Impressum

Jan Eik

Ausschreibung für einen Mord – Auf Mord gebaut

ISBN 978-3-95655-419-3 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien unter dem Titel „Ausschreibung für einen Mord. Architektenkrimi“ erstmals 1998 bei avedition Stuttgart und unter dem Titel „Auf Mord gebaut“ 2002 bei berlin. krimi.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
 

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Die Personen und Handlungen dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Geschehnissen und Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

 

Hüte dich vor einem Mord!
Er verleitet zum Diebstahl,
und von da ist es bis zur Lüge
nur ein Schritt.

Julian Tuwim

1. Kapitel

Von der künftigen Schönheit des Gebäudes mitten im Berliner Regierungsviertel war wenig zu erkennen. Aus der Decke der oberen Kelleretage erhoben sich Bewehrung und Schalung für das repräsentative Erdgeschoss. Alle zwölf Minuten rollte ein neuer Transporter mit neun Kubikmeter Beton heran und pumpte die Ladung zwischen die Schaltafeln. Fünfundvierzig Kubikmeter in einer Stunde an jeweils zwei Stellen der massiven Außen- und der Zwischenwände, die das ausladende Foyer von den beiden Gebäudeflügeln trennen würden.

Die Betonierung hatte am Morgen nicht rechtzeitig begonnen, weil der gefürchtete Prüfingenieur Adlé bei seiner Begutachtung der Stahlbetonbewehrung nicht gerade großzügig verfuhr und tausenderlei zu bemäkeln hatte. Möglicherweise wäre man am Abend dennoch planmäßig fertig geworden, hätte es am frühen Nachmittag nicht plötzlich eine unerklärliche Stockung beim Beton gegeben und wäre nicht zu genau diesem Zeitpunkt die Polizei samt Gewerbeaufsichtsamt, Arbeitsamt und einem halben Dutzend weiterer Behörden auf der Baustelle aufgetaucht, um nach Schwarzarbeitern zu fahnden.

Meisner, der verantwortliche Bauingenieur, fluchte in sich hinein und war doch insgeheim froh, dass weit über die Hälfte seiner Arbeitskräfte sich im Augenblick gerade an den umliegenden Imbiss- und Pommesbuden mit einer zusätzlichen Stärkung auf den langen Abend vorbereitete. Die meisten waren immerhin so pfiffig, die Gefährlichkeit der gezielten Aktion zu erkennen. Im Verlauf der nächsten halben Stunde kehrten nur die zurück, deren Papiere in Ordnung schienen, und das waren wenig genug.

Das kam davon, wenn man sich auf das alles überwuchernde Subunternehmertum einließ, auf windige Geschäftemacher, die einem den Abhub an billigsten Arbeitskräften aus halb Europa, Nordafrika und Vorderasien auf die Baustelle kehrten. Alles angebliche Baufacharbeiter, von denen manche nicht wussten, wozu der Zement im Beton nötig war oder wie man sich eines Zollstocks bediente. Meisner sah den Tag kommen, an dem ein philippinischer Polier mit einer lendenschurzbekleideten malayisch-turkestanischen Crew an Bambusstangen auf dem Bau herumturnen würde. Er selber hatte nicht das Geringste gegen Ausländer, solange sie Lokale betrieben, ihm gelegentlich geschmuggelte Zigaretten verkauften oder ihn im Urlaub so freundlich empfingen, wie er es glaubte verdient zu haben. Auf der Baustelle hatten sie für seine Begriffe nichts verloren. Jedenfalls war es spät geworden. Sehr spät sogar. Zum Glück waren bei der Razzia nur drei Ausländer ohne gültige Papiere angetroffen worden; die meisten der Männer hatten sich im Lauf des Nachmittags wieder auf der Baustelle eingefunden. Nachdem die tägliche Rushhour in den normalen Abendverkehr übergegangen war, fuhren die Trudelbecher mit dem Transportbeton pünktlich vor und stauten sich mitunter für ein paar Minuten.

