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Die beiden Verse auf den Printseite 189 stammen aus dem Gedicht
»Freiheit« des kroatischen Lyrikers Danijel Dragojević.

Tropen
www.tropen.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »10 ráð til að hætta að drepa fólk og byrja að vaska upp«,
im Verlag JPV ÚGÁFA, Reykjavík
© 2008 by Hallgrimur Helgason
Für die deutsche Ausgabe
© 2009/2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Cover: Herburg Weiland, München
Foto: © Diana Kingsley, »The Seeping« (1997)
Printausgabe: ISBN 978-3-608-50509-2
E-Book: ISBN 978-3-608-10103-4
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Für Barbara Taylor

1. TOXIC

Meine Mutter hat mich Tomislav genannt, und mein Vater war ein Bokšić. Nach der ersten Woche in Amerika nannten mich alle nur noch Tom Boksic. Es war bloß eine Frage der Zeit, bis daraus Toxic wurde.

Der, der ich heute bin.

Ich frage mich oft, ob ich meinen Namen vergiftet habe oder er mich. Ich bringe Gefahr. Sagt zumindest Munita. Die ist süchtig nach Gefahr. Meine leicht entflammbare Freundin. Munita hat in Peru gelebt. Bis Terroristen ihre Familie in die Luft gesprengt haben und sie nach New York gezogen ist, wo sie einen Job an der Wall Street bekommen hat. Ihr erster Arbeitstag war der 11. September. Auf unserer ersten Reise nach Kroatien wurde sie Zeugin zweier Morde. Den ersten habe ich zugegebenermaßen selbst begangen, aber das mit dem zweiten war reiner Zufall. Und eigentlich sogar ganz schön romantisch. Wir waren in Mirkos Restaurant essen, als der Mann am Nebentisch eine Kugel in den Kopf bekam. Etwas von seinem Blut ist in Munitas Weinglas gespritzt. Ich hab’s ihr nicht gesagt. Es war sowieso Roter.

Eigentlich mag sie gar keine Gewalt, sagt sie, aber ich glaube, dass sie sich von Herrn Gefährlich angezogen fühlt, gerade weil er so toxisch ist. Bei uns vergeht nie viel Zeit bis zum nächsten Knall. Der Sex ist immer explosiv. Munita ist das, was die Amis ein body-girl nennen. Wenn Männer sie ansehen, beginnen sie immer unten. Wie die meisten Südamerikanerinnen ist sie nicht groß, und manche Leute haben sogar gesagt, sie sei fett, aber diese Leute haben danach nicht mehr viel gesagt. Wenn man mit ihr eine ruhige Straße entlanggeht, kann man hören, wie ihre Brüste hin und herschwingen. Sapp-schwapp, sapp-schwapp. Mein Lieblingsgeräusch hier in Amerika. Wenn sie ihre merkwürdige orangefarbene Bluse trägt, hören die anderen es auch. Seit ich sie kenne, werde ich das Gefühl nicht los, dass ich sie früher irgendwo schon mal gesehen habe. Bevor wir heiraten, sollte ich sie fragen, ob sie mal in einem Porno mitgespielt oder im Internet gestrippt hat.

Das Beste an Munita ist allerdings, dass ihre Familie tot ist. Keine Schwiegermutter, keine Onkel und Tanten, keine Thanksgiving-Feiern, Kindergeburtstage oder Hochzeiten, bei denen man sich sehen lassen muss und dann, fünfzig Leute im Rücken, in brütender Hitze auf irgendeiner Wiese herumsteht.

Munita Rosales hat eine Schwäche für Waffenträger. Vor mir war sie mit einem dieser Talotypen aus Long Island zusammen. (Wir nennen Italien immer Talien, seit Niko mal aus Versehen bei einem ihrer Restaurants das ›I‹ weggeschossen hat.) Sein Lebenslauf war wesentlich kürzer als meiner, aber als Kollege zählt er wohl trotzdem.

Ich bin das, was man in unserer Sprache plačeni ubojica nennt. In New York sagen sie dazu hitman, Auftragskiller. Seit ich vor sechs Jahren hierher gekommen bin, habe ich den Bestattungsinstituten einiges zu tun gegeben. Ich habe sogar mal darüber nachgedacht, mit einem eine Kooperation zu starten – erst vor ein paar Tagen habe ich zu Dikan gesagt, er solle heimlich eins aufkaufen. Dann könnten wir an unseren Opfern auch noch verdienen, nachdem sie tot sind.

