keine große Wahl, wie man so hört. Der Körper schwillt an und übernimmt das Kommando – wenn du dich nicht damit abfinden kannst, Schatz, dann meide ihn einfach. Er läuft jetzt auf seiner vorgegebenen Bahn und ist durch nichts mehr aufzuhalten.« Sie stemmte sich hoch und versuchte, über den Berg ihres Bauches zu blicken. »Ich komme mir vor wie die Geisel meines eigenen Körpers. Oder des Kindes.«

»Übe ein bisschen Selbstbeherrschung.« Er trat an ihre Seite und half ihr sich hinsetzen. »Betrachte es als eine geistliche Übung. Zügelung der Sinne. Leibliche wie moralische Enthaltsamkeit.«

»Selbstbeherrschung?« Sie lachte, während sie sich an die Bettkante schob. »Ich habe kein Selbst mehr, das ich beherrschen könnte. Ich bin nur noch der Wirtskörper dieses Schmarotzers. Wo mag mein Selbst abgeblieben sein? Wo habe ich das müde alte Ding bloß liegenlassen?«

»Denk auch mal an mich.« Sein Ton hatte sich geändert; er meinte es ernst.

»Frex«, sie ging nicht auf ihn ein, »wenn der Vulkan soweit ist, kann kein Priester der Welt den Ausbruch wegbeten.«

»Was werden meine Pfarrerskollegen denken?«

»Sie werden sich zusammensetzen und sagen: ›Bruder Frexspar, hast du deiner Frau gestattet, dein erstes Kind zur Welt zu bringen, obwohl du in der Gemeinde ein Problem zu lösen hattest? Wie unbedacht von dir. Das beweist einen Mangel an Autorität. Du bist deines Amtes enthoben.‹« Das war scherzhaft gemeint, denn es gab niemanden, der ihn des Amtes entheben konnte. Der nächste Bischof war zu weit entfernt, um sich mit den Alltagssorgen eines unionistischen Provinzpfarrers abzugeben.

»Der Zeitpunkt ist nur so ungelegen.«

»Ich denke mal, was den Zeitpunkt anbelangt, trifft dich die halbe Schuld«, sagte sie. »Also wirklich, Frex.«

»Das ist die landläufige Meinung, aber ich habe meine Zweifel.«  

»Du hast deine Zweifel?« Sie lachte, den Kopf weit zurückgelegt. Die Linie von ihrem Ohr zu der Mulde am Halsansatz erinnerte Frex an einen eleganten silbernen Schöpflöffel. Selbst in morgendlicher Unordnung, mit einem Bauch wie eine Fregatte, war sie eine vornehme Schönheit. Ihre Haare hatten den gelackten Glanz nassen Eichenlaubs im Sonnenschein. Er machte ihr die privilegierte Herkunft zum Vorwurf und bewunderte ihre Anstrengungen, sie zu überwinden – und außerdem liebte er sie.

»Heißt das, du hast deine Zweifel, ob du der Vater bist?« Sie packte den Bettkasten, und Frex ergriff ihren anderen Arm und zog sie ein Stück in die Höhe. »Oder stellst du die Vaterschaft von Männern im Allgemeinen in Frage?« Sie stellte sich hin, kolossal, eine wandelnde Insel. Während sie im Schneckentempo zur Tür hinaustappte, lachte sie über so eine Idee. Er hörte sie draußen auf dem Plumpsklo lachen, als er daranging, sich für den Kampf des Tages herzurichten.

Frex kämmte sich den Bart und ölte sich die Haare. Damit sie ihm nicht ins Gesicht fielen, zog er sie im Nacken mit einer Klammer aus Knochen und Rohleder zusammen. Sein Mienenspiel musste heute von Weitem deutlich erkennbar sein: er durfte sich keine Missverständlichkeit erlauben. Er nahm etwas Kohlenstaub, um seine Augenbrauen zu schwärzen, einen Klecks rotes Wachs für seine hageren Wangen und bestrich sich die Lippen damit. Ein schmucker Priester zog mehr reuige Sünder an als einer, der unscheinbar daherkam.

Melena schwebte gemächlich durch den Küchengarten, nicht mit der üblichen Schwere der Schwangerschaft, sondern wie aufgeblasen, ein großer Ballon, der seine Bänder durch den Schmutz schleifte. In der einen Hand hielt sie eine Pfanne und in der anderen ein paar Eier und dünne herbstliche Schnittlauchspitzen. Sie sang vor sich hin, aber nur in kurzen Phrasen. Frex sollte sie nicht hören.

Nachdem er den strengen Talar bis zum Kragen fest zugeknöpft und die Sandalen über die Gamaschen geschnallt hatte, holte Frex den Bericht, den ihm sein Kollege aus dem Nachbardorf Drei Tote Bäume geschickt hatte, aus seinem Versteck unter einer Kommode hervor. Er verbarg die braunen Seiten in seiner Schärpe. Er hatte sie vor seiner Frau geheim gehalten, weil er befürchtete, dass sie gern mitkommen würde – um mitzulachen, falls es vergnüglich, oder mitzuschaudern, falls es erschreckend war.

Frex atmete tief, um seine Lungen für die Redestrapaze des Tages zu stärken, derweil Melena die Eier in der Pfanne mit einem Holzlöffel umrührte. Das Bimmeln von Kuhglocken tönte über den See. Sie hörte nicht hin, oder sie hörte stattdessen auf etwas anderes, etwas in ihrem Innern. Es war ein Klang ohne Melodie – wie Traummusik, die man wegen ihrer Wirkung im Gedächtnis behielt, nicht wegen ihrer harmonischen Spannungen und Lösungen. Sie stellte sich vor, dass es das Kind war, das in ihrem Bauch vor Glück summte. Sie wusste, dass es ein singender Junge werden würde.