Meisner wusste nicht, wo ihm der Kopf stand. Er war seit vier Uhr morgens auf den Beinen, und es sah nicht so aus, als würden sie vor vier Uhr früh fertig sein. Blieben ihm zwei, maximal drei Stunden Schlaf im Auto, wie schon öfter, wenn es für die Fahrt zu seinem eigenen Heim weit draußen im westlichen Berliner Umland zu spät, vielmehr zu früh wurde. Glücklicherweise gab es ja Funktelefone, sodass seine Frau sich nicht sorgen musste. Ansonsten hasste Meisner Handys, die es aufgeblasenen Bauherrn, selbstgefälligen Architekten oder wer immer glaubte, ihm Vorschriften machen zu müssen, erlaubten, ihn zu jeder beliebigen Tages- und Nachtstunde zu belästigen.

Meisner hatte inzwischen Bauscheinwerfer heranschaffen lassen, denn trotz Sommerzeit und hohem Sonnenstand war allmählich die Dämmerung auf die Baustelle herabgesunken. Sorgenvoll blickte er hinüber zu den Betontransportern. Gerade reihte sich der Dritte in die Schlange ein, die sich gebildet hatte. Es fehlten einfach genügend Leute, um ein Sockelgeschoss von derartigen Ausmaßen in einer Schicht zu gießen. Aber das den Leuten von P & H klarzumachen, insbesondere der arroganten Architektin mit dem Doppelnamen, die vom Bau so viel verstand wie ein Gewerkschaftsboss vom Mindestlohn, hatte er längst aufgegeben. Von ihr stammte der preisgekrönte Entwurf für den Bau der hauptstädtischen Bundesverwaltung, und dementsprechend gebärdete sich die Dame.

Mit dem alten Planckh, dem Seniorchef des renommierten Berliner Architekturbüros Planckh & Heppener, einem Mann in Meisners Alter und mit ähnlicher Lebenserfahrung, war am leichtesten auszukommen. Auch mit Gerald Heppener, einem fähigen Architekten, der bekannt war für seine unkonventionellen gestalterischen und bautechnischen Lösungen, gab es gewöhnlich kaum Schwierigkeiten. Weshalb die beiden sich ausgerechnet auf eine Mareike Lässig-Domagalla und ihr nicht gerade umwerfendes Projekt eingelassen hatten, stand auf einem anderen Blatt. Die glatte Fassade des zurückgesetzten Haupttraktes erinnerte Meisner an die in Berlin üblich gewordene Schuhkarton-Architektur - fehlten nur noch die spitzen Ecken. Da halfen auch die Säulen im Eingangsbereich nicht. Und die Seitenflügel wirkten kaum attraktiver. Hauptsache, den Hausherren aus Bonn gefiel der Bunker mit der geschliffenen Betonfassade.

Die Architektin hingegen war zweifellos eine sehr attraktive Dame aus dem Süddeutschen, und wahrscheinlich waren es ihre augenfällige Erscheinung und ihr davon bestimmtes Auftreten, die jedem Mann den Widerspruch gegen sie erschwerten, ja beinahe unmöglich machten. Es sei denn, man versuchte, sich in frotzelnd-kameradschaftlichem Ton mit ihr zu messen, was sie duldete, solange sie sich überlegen fühlte oder das Ganze als harmlose Anbaggerei abzutun bereit war. Dafür hatte sie etwas übrig. Allerdings nicht von einem kaum mittelgroßen alten Zausel wie Meisner, den seine Ehre als Bauingenieur und Mann der Praxis dazu zwang, ihr gelegentlich die Grenzen ihres bautechnischen Wissensstandes nachzuweisen. Also hatte es Meisner am Nachmittag unterlassen, P & H über die aufgetretenen Schwierigkeiten zu informieren. Das brachte ohnehin nichts. Er war hier der verantwortliche Bauleiter, niemand sonst. Und bis zum Morgen hatte der Sockel zu stehen. Basta.