Erlauben Sie mir, Ihnen etwas von meiner Arbeit zu erzählen. Die meiste Zeit kellnere ich im The Zagreb Samovar, unserem gemütlichen Restaurant auf der East 21st Street. Das englische Wort waiter passt ganz gut, denn ein großer Teil der Arbeit eines Auftragsmörders besteht darin, auf den nächsten Auftrag zu warten. Was ganz schön nerven kann. Die Balkanbestie in meiner Seele bekommt nie genug. Wenn zwischen zwei Schüssen mehr als drei Monate vergehen, werde ich unausstehlich. Mein flauestes Jahr war 2002. Nur zwei Treffer und ein Fehlschuss. Letzteren bereue ich noch heute. Fehlschüsse können in meiner Branche tödlich sein. Wer will schon eine angeschossene beleidigte Leberwurst, die durch die Stadt tobt und dafür sorgen möchte, dass man selber die Abschiedskugel kriegt? Die Leute reagieren nun mal ziemlich genervt, wenn sie merken, dass man sie umbringen will. Aber ich versichere Ihnen: Der, den ich 2002 verfehlt hatte, musste 2003 als Erster dran glauben. Seitdem lasse ich nichts mehr anbrennen. Ich bin dreifacher Sixpacker. Das ist wohl Manhattan-Rekord. Perrosi, der Taliener, hat Ende des letzten Jahrhunderts ein, zwei Sixpacks geschafft, als John Gotti noch König von Queens war, aber drei sind noch niemandem gelungen. Die Taliener sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Wenn die mehr Filme über dich drehen, als du Leuten den Hals umdrehst, hast du den Zenit überschritten. In zwanzig Jahren wird es eine Fernsehserie über uns geben: Die Sliškos. So wie Die Sopranos. Aber ich werde dann wahrscheinlich so aussehen wie unser Freund Shaking Trigger, mit Dauerwelle und dauernd auf Viagra.

Munita sage ich immer, dass es mir bei dieser Sixpack-Geschichte um die Umwelt geht. Ich möchte in dieser ohnehin schon lauten Stadt einfach keine unnötigen Schüsse abfeuern. Das habe ich ihr bei unserem dritten Date gesagt, nachdem sie mich zum dritten Mal gefragt hat, was ich beruflich mache. Um sie zu einem vierten Date zu bekommen, musste ich ihr vier Wochen hinterhertelefonieren und einen kleinen Einbruch machen.

Sorry, ganz vergessen: Ein packer zu sein, bedeutet, dass man ein Sixpack geschafft, also mit sechs aufeinanderfolgenden Schüssen je einen unter die Erde gebracht hat. Sechs Kugeln, sechs Beerdigungen. Mit flennenden Witwen, Blumen und allem.

Dikan hätte mich längst befördern sollen, aber der Sack ist störrischer als ein Esel mit Kopfschmerzen. Das Einzige, was dieser Fingerlutscher sagt, ist:

»Toxic ist ein verlässlicher Kellner. Die Leute sind bedient.«

Ich freue mich schon darauf, wenn von Bilič der Befehl kommt, den Fingerlutscher umzulegen. Sein Spitzname kommt übrigens daher, dass er seine kurzen fetten Finger nach jeder Mahlzeit ablutscht.

Wir versuchen, so unauffällig zu sein, wie es geht. MWA ist unsere Spezialität: Möglichst Wenig Aufsehen. Daher bemühe ich mich, meine Aufträge im privaten Rahmen abzuwickeln; bei den Leuten zu Hause, im Auto oder im Hotel. Am liebsten ohne Zeugen. Wenn das nicht klappt, laden wir das Opfer auch gern mal zum Essen in unser Restaurant ein. Zum letzten Abendmahl, wie wir immer sagen. Nach dem Essen präsentiere ich dem Gast eine Rechnung, die so hoch ist, dass er sie nur mit seinem Leben begleichen kann. Dann geleiten wir ihn in ein spezielles Hinterzimmer, das Rotes Zimmer heißt, obwohl es grün gestrichen ist.

Im The Zagreb Samovar gibt es keine Stammgäste.

Ehe ich es vergesse: Der Name von dem Laden ist komplett bescheuert, ein Samowar ist eine Teemaschine, die nicht das Geringste mit kroatischer Kultur zu tun hat, aber Dikan findet gerade das total smart.

»Sich dumm stellen, ist die beste Tarnung«, sagt er dauernd.

Obwohl ich in unserer Hierarchie immer noch ziemlich weit unten stehe, kann ich mich nicht beklagen. Die Bezahlung ist gut und das Essen natürlich auch. Ich habe eine fantastische Wohnung auf der Wooster Ecke Spring, eine Immobilie, für die Munita sich niederlegt. Ich liebe dieses Noisy York, obwohl ich meine Heimat natürlich an jedem einzelnen Scheißtag vermisse. Doch seit wir vor einigen Monaten ein bisschen an der Kabelbox herumgeschraubt haben, kann ich nun wenigstens HRT und Hajduk Split auf meinem Flachbildfernseher sehen. Meine Mutter ruft jedes Jahr an und fragt, wann ich wieder zu studieren anfange. Das ist kroatischer Slang für »Geld alle«. Sobald sie auflegt, überweise ich ihr über das Internet zweitausend Dollar, und dann habe ich ein Jahr Ruhe.

Sie lebt allein mit meiner kleinen fetten Schwester. Mein Bruder und mein Vater sind im Krieg gestorben. Meine Vorfahren väter- und mütterlicherseits waren Jäger. Mein Opa war der Oberjäger von Tito. Und Tito war das Oberhaupt meines ehemaligen Vaterlandes, Jugoslawien. Das kurz nach ihm gestorben ist wie eine alte trauernde Witwe. Tito liebte Braunbären. Besonders tote. Einen Bären habe ich zwar nie geschossen, aber zur Wildschweinjagd hat mein Vater mich als Junge oft mitgenommen. »Mit den Wildschweinen ist es wie mit den Frauen. Du darfst nie so tun, als hättest du auch nur das geringste Interesse an ihnen. Wir warten hier einfach nur so.« Auch mein Vater war ein waiter.

