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Märchen, Mythen, Träume.
Eine Einführung in das Verständnis einer vergessenen Sprache

(The Forgotten Language.
An Introduction to the Understanding of Dreams, Fairy Tales and Myths)

Erich Fromm
(1951a)

Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk
Aus dem Amerikanischen von Liselotte und Ernst Mickel

Erstveröffentlichung unter dem Titel The Forgotten Language. An Introduction to the Understanding of Dreams, Fairy Tales and Myths bei Holt, Rinehart and Winston, New York 1951; eine erste deutsche Übersetzung, angefertigt von Ernst Bucher, wurde 1957 vom Diana Verlag, Zürich, unter dem Titel Märchen, Mythen, Träume. Eine Einführung zum Verständnis von Träumen, Märchen und Mythen herausgebracht. Für die Veröffentlichung in der zehnbändigen Erich Fromm-Gesamtausgabe 1980 wurde der Untertitel dem englischen Original angepasst; außerdem fertigten Liselotte und Ernst Mickel eine neue Übersetzung an, die auch in die Einzelpublikation bei der Deutsche Verlags-Anstalt (Stuttgart 1980) sowie in die zwölfbändige Erich Fromm-Gesamtausgabe (München 1999) Eingang fand.

Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999, Band IX, S. 169-309.

Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.

Copyright © 1951 by Erich Fromm; Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2015 by Rainer Funk.

Inhalt

Ein ungedeuteter Traum gleicht einem ungelesenen Brief.
Talmud, Berachot 55a

Der Schlaf entkleidet uns des Kostüms der äußeren Umstände.
Er wappnet uns mit einer schrecklichen Freiheit,
sodass jeder Wille sofort in die Tat umgesetzt wird.
Ein darin geübter Mensch liest seine Träume,
um sich selbst kennenzulernen;
jedoch nicht die Einzelheiten, sondern die Qualität.
Emerson

Vorwort

Diesem Buch[1] liegen Vorlesungen zugrunde, die ich bei Einführungskursen für graduierte Studenten gehalten habe, welche zur weiteren Ausbildung das William Alanson White Institute of Psychiatry besuchten sowie vor nichtgraduierten Studenten im Bennington College. Es richtet sich an einen ähnlichen Leserkreis, an Studenten der Psychiatrie und Psychologie sowie an interessierte Laien. Wie aus dem Untertitel hervorgeht, handelt es sich um eine Einführung in das Verständnis der symbolischen Sprache. Aus diesem Grund beschäftigt es sich auch nicht mit vielen der verwickelteren Probleme auf diesem Gebiet. Ich gehe beispielsweise auf Freuds Theorie nur im Hinblick auf seine „Traumdeutung“ ein und lasse die schwierigen Probleme, die er in seinen späteren Schriften entwickelte, unberücksichtigt. Ich setze mich auch nicht mit jenen Aspekten der Symbolsprache auseinander, die zwar zum vollen Verständnis der einschlägigen Probleme dazugehörten, die aber die allgemeine Information voraussetzen, welche diese Seiten zu vermitteln versuchen. All diesen weitergehenden Fragen möchte ich in einer späteren Veröffentlichung nachgehen.[2]

Ich spreche im Titel ausdrücklich von einer Einführung in das Verständnis einer vergessenen Sprache und nicht, wie sonst üblich, von ihrer Deutung. Wenn – wie ich auf den folgenden Seiten zu zeigen versuche – die symbolische Sprache eine eigenständige Sprache ist, wenn sie tatsächlich die einzige universale Sprache ist, die die Menschheit jemals entwickelt hat, so geht es darum, sie zu verstehen, und nicht darum, sie zu deuten, so als ob man es mit einem künstlich hergestellten Geheimcode zu tun hätte. Nicht nur für den Psychotherapeuten, der seelische Störungen zu beheben versucht, sondern für jeden, der mit sich selbst in Berührung kommen möchte, ist es wichtig, diese Symbolsprache verstehen zu können. Deshalb sollte auf unseren höheren Schulen und auf den Universitäten ebenso wie der Unterricht in anderen „Fremdsprachen“, so auch der Unterricht in der Symbolsprache in den Lehrplan aufgenommen werden. Dieses Buch möchte zur Verwirklichung dieses Zieles einen Beitrag leisten.

Mein Dank gilt Dr. Edward S. Tauber, der das Manuskript gelesen hat und mir mit seiner konstruktiven Kritik und seinen Anregungen eine große Hilfe war.[3]

Erich Fromm, 1951.

1. Einleitung

Wenn es stimmt, dass die Fähigkeit zu staunen der Anfang aller Weisheit ist, dann wirft das ein trauriges Licht auf die Weisheit des heutigen Menschen. Wir mögen über eine noch so hohe literarische und allgemeine Bildung verfügen, die Gabe, über etwas staunen zu können, haben wir verloren. Alles wird als bekannt vorausgesetzt, und wenn wir selbst nicht darüber Bescheid wissen, so gibt es irgendeinen Spezialisten, dessen Aufgabe es ist, das zu wissen, was wir selbst nicht wissen. Sich über etwas zu wundern, ist geradezu peinlich und gilt als Zeichen dafür, dass man geistig nicht auf der Höhe ist. Sogar unsere Kinder sind nur selten von etwas überrascht, oder sie versuchen es sich wenigstens nicht anmerken zu lassen. Mit zunehmendem Alter verlieren wir dann immer mehr die Fähigkeit, uns noch über etwas zu wundern. Uns kommt es darauf an, immer die richtige Antwort bereit zu haben; dass man die richtigen Fragen zu stellen weiß, gilt vergleichsweise als weit weniger wichtig.

Diese Einstellung könnte einer der Gründe dafür sein, dass eine der erstaunlichsten Erscheinungen in unserem Leben, nämlich unsere Träume, uns so wenig Anlass zum Staunen und Fragen geben. Wir alle träumen; wir verstehen unsere Träume nicht und verhalten uns doch so, als ob im Schlaf nicht etwas Seltsames in uns vorginge, seltsam wenigstens verglichen mit unserem logischen, zweckorientierten Denken im wachen Zustand.

Wenn wir wach sind, sind wir aktive, vernünftige Wesen, eifrig darauf bedacht, das zu bekommen, was wir haben möchten, und bereit, uns gegen Angriffe zu wehren. Wir handeln und beobachten; wir sehen die Dinge um uns herum vielleicht nicht so, wie sie wirklich sind, aber doch wenigstens so, dass wir sie nutzen und handhaben können. Freilich besitzen wir nicht viel Vorstellungsvermögen – und sofern wir keine Kinder oder Dichter sind, beschränkt sich dieses meist darauf, die Geschichte und Pläne unserer alltäglichen Erlebnisse zu wiederholen. Wir sind tüchtig, doch dabei phantasiearm. Wir bezeichnen das, was wir tagsüber beobachten, als „die Wirklichkeit“ und sind stolz auf unseren „Realismus“, der uns in die Lage versetzt, sie so geschickt zu handhaben.