Auf der Rüstung hinter dem Pfeiler rechts von dem für Meisners Geschmack ein wenig pompös geratenen Eingang war sein Sorgenkind Rocky dabei, zusammen mit einem jungen russischen Bauarbeiter den Rüssel der Mastpumpe in die Schalung zu hängen, als der Russe aufgeregt mit dem Arm zu winken begann und Rocky mit Stentorstimme „Halt, ihr Idioten!“ schrie, um im nächsten Atemzug auf seinen Kumpel einzublöken: „Nurejew, du blöder Hund! Was hast du da reingeschmissen?“

Der unverdientermaßen mit dem berühmten Solisten Verglichene, der in Wahrheit weder Russe noch Tänzer war, antwortete nicht, sondern ließ sich an den Bewehrungsstählen vorsichtig auf das Niveau der Betonsohle hinab und griff in die schon erstarrende Schlempe, in der etwas Dunkles aufschwamm, das da auf keinen Fall hineingehörte.

Meisner, sensibilisiert für Katastrophen, bemerkte sofort, dass am Pfeiler etwas vorging, das ihn weitere Minuten kosten konnte, rannte über eine Bohle durch eine der Wandöffnungen und kletterte auf die fahrbare Innenrüstung.

„Was ist denn los?“

Rocky, der eigentlich Hotte hieß und den alle Welt mit dem Kürzel des Boxers ansprach, der mit dem Mundwerk ebenso schnell und unkontrolliert reagierte wie mit den Fäusten, krähte: „Da hat irgend so ‘ne taube Sau seine Jacke reingetan oder so was.“

Tatsächlich hatte der Ausländer, ein stämmiger, blonder Kerl aus Litauen, einen Jackenschoß aus dem Beton gefischt und zog heftig daran. „Zu schwer!“, sagte er zu Rocky. „Du musst helfen.“

Nichts erschien Rocky widerwärtiger, als auf fremdländisches Geheiß in den frischen Beton zu steigen und das Zeug auch noch mit den Händen zu berühren. Doch Meisner drängte: „Nun macht schon. Ich möchte wenigstens Silvester zu Hause feiern.“

Der Blonde sprach recht gut Deutsch; der Sinn von Meisners grimmigem Scherz entging ihm dennoch. Er zerrte an der Wattejacke und hatte doch längst erkannt, dass mehr daran hing. Vielmehr drinhing. Ein Körper nämlich. Der Körper eines Toten.

Den Bauarbeiter fröstelte in der Abendkühle. „Wir brauchen Schaufel“, sagte er hilflos.

„Dann hol endlich eine!“, fuhr Rocky ihn an. Ihm war inzwischen auch klar geworden, was sich da im Beton verbarg. Weiter rechts sah es wie ein Bein und ein Gummistiefel aus. Verdammte Scheiße! Wie kam der hierher? Oder hatte sich jemand nur einen Scherz erlaubt und ein Bündel Altkleider in die Pampe getan? Den Ausländern war alles zuzutrauen, nach Rockys Meinung jedenfalls.

Es vergingen fast zwanzig Minuten, bis sie den Körper des Toten mit Mühe freigeschaufelt und mit noch mehr Mühe herausgezogen hatten. Die Leiche steckte seitwärts verdreht mit Kopf und Armen voran in dem mächtigen Pfeiler, und zu allem Übel hing sie in den Eisen fest. Da half keine Schaufel. Wahrlich kein Vergnügen, den dicht an das Stahlgeflecht gepressten Oberkörper freizulegen; eine Arbeit, die Rocky denn auch ohne zu zögern dem anderen überließ. Er selber zerrte immer wieder an den Beinen des Toten und bekam schließlich auch das linke frei. Der Gummistiefel, den der Mann getragen hatte, blieb im Beton. Rocky hatte nicht die Absicht, ihn auszugraben. Er buddelte ein bisschen um die Hüften herum und fühlte, als er dabei nach der Jacke griff, dass ein dickes Päckchen in der Tasche steckte. Er fasste hinein. Zu seiner Überraschung war die Jackentasche leer.