Und auch ich verstehe mich als Jäger. Ich lebe davon, Schweine zu erschießen.

2. VERKACKT

Nun habe ich ein Problem. Zum ersten Mal im Laufe meiner makellosen Karriere. Unser Firmenwagen überquert die Williamsburg-Bridge, Manhattan im Rückspiegel, und ich sitze hinten, habe Munita im Ohr, ihren Körper im Kopf und meine Augen auf den Nacken von Radovan gerichtet, unserem altgedienten Fahrer. Kaum eine Kugel würde durch seinen Stiernacken hindurchkommen. Die Abendsonne wirft Wolkenkratzerschatten auf die blaugrüne Oberfläche des Flusses.

»Ich werde dich so vermissen, Schatz«, flüstert sie mir von ihrem Schreibtisch im 26. Stock des Trump Towers zu. Keine zwei Jahre ist es her, dass sie angefangen hat, dort zu arbeiten. Im Erdgeschoss. Doch sie hat sich schnell hochgearbeitet, meine ehrgeizige Munita mit ihrem peruanischen Anden-Akzent, in den sich ein Hauch von Hindi mischt. Ihre Mutter kam aus Bombay. Von ihr hat Munita diese indische Olivenhaut, die so weich ist, dass man dafür ohne zu zögern in einem offenen Golf-Buggy bis zum Nordpol fahren würde.

»Ich auch«, antworte ich und frage mich wieder mal, ob ich das auf Englisch richtig ausgedrückt habe. Aber irgendwie stimmt es schon. Auch ich werde mich vermissen. Ich werde es vermissen, mein fantastisches Leben in dieser fantastischen Stadt.

Ich gehe in die Verbannung. Verschwinde eine Zeitlang. Mindestens ein halbes Jahr. New York-Frankfurt-Zagreb steht auf dem Flugticket. Dikan hat es gebucht. Ich werde unter den Küchentisch meiner Mutter kriechen, mit eingeklemmtem Schwanz und meiner Waffe zwischen den Zähnen. Ich habe verkackt. Oder jemand hat dafür gesorgt, dass ich verkackt habe. Schuss Nr. 66 war ein Fehlschuss. Und wiederum auch nicht. Die Kugel ist heil und unversehrt im richtigen Kopf gelandet, doch genau das ist das Problem. Der Pole mit dem Schnauzbart hat sich nämlich als FBI-Mann mit Schnauzbart entpuppt. Was ein diskreter Mord sein sollte, kam in die Abendnachrichten. Ich bin mit ihm auf eine Müllkippe in Queens gefahren, habe ihn in einem Haufen von gefälschten Levi’s-Jeans umgelegt und sein Gesicht nach einer kurzen Gedenkzeremonie mit einem alten Pepsi-Max-Sonnenschirm bedeckt. Auf dem Weg zurück zum Auto habe ich dann gemerkt, dass ein paar seiner Freunde ungeladen zur Trauerfeier gekommen waren. Mein gutes altes kroatisches Herz beschleunigte von Walzer zu Death Metal. Die nächsten zehn Minuten rannte ich wie ein Hürdenläufer bei der Übergewichtigen-Olympiade durch den Müll von sechstausend New Yorker Kleinfamilien, immer weiter Richtung Fluss, und versteckte mich schließlich in einem alten, rostigen Container voller pummeliger, abgewetzter Teddybären, die nach geschmolzenem Käse rochen. Mit ihnen verbrachte ich die Nacht. Das FBI hatte alles abgeriegelt. Es folgten schlaflose Stunden mit Blick auf die erleuchtete Skyline, in dem kalten Container, umgeben von Käsebären. Essensgeruch auf leeren Magen wirkt wie Parfüm, wenn man einen Steifen hat.

Zu sehen, wie im UN-Hauptquartier am nächsten Morgen die Lichter angingen und sich verzerrt im East River spiegelten, war eigentlich ganz schön. In den ersten Fenstern wurde es lange vor Sonnenaufgang hell. Jedes Land hat das Licht in seinem Büro wohl so programmiert, dass es genau dann angeschaltet wird, wenn bei denen zu Hause die Sonne aufgeht. Ich erlebte 156 Sonnenaufgänge, dann warf ich mich in den Fluss. Die eiskalte Strömung trug mich zu einer anderen Müllkippe, voll mit Kabeln und Computerschrott.

Am Ausgang des Midtown-Tunnels hielt ich ein Taxi an. Als der Taxifahrer sich nicht gerade begeistert davon zeigte, dass meine Klamotten klatschnass waren, holte ich meine Waffe heraus und trocknete sie damit in Sekundenschnelle.