Wenn wir schlafen, erwachen wir zu einer anderen Daseinsform. Wir träumen. Wir erfinden Geschichten, die sich nie ereignet haben und für die es im wirklichen Leben [IX-173] manchmal keine Entsprechung gibt. Manchmal sind wir der Held, manchmal der Bösewicht; manchmal erleben wir die herrlichsten Dinge und sind glücklich; oft werden wir in höchsten Schrecken versetzt. Doch welche Rolle wir auch immer im Traum spielen, wir sind der Autor, es ist unser Traum, wir haben die Handlung erfunden.

Die meisten unserer Träume haben ein Merkmal gemeinsam: Sie richten sich nicht nach den Gesetzen der Logik, die unser waches Denken beherrschen. Die Kategorien von Raum und Zeit werden außer Acht gelassen. Verstorbene sehen wir lebendig; viele Jahre zurückliegende Ereignisse erleben wir als gegenwärtig. Wir träumen von zwei Ereignissen, als ob sie sich gleichzeitig abspielten, während das in Wirklichkeit völlig unmöglich wäre. Ebenso wenig kümmern wir uns um die Gesetze des Raumes. Es fällt uns keineswegs schwer, uns im Nu an einen fernen Ort zu begeben, an zwei Orten gleichzeitig zu sein, zwei Personen in eine zu verschmelzen oder eine Person plötzlich in eine andere zu verwandeln. Im Traum sind wir tatsächlich Schöpfer einer Welt, in der Zeit und Raum, die allen Betätigungen unseres Körpers Grenzen setzen, keine Macht besitzen.

Merkwürdig an unseren Träumen ist auch, dass wir uns an Begebenheiten und an Personen erinnern, an die wir jahrelang nicht mehr gedacht haben und die uns im wachen Zustand niemals mehr eingefallen wären. Im Traum tauchen sie plötzlich als gute Bekannte auf, an die wir oft gedacht haben. Es ist, als ob wir im Schlaf das große Reservoir von Erfahrungen und Erinnerungen anzapften, von dessen Existenz wir tagsüber nichts wissen.

Aber trotz all dieser merkwürdigen Eigenschaften sind unsere Träume – solange wir träumen – für uns ebenso wirklich wie nur irgendein Erlebnis unseres wachen Lebens. Im Traum gibt es kein „als ob“. Der Traum ist gegenwärtiges, reales Erleben, und das so sehr, dass er uns zwei Fragen nahelegt: Was ist Wirklichkeit? Woher wissen wir, dass das, was wir träumen, unwirklich und das, was wir wachend erleben, wirklich ist? Ein chinesischer Dichter hat das treffend ausgedrückt: „Ich habe letzte Nacht geträumt, ich sei ein Schmetterling, und jetzt weiß ich nicht, ob ich ein Mensch bin, der träumt, er sei ein Schmetterling, oder ob ich vielleicht ein Schmetterling bin, der jetzt träumt, er sei ein Mensch.“

All diese erregenden, lebhaften nächtlichen Erlebnisse verschwinden nicht nur, wenn wir aufwachen, es fällt uns sogar außerordentlich schwer, uns daran zu erinnern. Die meisten vergessen wir so gründlich, dass wir uns nicht einmal mehr daran erinnern, in dieser anderen Welt gelebt zu haben. An manche Träume erinnern wir uns im Augenblick des Erwachens noch undeutlich, und im nächsten Augenblick schon können wir sie uns nicht mehr ins Gedächtnis zurückrufen. An einige wenige erinnern wir uns tatsächlich, und diese Träume meinen wir, wenn wir sagen: „Ich habe einen Traum gehabt.“ Es ist, als ob wohlwollende oder böse Geister uns besucht hätten und bei Tagesanbruch plötzlich verschwunden wären; wir können uns kaum noch daran erinnern, dass sie da waren und wie intensiv wir uns mit ihnen beschäftigt haben.

Vielleicht noch erstaunlicher als alles bisher Erwähnte ist die Ähnlichkeit der Erzeugnisse unserer Kreativität im Schlaf mit den ältesten Schöpfungen der Menschheit – den Mythen. Allerdings machen uns die Mythen heute kein allzu großes Kopfzerbrechen mehr. Wenn sie dadurch, dass sie in unsere Religion eingingen, respektabel [IX-174] geworden sind, zollen wir ihnen eine konventionelle, oberflächliche Anerkennung als Teil einer ehrwürdigen Tradition. Besitzen sie diese traditionelle Autorität nicht, so sehen wir in ihnen kindliche Ausdrucksformen der Ideen von noch nicht durch die Wissenschaft aufgeklärten Menschen. Jedenfalls gehören die Mythen – ob ignoriert, verachtet oder respektiert – einer Welt an, die unserem heutigen Denken völlig fremd ist. Dennoch bleibt die Tatsache bestehen, dass viele unserer Träume sowohl ihrem Stil als auch ihrem Inhalt nach den Mythen ähnlich sind, und wenn sie uns auch beim Erwachen seltsam und weit hergeholt vorkommen, so besitzen wir doch im Schlaf die Fähigkeit, diese mythenähnlichen Schöpfungen hervorzubringen.

Auch im Mythos gibt es dramatische Begebenheiten, die in einer von den Gesetzen von Zeit und Raum beherrschten Welt unmöglich wären: Der Held verlässt Vaterhaus und Vaterland, um die Welt zu erretten, oder er flieht vor seinem Auftrag und lebt im Bauch eines großen Fisches; er stirbt und wird wiedergeboren; der mythische Vogel verbrennt und steigt aus der Asche wieder hervor – schöner als zuvor.

Natürlich haben die verschiedenen Völker unterschiedliche Mythen geschaffen, wie ja auch verschiedene Menschen unterschiedliche Träume träumen. Aber trotz all dieser Unterschiede haben alle Mythen und Träume eines gemeinsam: Alle sind in der gleichen Sprache – der symbolischen Sprache – geschrieben. Die Mythen der Babylonier, Inder, Ägypter, Hebräer und Griechen sind in der gleichen Sprache geschrieben wie die der Aschantis und Irokesen. Die Träume eines heutigen Einwohners von New York oder Paris sind die gleichen wie die, welche von Menschen berichtet werden, die vor ein paar tausend Jahren in Athen oder Jerusalem lebten. Die Träume antiker und moderner Menschen sind in der gleichen Sprache geschrieben wie die Mythen, deren Urheber zu Beginn der Geschichte lebten.