Melena hörte, wie Frex im Haus zu proben begann, sich aufwärmte, sich die donnergrollenden Sätze seiner Ansprache vorsagte, sich aufs neue von seiner Gerechtigkeit überzeugte.

Wie ging dieser Spruch, den Ämmchen ihr vor Jahren in der Kinderstube vorgesingsangt hatte?

Geboren am Morgen,

Nur Leiden und Sorgen.

Nachmittagskind,

Im Leiden geschwind.

Abends entbunden,

Das Leiden schlägt Wunden.

Geboren zur Nacht,

Wird’s wie morgens gemacht.

Doch ihr war das als Scherz im Ohr geblieben, liebevoll. Das Leiden ist die natürliche Bestimmung des Lebens, und doch bekommen wir unentwegt weiter Kinder.

Nein, hallte Ämmchens Stimme in Melenas Erinnerung (wie üblich ermahnend): Nein, nein, du hübscher kleiner verzogener Fratz. Wir bekommen nicht unentwegt weiter Kinder, das ist doch sonnenklar. Wir bekommen nur Kinder, solange wir jung genug sind, nicht zu wissen, wie grausam das Leben letztendlich ist. Sobald wir das erst einmal in vollem Umfang begriffen haben – wir lernen langsam, wir Frauen –, dörren wir vor Empörung aus und stellen sinnigerweise die Produktion ein.

Aber Männer dörren nicht aus, widersprach Melena. Sie können bis zum Tode Kinder zeugen.

Tja, wir lernen langsam, gab Ämmchen zurück. Aber sie lernen überhaupt nichts.

»Frühstück«, sagte Melena und schaufelte die Eier auf einen Holzteller. Ihr Sohn würde nicht so stumpfsinnig sein wie die meisten Männer. Sie würde ihn dazu erziehen, dem Vormarsch des Leidens zu trotzen.

»Unsere Gesellschaft macht zur Zeit eine Krise durch«, deklamierte Frex. Für einen Mann, der weltliche Vergnügungen missbilligte, aß er sehr gesittet. Sie genoss es, dem geschickten Spiel der Finger und zweier Gabeln zuzuschauen. Sie hatte den Verdacht, dass er hinter seiner asketischen Fassade eine heimliche Sehnsucht nach dem guten Leben hegte.

»Unsere Gesellschaft macht jeden Tag eine große Krise durch.« Witzelnd antwortete sie ihm mit den Phrasen der Männer. Der liebe Dummerjan bekam die Ironie in ihrer Stimme gar nicht mit.

»Wir stehen am Scheideweg. Abgötterei droht. Die traditionellen Werte sind in Gefahr. Die Wahrheit wird bekämpft und die Tugend verworfen.«

Er sprach weniger zu ihr, als dass er seine Tirade gegen das bevorstehende Spektakel der Gewalt und Magie probte. Es gab einen Zug an Frex, der an Verzweiflung grenzte; anders als die meisten Männer konnte er dieses Gefühl so kanalisieren, dass es seiner Lebensarbeit zugutekam. Mit einiger Beschwerlichkeit ließ sie sich auf einer Bank nieder. Ganze Chöre sangen wortlos in ihrem Kopf. War das kurz vor der Niederkunft immer so? Sie hätte gern die neugierigen Dorffrauen gefragt, die am Nachmittag vorbeikommen und schüchtern ihren Zustand begutachten würden. Aber sie traute sich nicht. Sie konnte zwar ihren vornehmen Akzent nicht ablegen, den die Frauen affektiert fanden, aber sie konnte sich bemühen, in diesen elementaren Dingen nicht ahnungslos zu klingen.

Frex bemerkte ihr Schweigen. »Du bist mir doch nicht böse, dass ich dich heute alleinlasse?«

»Böse?« Sie zog die Augenbrauen hoch, als ob ihr der Begriff noch nie untergekommen wäre.

»Die Geschichte hinkt auf den Stelzfüßen kleiner einzelmenschlicher Leben dahin«, sagte Frex, »und gleichzeitig wirken größere ewige Kräfte darauf ein. Man kann sich nicht um beide Bereiche auf einmal kümmern.«

»Vielleicht wird unser Kind gar kein kleines Leben haben.«

»Jetzt ist nicht der Zeitpunkt, sich zu streiten. Willst du mich heute von meiner heiligen Arbeit abhalten? Wir werden in Binsenrain das Böse im wahrsten Sinne erleben. Ich könnte mich selbst nicht mehr ertragen, wollte ich davor die Augen verschließen.« Es war ihm ernst damit, und dieser Inbrunst wegen hatte sie sich einst in ihn verliebt; aber natürlich hasste sie ihn auch genau deswegen.

»Gefahren drohen immer.« Ihr letztes Wort zu dem Thema. »Dein Sohn wird nur einmal zur Welt kommen, und wenn man dem wässrigen Aufruhr in meinem Bauch glauben darf, dann heute.«

»Es werden noch mehr Kinder kommen.«

Sie wandte sich ab, damit er den Zorn auf ihrem Gesicht nicht sah.

Doch ihre Wut auf ihn war nicht von Dauer. Vielleicht war das ihre moralische Schwäche. (Sie verspürte in der Regel keine große Neigung, sich einen Kopf über moralische Schwächen zu machen; ein Pfarrer als Mann deckte den gemeinsamen Bedarf an religiösen Betrachtungen vollauf.) Sie verfiel in ein missmutiges Schweigen. Frex stocherte in seinem Essen herum.

