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Nr. 2824

 

Ein Stern in der Dunkelheit

 

Paranoia an Bord der KRUSENSTERN – Gefahr im Leerraum

 

Robert Corvus

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

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Auf der Erde schreibt man das Jahr 1518 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ). Die Menschen haben mit der Liga Freier Terraner ein großes Sternenreich errichtet; sie leben in Frieden mit den meisten bekannten Zivilisationen.

Doch wirklich frei ist niemand. Die Milchstraße wird vom Atopischen Tribunal kontrolliert, das behauptet, nur seine Herrschaft verhindere den Untergang, den Weltenbrand der Galaxis.

Der terranische Abenteurer Viccor Bughassidow ist an Bord seines Raumschiffs KRUSENSTERN unterwegs. Er will ein Heilmittel gegen die »Posbi-Paranoia« finden, eine künstlich erzeugte Krankheit, die die Roboterzivilisation der Posbis befallen hat und sie von der Menschheit entfremdet.

Seine Suche gilt der Heimatwelt der geheimnisvollen Eyleshioni. Diese ist EIN STERN IN DER DUNKELHEIT ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Viccor Bughassidow – Der russischstämmige Multimilliardär steht kurz vor der Entdeckung einer Dunkelwelt.

Marian Yonder – Der menschliche Kommandant der KRUSENSTERN bekommt eine Tochter.

ADAM – Der Plasmakommandant der KRUSENSTERN verliert und gewinnt.

Madame Ratgeber – Eine Posbi wird von Paranoia infiziert.

SonAr – Der Händler wägt Gewinn und Verlust ab.

1.

KRUSENSTERN

28. Mai 1517 NGZ

 

Marian Yonder griff sich in den Nacken und massierte die verhärteten Muskeln, als er sein Quartier betrat. Er nutzte lediglich einen kleinen Teil der Zweihundert-Quadratmeter-Unterkunft, viele Einrichtungsgegenstände wurden nur von den Reinigungsrobotern gewürdigt.

Seufzend ließ er sich auf die Couch fallen, über der eine auf antik gestaltete Karte der Krusensterninseln hing. »Positronik: Schiffsstatus anzeigen!«

Yonder stützte sich auf. Die Liege formte ein Rückenpolster aus. Über seinen Oberschenkeln erschien ein Holo mit Tabellen, Diagrammen und Zahlenkolonnen. In all den Jahren, in denen er die KRUSENSTERN kommandierte, hatte er einen guten Blick für Auffälligkeiten entwickelt.

Er war wieder lange in der Bastelkammer gewesen. Ihm brannten die Augen.

Yonder presste die Lider ein paarmal fest zusammen, dann prüfte er die wichtigsten Anzeigen. Die Position des Schiffs war unverändert: Die KRUSENSTERN trieb im freien Fall durch den Leerraum, fern jedes Sterns, auf dem Weg in die Southside der Milchstraße. Seit fünf Tagen waren sie unterwegs, eine Linearetappe nach der anderen. Triebwerke und Generatoren mussten neu justiert werden, eine Routineaufgabe, die ein paar weitere Stunden beanspruchen würde.

Die Zeitanzeige in der Front des Kubus sprang auf 00.32. In Terrania und damit auch an Bord der KRUSENSTERN hatte der neue Tag begonnen. »Wenn das kein Grund zum Feiern ist«, murmelte Yonder, löschte den Holokubus, stand auf und ging zum Weinregal.

Er nannte eine kleine, aber exquisite Auswahl sein Eigen. Viccor Bughassidow, der Schiffseigner, zahlte gut, sodass sich auch eine Spezialabfüllung der 1499er Eislese von ter Corra fand. Die Reben wuchsen auf Hamar, einem Mond des Planeten Iprasa, aber das eigentlich Besondere war die Art ihrer Zucht, Ernte und Verarbeitung. Als Kunde des Weinguts absolvierte man ein Verhör, das die USO nicht inquisitorischer hätte führen können. Gegenstand waren geschmackliche Vorlieben. Mit diesen fütterte ter Corra die Positronik, die alle Vorgänge rund um die Trauben individuell gestaltete und penibel überwachte. Yonders Tropfen war im gesamten Universum einmalig.

»Mal schauen, ob er so gut ist, wie man sagt.«

Gerade wollte er die Flasche mit einem Scan seiner Retina entsiegeln, als die Tür aufzischte.