Die Symbolsprache ist eine Sprache, in der innere Erfahrungen, Gefühle und Gedanken so ausgedrückt werden, als ob es sich um sinnliche Wahrnehmungen, um Ereignisse in der Außenwelt handelte. Es ist eine Sprache, die eine andere Logik hat als unsere Alltagssprache, die wir tagsüber sprechen. Die Symbolsprache hat eine Logik, in der nicht Zeit und Raum die dominierenden Kategorien sind, sondern Intensität und Assoziation. Es ist die einzige universale Sprache, welche die Menschheit je entwickelt hat und die für alle Kulturen im Verlauf der Geschichte die gleiche ist. Es ist eine Sprache sozusagen mit eigener Grammatik und Syntax, eine Sprache, die man verstehen muss, wenn man die Bedeutung von Mythen, Märchen und Träumen verstehen will.

Aber der moderne Mensch hat diese Sprache vergessen, nicht wenn er schläft, aber wenn er wach ist. Ist es wichtig für uns, dass wir diese Sprache auch im wachen Zustand verstehen?

Für die Menschen vergangener Zeiten, die in den großen Kulturen des Ostens und Westens lebten, gab es keinen Zweifel, wie die Frage zu beantworten ist. Für sie gehörten Mythen und Träume zu den bedeutungsvollsten Ausdrucksformen des Geistes, und sie nicht zu verstehen, wäre gleichbedeutend gewesen mit Analphabetentum. Erst in den letzten Jahrhunderten hat sich in der westlichen Kultur diese Einstellung geändert. Man hielt jetzt die Mythen bestenfalls für naive Erzeugnisse des vorwissenschaftlichen Denkens, die erfunden wurden, lange bevor der Mensch [IX-175] seine großen Entdeckungen über die Natur gemacht und sie einigermaßen zu beherrschen gelernt hatte.

Die Träume kamen im Urteil der modernen Aufklärung noch schlechter weg. Man hielt sie für schlechthin sinnlos und der Beachtung erwachsener Menschen nicht wert, die eifrig mit so wichtigen Dingen wie der Herstellung von Maschinen beschäftigt waren und sich für „Realisten“ hielten, weil sie nichts weiter sahen als die Realität von Dingen, die man erobern und gebrauchen konnte – Realisten, die für jedes Automodell eine spezielle Bezeichnung, aber für die Liebe mit ihren höchst verschiedenartigen Gefühlserlebnissen nur ein einziges Wort besitzen.

Es kommt hinzu, dass wir unseren Träumen vielleicht wohlwollender gegenüberstünden, wenn es sich bei allen um angenehme Phantasien handelte, in denen unsere Herzenswünsche erfüllt werden. Aber viele hinterlassen eine beklommene Stimmung; oft sind es Albträume, und wir sind beim Erwachen dankbar, nur geträumt zu haben. Andere Träume wieder sind zwar keine Albträume, doch beunruhigen sie uns aus anderen Gründen. Sie passen nicht recht zu der Person, für die wir uns tagsüber halten. Wir träumen, wie wir Menschen hassen, die wir zu schätzen glauben, und lieben jemanden, an dem wir kein Interesse zu haben meinen. Wir träumen von unserem Ehrgeiz, wo wir doch von unserer Bescheidenheit so fest überzeugt sind. Wir träumen, wir seien unterwürfig und ordneten uns anderen unter, wo wir doch auf unsere Unabhängigkeit so stolz sind. Aber das Allerschlimmste ist, dass wir unsere Träume nicht verstehen, obwohl wir als wache Menschen überzeugt sind, alles begreifen zu können, wenn wir uns nur damit beschäftigen. Statt dass wir uns mit einem so überwältigenden Beweis der Begrenztheit unseres Verstandes abfinden, werfen wir lieber den Träumen vor, sie seien sinnlos.

In den letzten Jahrzehnten ist es zu einer tiefgreifenden Änderung dieser Einstellung zu den Mythen und Träumen gekommen. Dieser Wandel wurde hauptsächlich durch die Arbeiten von Freud in die Wege geleitet. Nachdem dieser zunächst nur versucht hatte, neurotischen Patienten zu helfen, die Gründe für ihre Erkrankung zu verstehen, erkannte er den Traum als ein universales menschliches Phänomen, das auf gleiche Weise bei kranken wie bei gesunden Menschen zu finden ist. Er fand, dass Träume sich im wesentlichen nicht von Mythen und Märchen unterscheiden und dass man – versteht man einmal die Sprache der Träume – auch die der Mythen und Märchen verstehen kann. Die Arbeit der Anthropologen lenkte die Aufmerksamkeit erneut auf die Mythen. Man sammelte und erforschte sie, und einigen auf diesem Gebiet bahnbrechenden Gelehrten gelang es mit ihrer Hilfe, wie vor ihnen J. J. Bachofen, ein neues Licht auf die Vorgeschichte der Menschheit zu werfen.

Aber noch immer steckt die Erforschung der Mythen und Träume in den Kinderschuhen. Verschiedenes steht ihr im Wege: Einmal ist es ein gewisser Dogmatismus und eine gewisse Sturheit verschiedener psychoanalytischer Schulen, die sämtlich behaupten, sie allein verständen die symbolische Sprache richtig. So verlieren wir den Blick für die Vielseitigkeit der Symbolsprache und versuchen, sie in das Prokrustesbett einer einzigen Bedeutung zu zwängen.

Ein weiteres Hindernis ist die immer noch verbreitete Meinung, die Traumdeutung sei nur legitim, wenn der Psychiater sie bei der Behandlung neurotischer Patienten [IX-176] anwende. Ich halte im Gegenteil die Symbolsprache für die einzige Fremdsprache, die jeder von uns lernen sollte. Wenn wir sie verstehen, kommen wir mit dem Mythos in Berührung, der eine der bedeutsamsten Quellen der Weisheit ist, wir lernen die tieferen Schichten unserer eigenen Persönlichkeit kennen. Tatsächlich verhilft sie uns zum Verständnis einer Erfahrungsebene, die deshalb spezifisch menschlich ist, weil sie nach Inhalt und Stil der ganzen Menschheit gemeinsam ist.