»Es ist der Teufel«, sagte Frex seufzend. »Der Teufel kommt.«

»Sag doch nicht so was an einem Tag, an dem unser Kind erwartet wird!«

»Ich meine die Versuchung in Binsenrain! Das weißt du genau, Melena!«

»Worte sind Worte, und was gesagt ist, ist gesagt!«, erwiderte sie. »Ich verlange nicht deine ganze Aufmerksamkeit, Frex, aber ein wenig davon brauche ich schon!« Sie knallte die Pfanne auf die Bank an der Hauswand.

»Gleichfalls«, sagte er. »Was meinst du, womit ich es heute zu tun habe? Wie kann ich meine Schäfchen davon überzeugen, sich vom Blendwerk der Abgötterei abzukehren? Wenn ich heute Abend zurückkomme, werde ich wahrscheinlich gegen einen stärkeren Anreiz den Kürzeren gezogen haben. Du wirst heute wohl ein Kind gewinnen. Ich rechne mit einer Niederlage.« Dennoch sah er bei diesen Worten stolz aus; im Kampf für ein hohes moralisches Ziel zu unterliegen, erschien ihm befriedigend. Wie ließ sich das mit dem Fleisch, Blut, Unrat und Lärm einer Kindsgeburt vergleichen?

Er erhob sich schließlich zum Aufbruch. Über dem See kam ein Wind auf und verwehte die Küchenrauchsäulen. Sie sehen aus, dachte Melena bei sich, wie Wasserwirbel, die sich im Abfluss trichterförmig nach unten schrauben.

»Alles Gute, mein Liebes«, sagte Frex, obwohl er bereits seinen strengen öffentlichen Habitus angenommen hatte, von der Stirn bis zu den Zehen.

»Ja.« Melena seufzte. Das Kind boxte sie tief unten, und sie musste wieder zum Klo eilen. »Dir alles Heilige, und ich werde an dich denken – meine Stütze, mein Harnisch. Und versuche auch, dich nicht umbringen zu lassen.«

»Nach dem Willen des Namenlosen Gottes«, sagte Frex.

»Nach meinem Willen auch«, sagte sie blasphemisch.

»Richte deinen Willen auf Dinge, die ihm zukommen«, entgegnete er. Jetzt war er der Priester, und sie war die Sünderin, eine Arbeitsteilung, die ihr nicht sonderlich behagte.

»Auf Wiedersehen«, sagte sie und suchte lieber den Gestank des Klos auf, als ihm auf der Straße nach Binsenrain nachzuwinken.

Die Uhr des Zeitdrachens

Frex sorgte sich mehr um Melena, als sie ahnte. Er hielt bei der ersten Fischerhütte an, die auf seinem Weg lag, und sprach mit dem Mann in der Klöntür. Ob ein oder zwei Frauen den Tag und wenn nötig die Nacht bei Melena verbringen könnten? Es wäre sehr freundlich. Frex nickte mit einer Andeutung von Dankbarkeit und nahm wortlos zur Kenntnis, dass Melena in der Nachbarschaft nicht sehr beliebt war.

Bevor er um das Ende des Übelsees herum weiter nach Binsenrain ging, blieb er an einem umgestürzten Baum stehen und zog zwei Briefe aus seiner Schärpe.

Der Absender war ein entfernter Verwandter von Frex, ebenfalls Pfarrer. Wochen zuvor hatte dieser Zeit und wertvolle Tinte auf eine Beschreibung der sogenannten Uhr des Zeitdrachens gewandt. Frex rüstete sich für die heilige Schlacht dieses Tages, indem er abermals die Angaben über die Götzenuhr las.

Ich schreibe in Eile, Bruder Frexspar, um meine Eindrücke festzuhalten, bevor sie verblassen.

Die Uhr des Zeitdrachens ist auf einen Wagen montiert und hochragend wie eine Giraffe. Sie ist nichts anderes als ein wackelndes, freistehendes Theater, an allen vier Seiten mit kleinen eingelassenen und vorgebauten Bühnen versehen. Auf dem flachen Dach sitzt ein mechanischer Drache, eine Phantasiefigur aus grün bemaltem Leder, mit silbrigen Klauen und Rubinaugen. Seine Haut besteht aus Hunderten von überlappenden Kupfer-, Bronze- und Eisenscheibchen. Unter den elastischen Falten seiner Schuppen befindet sich ein vom Uhrwerk bewegtes Gerüst. Der Zeitdrache dreht sich auf seinem Sockel, schlägt mit seinen schmalen Lederflügeln (sie machen ein Geräusch wie ein Blasebalg) und stößt gelbrote, schweflig stinkende Flammenbälle aus.

In den Dutzenden von Türen, Fenstern und Balkonen darunter sieht man Puppen, Marionetten, Figürchen. Märchen- und Sagengeschöpfe. Karikaturen von Bauern und Königen gleichermaßen. Tiere und Feen und Heilige – unsere unionistischen Heiligen, Bruder Frexspar, kaltschnäuzig geraubt und missbraucht! Das empört mich maßlos! Die Figuren bewegen sich auf Kettenrädern. Sie kreisen zu den Türen hinein und hinaus. Sie knicken in der Taille ab, sie tanzen und tändeln und schäkern miteinander.

Wer hatte diesen Zeitdrachen in die Welt gesetzt, dieses falsche Orakel, dieses Propagandawerkzeug der Bosheit, das die Macht des Unionismus und des Namenlosen Gottes anfocht? Die Bediener der Uhr waren ein Zwerg und ein paar schmalhüftige Gehilfen, die zusammen gerade genug Grips zu haben schienen, um den Hut herumgehen zu lassen. Wer außer dem Zwerg und seinen Schönlingen zog sonst noch Nutzen daraus?

In seinem zweiten Brief kündigte der Verwandte an, dass das nächste Ziel der Uhr Binsenrain sein sollte. Diesmal war seine Beschreibung genauer.