Rocky sah sich um. Niemand beobachtete ihn. Meisner war verschwunden, um die Polizei zu verständigen, und Nurejew wühlte am Kopf des Toten. Rocky hatte, wenn er es für nötig hielt, eine sehr zupackende Art. Rücksichtslos riss er das Futter der Jacke auf und fand auch richtig ein nahezu quadratisches weißes Päckchen, das sich verheißungsvoll anfühlte: ein zusammengefaltetes Kuvert, in dessen Fenster es nach Geld aussah, wenn Rocky nicht alles täuschte, und in Bezug auf Geld täuschte er sich seiten. Er schob den Umschlag in die Hemdtasche und spürte im gleichen Augenblick Nurejews Blick.

„Bist du endlich fertig!“, blaffte er.

Gemeinsam schafften sie es tatsächlich, den Toten aus seinem feuchten Grab zu befreien und über die Bewehrung auf die Rüstung zu bugsieren. Inzwischen war auch Meisner wieder da. Er richtete den Scheinwerfer auf die Gestalt zu ihren Füßen. Deren Gesicht und Hände waren völlig zerschunden, Haare und Kleidung unter der Betonschicht kaum zu erkennen.

„Den müssen wir abspülen“, sagte Rocky ungerührt.

Von unten bläkte der Betonkutscher, wann es denn nun endlich losginge, er setze die Ladung sonst einfach im nächsten Loch ab, bevor sie hart würde.

„Macht da drüben weiter!“, schrie der entnervte Meisner. „Hier muss erst mal die Polizei her.“

„Und bis die fertig sind, hat der Beton abgebunden“, ergänzte Rocky trocken.

Meisner sah ihn wütend an. Der Polizist am Telefon hatte etwas von „nichts verändern, bis wir kommen“ gesagt, aber wo dieses Großmaul Rocky recht hatte, hatte er nun mal recht. Die Polizei würde den Schaden nicht ersetzen, wenn ausgerechnet im vorderen tragenden Pfeiler ein solches Ding passierte.

„Also gut“, sagte er gepresst. „Habt ihr alles raus von dem hier?“ Er wies auf die vor ihnen liegende Gestalt.

„Bis auf den zweiten Gummistiefel“, sagte Rocky gefühllos. Nurejew hielt sich am Eisen fest und murmelte: „Mir ist nicht gut.“ Ganz in der Nähe erklang ein Martinshorn.

„Okay.“ Rocky erwies sich plötzlich als sehr hilfreich. „Ich muss auch mal runter. Und du verschwindest sowieso besser, bevor die Bullen kommen.“

„Ach, und wer hat den Toten gefunden und ausgebuddelt?“, wandte Meisner ein.

Rocky schob den Russen zur Leiter. „Na, wir beide doch, Herr Ingenieur. Oder etwa nicht?“

Meisner war ganz und gar nicht geheuer bei der Sache, aber sich mit der Polizei nicht nur über einen Toten im Fundament, sondern auch noch über Schwarzarbeiter auseinanderzusetzen, dazu fehlte ihm im Augenblick der Mumm. Es war schon rätselhaft genug, woher die Leiche überhaupt kam.

Genau das war die Frage, die den Kriminalkommissar Dietmar Timm, zuständig für Unnatürliche Todesfälle bei der Direktion Delikte am Menschen, besonders interessierte. Meisner fühlte sich unter Timms ungeduldigem Blick alles andere als wohl. Die Frage konnte er dennoch nicht beantworten.