Der Talmud (Berachot 55a) sagt: „Ein ungedeuteter Traum gleicht einem ungelesenen Brief.“ Tatsächlich sind sowohl Träume wie Mythen wichtige Mitteilungen von uns selbst an uns selbst. Wenn wir diese Sprache nicht verstehen, verlieren wir einen großen Teil von dem, was wir in den Stunden wissen und uns sagen, in denen wir nicht damit beschäftigt sind, die Außenwelt zu beherrschen.

2. Das Wesen der symbolischen Sprache

Nehmen wir einmal an, wir wollten jemandem den Unterschied im Geschmack von weißem und rotem Wein klarmachen. Das dürfte uns recht einfach vorkommen. Wir kennen ja den Unterschied sehr gut, weshalb sollte es uns dann schwerfallen, ihn einem anderen zu beschreiben? Dennoch dürfte es uns die größten Schwierigkeiten machen, den Geschmacksunterschied in Worte zu fassen. Schließlich werden wir vermutlich der Sache ein Ende bereiten, indem wir sagen: „Ach was, ich kann dir das nicht erklären. Trink einfach erst ein Glas Rotwein und dann ein Glas Weißwein, dann wirst du den Unterschied schon merken.“ Es fällt uns nicht schwer, jemandem die komplizierteste Maschine zu erklären, aber zur Beschreibung einer einfachen Geschmacksempfindung fehlen uns offenbar die Worte.

Sehen wir uns nicht der gleichen Schwierigkeit gegenüber, wenn wir ein Gefühlserlebnis zu beschreiben versuchen? Nehmen wir eine Stimmung, in der man sich verloren und im Stich gelassen fühlt, in der die Welt grau in grau scheint, in der sie uns beängstigend, wenn auch nicht gerade bedrohlich vorkommt. Man möchte einem Freund diese Stimmung beschreiben, aber auch da sucht man vergebens nach Worten und hat schließlich das Gefühl, nichts von dem, was man sagte, gebe die vielfältigen Stimmungsnuancen richtig wieder. In der folgenden Nacht hat man dann einen Traum. Man sieht sich kurz vor Tagesanbruch in den Außenbezirken einer Stadt; die Straßen sind noch leer, nur ein Milchwagen ist zu sehen, die Häuser machen einen armseligen Eindruck, die Gegend kommt uns fremd vor, wir vermissen die üblichen Verkehrsmittel, die uns wieder in vertraute Bezirke bringen könnten, wo wir uns zu Hause fühlen. Wachen wir dann auf und erinnern uns an den Traum, dann fällt uns ein, dass das Gefühl, das wir im Traum hatten, genau das graue, trostlose Gefühl war, das wir tags zuvor unserem Freund vergeblich zu beschreiben versuchten. Es ist nur ein Bild, zu dessen Wahrnehmung wir kaum eine Sekunde brauchten, und trotzdem ist dieses Bild eine lebendigere und genauere Beschreibung, als jene, die wir hätten geben können, wenn wir lang und breit darüber gesprochen hätten. Das im Traum wahrgenommene Bild ist ein Symbol für etwas, das wir fühlten.

Was ist ein Symbol? Ein Symbol wird oft definiert als „ etwas, das stellvertretend für etwas anderes steht“. Diese Definition kommt uns ziemlich nichtssagend vor. Sie wird [IX-178] jedoch interessanter, wenn wir uns mit jenen Symbolen befassen, die Sinneswahrnehmungen – etwa Sehen, Hören, Riechen und Berühren – betreffen und die stellvertretend für etwas „anderes“ stehen, das eine innere Erfahrung, ein Gefühl oder ein Gedanke ist. Ein Symbol dieser Art ist etwas außerhalb von uns selbst; was es symbolisiert, ist etwas in uns. Die Symbolsprache ist die Sprache, in der wir innere Erfahrungen so zum Ausdruck bringen, als ob es sich dabei um Sinneswahrnehmungen handelte, um etwas, was wir tun, oder um etwas, was uns in der Welt der Dinge widerfährt. Die Symbolsprache ist eine Sprache, in der die Außenwelt ein Symbol der Innenwelt, ein Symbol unserer Seele und unseres Geistes ist.

Wenn wir ein Symbol definieren als „etwas, das stellvertretend für etwas anderes steht“, dann lautet die entscheidende Frage: „Welcher besondere Zusammenhang besteht zwischen dem Symbol und dem, was es symbolisiert?“

Wenn wir diese Frage beantworten wollen, müssen wir zwischen drei Arten von Symbolen unterscheiden: dem konventionellen, dem zufälligen und dem universalen Symbol. Wie sich sogleich herausstellen wird, drücken nur die beiden letzteren Arten von Symbolen innere Erfahrungen so aus, als ob es sich um Sinneswahrnehmungen handelte, und nur sie weisen die Merkmale der Symbolsprache auf.

Das konventionelle Symbol ist uns von den drei Arten das geläufigste, da wir es in unserer Alltagssprache gebrauchen. Wenn wir das Wort „Tisch“ geschrieben sehen oder wenn wir das Lautgebilde „Tisch“ hören, dann stehen die Buchstaben T-I-S-C-H stellvertretend für etwas anderes, nämlich für den Gegenstand Tisch, den wir sehen, berühren und benutzen. Welcher Zusammenhang besteht nun zwischen dem Wort „Tisch“ und dem Gegenstand „Tisch“? Besteht eine innere Beziehung zwischen ihnen? Offensichtlich ist dies nicht der Fall. Der Gegenstand Tisch hat mit dem Lautgebilde Tisch nichts zu tun, und der einzige Grund, weshalb das Wort den Gegenstand symbolisiert, ist die Übereinkunft, diesen besonderen Gegenstand mit diesem besonderen Namen zu bezeichnen. Wir lernen diesen Zusammenhang als Kinder dadurch, dass wir das Wort immer wieder im Zusammenhang mit dem Gegenstand hören, sodass schließlich eine bleibende Assoziation entsteht und wir nicht erst nachzudenken brauchen, um die richtige Bezeichnung zu finden.

Es gibt jedoch gewisse Wörter, bei denen die Assoziation nicht nur konventioneller Art ist. Wenn wir zum Beispiel „Pfui“ sagen, vollführen wir mit unseren Lippen eine Bewegung, die bewirkt, dass wir die Luft rasch ausstoßen. Es ist dies ein Ausdruck des Abscheus, an dem unser Mund sich beteiligt. Durch dieses schnelle Ausstoßen von Luft drücken wir unsere Absicht nachahmend aus, etwas von uns zu stoßen, es aus unserem Körper zu entfernen. In diesem Fall – wie in einigen anderen Fällen – steht das Symbol in einem inneren Zusammenhang mit dem Gefühl, das es symbolisiert. Aber selbst wenn wir annehmen, dass ursprünglich viele – oder sogar alle Wörter – ihren Ursprung in einem solchen inneren Zusammenhang zwischen dem Symbol und dem Symbolisierten haben, so besitzen doch die meisten Wörter für uns heute diese Bedeutung nicht mehr, wenn wir eine Sprache lernen.