Die Vorstellung begann mit lautem Saitengeschrummel und Knochengerassel. Unter Oh! und Ah! drängte sich die Menge möglichst nahe heran. Im erleuchteten Fenster einer Bühne sahen wir ein Ehebett mit den Puppen von Mann und Frau. Der Mann schlief, und die Frau seufzte. Mit beredten Bewegungen ihrer hölzernen Hände gab sie zu verstehen, dass ihr Mann an entscheidender Stelle enttäuschend klein war. Das Publikum kreischte vor Lachen. Die Puppenfrau schlief ihrerseits ein. Als sie schnarchte, stahl sich der Puppenmann aus dem Bett.

An diesem Punkt drehte sich hoch oben der Drache auf seinem Untersatz und deutete mit seinen Krallen in die Menge, und zwar, ohne jeden Zweifel, auf einen einfachen Brunnenbauer namens Gren, einen treuen, wenn auch nachlässigen Ehemann. Dann richtete sich der Drache auf und machte, leicht zurückgelehnt, mit zwei Fingern »Komm her!«, womit eine Witwe namens Letta und ihre minderjährige, schiefzahnige Tochter gemeint waren. Die Menge verstummte und trat von Gren, Letta und dem errötenden Mädchen zurück, als ob sie urplötzlich ansteckende Eiterbeulen bekommen hätten.

Der Drache ließ sich wieder nieder, legte aber einen Flügel über ein anderes Bühnenportal, woraufhin dieses aufleuchtete und der durch die Nacht streifende Puppenmann erschien. Sogleich kam eine Puppenwitwe mit wild abstehenden Haaren und hochrotem Kopf an, die eine widerspenstige Tochter mit Kieselsteinzähnen mitschleifte. Die Witwe küsste den Puppenmann und zog ihm die Lederhosen aus. Er war mit zwei kompletten männlichen Geschlechtsteilen ausgestattet, eins vorne, ein zweites hinten am Steiß. Die Witwe pflanzte ihre Tochter auf das kürzere Horn vorne und ließ sich selbst das imposantere Gemächt am Hinterteil angedeihen. Die drei Puppen ruckten und zuckten und quietschten vor Freude. Als die Puppenwitwe und ihre Tochter fertig waren, stiegen sie ab und küssten den buhlerischen Ehemann. Dann rammten sie ihm gleichzeitig vorne und hinten ein Knie in den Unterleib. An Federn und Gelenken schwingend hielt er sich seine malträtierten Teile.

Das Publikum brüllte. Gren, der leibhaftige Brunnenbauer, schwitzte weinbeerengroße Tropfen. Letta rang sich ein schallendes Lachen ab, doch ihre Tochter war vor Scham schon geflohen. Bevor der Abend um war, wurde Gren von seinen aufgeputschten Nachbarn überfallen und auf die bizarre Anomalie hin untersucht. Letta wurde gemieden. Ihre Tochter ist wie vom Erdboden verschluckt. Wir befürchten das Schlimmste.

Wenigstens haben sie Gren nicht umgebracht. Doch wer kann sagen, wie es unsere Seelen geprägt hat, solch ein grausames Drama mitzuerleben? Alle Seelen sind ihren menschlichen Hüllen verhaftet, aber ein solches würdeloses Spektakel muss seelische Verkümmerung und Leid zur Folge haben …

Manchmal hatte Frex den Eindruck, dass sämtliche Wanderhexen und zahnlos sabbelnden Seher in Oz, sofern sie auch nur das billigste Zauberkunststück veranstalten konnten, sich auf den abgelegenen Bezirk Wederhartung gestürzt hatten, um ein paar Kreuzer zu verdienen. Er wusste, dass die Bewohner von Binsenrain einfache Leute waren. Sie hatten ein hartes Leben und wenig zu hoffen. Je länger die Dürre anhielt, umso mehr bröckelte ihr unionistischer Glaube ab. Frex war sich darüber im Klaren, dass die Uhr des Zeitdrachens den Reiz der Technik und der Magie in sich vereinigte – er würde seine tiefsten Reserven an religiöser Überzeugungskraft aufbieten müssen, um sie zu besiegen. Wenn seine Gemeinde sich als anfällig für den sogenannten Freudenkult erweisen und dem Spektakel und der Gewalt erliegen sollte – was mochte dann als Nächstes kommen?

Er würde siegen. Er war ihr Pfarrer. Seit Jahren zog er ihre Zähne und beerdigte ihre Kinder und segnete ihre Kochtöpfe. Er hatte sich für sie erniedrigt. Er war mit zerzaustem Bart und einer Almosenschale von Dorf zu Dorf gezogen, hatte die arme Melena wochenlang im Pfarrhaus alleingelassen. Er hatte Opfer für sie gebracht. Sie durften sich von diesem Ding, diesem Zeitdrachen nicht irremachen lassen. Das waren sie ihm schuldig.

Die Schultern gestrafft, das Kinn vorgeschoben, ein saures Brennen im Magen, so setzte er seinen Weg fort. Der Himmel war braun von fliegendem Sand und Staub. Mit an- und abschwellendem Heulen brauste der Wind hoch über die Hügel, als ob er sich auf einem Berg weit hinter Frex’ Gesichtskreis durch eine Felsspalte zwängte.