Toxic reist dieses Mal unter dem Namen Igor Illitsch. Mein Geburtsort ist nun Smolensk, im Jahre 1971. Wo ich schon überall geboren wurde. Einmal besaß ich sogar einen deutschen Pass, der mir eine ziemlich glückliche Kindheit in Bonn beschert hatte. Als ich einmal am Rhein entlangfuhr, machte ich mir echt die Mühe, dort anzuhalten, um mir ein paar idyllische Kindheitserinnerungen zurechtzulegen. Mein Vater Dieter war Hausmeister in der russischen Botschaft und meine Mutter Ilse Köchin in der Amerikanischen. Bei uns tobte jeden Abend der Kalte Krieg: Ich war Berlin, und die Mauer verlief zwischen meinen Augen. Obwohl ich kein Schauspieler bin, gefällt es mir, ab und zu ein neues Leben zu bekommen. Da hat man mal Pause von sich selbst. Diesen Teil der Arbeit habe ich immer gemocht. Bis auf mein Wochenende, damals, 99, als Serbe. Da hätte ich mich fast selber umgebracht.

Sie haben sich zwar schon alle möglichen Geburtsorte für mich ausgedacht, benutzen aber immer dasselbe Jahr. 1971. Wahrscheinlich, weil das mein Jahr ist. Am Tag nach meiner Geburt hatte Hajduk zum ersten Mal seit fast zwanzig Jahren wieder die Meisterschaft gewonnen. Mein fußballverrückter Vater glaubte, ich würde ihm Glück bringen, und nannte mich »Meister«.

Der Highway schlängelt sich durch Brooklyn. Mit feuchten Augen sehe ich mir die Plakate an. Ich will hier einfach nicht weg. Wir fahren an einer großen, blauen Werbetafel vorbei, Eyewitness News – jeden Tag um sieben – WABC-TV New York. Da haben sie drei Tage hintereinander mein Gesicht gezeigt. »… in Mafiakreisen unter dem Namen Toxic bekannt«. Aber immer nur als Kurznachricht am Schluss. Eine richtig große Top-Story machen die nur über den Massenmörder des Monats. Diese durchgeknallten Psychos werden an einem Abend landesweit bekannt, während wir rechtschaffenen Arbeitnehmer aus der Auftragskillerbranche nur am Rande erwähnt werden. Ausgerechnet diese Nation, die alles in Geld bemisst, betet die Amateure an und lässt uns Profis links liegen. Ich werde dieses Land nie kapieren. Ich liebe New York, der Rest ist mir immer noch ein Rätsel.

Die Vororte dünnen aus, und bald darauf haben wir das Land der Starts und Landungen erreicht. Igors Pass ist in meiner Brusttasche und wirkt so echt wie eine Gucci-Handtasche aus China. Dahinter schlägt in meinem Herzen die Trommel des Zweifels.

»Doviđenja«, sagt Radovan vor dem Terminal. Ich verbiete ihm, mich hineinzubegleiten. Seine Sonnenbrille schreit nach dem FBI wie ein Schwuler auf dem heißen Blechdach.

Für Dumme ist Dummheit keine gute Tarnung. Heute Morgen habe ich mir die Haare abrasiert und versucht, mich wie ein Russe anzuziehen. Schwarze Lederjacke, die hässlichsten Jeans aus dem Kleiderschrank und Puma-Putin-Turnschuhe. Im Flur habe ich mich umgedreht und meinem Flachbildfernseher mit den Fingern einen Kuss aufgedrückt. Munita hat gefragt, ob sie auf meine Wohnung aufpassen soll, solange ich weg bin, aber ich habe nein gesagt. Eine Fickbeziehung ist schließlich kein Vertrauensverhältnis. So eine Sexbombe tickt keine sechs Monate vor sich hin, ohne hochzugehen, und ich will nicht, dass irgendein Peruaner seinen postkoitalen Schweiß mit meinen Prada-Handtüchern abtrocknet.

Der Check-in verläuft ohne Probleme. Eine dümmliche Blondine mit tiefen Grübchen sagt, ich solle mir keine Sorgen um mein Gepäck machen. Ich sehe es ja in Zagreb wieder. Als ob es Direktflüge NYC-Zagreb gäbe, nur für das Gepäck. Bei der Passkontrolle heißt es Ruhe bewahren. Ich setze mein Igorgesicht auf, während der Grenzpolizist die chinesische Handwerkskunst bewundert. Dann befehlen mir zwei oberstolze Sicherheitsbeamte, Telefon, Portemonnaie und Kleingeld abzugeben. Jacke, Gürtel und Schuhe. Und entdecken zwischen meinen Münzen etwas, das mein Herz von Samba zu Rock hochschalten lässt. In der hässlichsten Jeans aus dem Kleiderschrank ist sie also abgeblieben, diese Kugel, ein schönes, goldenes 9-mm-Projektil aus einer Browning Hi-Power, die Dikan mir bei meiner Ankunft in New York geschenkt hat.

»Was ist das? Das ist eine Patrone, oder?«, fragt eine kleine uniformierte Long-Island-Vorortschranze mit Shopping-Mall-Dialekt.

»Ach … ja. Das ist ein … ein Souvenir«, sage ich.

»Ein Souvenir?«

»Ähm … ja. Die … die war in meinem Kopf«, sage ich und versuche so auszusehen, als ob das Teil permanente Schäden verursacht hätte.

Sie kauft es mir ab. Und gibt mir zum Abschied eine Ganzkörpermassage.