Wörter sind nicht die einzigen Beispiele für konventionelle Symbole, wenn sie auch die häufigsten und die uns geläufigsten sind. Auch Bilder können konventionelle Symbole sein. Eine Flagge kann zum Beispiel ein bestimmtes Land symbolisieren, [IX-179] obwohl zwischen ihren Farben und dem Land, das sie repräsentieren, kein Zusammenhang besteht. Sie wurden als Wahrzeichen des betreffenden Landes akzeptiert, und wir übersetzen den visuellen Eindruck der Flagge in unsere Vorstellung von dem betreffenden Land – auch dies wiederum aus konventionellen Gründen. Gewisse bildhafte Symbole sind nicht ausschließlich konventionell, wie zum Beispiel das Kreuz. Das Kreuz kann ein rein konventionelles Symbol der christlichen Kirche sein und unterscheidet sich in dieser Hinsicht nicht von der Flagge. Aber die besondere Bedeutung des Kreuzes, die sich auf Jesu Tod oder noch darüber hinaus auf die gegenseitige Durchdringung der materiellen und der geistigen Ebene bezieht, hebt die Beziehung zwischen diesem Symbol und dem, was es symbolisiert, auf eine höhere Ebene als die der nur konventionellen Symbole.

Das genaue Gegenteil des konventionellen Symbols ist das zufällige Symbol. Allerdings haben beide eines miteinander gemeinsam, dass nämlich zwischen dem Symbol und dem, was es symbolisiert, keine innere Beziehung besteht.[4] Nehmen wir beispielsweise an, jemand habe in einer bestimmten Stadt ein betrübliches Erlebnis gehabt. Hört er dann den Namen dieser Stadt, so wird er ihn leicht mit einer niedergedrückten Stimmung in Verbindung bringen, genauso wie er ihn mit einer fröhlichen Stimmung in Zusammenhang brächte, falls er dort ein glückliches Erlebnis gehabt hätte. Natürlich hat die Stadt an sich nichts Trauriges oder Fröhliches an sich. Es ist das mit ihr verbundene persönliche Erlebnis, das sie zu einem Symbol dieser Stimmung macht. Zur gleichen Reaktion kann es in Verbindung mit einem bestimmten Haus, einer Straße, einem Kleid, einer gewissen Szenerie oder irgendetwas sonst kommen, was irgendwann einmal mit einer spezifischen Stimmung in Zusammenhang gestanden hat.

Wir könnten zum Beispiel träumen, wir befänden uns in einer bestimmten Stadt. Möglicherweise ist im Traum keine bestimmte Stimmung mit ihr verbunden; wir sehen nur eine Straße oder auch nur einfach den Namen der Stadt. Wir fragen uns, weshalb uns im Schlaf ausgerechnet diese Stadt eingefallen ist, und entdecken vielleicht, dass wir in einer Stimmung eingeschlafen sind, die der ähnlich war, welche diese Stadt für uns symbolisiert. Das Bild im Traum repräsentiert diese Stimmung, die Stadt „steht stellvertretend“ für die einst in ihr erlebte Stimmung. Hier ist der Zusammenhang zwischen dem Symbol und dem symbolisierten Erlebnis rein zufällig.

Im Gegensatz zum konventionellen Symbol kann am zufälligen Symbol kein anderer teilhaben, es sei denn, wir erzählten ihm unsere mit dem Symbol zusammenhängenden Erlebnisse. Aus diesem Grund kommen zufällige Symbole nur selten in Mythen, Märchen oder in Kunstwerken vor, die in einer symbolischen Sprache abgefasst sind, denn sie sind nicht mitteilbar, außer wenn der Verfasser jedem von ihm benutzten Symbol einen entsprechenden Kommentar beifügt. In Träumen dagegen kommen zufällige Symbole häufig vor. Ich werde an späterer Stelle in diesem Buch noch auf die Methode zu sprechen kommen, wie man sie verstehen lernen kann.

Beim universalen Symbol dagegen besteht eine innere Beziehung zwischen dem Symbol und dem, was es repräsentiert. Wir haben bereits als Beispiel den Traum in den Außenbezirken der Stadt angeführt. Das sinnliche Erlebnis einer verlassenen, fremden, armseligen Gegend besitzt tatsächlich eine deutliche Verwandtschaft mit [IX-180] einer trostlosen, angstvollen Stimmung. Wenn wir niemals in den Außenbezirken einer Stadt gewesen wären, kämen wir natürlich nie auf dieses Symbol, so wie ja auch das Wort „Tisch“ für uns sinnlos wäre, wenn wir nie einen Tisch gesehen hätten. Außenbezirke einer Stadt können nur für Stadtbewohner einen Symbolwert haben, nicht aber für Menschen, die in einer Kultur ohne große Städte leben. Viele andere universale Symbole sind in der Erfahrung eines jeden Menschen verwurzelt. Nehmen wir zum Beispiel das Symbol des Feuers. Wir sind von bestimmten Eigenschaften des Feuers im Kamin fasziniert, vor allem von seiner Lebendigkeit. Es verändert und bewegt sich die ganze Zeit und besitzt doch eine gewisse Beständigkeit. Es bleibt das Gleiche, ohne gleich zu bleiben. Es macht den Eindruck von Kraft, von Energie, von Anmut und Leichtigkeit. Es ist, als ob es tanzte und eine unerschöpfliche Energiequelle besäße. Wenn wir uns des Feuers als eines Symbols bedienen, dann beschreiben wir innere Erlebnisse, die durch die gleichen Elemente gekennzeichnet sind, die wir beim Anblick des Feuers sinnlich wahrnehmen: Wir haben ein Gefühl von Kraft, Leichtigkeit, Bewegung, Anmut und Fröhlichkeit – wobei in unserem Gefühl einmal das eine, einmal das andere dieser Elemente dominiert.[5]

In gewisser Hinsicht ähnlich und doch auch wieder anders ist das Symbol des Wassers – des Meeres oder eines Flusses. Auch hier finden wir die Mischung von ständiger Bewegung und gleichzeitiger Beständigkeit. Auch hier empfinden wir das Lebendige, die Kontinuität, die Energie. Aber ein Unterschied ist vorhanden: Während das Feuer etwas Abenteuerliches, Behendes, Aufregendes an sich hat, ist das Wasser ruhig, langsam und stetig. Dem Feuer ist ein Element der Überraschung eigen, während das Wasser etwas Voraussagbares an sich hat. Das Wasser symbolisiert ebenfalls eine lebhafte Stimmung, doch ist sie „schwerer“, „gemächlicher“ und eher beruhigend als aufregend.