Die Geburt einer Hexe

Erst gegen Abend brachte Frex den Mut auf, das armselige Dörfchen Binsenrain zu betreten. Er war klatschnass vor Schweiß. Er stampfte mit den Fersen auf, schwang die Fäuste und rief mit rauher, weittragender Stimme aus: »Hört mich an, ihr Kleingläubigen! Versammelt euch, da es noch Zeit ist, denn die Versuchung gehet um, dass sie euch auf die Probe stelle!« Die Worte waren archaisch, geradezu lächerlich, doch sie taten ihre Wirkung. Herbei kamen die mürrischen Fischer mit ihren leeren Netzen, die sie vom See hinter sich her schleiften. Herbei kamen die Kleinbauern, deren kümmerliche Parzellen in diesem Dürrejahr wenig getragen hatten. Bevor er überhaupt angefangen hatte, schauten sie alle schon schuldbewusst drein.

Sie folgten ihm zur morschen Treppe der Bootswerkstatt. Frex wusste, dass alle jeden Moment mit dem Eintreffen der bösen Uhr rechneten; die Nachricht griff um sich wie ein Lauffeuer. Er brüllte sie wegen ihrer lechzenden Erwartung an. »Dumm seid ihr wie die kleinen Kinder, die nach der schönen Glut die Hand ausstrecken! Ihr seid selber wie die Drachenbrut, begierig, an den Zitzen des Feuers zu lecken!« Das waren abgedroschene Mahnworte aus alten Schriften, und sie zogen an diesem Abend nicht so recht; er war müde und nicht in Form.

»Bruder Frexspar«, sagte Bfie, der Bürgermeister von Binsenrain, »könntest du dich mit deiner Strafpredigt vielleicht etwas zurückhalten, bis wir uns selbst davon überzeugen können, welche neue Form die Versuchung diesmal annehmen wird?«

»Ihr habt nicht das Zeug dazu, neuen Formen zu widerstehen«, sagte Frex und spuckte aus.

»Bist du nicht in den letzten Jahren unser vorbildlicher Lehrer gewesen?«, sagte Bfie. »Eine so gute Gelegenheit, uns wider die Sünde zu bewähren, haben wir bisher kaum gehabt. Wir brennen richtig darauf – auf die sittliche Prüfung, meine ich.«

Die Fischer lachten und johlten, und Frex blickte noch zorniger, doch als plötzlich das Knirschen schwerer Räder in den steinigen Furchen der Straße ertönte, drehten alle den Kopf und verstummten. Er hatte ihre Aufmerksamkeit verloren, ehe er richtig angefangen hatte.

Die Uhr wurde von vier Pferden gezogen und eskortiert von dem Zwerg und seinem Schlägertrupp. Auf dem breiten Dach thronte der Drache. Aber was für ein Ungetüm! Er sah aus, als setzte er schon zum Sprung an, als wäre er wirklich lebendig. Die Seiten des Aufbaus waren in Jahrmarktsfarben gestrichen und mit Blattgold verziert. Die Fischer rissen staunend die Mäuler auf.

Bevor der Zwerg den Zeitpunkt der Vorstellung bekanntgeben konnte, bevor der Trupp junger Männer die Keulen zücken konnte, sprang Frex auf die unterste Stufe, eine ausklappbare Trittfläche. »Warum nennt sich dieses Ding eine Uhr? Das einzige Ziffernblatt, das es hat, ist vor lauter ablenkendem Krimskrams gar nicht zu sehen. Außerdem bewegen sich die Zeiger nicht: Schaut her, seht selbst! Sie sind bloß aufgemalt und stehen auf einer Minute vor Mitternacht fest. Was ihr hier seht, ist nichts weiter als eine mechanische Spielerei, meine Freunde, nichts weiter. Ihr werdet mechanische Felder sprießen sehen, Monde zu- und abnehmen, einen Vulkan ein weiches rotes Stück Stoff mit schwarzen und roten Pailletten speien. Wenn es so ein tolles Tiktakding ist, warum können die Zeiger am Ziffernblatt dann nicht umlaufen? Warum nicht? Das frage ich euch, ja, dich, Gornette, und dich, Stoi, und dich, Perippa. Warum ist das keine richtige Uhr?«

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Sie hörten gar nicht zu, weder Gornette noch Stoi noch Perippa, und die anderen genauso wenig. Sie waren zu sehr damit beschäftigt, erwartungsvoll zu gaffen.

»Die Antwort lautet natürlich, dass die Uhr nicht die irdische Zeit messen soll, sondern die Zeit der Seele. Die Zeit der Erlösung und der Verdammnis. Für die Seele steht die Uhr jederzeit auf einer Minute vor dem Gericht.

Eine Minute vor dem Gericht, meine Freunde! Wenn ihr in den nächsten sechzig Sekunden sterbt, wollt ihr dann die Ewigkeit in den vernichtenden Tiefen verbringen, die den Götzenanbetern vorbehalten sind?«

»Ziemlicher Radau hier heute Abend«, sagte jemand im Dunkeln – und die Zuschauer lachten. Genau über Frex – er riss den Kopf herum – schaute aus einer Klappe ein kläffender kleiner Hund, dessen Haare so dunkel und kraus waren wie seine. Der Hund wippte an einer Sprungfeder, und sein Geblaffe war ohrenbetäubend schrill. Das Gelächter schwoll an. Mittlerweile war es so dunkel geworden, dass Frex nicht mehr genau erkannte, wer da lachte, wer ihm jetzt zuschrie, er solle beiseitetreten, damit man was sehen könne.