Ich gewöhne mich nie an dieses Reisen ohne Waffe. Es liegt nicht in der Natur eines Mannes, Ozeane unbewaffnet zu überqueren. Allein für dieses Sicherheitsgescheiß könnte ich bin Laden über den Haufen schießen. Oder könnte es eben gerade nicht, weil ich an Bord keine Waffe tragen darf.

Ich habe gerade angefangen, mich auf Zagreb zu freuen, da fängt der Ärger erst richtig an. Wie aus dem Nichts tauchen plötzlich zwei FBI-Wichser auf. Sie laufen auf das Gate zu, an dem ich mit meinem Ticket in der Hand in der Schlange stehe. Als Letzter. Das sind Zivilpolizisten, keine Frage. Die kann ich von hier bis New Jersey riechen. Sie tragen immer dieselben Normalo-Jacketts von H&M und dazu diese billigen Sonnenbrillen, die sie sich in ihre FBI-Frisuren stecken. Wahrscheinlich bekommen sie die in einem behördeneigenen Salon in D.C. verpasst. Es sind immer dieselben auf amtliche Art leger gestylten Frisuren, sehr glänzend und ein bisschen lockig. So ähnlich wie Michael Keaton in Verliebe dich oder wie der Film hieß.

Ich gehe hinter einem nackenkissentragenden Fluggast in Deckung, greife mein Handgepäck und schleiche mich davon, weg von den Zivilpolizisten, weg vom Gate. Doviđenja Zagreb. Mein Herz hat die Trommel gewechselt, nun ist es eins dieser Riesendinger, die sie in Symphonieorchestern benutzen. Ich reiße mich zusammen und drehe mich nicht um. »Schaue nie ängstlich über die Schulter!«, pflegte meine Mutter zu sagen. Währenddessen verwandelt sich mein rasierter Schädel in einen Springbrunnen. Flughafengänge sind unendlich. Die Leute starren mich an, als ob ich die Eier von Saddam Hussein mit mir herumtragen würde. Dann sehe ich endlich das Symbol, das Notdürftigen auf der ganzen Welt den Weg weist, und wende mich nach links. In der Toilette atme ich durch und trockne meinen Kopf ab. Ich warte einige Minuten. Drei Geschäftsleute sehen mich an, als wäre ich ein russischer Waffenschmuggler, der auf einen Kunden wartet. Dann wage ich mich wieder auf das offene Meer. Nein. So nicht. Im nächsten Moment bin ich wieder in der Toilette – auf dem Flur habe ich sofort einen der Michael Keatons gesehen. Er hat mich nicht bemerkt. Lief einfach vorbei.

Ich betrete eine der Kabinen und tue so, als würde ich das machen, was ich denke.

Was nun? Zurück zum Gate kann ich auf gar keinen Fall. Viel zu riskant. Die Keatons würden dort auf mich warten, dämlich lächelnd, wie etwas beschränkte Verwandte. Aber was sonst? Die Lösung zeigt sich mir in Gestalt eines Gürtels; einer Gürtelschnalle, die ich unter der Trennwand zur nächsten Kabine entdecke. Ich warte einen Moment und sende ein Stoßgebet gen Himmel. Endlich beendet der Besitzer des Gürtels sein Geschäft und verlässt seine Kabine. Als auch ich meine Tür öffne, begegnen sich unsere Blicke im Spiegel über der Waschbeckenreihe. Gott muss mich erhört haben. Der Gürteltyp hat eine Glatze, genau wie Igor, haarlos wie ein Totenschädel. Hier stehen zwei glatzköpfige, dicke Männer auf ihrer Reise durch das Leben – nur dass der Gürteltyp eine fast unsichtbare Brille trägt und etwas älter als Igor ist. Viel älter sollte er nun nicht mehr werden. Igor knipst ihn aus mit einem fast lautlosen Schlag auf den Hinterkopf, genau auf den G-Punkt. Seine Brille fällt ins Waschbecken, als der Kopf gegen den Spiegel knallt. Kein Blut. Der Typ ist noch dicker als ich, aber ich schaffe es trotzdem, ihn wieder in die Kabine zu wuchten, wo er seinen letzten Haufen auf dieser Welt gemacht hat, und schließe hinter mir zu.

Ich fühle seinen Puls. Das Herz ist aus.

Mit Schrecken stelle ich fest, dass meine Nummer 67 ein Kirchenmann ist. Er trägt einen weißen Kragen um den Hals. Schwarzes Hemd, schwarzes Jackett, schwarzer Mantel. Weiße Haut. Ich suche nach seinem Ticket, Pass und Brieftasche, und tata! Toxic Igor hat einen neuen Namen: Reverend David Friendly. Geboren am 8. November 1965 in Vienna, Virginia. Das ist okay. Das kriege ich hin. Ein Amerikaner war ich noch nie. Wo will er hin? Reykjavík steht auf dem Ticket. Das ist in Europa, glaube ich. Unter ziemlichen Anstrengungen schaffe ich es, Mantel und Jackett von seinem schweren geweihten Leib zu ziehen, und knöpfe sein Hemd auf. Der Springbrunnen ist wieder angeschaltet, und ich schnaufe wie eine Wildsau. Als ich merke, dass jemand die Toilette betritt, lege ich eine Pause ein und hoffe, dass seine Pinkelgeräusche mein Schnaufen übertönen. Ich höre, wie er sich die Hände wäscht und trocknet.