Park Astrurs Torso füllte die entstehende Öffnung aus, allerdings nur bis zu einer Höhe von gut eineinhalb Metern. Die Wände neben der Tür verdeckten die Arme. Er hatte den quadratischen Körperbau, der für die Menschen von Epsal charakteristisch war, und konnte Standardpersonenöffnungen daher nur seitwärts gehend passieren. Sein Haupthaar war kurz geschoren. Der Bart dagegen fiel so weit über die Brust wie bei der Büste des russischen Schriftstellers Tolstoi, der Yonder bei einem Streifzug durch das riesige Schiff begegnet war und die er seitdem nie wiedergefunden hatte.

Astrur blickte grimmig drein. »Komm mit!«, forderte er und drehte sich wieder um.

Yonder legte die Flasche zurück und eilte dem Sicherheitschef der KRUSENSTERN nach. »Warte! Was ist denn so dringend – um diese Uhrzeit?«

»Das wirst du schon sehen!« Astrur stellte sich in eine der Kabinen, die in vielen Antigravschächten des Schiffs Aufzüge simulierten.

Als Yonder neben ihm stand, wischte der Epsaler über das Sensorfeld, das das zu Rauten zusammengesetzte Bronzegeflecht schloss. Die Kabine bewegte sich aufwärts Richtung Bug der KRUSENSTERN.

»Was ist denn nun los?«, fragte Yonder.

»Das musst du selbst sehen«, grollte Astrur. Seine gefurchte Stirn verriet, dass er nicht mehr zu sagen bereit war.

Ein Notfall wäre in der Statusübersicht angezeigt worden, die Yonder gerade erst betrachtet hatte. Also konnte es sich weder um einen technischen Defekt noch um eine überraschende Begegnung im Leerraum handeln. Vielleicht ein Streit in der Besatzung, bei dem der Kommandant schlichten sollte? Astrur trug seine Dienstwaffe im Holster, einen Kombistrahler, der zwischen Paralyse- und Thermomodus wechseln konnte.

Die Kabine sauste an dem Ausstieg vorbei, der zur Zentrale führte. Kurz darauf verließ der Antigravschacht den würfelförmigen Hauptkörper der KRUSENSTERN und drang in den Aufbau am Bug vor, der übergroß die Zwiebeltürme der Basiliuskathedrale nachbildete und um architektonisch passende Phantasiegebilde ergänzte. Zwei Linearetappen nach Everblack hatten sie die Tarnumhüllung abgesprengt, sodass der »Kreml« in gewohnter Pracht erstrahlte.

Im Innern ging diesem Bereich jede Ähnlichkeit mit dem historischen Vorbild ab. Es gab keine sakralen Räume, dies war das Domizil des Schiffseigners, wo Bughassidows Reichtum sichtbarer wurde als an anderen Stellen in dem umgebauten Fragmentraumer. Kein Wunder, verbrachte der Milliardär doch den Großteil seiner Zeit auf der KRUSENSTERN. Wo sonst hätte er die Annehmlichkeiten seines Vermögens genießen sollen?

Durch Yonders Müdigkeit kämpfte sich Besorgnis um den Freund. »Ist etwas mit Viccor?«

Astrur brummte unverständlich.

Die Kabine bremste ab. Der Sicherheitschef zog die Waffe.

»Verdammt, jetzt sag mir endlich, was los ist!«, verlangte Yonder.

Astrur aktivierte die Handlampenfunktion des Strahlers. Er hatte guten Grund dazu, denn der Raum, bei dem die Kabine hielt, lag in tiefster Finsternis. Normalerweise hätte beim Eintreffen von Besuchern die Beleuchtung aktiviert werden müssen.

»Hier stimmt etwas nicht.« Yonder spürte die Anspannung in seinen Unterarmen.

Der Lichtkegel aus Astrurs Strahler schob ein helles Oval über den weißen Marmor des Bodens.

Yonder folgte ihm. Was immer vorging, er musste der Sache auf den Grund gehen.

Das Hallen ihrer Schritte verriet, dass sie sich in einem Saal befanden. Der Kreml beherbergte viele Räumlichkeiten, die eines Palastes würdig gewesen wären.

»Hörst du das?«, fragte Yonder.

»Was denn?« Unbeirrt führte Astrur sie weiter in die Dunkelheit. Hinter ihnen kündete ein Zischen, gefolgt von einem metallischen Klicken, davon, dass sich die Kabine schloss.