Dass eine Erscheinung aus der physikalischen Welt ein inneres Erlebnis adäquat ausdrücken kann, dass die Welt der Dinge ein Symbol für die Welt der Seele sein kann, ist nicht weiter verwunderlich. Wir alle wissen, dass unsere Seele sich in unserem Körper ausdrückt. Das Blut steigt uns zu Kopf, wenn wir wütend sind, und es entweicht aus dem Kopf, wenn wir Angst haben; unser Herz schlägt schneller, wenn wir uns ärgern, und unser gesamter Körper hat einen anderen Tonus, wenn wir glücklich sind, als wenn wir traurig sind. Unsere Stimmung kommt in unserem Gesichtsausdruck, und unsere Einstellung und unsere Gefühle kommen in unseren Bewegungen und Gesten so genau zum Ausdruck, dass andere sie deutlicher aus unserem Benehmen als aus unseren Worten ablesen. Der Körper ist in der Tat ein Symbol – und keine Allegorie – der Seele. Ein tiefes, echtes Gefühl, ja sogar ein echt empfundener Gedanke findet seinen Ausdruck in unserem gesamten Organismus. Beim universalen Symbol treffen wir auf den gleichen Zusammenhang zwischen seelischen und körperlichen Erlebnissen. Gewisse körperliche Erscheinungen deuten durch ihre ganze Art auf gewisse emotionale und seelische Erlebnisse hin, und wir drücken unsere emotionalen Erfahrungen in der Sprache körperlicher Erlebnisse, d.h. symbolisch, aus.

Das universale Symbol ist das einzige, bei dem die Beziehung zwischen dem Symbol und dem, was es symbolisiert, nicht zufällig, sondern ihm immanent ist. Es wurzelt in der Erfahrung von der inneren Beziehung zwischen Emotion oder Gedanke [IX-181] einerseits und der sinnlichen Erfahrung andererseits. Man kann es deshalb als universal bezeichnen, weil es allen Menschen gemeinsam ist, und dies nicht nur im Gegensatz zu dem rein zufälligen Symbol, das seiner Natur nach rein persönlich ist, sondern auch im Gegensatz zum konventionellen Symbol, das sich auf eine Gruppe von Menschen beschränkt, die die gleiche Übereinkunft getroffen haben. Das universale Symbol ist in den Eigenschaften unseres Körpers, unserer Sinne und unseres Geistes verwurzelt, die allen Menschen gemeinsam und daher nicht auf einzelne Individuen oder spezifische Gruppen beschränkt sind. Tatsächlich ist das universale Symbol die einzige von der ganzen Menschheit entwickelte Sprache, eine Sprache, die wieder vergessen wurde, bevor sie sich zu einer konventionellen Universalsprache entwickeln konnte.

Wir brauchen daher nicht von einer gattungsmäßigen Vererbung zu sprechen, um den universalen Charakter von Symbolen zu erklären. Jedes menschliche Wesen, das ja seine wesentlichen körperlichen und geistig-seelischen Merkmale mit der übrigen Menschheit teilt, kann die Symbolsprache sprechen und verstehen, die sich auf diese gemeinsamen Eigenschaften gründet. Genauso wie wir das Weinen nicht erst erlernen müssen, wenn wir traurig sind, oder das Erröten, wenn wir uns ärgern, und genauso wie diese Reaktionen nicht auf eine bestimmte Rasse oder Bevölkerungsgruppe beschränkt sind, muss man auch die symbolische Sprache nicht erst erlernen, und sie beschränkt sich nicht auf irgendeinen Teil der menschlichen Gattung. Deshalb ist die Symbolsprache, so wie sie in Mythen und Träumen vorkommt, in allen Kulturen – den sogenannten primitiven Kulturen wie auch in den hochentwickelten der Ägypter und Griechen – anzutreffen. Überdies sind die in diesen verschiedenen Kulturen gebrauchten Symbole einander so auffallend ähnlich, weil sie alle auf die gleichen Sinneswahrnehmungen und emotionalen Erfahrungen zurückgehen, die den Menschen aller Kulturen gemeinsam sind. Zusätzliche Beweise dafür haben neuere Experimente erbracht, bei denen Menschen, die von der Theorie der Traumdeutung nichts wussten, unter Hypnose in der Lage waren, die Symbolik ihrer Träume ohne Schwierigkeiten zu verstehen. Als sie dann aus der Hypnose erwachten und aufgefordert wurden, dieselben Träume zu deuten, erklärten sie verwirrt: „Sie haben überhaupt keine Bedeutung – sie sind reiner Unsinn.“

Diese Feststellung bedarf jedoch einer Qualifizierung. Es gibt auch einige Symbole, die in den verschiedenen Kulturen entsprechend ihrer realitätsbezogenen Bedeutung einen jeweils unterschiedlichen Sinn haben. So ist beispielsweise die Funktion und dementsprechend auch die Bedeutung der Sonne in den nordischen Ländern eine andere als in den Tropen. In den nordischen Ländern, wo Wasser reichlich vorhanden ist, hängt alles Wachstum von der ausreichenden Sonnenbestrahlung ab. Die Sonne ist daher eine warme, Leben spendende, beschützende, liebende Macht. Im Nahen Osten, wo die Sonneneinstrahlung viel stärker ist, ist die Sonne eine gefährliche, ja bedrohliche Macht, vor der sich der Mensch schützen muss, während das Wasser als die Quelle allen Lebens und als wichtigste Voraussetzung für das Wachstum empfunden wird. Wir können von Dialekten der universalen Symbolsprache sprechen, die durch den Unterschied in den Naturgegebenheiten bedingt sind, welche dazu führen, dass bestimmte Symbole in den verschiedenen Regionen der Erde eine unterschiedliche Bedeutung haben. [IX-182]

Etwas ganz anderes als diese „symbolischen Dialekte“ ist die Tatsache, dass viele Symbole entsprechend den verschiedenartigen Erlebnissen, die mit ein und derselben Naturerscheinung verbunden sein können, mehr als eine Bedeutung haben. Kommen wir noch einmal auf das Symbol des Feuers zurück. Wenn wir das Feuer im Kamin beobachten, wo es Wohlbehagen ausstrahlt, dann drückt es eine lebhafte warme und angenehme Stimmung aus. Sehen wir dagegen ein Gebäude oder einen Wald brennen, dann ist es für uns ein drohendes, schreckliches Erlebnis, das uns die Machtlosigkeit des Menschen den Elementen der Natur gegenüber empfinden lässt. Daher kann das Feuer sowohl innere Lebendigkeit und Glück als auch Angst, Machtlosigkeit und eigene destruktive Neigungen symbolisieren. Das Gleiche gilt für das Symbol Wasser. Das Wasser kann eine äußerst destruktive Macht sein, wenn es vom Sturm aufgepeitscht wird oder wenn ein angeschwollener Fluss über die Ufer tritt. Daher kann es symbolisch Grauen und Chaos und andererseits auch Trost und Frieden bedeuten.