Sobald die Luft rein ist, verlasse ich die JFK-Toilette; ein auferstandener Jesus mit Heiligenschein um den Hals und einem neuen Ziel im Leben: Gate 2.

3. ICELANDAIR

Verrückt. Da überquere ich mit Schallgeschwindigkeit den Atlantik, und doch hat seine Seele mich eingeholt. Ich finde keine Ruhe auf meinem extra engen Fensterplatz, in diesem Flugzeug voll mit langbeinigen Frauen und langweiligen Männern. Keine Ahnung, warum, aber meine Beine bringen mich fast um. Mr. Friendly muss gute Beziehungen zum Himmel haben; eine ganze Heerschar von Engeln zwickt mich mit spitzen Fingernägeln und würgt mich mit dem Priesterkragen.

Kirchenmänner sind am schlimmsten.

Im Krieg bin ich einmal dazu abkommandiert worden, in einem kleinen Dorf in der Nähe der Stadt Knin eine Kapelle zu bewachen. Die Serben hatten sie als Bombenlager benutzt, aber nun brachten wir die Gegend unter Kontrolle. An einem nebligen Sonntagmorgen erschien plötzlich der Dorfpriester wie aus dem Nichts und wollte eine Messe halten, sagte er. Ich sagte, kommt nicht in Frage. Niemand durfte die Kirche betreten. Er war alt, mit weißem Bart, aus seinen Ohren kamen weiße Haare. Eigentlich sah er eher wie ein Mönch aus, nicht wie ein Priester. Sein Gesicht wirkte auf eine sehr friedliche Art müde. In seine Augen zu sehen, war wie eine Vorschau auf das Leben im Jenseits: zwei stille Teiche in den ewigen Jagdgründen. Fast schien es mir, als wäre er schon tot. Ihm schien alles egal zu sein. Als ob er allen möglichen Kram gesehen hätte: wie seine Frau und seine Töchter vergewaltigt und zerstückelt wurden, zum Beispiel. Ohne ein Wort zu sagen, ging er an mir vorbei und auf die Kirchentür zu. Ich rannte hinter ihm her und sagte in lupenreinem Kroatisch, dass NIEMAND die Kirche betreten durfte. Befehl ist Befehl.

»ABSOLUT NIEMAND!«, schrie ich in sein haariges Ohr.

Er schloss lediglich für einen Moment die Augen und ging dann weiter Richtung Tür. Ich versuchte, ihn mit meinem Gewehr wegzustoßen, doch das klappte irgendwie nicht. Ich konnte diesen alten Mann nicht körperlich angreifen, er war der fleischgewordene Geist der Menschheit oder so was in der Art. In seligster Sonntagsruhe nahm er einen großen Schlüssel und wollte die Holztür aufschließen. Ich war seit vier Jahren im Krieg gewesen und hatte mehr Leute erschossen, als in meinem Stammbuch standen, aber trotzdem zitterte ich am ganzen Körper. Was zum Teufel ging hier vor? Ich wurde verarscht von einem 80-jährigen unbewaffneten Mönch! Als ich ihn in der Kirche verschwinden sah, drehte ich durch und schoss ihm in den Rücken. Er fiel auf den Steinfußboden, wie gekreuzigt, ganz im Einklang mit dem Typen, der weiter vorne an der Wand hing.

Ich knallte die Tür zu, setzte mich und lehnte mich mit dem Rücken dagegen. Gern hätte ich geweint, aber der Krieg hatte alle Tränen ausgetrocknet. Also saß ich einfach nur da, versteinert, und verfluchte den ganzen Scheiß: mein Land, sein Land, unser Land und den ganzen verdammten Krieg. Ungefähr zwanzig Zigaretten lang bewegte ich mich nicht von der Stelle. Ein Sonntag in der Hölle. Ich hatte einen Priester erschossen. Ich hatte schon andere alte Männer getötet und sogar einen Mann, der auch eine Frau hätte sein können, ohne diese Art von Moralkater. Aber dieser Priester lastete so schwer auf mir wie das Gewicht der ganzen Kapelle. Ich konnte spüren, wie mir Hörner auf der Stirn wuchsen und ein Schwanz an meinem Hintern, bis ich schließlich nicht mehr sitzen konnte.

Dann verlor ich den Verstand. Ein befremdliches Gefühl machte sich in mir breit. Mir war, als ob ich den Knall meines Gewehrschusses noch immer in der kleinen Dorfkapelle hören konnte; das furchtbare Geräusch schien nach und nach den ganzen Raum zu füllen, bis zur Glocke. Das bronzene Scheißding bebte vor Zorn. Bald war auch mein Kopf voll von metallischem Dröhnen, und ich feuerte auf die Kirchenglocke, wie ein verrückter Junge in einem schlechten Cowboyfilm, der seinen Frust an ein paar Hühnern abreagiert. Die Glocke schrie in den Nebel hinaus.