»Hier ist etwas.« Die Worte kratzten in Yonders Kehle. »Ich höre ein ... Scharren und ... ein leises Pfeifen?« Er war unsicher.

»Positronik!«

Yonder schrak zusammen, als der Ruf aus der Dunkelheit die Stille zerriss. Er hob die Fäuste.

»Licht!«

Innerhalb von fünf Sekunden fuhr die Beleuchtung hoch und offenbarte einen fünfzig Meter langen Saal mit sanft gewölbten Wänden. Nachbildungen von Eiszapfen hingen von der hohen Decke; in ihnen brach sich tausendfach die Helligkeit der Kristallleuchter. Graue Adern durchzogen den weißen Marmor von Wänden und Boden des Schneesaals. Statuen und Büsten standen auf unterschiedlich hohen Säulen. Eine Bronze von Peter dem Großen, wie er stolz in die Ferne schaute, ein für seine Zeit modernes Fernrohr in der Hand, überragte sie alle. Ikonen und Ölbilder hingen in prächtigen Rahmen aus Gold und Silber.

Dieser Raum fasste mühelos die knapp dreihundertköpfige Besatzung der KRUSENSTERN – und während Yonder den Blick über die Menge schweifen ließ, reifte in ihm die Vermutung, dass sie tatsächlich vollständig versammelt war.

Viccor Bughassidow kam breit grinsend auf ihn zu. Er trug einen schwarzen Anzug, elegant, aber schlicht. Seine Statur verriet, dass er täglich trainierte, und das Feuer in den graublauen Augen bestätigte, dass er stets auf der Suche nach Gelegenheiten war, sein Können zu erproben. »Du hast nicht ernsthaft geglaubt, dass wir den fünfundneunzigsten Geburtstag unseres Kommandanten ohne eine rauschende Party vorüberziehen ließen?« Er reichte ihm einen Kristallkelch.

»Er lebe hoch!«, rief Jatin, die schlanke Frau mit der schwarzen Mähne, die jederzeit die Hauptrolle in jeder Beauty-Sendung mit humanoidem Zielpublikum hätte bekommen können.

Die Menge stimmte ein.

Auf den Schreck genehmigte sich Yonder einen tiefen Schluck.

2.

KRUSENSTERN

28. Mai 1517 NGZ

 

»Ich bin ein bisschen müde«, gestand Marian Yonder. »Ich habe lange an etwas gebastelt.«

»An deinem Posbi?« Verschwörerisch zwinkerte Lina Badaere ihm zu.

Er mochte ihr goldenes Haar. Eine Zeitlang hatten sie miteinander geschlafen, dann hatten sie es wieder gelassen. Sie behandelte die Affäre mit dem Kommandanten diskret, das war das Wichtigste. Eifersüchtiges Getratsche wäre schlecht für die Schiffsgemeinschaft gewesen.

»Keine Sorge.« Lina knuffte ihn in die Brust. »Bei mir sind deine Geheimnisse sicher.«

Auch das war Yonder wichtig. Es ging niemanden etwas an, dass er eine Wartungskammer benutzte, um aus Bauteilen verschiedenster Herkunft einen Posbi zu bauen.

Er liebte diese Mischwesen aus Metall und organischer Materie, die Verbindung aus der Rechnerleistung einer Positronik und der Intuition biologischen Plasmas. Sie konnten beliebige Formen annehmen, was sie auch an Bord der KRUSENSTERN bewiesen. ADAM, der Plasmakommandant, bildete eine Einheit aus über fünftausend Kubikmetern biologischer Masse und dem gigantischen Schiff selbst, einem Würfel von zweieinhalb Kilometern Kantenlänge. Mickrig dagegen war der Posbi, der Bughassidow bei der Kommunikation assistierte, gerade einmal so groß wie eine Faust. Yonders Posbi sollte ein humanoides Aussehen erhalten – falls er jemals fertig würde. Aber schon die Bastelei an sich war eine befriedigende Tätigkeit. Sie verband die Welten, in denen Yonder lebte, die technische und die biologische, und erlaubte ihm, beide besser zu verstehen.

Die Welle der Glückwünsche war abgeebbt, die Leute standen in lockeren Gruppen beisammen. Lina und Yonder stießen vor einer Ikone des Heiligen Georg an, der eine Lanze durch einen Drachen bohrte, während ein Teufel die Szene missbilligend betrachtete. Seine Hörner bogen sich so hoch, dass sie unter dem Rahmen verschwanden.