In Timms kantigem Gesicht spiegelte sich der blanke Unglaube. „Sie sind hier der verantwortliche Bauleiter und merken nicht mal, wenn einer Ihrer Leute in den Beton fällt? Haben Sie wenigstens gezählt, ob einer fehlt?“

Er blickte über die von Scheinwerfern beleuchtete Baustelle, auf der gemäß Meisners strenger Anweisung gearbeitet wurde, als sei nichts geschehen. Über die durchnässte Leiche, die inzwischen von Rocky und zwei weiteren Kollegen ein paar Meter neben dem Fuß des Unglückspfeilers abgelegt worden war, hatte jemand eine Plastikplane geworfen.

Timm hob die Plane an und musterte den Toten, der die auf dem Bau übliche Arbeitskleidung trug. „Wer ist das?“, wollte er wissen. Meisner kam sich vor wie ein Lehrling, den hämische Kollegen nach dem Hohlmaß geschickt hatten. „Hier sind die verschiedensten Gewerke zugange ...“, sagte er, bemüht, nicht so unsicher zu klingen, wie er sich fühlte. „Alle möglichen Firmen und Subunternehmen. Man kann unmöglich auf jeden ein Auge haben.“

„Sie müssen doch aber wissen, wie viele Arbeiter ihre Schicht begonnen haben und wie viele davon jetzt noch anwesend sind.“ Meisner schüttelte den Kopf. „Genau das weiß ich nicht. Die Subunternehmer setzen ihre Leute ein, wie sie das für richtig halten.“ Er sah sich hilflos um, und dann brach es aus ihm heraus: „Das ist nicht mehr wie früher, verstehen Sie? Diese ganze Schlamperei mit den Ausländern zu Billiglöhnen, die noch dazu kein Wort Deutsch verstehen und überhaupt keine ausgebildeten Facharbeiter sind ...“ Er verstummte unter Timms durchdringendem Blick.

„Sie meinen also, es handelt sich bei dem Mann um einen ausländischen Mitarbeiter? Oder sagen wir es deutlicher: um einen Schwarzarbeiter?“

„Ich bin hier der verantwortliche Bauingenieur“, entgegnete Meisner gequält. „Ich bin dafür zuständig, dass die Beamten aus Bonn termingemäß ihre Arbeitsplätze vorfinden. Ich werde leider auch für die Arbeitsunfälle verantwortlich gemacht, die auf so einem Bau immer mal passieren. Aber ich bin weder für die Arbeitsverträge, Lohnfragen oder Passangelegenheiten noch für Arbeitserlaubnisse und Krankenversicherungen der verschiedenen Firmen zuständig. Die Betonarbeiten hat hier die Olympus GmbH erledigt, bis sie vor drei Wochen Pleite ging, und jetzt macht das irgendein Kölner Sub-Subunternehmen. Ich sage Ihnen gerne die Telefonnummer.“ Für einen wie Meisner war das eine lange Rede.

Timm nickte unzufrieden. „Na schön. Das klären wir später. Sie geben also an, den Mann nicht zu kennen?“

Jedem anderen hätte Meisner ins Gesicht geschrien: Ich gebe nicht an - ich kenne den Kerl wirklich nicht! Aber für einen solchen Aufschrei fühlte er sich im Augenblick zu müde, und dieser Timm war kaum der geeignete Partner zum Anbrüllen. Also nickte Meisner nur resigniert. Er fühlte sich hundeelend.

„Dann werde ich mir mal angucken, wo Sie die Leiche gefunden haben“, sagte der Kommissar. Und zu dem Fotografen gewandt: „Du kannst gleich mitkommen.“

An der Spitze der kleinen Karawane schritt Meisner durch den zurückgesetzten Eingangsbereich zum Ostflügel des Baus, um von innen die Rüstung am Pfeiler zu ersteigen. Oben war Rocky längst wieder mit dem Beton beschäftigt, der sich aus dem Rüssel des Transportfahrzeugs in die Schalung um das Eisengeflecht ergoss. „Da“, sagte Meisner. „Genau da, wo der Kollege jetzt steht.“

Timm musterte ihn verblüfft. „Sie haben einfach weiterarbeiten lassen? Passiert es jeden Tag, dass Sie Leichen im Beton finden?“ Langatmig versuchte Meisner, ihm zu erklären, was Zeitverzug und hohe Außentemperatur für die Verarbeitung von Fließbeton bedeuteten.