Ein anderes einschlägiges Beispiel ist das Symbol eines Tales. Das von Bergen eingeschlossene Tal kann in uns ein Gefühl der Sicherheit und des Behagens, des Geborgenseins vor allen äußeren Gefahren wecken. Aber die schützenden Berge können auch Mauern sein, die uns isolieren und hindern, aus dem Tal herauszukommen, weshalb das Tal auch zu einem Symbol des Eingekerkertseins werden kann. Die spezielle Bedeutung eines Symbols kann jeweils nur aus dem gesamten Kontext heraus verstanden werden, in dem es auftaucht, und unter Berücksichtigung der vorherrschenden Erfahrungen des Menschen, der sich dieses Symbols bedient. Bei der Erörterung der Traumsymbole werden wir hierauf noch zurückkommen.

Ein gutes Beispiel für die Funktion des universalen Symbols ist eine in der Symbolsprache geschriebene Geschichte, die fast jeder in unserem westlichen Kulturbereich kennt: das Buch Jona. Jona hat Gottes Stimme vernommen, die ihm gebietet, nach Ninive zu gehen und den Bewohnern zu verkünden, sie sollten von ihrem bösen Wandel ablassen, weil sie sonst vom Untergang bedroht seien. Jona kann Gottes Stimme nicht überhören, was ihn zum Propheten macht. Aber er ist ein Prophet wider Willen, und obgleich er weiß, was er tun sollte, versucht er, sich dem Befehl Gottes (man könnte auch sagen, der Stimme seines Gewissens) zu entziehen. Er ist ein Mensch, der kein Herz für seine Mitmenschen hat. Er ist ein Mensch mit einem starken Gefühl für Gesetz und Ordnung, doch fehlt ihm die Liebe. (Vgl. E. Fromm, Psychoanalyse und Ethik, 1947a, GA II, S. 65°f., wo ich die Jona-Geschichte unter dem Gesichtspunkt der Bedeutung von Liebe aufgreife.) Wie wird nun das, was sich im Innern von Jona abspielt, in der Geschichte dargestellt?

Wir erfahren, dass Jona nach Jafo hinabgeht und dort ein Schiff findet, das nach Tarschisch fährt. Als er sich jedoch mitten auf dem Meer befindet, erhebt sich ein gewaltiger Sturm, und während alle anderen voller Angst und Aufregung sind, steigt Jona in den unteren Teil des Schiffes hinab und fällt in einen tiefen Schlaf. Die Seeleute, die glauben, Gott habe den Sturm geschickt, weil sich jemand auf dem Schiff befindet, der bestraft werden soll, wecken Jona, der ihnen zuvor erzählt hatte, dass er vor Jahwes Gebot auf der Flucht sei. Er sagt ihnen, sie sollten ihn nehmen und ins Meer werfen, damit dieses sich beruhige. Die Seeleute (die einen [IX-183] bemerkenswerten Sinn für Menschlichkeit erkennen lassen, da sie zunächst alles andere versuchen, bevor sie seiner Anweisung nachkommen) nehmen schließlich Jona und werfen ihn ins Meer, das sofort zu toben aufhört. Jona wird von einem großen Fisch verschlungen, in dessen Bauch er drei Tage und drei Nächte zubringt. Er betet im Bauch des Fisches zu Gott, er möge ihn aus seinem Gefängnis befreien, und der Herr befiehlt dem Fisch, Jona ans Land zu speien. Nun begibt sich Jona nach Ninive, erfüllt Gottes Befehl und rettet so die Bewohner der Stadt.

Die Geschichte wird erzählt, als ob die Dinge sich wirklich so zugetragen hätten. Sie ist jedoch in symbolischer Sprache geschrieben, und alle darin als real geschilderten Ereignisse sind Symbole für die inneren Erfahrungen des Helden. Wir treffen auf eine Reihe aufeinanderfolgender Symbole: die Besteigung des Schiffes, das Hinabsteigen in den Bauch des Schiffes, das Einschlafen, der Aufenthalt im Meer und im Bauch des Fisches. Alle diese Symbole stehen stellvertretend für die gleiche innere Erfahrung: den Zustand der Geborgenheit und Isolierung eines Menschen, der sich aus Gründen der eigenen Sicherheit von der Kommunikation mit anderen Menschen zurückzieht. Sie repräsentieren einen Zustand, den man auch mit einem anderen Symbol, nämlich dem des Fötus im Mutterleib ausdrücken könnte. So verschieden der Rumpf eines Schiffes, der tiefe Schlaf, das Meer und der Bauch eines Fisches realistisch gesehen auch sein mögen, so sind sie doch Ausdruck der gleichen inneren Erfahrung, jener Mischung aus Geborgenheit und Absonderung.

In der manifesten Geschichte ereignen sich die Dinge in Raum und Zeit: Zuerst geht er in den Rumpf des Schiffes; dann schläft der Held ein; dann wird er ins Meer geworfen; dann wird er vom Fisch verschlungen. Eines geschieht nach dem anderen, und wenn sich auch einiges ereignet, was offensichtlich nicht der Wirklichkeit entsprechen kann, so besitzt die Geschichte doch in Bezug auf Zeit und Raum ihre eigene folgerichtige Logik. Und wenn wir begreifen, dass es nicht die Absicht des Verfassers war, uns den Ablauf äußerer Ereignisse zu berichten, sondern dass er das innere Erlebnis eines Mannes schildern wollte, der zwischen seinem Gewissen und dem Wunsch, seiner inneren Stimme zu entfliehen, hin- und hergerissen wurde, dann wird uns klar, dass seine verschiedenen aufeinanderfolgenden Handlungen alle die gleiche ihn beherrschende Stimmung ausdrücken und dass die zeitliche Abfolge die wachsende Intensität des gleichen Gefühls ausdrückt. Indem Jona versucht, sich der Pflicht seinen Mitmenschen gegenüber zu entziehen, sondert er sich mehr und mehr von ihnen ab, bis schließlich im Bauch des Fisches das Gefühl der Geborgenheit so sehr dem Gefühl des Eingekerkertseins weicht, dass er es nicht länger erträgt und Gott bitten muss, ihn aus dem Gefängnis zu befreien, in das er sich selbst hineingebracht hat. (Es ist dies ein für die Neurose äußerst charakteristischer Mechanismus. Der Betreffende nimmt zur Abwehr einer Gefahr eine bestimmte Haltung ein, die dann jedoch weit über ihre ursprüngliche Abwehrfunktion hinauswächst und zu einem neurotischen Symptom wird, von dem der Betreffende sich zu befreien versucht.) So endet Jonas Flucht in die Geborgenheit der Isolation in der Qual des Eingesperrtseins, und er greift sein Leben dort wieder auf, wo er zu entrinnen versuchte.