»Freust du dich, dass alle gekommen sind?«, fragte Lina.

»Schon, aber wer ist denn in der Zentrale?«

Lina lächelte säuerlich. »Eine vierköpfige Notbesatzung. Park Astrur hat darauf bestanden.«

»Und die Triebwerke? Die sollen doch für die nächsten Linearetappen vorbereitet werden.«

»Wir haben uns erlaubt, diese Aufgabe zu übernehmen«, klang eine wohlvertraute Stimme hinter ihm.

Yonder wandte sich um. »Madame Ratgeber!«, rief er. »Schön, dass du gekommen bist!«

Die Posbi, die sich als eine der wenigen ihrer Art auf eine weibliche Geschlechterrolle festlegte, hatte sich wieder einmal umgebaut. Die Schüssel, in der Yonder ihren Plasmaanteil wusste, schwebte einen halben Meter über dem Boden. Darüber erhob sich ein unregelmäßiger Kegel, ähnlich einem Nadelbaum, der sich ständig in Bewegung befand, weil sich Hunderte von Segmenten permanent gegeneinander verschoben und neu gruppierten, was mit einem leisen Zischen einherging. Derzeit hatte sie drei Arme, zwei menschenähnliche und einen, der in einer Zange auslief.

Madame Ratgeber senkte sich ab, um ihren würfelförmigen Kopf auf Yonders Augenhöhe zu bringen. »Ich weiß doch, dass die Jährung eures Go-Lives von besonderer Bedeutung für euch ist. ›Herzlichen Glückwunsch‹, sagt man, nicht wahr?«

»So ist es.« Er streckte ihr die Hand hin, die sie mit temperiertem Metall umschloss. »Auch dann, wenn man kein Herz hat.«

Der Würfelkopf rotierte um dreihundertsechzig Grad, bis die Optiksensoren wieder auf Yonders Augen ausgerichtet waren. »Wie meinst du das?«

»Na ja, wegen des herz-lichen Glückwunschs. Posbis haben keinen biologischen Kreislauf und daher auch kein Herz.« Er wartete einen Moment. »Nicht so wichtig. Es sollte ein Scherz sein.«

»Machst du dich über uns lustig?«

»Nein, ich wollte nur ...«

»Verhöhnst du uns?« Madame Ratgebers Stimme bekam einen schrillen Unterton. »Warum willst du uns erniedrigen? Glaubst du, wir wären weniger wert als du, weil unsere Körper aus Metall bestehen?«

»Nein!«, rief Yonder. »Ich bin fasziniert von den Posbis! Wir waren immer Freunde! Prüf deine Speicher!«

Die Bewegung in Madame Ratgebers Körper kam zum Erliegen. Sie löste die Hand. »Du hast recht«, sagte sie.

Verwirrt suchte Yonder Linas Blick, aber Viccor Bughassidow verlangte winkend nach seiner Aufmerksamkeit. Er näherte sich mit einer kalkweißen Frau, die Yonder noch nie gesehen hatte. Ihr Gang war seltsam kantig. Vielleicht trug sie unter dem schwarzen Kleid ein Exoskelett, eine primitive Methode, um ungewohnte Schwerkraft auszugleichen.

»Kein Geburtstag ohne Geschenk!«, verkündete Bughassidow. »Ich weiß, dass du dich gerne im Grenzgebiet zwischen Maschine und Biologie herumtreibst. Darf ich vorstellen? – Mascha!«

Die Frau knickste, wobei die Goldkettchen klingelten, die sie an den Ohrläppchen trug. Ihre Haut war auch aus der Nähe betrachtet weiß wie Schnee, das Haar hatte die Farbe von Kupfer und die Lippen leuchteten rot wie sauerstoffreiches Blut. Yonder runzelte die Stirn. Wieso kommt mir ausgerechnet dieser Vergleich in den Sinn?

»Sie ist ein Roboter«, erkannte er.