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Da er von alleine nicht wegging, wurde er höchst unfeierlich von seinem Standort entfernt. Der Zwerg hieß alle mit blumigen Worten willkommen. »Unser ganzes Leben ist ein sinnloses Hasten und Machen. Wie Ratten buddeln wir uns ins Leben ein, und wie Ratten wühlen wir uns hindurch, und wie Ratten werden wir am Ende ins Grab geworfen. Warum sollten wir da nicht hin und wieder einer prophetischen Stimme lauschen oder uns ein Mirakelspiel anschauen? Hinter der äußeren Falschheit und Nichtigkeit unseres Rattenlebens verbirgt sich doch eine einfache Ordnung, ein Sinn! Kommt näher, gute Leute, und erlebt, was ein wenig Wahrsagekunst über euer Leben zutage bringt! Der Zeitdrache blickt voraus ins Unsichtbare, er kennt die Wahrheit der kurzen Frist, die euch hier bemessen ist. Schaut her, was er euch zeigt!«

Die Menge schob sich weiter vor. Der Mond war aufgegangen und schien wie das Auge eines zornigen, rächenden Gottes. »Hört auf! Lasst mich los!«, rief Frex. Es war schlimmer, als er gedacht hatte. Er war noch niemals von seiner eigenen Gemeinde herumgestoßen worden.

Die Uhr führte eine Geschichte auf über einen öffentlich fromm tuenden Mann mit wolligem Bart und dunklen Ringellocken, der Einfachheit, Armut und Großzügigkeit predigte, dabei aber selbst eine geheime Schatulle mit Gold und Smaragden hatte, verborgen im aufklappbaren Busen einer verzärtelten Tochter der blaublütigen Gesellschaft. Der Halunke wurde auf höchst unappetitliche Weise mit einer langen Eisenstange gepfählt und seiner hungrigen Herde als Pfarrerrostbraten am Spieß serviert.

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»Das appelliert an eure niedrigsten Instinkte!«, brüllte Frex, die Arme verschränkt, knallrot vor Wut.

Doch jetzt, wo es fast völlig finster war, griff ihn jemand von hinten an, um ihn zum Schweigen zu bringen. Ein Arm legte sich um seinen Hals. Er verdrehte sich, um zu erkennen, welches verfluchte Gemeindemitglied sich so eine Frechheit erlaubte, aber alle Gesichter waren von Kapuzen verhüllt. Er bekam ein Knie in den Unterleib, krümmte sich und ging zu Boden. Ein Fuß traf ihn voll zwischen den Hinterbacken, und sein Magen rebellierte. Die übrige Menge bekam davon nichts mit. Sie grölte vor Vergnügen über die nächste Posse des Zeituhrdrachens. Eine mitfühlende Frau im Witwentuch packte Frex am Arm und zog ihn fort – er war zu besudelt, zu schmerzverkrümmt, um sich aufzurichten und zu schauen, wer es war. »Ich verstecke dich im Kartoffelkeller, jawohl, unter einem Sack«, redete ihm die Frau gut zu, »denn heute Abend werden sie mit Heugabeln auf dich Jagd machen, so wie dieses Monstrum sie aufhetzt. Sie werden dich bei dir zu Hause suchen, aber nicht bei mir im Keller.«

»Melena«, krächzte er. »Sie werden sie finden …«

»Für sie wird gesorgt«, sagte seine Wohltäterin. »Das werden wir Frauen wohl noch zuwege bringen.«

Während Melena im Pfarrhaus darum rang, bei Bewusstsein zu bleiben, strichen ständig zwei Hebammen an ihrem getrübten Blick vorbei, eine Fischfrau die eine, eine zittrige Alte die andere. Abwechselnd fühlten sie ihr die Stirn, lugten ihr zwischen die Beine und warfen verstohlene Blicke auf die paar schönen Schmuckstücke und Wertgegenstände, die Melena aus Kolkengrund hatte mitbringen können.

»Jetzt kau schön brav diese Paste aus Spitzlappblättern, Gnädigste, dann bist du im Nu bewusstlos«, sagte die Fischfrau. »Du entspannst dich, der kleine Liebling kommt herausgeflutscht, und am Morgen ist alles in bester Ordnung. Ich dachte, du würdest nach Rosenwasser und Feentau duften, aber du stinkst wie wir anderen auch. Nun kau schon, Melena, kau!«

Als es klopfte, blickte die Alte schuldbewusst von der Truhe auf, die sie kniend durchstöberte. Sie ließ den Deckel zuknallen und nahm Gebetshaltung an, die Augen geschlossen. »Herein!«, rief sie.

Ein junges Mädchen mit zarter Haut und gerötetem Gesicht trat ein. »Hab ich mir doch gedacht, dass jemand hier ist«, sagte sie. »Wie geht’s ihr?«

»Sie ist geschafft und hat’s bald geschafft«, antwortete die Fischfrau. »Noch eine Stunde, würde ich schätzen.«

»Ich soll euch warnen. Die Männer sind betrunken und machen die Gegend unsicher. Sie sind von diesem Drachen der magischen Uhr aufgehetzt worden, und jetzt suchen sie Frex und wollen ihn umbringen. Die Uhr hat es befohlen. Sie werden wahrscheinlich bald angetorkelt kommen. Wir sollten die Frau lieber in Sicherheit bringen – lässt sie sich wegschaffen?«

Nein, ich lasse mich nicht wegschaffen, dachte Melena, und wenn die Bauern Frex finden, dann sollen sie ihn in meinem Namen gnadenlos abmurksen, denn ich habe noch nie so furchtbare Schmerzen gehabt, dass ich das Blut hinter den eigenen Augen sehen konnte. Tötet ihn dafür, dass er mir das angetan hat. Bei diesem Gedanken lächelte sie und wurde ohnmächtig.