Timm blieb unbeeindruckt. „Sie haben hier einen tödlichen Arbeitsunfall gehabt, dessen Opfer anscheinend nur durch Zufall entdeckt wurde, und Sie haben nichts Eiligeres zu tun, als alle Spuren zu beseitigen. Ist das richtig?“

„Nein“, entgegnete Meisner matt. „Aber das wollen Sie ja sowieso nicht verstehen. Ich hoffe, die Architektin kann es Ihnen verständlich machen.“

„Haben Sie die informiert?“

Meisner schüttelte den Kopf. Der Gedanke, Frau Lässig-Domagalla aus dem Bett zu holen, war ihm noch gar nicht gekommen. Wie würde die auf den Toten reagieren? Wahrscheinlich war es zweckmäßiger, gleich den alten Planckh anzurufen. Oder noch besser, Heppener.

„Dann tun Sie das“, riet ihm Timm. „Wer hat denn nun den Toten gefunden?“

Meisner wies auf Rocky. Bis der Trudelbecher leer war, blieb der unabkömmlich. Das musste der Kommissar einsehen.

„Sie melden sich bitte sofort bei mir!“, brüllte er Rocky zu. Der nickte mit stumpfem Gesicht.

Heppener ging nicht ans Telefon, und Planckh wollte Meisner denn doch nicht belästigen. Weshalb nicht die lässige Frau Domagalla? Wer weiß, in wessen Armen sie gerade ruhte. Bei einer mit ihrem Aussehen fehlte es nicht an Vermutungen und Gerüchten, vom Wunschdenken ganz abgesehen.

Mareike Lässig-Domagalla meldete sich nach dem ersten Rufton und klang so frisch und energisch, als habe sie den neuen Tag gerade mit einem guten Frühstück begonnen.

„Was heißt, einen Toten im Beton gefunden? Drücken Sie sich bitte präzise aus, Herr Meisner. Was für einen Toten in welchem Beton?“ Meisner erklärte es ihr und fügte hinzu: „Am besten wäre es, Sie kämen hierher.“

„Was glauben Sie, was ich vorhabe? Ich bin in einer Viertelstunde vor Ort.“

Es vergingen fünfunddreißig Minuten, bis ihr feuerwehrroter Porsche durch den Staub heranfegte. Inzwischen hatte der Fotograf ein paar Bilder von dem Toten gemacht und Timm den Abtransport genehmigt. Als Rocky endlich aus dem Eingangsbereich trat, verstauten die Männer vom Transport den Körper gerade in einem Leichensack.

„Eigentlich müsste sich jeder hier auf der Baustelle den Mann angucken“, sagte der Fotograf. „Vielleicht kann ihn doch jemand identifizieren.“

Timm winkte ab. „Mehr als auf deinen Fotos ist ohnehin nicht von ihm zu erkennen“, sagte er und ging auf Rocky zu. „Sie haben also den Toten gefunden.“

„Das ist korrekt“, sagte Rocky, der sich anscheinend kein bisschen unsicher fühlte.

Meisner registrierte es mit Erleichterung. Rocky war ein ausgeschlafener Bursche. Manchmal ein bisschen zu ausgeschlafen und auf den eigenen Vorteil bedacht. Meisner ahnte, dass ihn die Kumpanei mit diesem Urbild eines flapsigen Bauarbeiters noch etwas kosten würde. Rocky, gebürtiger Berliner und im tiefsten Wedding zu Hause, war nicht der Typ, ohne Gegenleistung für einen Bauleiter jemanden anzulügen, und sei es nur die Polizei.