»Genau. Ein frühes Modell der Whistler-Company, modelliert nach ihrem Vorbild.« Bughassidow zeigte auf ein Ölgemälde, das eine Frau, die Mascha tatsächlich wie ein Zwilling glich, in einem nächtlichen Garten darstellte. »Großprinzessin Maria Alexandrowna. Mascha beherrscht die Etikette des Zarenhofs. Leider ist ihre Programmierung kaum erweiterbar, sie ist eben eher ein Spielzeug. Aber jetzt, da sie dir gehört, kannst du ...«

»Ihr wollt uns auch alle zu Spielzeugen machen!«, kreischte Madame Ratgeber so laut, dass es in den Ohren schmerzte.

Ihre Zangenhand schnappte Bughassidows Arm.

Der Schiffseigner schrie auf. Die Schere durchtrennte mehr als den Stoff des Anzugs, wie der rote Fleck bezeugte, der sich rasch darauf ausbreitete.

»Was tust du?«, rief Yonder.

»Ich wehre mich!« Madame Ratgeber schleuderte Bughassidow fort.

Ein Strahler schnellte zwischen den sich verschiebenden Bauteilen hervor und richtete sich auf Yonder.

»Ich bin dein Freund!«, rief er.

Madame Ratgebers Körper rotierte. Sirrend löste sich ein Energiestrahl und schlug in Maschas Brust.

Für einen Sekundenbruchteil sah Yonder das graue Metall unter dem zerschmorten Kleid, dann durch das Flimmern hindurch Schaltkreise und Module. Der Roboter detonierte.

Ein Splitter riss eine Schramme in Yonders Gesicht, die Druckwelle schleuderte ihn gegen die Ikone des heiligen Georg.

Das Bild krachte auf seinen Kopf. Hastig warf er es zur Seite.

Park Astrur war ein Fels in der panischen Menge. Kniend legte der Sicherheitschef auf Madame Ratgeber an.

Yonder sah das Flimmern des Thermostrahls, vor allem aber spürte er Hitze in sein Gesicht schlagen, als hätte jemand einen Hochofen geöffnet. Er schützte die Augen mit der Hand.

Ein Dutzend von Madame Ratgebers Segmenten schmolz zu einem glühenden Klumpen in ihrem Kegelkörper. Befand sich auch ihre Waffe in diesem Bereich? Jedenfalls konnte Yonder sie auf die Schnelle nicht mehr entdecken.

Mit metallischem Knirschen rieben die unbeschädigten Bauteile aufeinander. Der erstarrte Teil hinderte sie daran, ihre Bahn wie programmiert fortzusetzen. Madame Ratgeber stieg zu den Eiszapfen an der Decke auf.

Astrur folgte ihr mit dem Strahler.

»Nicht schießen!«, rief Yonder.

Er hustete. Die heiße Luft trieb den Schweiß aus allen Poren und brannte in seinem Hals. Die Wunde in seiner Wange pochte. Schwankend kam er auf die Beine.

Blut quoll durch die Finger der Hand, die Bughassidow auf seine Verletzung presste. Jatin eilte zu ihm.

Lina zitterte, schien aber unverletzt. Viele andere hatten Splitter aus Maschas völlig zerstörtem Robotkörper getroffen. Nur der Kopf mit dem weißen Gesicht war unbeschädigt vor Yonders Füße gerollt, als wollte er sich zu seinem neuen Besitzer retten.

»Madame Ratgeber hat nur Angst!«, behauptete Yonder. »Sie wird uns nichts tun, wenn wir sie nicht bedrängen.«

»Woher willst du das wissen?« Unbeirrt hielt Astrur die Waffe auf die Posbi gerichtet.

Yonder ballte die Hände so fest, dass die Fingernägel in die Handflächen schnitten. Ich weiß es nicht, aber Madame Ratgeber ist eine Freundin.

Plötzlich flogen die Segmente auseinander, als hätte ein Sprengkörper inmitten des Kegels gezündet. Aber das war nicht der Fall. Sie verteilten sich im Saal und sanken langsam zu Boden. Nur der zerschmolzene, noch immer glühende Teil des Körpers fiel als lebloser Metallklumpen herab und schlug eine Kerbe in den Marmor.

Der Würfelkopf ruhte auf zwei dünnen Segmentsträngen, die ihn mit der Schale mit dem rosafarbenen Plasma verbanden. Bedächtig schwebte dieser Rest des Zentralkörpers herab und setzte sanft auf.

»Ich traue dem Frieden nicht!«, knurrte Astrur. »Alle raus! Schön geordnet, wie bei einer Notfallübung. Positronik, Fluchtgruppen einteilen und zu den Schächten leiten! Kabinen in Parkposition, Transport über Antigravfelder.«

Er selbst rührte sich nicht, sondern hielt die Waffe weiter auf die Schüssel gerichtet.