Es gibt noch einen weiteren Unterschied zwischen der Logik der manifesten und der Logik der latenten Erzählung. In der manifesten Erzählung besteht ein logischer [IX-184] Kausalzusammenhang zwischen den äußeren Ereignissen. Jona will übers Meer fahren, weil er vor Gott fliehen will, er schläft ein, weil er müde ist, er wird über Bord geworfen, weil man ihn für die Ursache des Sturmes hält, und er wird von dem Fisch verschlungen, weil es im Meer Menschen fressende Fische gibt. Ein Ereignis ergibt sich aus dem vorhergehenden. (Der letzte Teil der Geschichte ist zwar unrealistisch, aber nicht unlogisch.) In der latenten Geschichte herrscht dagegen eine andere Art von Logik. Die verschiedenen Ereignisse stehen durch ihre Assoziation mit derselben inneren Erfahrung miteinander in Verbindung. Was als kausale Abfolge äußerer Ereignisse erscheint, steht stellvertretend für Ereignisse, die auf Grund ihrer Assoziation mit inneren Erlebnissen miteinander zusammenhängen. Es ist dies ebenso logisch wie es die manifeste Geschichte ist – doch handelt es sich um eine Logik anderer Art.

Wenn wir uns jetzt der Untersuchung des Wesens der Träume zuwenden, wird uns die in der Symbolsprache herrschende Logik noch deutlicher werden.

3. Das Wesen der Träume

Die Ansichten über das Wesen der Träume weichen im Laufe der Jahrhunderte und in den verschiedenen Kulturen erheblich voneinander ab. Aber ob jemand glaubt, Träume seien reale Erlebnisse unserer körperlosen Seele, die während des Schlafes den Körper verlassen hat, oder ob man meint, die Träume seien uns von Gott oder von bösen Geistern eingegeben, ob man in ihnen den Ausdruck unserer irrationalen Leidenschaften oder ganz im Gegenteil unserer höchsten und edelsten Kräfte sieht, eines bleibt unbestritten: Alle Träume haben einen Sinn und eine Bedeutung. Sinnvoll sind sie, weil sie eine Botschaft enthalten, die man verstehen kann, wenn man den Schlüssel zu ihrer Entzifferung besitzt. Bedeutungsvoll sind sie, weil wir nichts Nebensächliches träumen, selbst wenn es sich in einer Sprache ausdrückt, die das Bedeutsame der Traumbotschaft hinter einer nichtssagenden Fassade verbirgt.

Erst in den letzten Jahrhunderten hat man diese Ansicht radikal aufgegeben. Die Traumdeutung wurde in den Bereich des Aberglaubens verwiesen, und die Aufgeklärten und Gebildeten – ob Laien oder Wissenschaftler – zweifelten nicht daran, dass die Träume sinn- und bedeutungslose Manifestationen unserer Seele oder bestenfalls seelische Reflexe körperlicher, im Schlaf empfangener Eindrücke seien. Es war Freud, der zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts die alte Auffassung neu bestätigte, dass die Träume sinn- und bedeutungsvoll sind, dass wir nichts träumen, was nicht ein wichtiger Ausdruck unseres Innenlebens ist, und dass man alle Träume verstehen kann, wenn man nur den Schlüssel dazu besitzt. Freud bezeichnete die Traumdeutung als die via regia, als den Königsweg zur Erkenntnis des Unbewussten (S. Freud, 1900a, S. 613) und den Traum als stärkste Kraft, die unser pathologisches wie auch unser normales Verhalten motiviert. Neben dieser mehr allgemeinen Feststellung über das Wesen der Träume hat sich Freud nachdrücklich und etwas unnachgiebig zu einer der ältesten diesbezüglichen Theorien bekannt, dass nämlich Träume die Erfüllung irrationaler Leidenschaften seien, die wir in unserem wachen Dasein verdrängt haben.

Ich möchte an dieser Stelle noch nicht näher auf die Traumtheorien Freuds und auf solche aus früheren Zeiten eingehen, sondern in einem späteren Kapitel darauf zurückkommen. Zunächst möchte ich jetzt das Wesen des Traums erörtern, wie ich es [IX-186] mit Hilfe der Arbeiten Freuds und auf Grund eigener Erfahrungen als Träumender und Traumdeuter verstehen lernte.

Angesichts der Tatsache, dass es keine Äußerung der Seelentätigkeit gibt, die nicht im Traum auftaucht, glaube ich, dass die einzige Definition des Wesens des Traumes, die dieses Phänomen weder entstellt noch bagatellisiert, die allgemein gehaltene Definition ist: Träumen ist eine sinn- und bedeutungsvolle Äußerung jeglicher Seelentätigkeit im Schlafzustand.

Diese Definition ist zweifellos zu allgemein gehalten, als dass sie uns wesentlich zum Verständnis der Natur der Träume weiterhelfen könnte, wenn wir nicht etwas Genaueres über den „Schlafzustand“ und dessen besondere Auswirkung auf unsere Seelentätigkeit sagen können. Wenn wir aber herausfinden können, welche spezifische Wirkung der Schlaf auf unsere Seelentätigkeit hat, können wir vielleicht beträchtlich mehr über das Wesen des Träumens in Erfahrung bringen.

Physiologisch betrachtet ist der Schlaf ein Zustand der chemischen Regeneration des Organismus. Während alle Tätigkeit ruht und so gut wie jede sinnliche Wahrnehmung ausgeschaltet ist, wird neue Energie gespeichert. Psychologisch gesehen unterbricht der Schlaf die für unser waches Dasein kennzeichnende Hauptfunktion: unsere Reaktion auf die Umwelt durch Wahrnehmung und Handeln. Dieser Unterschied zwischen den biologischen Funktionen von Wachen und Schlafen bedeutet tatsächlich einen Unterschied zwischen zwei Zuständen unseres Daseins.