Nachdem ungefähr fünfzehn Kugeln die Glocke geläutet hatten, hörte ich andere Schüsse. Reflexartig schmiss ich mich ins nasse Gras. Ein Schneesturm aus Kugeln war das, direkt aus der Hölle. In Sekundenbruchteilen waren alle Kirchenfenster zersprungen, und kaum einen Augenblick später pustete eine Explosion das ganze heilige Ding in die Luft. Trümmer trommelten auf meinen Rücken wie ein Masseur mit Eisenfingern, und ein Stein zerdellte meinen Helm. Halb bewusstlos lag ich da.

Wer seine Hand gegen einen Mann der Kirche erhebt, wird durch die Kirche umkommen.

Seitdem hatte ich nie wieder eine von innen gesehen. Über Wochen und Monate hinweg quälte der Anblick dieses auf dem Steinboden gekreuzigten 80-jährigen Jesus meine junge, kranke Seele. Nacht für Nacht hämmerte ich ihm einen großen eisernen Nagel durch den Rücken ins Herz, bis es explodierte und nichts Unrotes in meiner Welt zurückließ.

Im Bordfernsehen läuft Seinfeld. Alte Folgen, alte Frisuren. Seinfeld ist ein typischer Ami. Ein ganz lustiger Typ, aber sein Kleidungsstil ist noch lustiger als er. Geschmacklose Kleidung und geschmackvolle Witze. Andersherum wäre es mir lieber.

Der Mann neben mir liest ein monströses Taschenbuch, das aussieht wie einer dieser Mafia-Thriller (wie viel kann man eigentlich über diese sizilianischen Schlappschwänze noch schreiben?). Gelegentlich sieht er sich gezwungen, ein Ja oder Nein in Richtung des älteren Herrn zu murmeln, der am Gang sitzt und sich aus einer rezeptpflichtig aussehenden Packung eine Pille nach der anderen reinpfeift. Anscheinend machen die ihn ziemlich gesprächig, denn er lässt seinen armen Sitznachbarn keine zwei Seiten lesen, bis er die nächste Frage stellt. So einen befremdlichen Akzent habe ich lange nicht mehr gehört. Es stellt sich heraus, dass der Quatschkopf Isländer ist und der Leser ein Basketballspieler aus Boise, Idaho, der jetzt bei den »Schneifel Stickholmers« (oder so ähnlich) spielen wird – einer Mannschaft in der isländischen Liga.

Ach ja. Sorry. Ich habe ganz vergessen, Sie darauf hinzuweisen, dass dieser Icelandair-Flug ein Nichtraucherflug von New York nach Reykjavík/Island ist. Das war die Überraschung, die mich an Gate 2 erwartete. Meine Verbannung führt mich jetzt Richtung Norden.

Dann und wann verschwindet Seinfeld von den Fernsehern und weicht einer Info-Karte: Ein rotes Flugzeug von der Größe Großbritanniens kriecht langsam den Atlantik hinauf, an irgendetwas Weißem vorbei, von dem der Quatschkopf in meiner Sitzreihe sagt, es wäre Grönland. Island sieht dagegen ziemlich grün aus. Natürlich hat er eine Theorie darüber, wie diese Verwechslung zustande kam: Als die norwegischen Wikinger irgendwann vor dem Jahr 1000 Island entdeckt hatten, fanden sie dort irische Mönche vor, die das Land Island nannten, was so viel bedeutete wie Land Christi, denn Jesus hieß in ihrer Sprache Isu. Die Wikinger verwechselten dann den Messias mit Is – Eis. Zum Glück. Sonst würde ich jetzt nach Jesusland fliegen.

»Ok. Und was ist dann mit Grönland?«, fragt der Basketballspieler.

»Die ersten Siedler wollten Island für sich alleine, also haben sie die andere Insel Grönland genannt, damit die nächste Auswanderungswelle dorthin geht. Der erste PR-Gag der Geschichte, kann man wohl sagen. Dabei sollte es eigentlich umgekehrt sein. Grönland sollte Island heißen und Island Grönland.«

Cool. Ich fliege unter Pseudonym in ein Land mit Pseudonym. Gar nicht so schlecht. Ich habe sogar schon mal von diesem Land gehört. Ein Freund von Dikan ist mal hingeflogen, rein geschäftlich. »Helle Nächte, lange Mädchen«, hat er gesagt. Oder umgekehrt? Es ist eine ziemlich kleine Insel (na ja, doppelt so groß wie unser Land) mitten im Nordatlantik. Das Bordmagazin zeigt Mondlandschaften und sonnig lächelnde Menschen, moosbewachsene Felsen und fusselige Pullover. Im Vergleich zu anderen Ländern ist Island anscheinend noch minderjährig und als solches offenbar für jeden Blödsinn zu haben: Vulkanausbrüche, Erdbeben, Lava und kochendes Wasser, das auf die Oberfläche spritzt. Ich frage mich, was Reverend David Friendly an diesen entlegenen Ort führt. Also mich. Ich muss anfangen, wie ein Priester zu denken.

Gott segne mich.

Ich versuche erneut, eine bessere Position für meine schmerzenden Beine zu finden. Die Stewardessen haben allesamt hübsche, stromlinienförmige Körper und sprechen sehr selbstbewusst Englisch. Helle Mädchen, lange Nächte. Ja, das war es. Der isländische Look scheint eine Mischung aus Julia Stiles und Virginia Madsen zu sein. Breite, von hohen Wangenknochen abgeschirmte, unbeeindruckte Gesichter. Kalte Augen, kühle Lippen. Eine von ihnen reicht mir ein Tablett mit Essen und schenkt mir ein unschuldiges Nein-ist-der-aber-niedlich!-Lächeln. Muss wohl an dem Hundehalsband liegen, das ich trage. Ich bin kein Mann mehr. Ich bin ein Priester.