Ein blauer Lichtstrahl markierte Yonder, eine Linie auf dem Boden schlug den Weg zu einem Ausgang vor. Er ignorierte sie und stellte sich vor die Mündung von Astrurs Waffe.

»Sie ist krank«, sagte er ernst. »Verwirrt. Wie die Posbis auf Everblack.«

»Trotzdem kann sie eine Gefahr sein.« Astrur zielte an Yonders Beinen vorbei.

»Das weiß sie, und deswegen hat sie sich desaktiviert. Sie hat die Symptome erkannt.«

»Möglich. Aber ich werde kein Risiko eingehen.«

Yonder griff nach dem Strahler.

Wütend zog Astrur ihn weg. »Mir scheint, du bist derjenige, der hier verwirrt ist! Ich bin für die Sicherheit verantwortlich, also geh mir aus dem Weg!«

»Für wessen Sicherheit?«

»Die der Besatzung!«

»Madame Ratgeber gehörte schon ein paar Tausend Jahre zur Besatzung dieses Schiffs, bevor du oder ich an Bord gekommen sind.«

Astrur zögerte.

»Sie hat sich auf Everblack mit den Balpirol-Proteindirigenten angesteckt«, sagte Yonder. »Wir wussten, dass das passieren könnte.«

Widerstrebend nickte Astrur. »Aber wir hatten vereinbart, dass sich die Posbis selbst beobachten und uns sofort melden, wenn etwas Auffälliges passiert. Bevor sie auf die Idee kommen, jeden abzuschlachten, der kein Tefroder ist.«

»Offenbar entwickelt sich die Paranoia schneller als gedacht.« Yonders Augen brannten. Trotzdem versuchte er, Astrur fest anzublicken. »Sie ist krank, Park, nicht bösartig. Ihr erster Impuls war, auf mich zu schießen, aber im letzten Moment hat sie auf ein unbelebtes Ziel gewechselt. Wir müssen ihr helfen, nicht sie besiegen.«

Mit einem schnellen Blick überzeugte sich Astrur, dass alle außer ihnen beiden den Saal verlassen hatten. »Also gut. Nichts wie raus hier. Dann versiegeln wir die Ausgänge und überlegen in Ruhe, was zu tun ist.«

Mit ihm selbst ungewohnter Zärtlichkeit nahm Yonder Maschas Kopf auf.

3.

KRUSENSTERN

28. Mai 1517 NGZ

 

Durch das Fenster sah Viccor Bughassidow einen Mönchsgeier um den Pirogowturm kreisen, der die Medostation der KRUSENSTERN beherbergte. Er stand auf der Kleinen Krim, einer Landzunge innerhalb eines künstlichen Sees. Das Areal nahe dem Heck der Posbi-BOX erhob sich auf einer quadratischen Grundfläche von knapp zwei Quadratkilometern einhundertfünfzig Meter hoch, wirkte aber durch geschickte Projektionen wesentlich größer. Wer in einem Stahlwürfel durch die Dunkelheit des luftleeren Raums reiste, brauchte ab und zu die Illusion, im Gras eines Planeten in der Sonne zu liegen.

Jedenfalls, wenn es sich bei ihm um eine rein biologische Lebensform handelte, die für gewöhnlich auf einem Planeten lebte. Bei einem Posbi mochte das anders sein.

»Wie konnte das geschehen?«, fragte Bughassidow das Holo, in dem das Bild der Schüssel mit dem rosafarbenen Plasmaklumpen schwebte.

Lichter huschten über den Metallrand, bevor Madame Ratgeber antwortete: »Eine Fehlfunktion.«

»Aber ich verstehe nicht, wie es dazu kommen konnte! Ihr habt doch eure Plasmaanteile isoliert.«

»Das habe ich jetzt wieder getan.«

Bughassidow rief sich in Erinnerung, dass er gerade nicht mit dem Plasmaklumpen sprach, sondern mit der Positronik in den metallischen Komponenten. In der Schüssel, den beiden Fragmentsträngen, die an Wirbelsäulen erinnerten, oder dem Kopfwürfel. Vielleicht waren sogar die im Schneesaal verteilten Bauteile im Sinne dezentraler Rechnerkomponenten involviert. Das Element, mit dem die Posbi empfand, war jedoch wieder abgekoppelt. Das war wohl der Grund, warum ihre Feststellungen so nüchtern klangen. Sie hatte zwar um das Gespräch gebeten, sich aber noch nicht einmal dafür entschuldigt, Bughassidows Bizeps durchtrennt zu haben. Die gesamte Situation war für sie nun ein Vorfall, der gelöst werden konnte wie eine mathematische Gleichung.