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»Wir lassen sie lieber hier liegen und machen uns davon«, sagte die Jungfer. »Die Uhr will, dass sie ebenfalls stirbt, und der kleine Drache, den sie zur Welt bringt, auch. Ich will nicht erwischt werden.«

»Das ist gegen unsere Ehre«, sagte die Fischfrau. »Wir können das feine Dämchen nicht mitten in der Geburt im Stich lassen. Ist mir gleich, was irgendeine Uhr dazu sagt.«

Die Alte, die den Kopf wieder in der Truhe hatte, sagte: »Jemand Interesse an echter Spitze aus Gillikin?«

»Auf dem unteren Feld steht ein Heuwagen, aber wir müssen sofort handeln«, sagte die Fischfrau. »Kommt, helft mir ihn holen! Und du, alte Mutter Gierhals, nimm die Nase aus der Wäsche und kühle lieber diese hübsche rosige Stirn. Gut, auf geht’s!«

Wenige Minuten später zogen die Alte, die Mittelalte und die Junge den Heuwagen auf einem selten benutzten Weg durch das Gestrüpp und Farndickicht des Herbstwalds. Der Wind war stärker geworden. Er pfiff über die baumlosen Höhen der Tuchberge. Melena, halb ohnmächtig in Decken verpackt, wälzte sich und stöhnte vor Schmerzen.

Sie hörten eine betrunkene Meute mit Heugabeln und Fackeln vorbeiziehen, und starr vor Angst blieben die Frauen mucksmäuschenstill stehen und lauschten den genuschelten Verwünschungen. Dann setzten sie ihren Weg mit größerer Eile fort, bis sie an ein nebeliges Waldstück kamen – den Friedhof für die ungeweihten Toten. Auf einmal erblickten sie die verschwommenen Umrisse der Uhr. Der Zwerg, der nicht dumm war, hatte sie zur Sicherheit dort abgestellt, wohl in der Annahme, dass dieser entlegene Winkel der letzte Ort der Welt war, den die schreckhaften Dörfler in dieser Nacht aufsuchen würden. »Der Zwerg und seine Jüngelchen haben auch in der Schenke getrunken«, sagte die Jungfer atemlos. »Hier wird uns niemand in die Quere kommen.«

Die Alte sagte: »Du hast also durchs Wirtshausfenster die Männer beobachtet, du Schlampe?« Sie stieß die Klappe an der Rückseite der Uhr auf.

Dahinter war Platz zum Unterkriechen. Pendel hingen unheildrohend im Dunkeln. Große Zahnräder sahen aus, als wollten sie jeden unbefugten Eindringling in Wurstscheiben zerschneiden. »Los, zieht sie rein!«, sagte die Alte.

Die nächtlichen Fackeln und Nebelschwaden wichen bei Tagesanbruch breiten Gewitterwolkenwänden und zuckenden Blitzen. Zwischendurch rissen kurz blaue Flecken am Himmel auf, obwohl es zeitweise so schwere Tropfen regnete, dass sie eher aus Schlamm als aus Wasser zu sein schienen. Schließlich war das Neugeborene da, und die Hebammen krabbelten damit auf allen vieren hinten zum Uhrwagen hinaus. Sie schirmten das Kind vor der überlaufenden Dachrinne ab. »Seht mal, ein Regenbogen!«, sagte die Älteste mit einer kurzen Kopfbewegung. Ein fahler bunter Lichtstreif hing am Firmament.

Was sie erblickten, als sie die Glückshaube und das Blut von der Haut abrieben, war es nur das täuschende Licht? Nach dem Gewitter nämlich schien das Gras eine viel intensivere Farbe zu haben, und die Rosen leuchteten mit wahnsinniger Pracht auf ihren Stengeln. Und doch waren das Licht und die Atmosphäre nicht verantwortlich für das, was die Hebammen vor sich sahen. Unter der Käseschmiere glänzte das Kleine in einem blassen, doch schockierend smaragdgrünen Ton.

Kein Schrei ertönte, kein empörtes Neugeborenenplärren. Das Kind machte den Mund auf, atmete und bewahrte ansonsten Stillschweigen. »Na heul schon, du Teufel!«, sagte die Alte. »Das ist deine erste Schuldigkeit.« Das Kleine kam seiner Verpflichtung nicht nach.

»Schon wieder so ein starrsinniger Junge«, seufzte die Fischfrau. »Sollen wir ihn töten?«

»Sei nicht so brutal«, sagte die Alte. »Es ist ein Mädchen.«

»Ha«, sagte die übernächtigte Jungfer, »schau noch mal genau hin, da ist doch der Pumpenschwengel.«

Eine Weile waren sie uneins, obwohl das Kind nackt vor ihnen lag. Erst nach einem zweiten und dritten Abrubbeln war deutlich, dass es tatsächlich weiblichen Geschlechts war. Vielleicht war ja während der Geburt ein Bröckchen organischer Ausfluss hängengeblieben und rasch angedörrt. Im abgetrockneten Zustand wurde die Kleine für wohlgeformt befunden, mit einem länglichen, feinen Kopf, schön gebildeten Unterarmen, einem drallen kleinen Kneifhintern, niedlichen Fingerchen mit winzigen kratzigen Nägeln.

Und mit einer unbestreitbar grünen Hautfarbe. Auf Backen und Bauch war ein lachsfarbener Schimmer, ein beiger Anflug um die zugekniffenen Augenlider, auf der Kopfhaut ein bräunlicher Ton, der den künftigen Haarwuchs ahnen ließ. Hauptsächlich jedoch hatte man den Eindruck von etwas Pflanzlichem.

»Seht euch an, was bei unserer Mühe rausgekommen ist«, sagte die Jungfer. »Ein kleiner grüner Klacks Butter. Wollen wir es nicht lieber töten? Ihr wisst doch, was die Leute sagen werden.«

»Ich finde es eklig«, sagte die Fischfrau und sah prüfend nach einem Schwanzansatz, zählte Finger und Zehen. »Es riecht nach Dung.«

»Das ist Dung, was du da riechst, du dumme Gans. Du hockst mitten in einem Kuhfladen.«

»Es ist krank, es ist schwach, daher die Farbe. Schmeißen wir es in den Tümpel, ersäufen wir das Balg. Sie wird nie was erfahren. Sie wird noch stundenlang in ihrer vornehmen Ohnmacht liegen.«

Sie gickelten. Sie wiegten das Kleine in den Armen, prüften eine nach der anderen Gewicht und Gleichgewichtssinn. Es zu töten war die menschlichste Lösung. Die Frage war, wie.