So gesehen scheint der Kragen zu funktionieren. Er hält die Sünden ab. Oder alle in mir drin. Meine Gedanken geben Munita frei, und ich versuche, mich in das Bett einer dieser nordischen Nymphen zu fantasieren. Ohne Erfolg. Munita behält die Oberhand. Ich vermisse jetzt schon ihre weiche Haut. Ihre warme und ölig-goldene, superweiche Haut.

Das Essen schmeckt gleichzeitig nach Huhn, Pute und Fisch. Der Quatschkopf informiert den Basketball-Spieler darüber, dass es sich um ein Stück aus der Keule einer einheimischen Spezialität namens kalkún handelt. Vor meinem inneren Auge erscheint ein Polartier mit schockgefrorenem Blick; ein Mini-Walross mit Hühnerbeinen und Hahnenkamm.

Plötzlich erhebt der Quatschkopf seine Stimme, gleichzeitig sein Glas und sagt so was wie »Skoll!«, lächelt erst den Basketball-Spieler an, dann mich und erklärt, dass das die isländische Version von »Prost!« sei und irgendwas mit Schädel zu tun habe, weil die Wikinger auf ihren Siegesfeiern gern aus den Schädeln ihrer Opfer getrunken haben.

Ich mag dieses Land jetzt schon.

Nach dem Abendessen versuche ich zu schlafen. Nach jedem Mord brauche ich mein Nickerchen. Allerdings scheine ich der Einzige an Bord zu sein, der etwas dösen will. Die Wikinger fordern weitere Schädel voller Cognac. Dann beginnt der Pilot seine Unterhaltungsnummer, die tiefe Stimme dröhnt aus dem viel zu laut eingestellten Lautsprecher direkt über mir. Wie alle seine Kollegen spricht auch er Luftisch, die Sprache, die nur die Wolken verstehen. Diese Monologe aus dem Cockpit klingen immer wie ein Gebet, eine Bitte an Gott, seinen Vorgarten durchqueren zu dürfen. Es dauert vierzehn Minuten.

Ich halte die Augen geschlossen. Dieser Friendly-Kragen fühlt sich an wie ein eisernes Band um meinen Hals.

Hinter mir höre ich, wie zwei angeheiterte Schädelfreunde bei der Stewardess erneut etwas bestellen. Etwas weiter den Gang hinunter hat eine Gruppe dicker Frauen sich in ihre Schulzeit zurückgetrunken. Die Isländer scheinen mit den Russen verwandt zu sein – auch sie können ihr Heimatland nur komplett besoffen verlassen und kehren nie in nüchternem Zustand zurück. Erinnert mich an den guten alten Ivica, der in Split in unserer Straße gewohnt hatte. Er fürchtete sich so sehr vor seiner zickigen Frau, dass er sich Mut antrinken musste, um abends auszugehen, und sich erst zurücktraute, wenn er vor lauter Schnaps stocktaub war.

»Skoll!«, »Skoll!«, schallt es um mich herum. Das mit dem Nickerchen kann ich vergessen. Ich öffne meine priesterlichen Augen.

Plötzlich ist Shoppingzeit. Das Flugzeug verwandelt sich in ein fliegendes Einkaufszentrum. Die Stewardessen bügeln eine Kreditkarte nach der anderen durch ihre Lesegeräte und schmeißen mit Sonnenbrillen und Seidenkrawatten nur so um sich. Hat man so was schon gesehen? Das gibt es ja nicht mal bei Aeroflot. Dabei scheint es eine todsichere Kombination zu sein: erst saufen, dann kaufen. Macy’s und die anderen Kaufhäuser in New York sollten mal darüber nachdenken, Bars in ihren Herren- und Damenabteilungen zu eröffnen. Gibt es in Island vielleicht keine Läden?

Trotz des Pilotengebets zwicken die Engel mir weiterhin in die Beine und sorgen dafür, dass mich ein Gewissen plagt, von dem ich dachte, dass ich es gar nicht mehr hätte. Normalerweise verursacht mein Beruf keine Nebenwirkungen, außer dass ich nach einem Mord müde werde. Die körperliche Anstrengung mag nicht so groß sein, aber die Seele kommt doch etwas ins Schwitzen. Das Nickerchen nach einem Mord ist ein enger Verwandter des Nickerchens nach dem Sex – da ist die körperliche Anstrengung auch nicht so riesig (sie will meistens oben liegen), doch die Seele verlangt nach einer kleinen Ruhepause.

Endlich gelingt es mir, meine besoffenen, shoppenden Mitreisenden zu vergessen. Ich schlafe ein, mit Munita auf mir. Ihre Wundermöpse hüpfen auf und ab, ihr langes schwarzes Haar streicht über meine schwabbelige Brust, als ob Gott mit der Spitze seines langen weißen Bartes meine verdorbene Seele berührt.