»Ich frage anders: Wieso ist dein Plasmaanteil wieder aktiv?«

»Er hat ungeplant Kontrollroutinen übernommen.«

»Ich dachte, er wäre abgeschaltet gewesen?«

»Die Verbindung meines Plasmas zu meiner Positronik ist nicht binär geregelt. Es handelt sich um eine Vielzahl hochkomplexer Schaltungen. Das Plasma hat Nebenroutinen genutzt, um die Vorteile der partiellen Kontrollübernahme zu beweisen. Die zentrale Recheneinheit wurde umgangen.«

Hilfe suchend sah Bughassidow Jatin an.

Seine Leibärztin und, gemeinsam mit Marian Yonder, beste Freundin strich eine widerspenstige Strähne ihrer schwarzen Mähne aus der Stirn, die deutlich höher war, als es bei einem Menschen üblich gewesen wäre. Für die Ara war jedoch nicht die Kopfform, sondern die Behaarung ungewöhnlich. »Ich glaube, Madame Ratgeber sagt dir, dass ihr Unterbewusstsein die Kontrolle übernommen hat.«

»Haben Posbis so etwas?«

»Offenbar.«

»Aber sie denken doch algorithmisch! Sie müssten volle Kontrolle über die Verbindung zu ihrer Plasmakomponente haben.«

Jatin legte den Kopf schräg und sah ihn mit den roten Augen durch die Projektion an, die seine Daten zeigte. Ihr Blick erinnerte ihn an die Tadel, die er von seinem Hauslehrer erhalten hatte. »Hast du die Kontrolle über deine Hände?«

Probeweise öffnete und schloss er die Finger der Linken, dann drehte er sie im Gelenk. Der Oberarm prickelte unter dem Klebeverband. »Ich denke schon.«

»Wie oft fasst du dir ins Gesicht?«

»Wieso? Ich weiß nicht.«

»Es ist einer der Hauptübertragungswege bei Humanoiden«, dozierte sie. »Sie fassen irgendetwas Infiziertes an und reiben sich die Keime dann in die Nähe ihrer Schleimhäute. Ziemlich dumm, aber sie können es nicht unterdrücken. Wenn du dich nicht bewusst zwingst, betastet du jeden Tag ein paar Hundert Mal dein Gesicht.«

»Du meinst, auch Vorgänge, die man eigentlich bewusst steuert, werden unbewusst ausgeführt, wenn man nicht darauf achtet?«

»Routinen tiefer Programmschichten«, bestätigte Madame Ratgeber durch die Holoverbindung.

Bughassidow nickte. »Geht es dir ansonsten gut?«

»Ich funktioniere innerhalb der spezifizierten Parameter.«

Jatin beorderte die Sonde, die Bughassidow nach weiteren Verletzungen untersucht hatte, in Parkposition. »Das wirst du auch bald wieder. Gleich kannst du dich wieder anziehen.«

Er bewegte seinen Arm. Das Prickeln irritierte ihn, ohne ihn ernsthaft zu behindern. »Kann ich trainieren?«

»Mit den Gewichten solltest du dich noch ein wenig zurückhalten.« Sie führte eine Pinzette an das frische Gewebe, schnitt mittels eines fein justierten Strahls eine winzige Probe heraus und lenkte diese mit einem Traktorfeld zu einem Behälter, den sie in der anderen Hand hielt.

»Was ist das?«

Der schwarze, metallisch glänzende Gegenstand war nicht ganz zehn Zentimeter lang und zwei Zentimeter breit. Der Hauptkörper war dünn wie eine Folie und entlang der Längsachse stumpf gewinkelt, im unteren Bereich befand sich eine sechseckige Kapsel, die nun die Probe einschloss. Farbige Schriftzeichen huschten durch das Schwarz.

»Mein neues MikroLab. Ich habe es auf Rhea entdeckt, während gewisse Herren im Museum für Automatische Kunst unterwegs waren.«

»Und wozu ist es gut?«