Da gähnte das Kind, und die Fischfrau schob ihm automatisch einen Finger zum Nuckeln in den Mund, und das Kind biss den Finger am zweiten Knöchel ab. Es erstickte beinahe am ausströmenden Blut. Das Glied fiel ihm aus dem Mund wie eine Garnrolle. Schlagartig kam Leben in die Frauen. Die Fischfrau machte Miene, die Kleine zu erwürgen, und die Alte und die Junge gingen sofort schützend dazwischen. Der Finger wurde aus dem Schlamm gezogen und in eine Schürzentasche gesteckt, um ihn der Hand, die ihn verloren hatte, möglichst wieder anzunähen. »Es ist ein Pimmel«, kreischte die Jungfer und warf sich lachend auf den Boden. »Sie hat gerade gemerkt, dass sie keinen hat. Das arme Jüngelchen, das als Erstes versucht, mit ihr seinen Spaß zu haben, soll nur aufpassen! Die knipst ihm zum Andenken den Schniedel ab!«

Die Hebammen krochen in die Uhr zurück und legten das Kind auf der Mutterbrust ab; an Gnadentod dachten sie nicht mehr, sie wollten nicht noch mal von dem Säugling gebissen werden. »Vielleicht hackt sie als nächstes die Zitze ab, da wird Ihre Hochwohlgeborene Rammdösigkeit fix wieder zu sich kommen«, kicherte die Alte. »Aber was für ein Kind, das schon vor dem ersten Tropfen Muttermilch Blut leckt!« Sie stellten ein Töpfchen mit Wasser in die Nähe, und im Schutze des nächsten Regengusses patschten sie von dannen, auf der Suche nach ihren Söhnen und Männern und Brüdern, um sie zu schelten und zu schlagen, wenn sie verfügbar waren, oder zu beerdigen, wenn nicht.

Im Halbdunkel starrte der Säugling auf die regelmäßigen geölten Zähne der Zeituhr droben.

Um Heilung des Unheils bemüht

Tagelang brachte Melena es nicht über sich, das Balg anzuschauen. Sie hielt es, wie es sich für eine Mutter gehörte. Sie wartete darauf, dass das Grundwasser der Mutterliebe anstieg und sie überflutete. Sie weinte nicht. Sie kaute Spitzlappblätter, um Abstand von dem Unglück zu bekommen.

Es war eine Sie. Ein Mädchen. Wenn sie allein war, versuchte Melena umzudenken. Das zappelnde, unglückliche Bündel war nicht männlich; es war nicht kastriert; es war weiblich. Es schlief und sah dabei aus wie ein Haufen Kohlblätter, die man gewaschen und zum Abtropfen auf den Tisch gelegt hatte.

In einem Panikanfall schrieb Melena nach Kolkengrund, um Ämmchen dem Ruhestand zu entreißen. Frex fuhr mit einer Kutsche nach Hintersteinfurt, um Ämmchen an der Poststation abzuholen. Auf dem Rückweg fragte sie Frex, was denn im Argen liege.

»Im Argen.« Er seufzte und versank in Gedanken. Ämmchen begriff, dass sie ihre Worte schlecht gewählt hatte, denn jetzt gingen Frex andere Dinge durch den Kopf. Er fing an, allgemein etwas über das Wesen des Bösen zu murmeln. Ein Vakuum, entstanden durch die unerklärliche Abwesenheit des Namenlosen Gottes, aufgefüllt vom Einstrom geistlichen Gifts. Ein Strudel.

»Ich will wissen, wie der Zustand des Kindes ist!«, explodierte Ämmchen. »Ich muss nichts vom Universum erfahren, wenn ich irgendwie von Nutzen sein soll, sondern von einem bestimmten Kind! Warum lässt Melena mich kommen und nicht ihre Mutter? Warum kein Brief an ihren Großvater? Er ist schließlich die Eminenz Thropp, herrje! Melena kann ihre Pflichten nicht so gründlich vergessen haben, oder ist das Leben bei euch auf dem Lande noch schlimmer, als wir dachten?«

»Es ist schlimmer, als wir dachten«, sagte Frex grimmig. »Das Kind – du solltest darauf gefasst sein, Ämmchen, damit du keinen Schreck bekommst –, das Kind hat einen Schaden.«

»Einen Schaden?« Ämmchen fasste den Griff ihrer Tasche fester und schaute auf die rotblättrigen Perlfruchtbäume am Straßenrand. »Frex, erzähl mir alles.«

»Es ist ein Mädchen«, sagte Frex.

»Weiß Gott ein Schaden«, sagte Ämmchen spöttisch, aber wie üblich merkte Frex die Spitze nicht. »Na, immerhin bleibt der Titel eine weitere Generation in der Familie. Hat sie sämtliche Gliedmaßen?«

»Ja.«

»Mehr als nötig?«

»Nein.«

»Trinkt sie?«

»Wir können es nicht an die Brust lassen. Es hat außergewöhnliche Zähne, Ämmchen. Es hat Haifischzähne oder so was in der Art.«

»Na, sie ist nicht das erste Kind, das aus der Flasche oder einem Lappen trinkt statt aus der Brust, mach dir darüber keine Sorgen.«

»Es hat die falsche Farbe«, sagte Frex.