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Hans-Joachim Eckstein

Gesund im Glauben

Reihe: Grundlagen des Glaubens 4

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Siehe, ich will sie heilen und gesund machen
und will ihnen dauernden Frieden gewähren.

(Jer 33,6)

Herr, mein Gott, als ich schrie zu dir,
da machtest du mich gesund.

(Ps 30,3)

Ich will kommen und ihn gesund machen. –
Herr, ich bin nicht wert,
dass du unter mein Dach gehst,
sondern sprich nur ein Wort,
so wird mein Knecht gesund.

(Mt 8,7 f.)

Willst du gesund werden? –
Herr, ich habe keinen Menschen … –
Steh auf, nimm dein Bett und geh hin!
Und sogleich wurde der Mensch gesund
und nahm sein Bett und ging hin.

(Joh 5,6-9)

… damit sie gesund werden im Glauben.

(Tit 1,13)

Fürchte dich nicht, glaube nur!

(Mk 5,36)

Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt. –
Ich glaube; hilf meinem Unglauben!

(Mk 9,23 f.)

Dein Glaube hat dich gesund gemacht;
geh hin in Frieden und
sei gesund von deiner Plage!

(Mk 5,34)

Glaubt ihr, dass ich das tun kann? –
Ja, Herr. –
Euch geschehe nach eurem Glauben!

(Mt 9,28 f.)

Meine Gnade reicht für dich aus,
denn meine Kraft ist in der Schwachheit vollendet,
sie kommt in der Schwachheit an ihr Ziel!

(2. Kor 12,9)

VORWORT

Ein »gesunder Glaube« entfaltet eine Fülle lebensfördernder und beziehungsstärkender Impulse. Es gibt aber auch Formen von Religiosität, die nicht zur Bewältigung von Wirklichkeit und zur Entfaltung der Persönlichkeit beitragen, sondern eher lebensabträglich und zerstörerisch wirken. So stellt sich nicht nur die Frage, ob und wie der Glaube gesund macht, sondern für viele auch, wie der Glaube gesunden und sich lebensbejahend und beziehungsfähig entwickeln kann.

Heilt ein gesunder Glaube? Und kann der Glaube durch Heilen gesunden? Birgt ein gesunder Glaube in sich die Kraft, auch mit Schwachheit und Krankheit, mit Schuld und Vergänglichkeit versöhnt umzugehen? Was sind die Kriterien für einen gesunden Glauben? Was ist das Besondere an dem Glauben, der sich an Jesus Christus und an dem Gottesbild seines Evangeliums orientiert? All diese zentralen Fragen sollen gleich zu Beginn aufgenommen und grundlegend beantwortet werden.

Eines lässt sich schon auf den ersten Blick am christlichen Glauben erkennen; er bezieht sich auf eine Person, die infolge ihres liebevollen Einsatzes für die Kranken, die Zerschlagenen und Ausgegrenzten selbst nicht etwa Anerkennung und Bestätigung erfahren hat, sondern menschliche Ablehnung und Feindschaft bis hin zu ihrer Hinrichtung am Kreuz. Schon die ersten Christen verstanden das geheimnisvolle Schicksal Jesu in Kreuz und Auferstehung im Licht des eindrücklichen Liedes vom Gottesknecht in Jesaja 53: »Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen … und durch seine Wunden sind wir geheilt« (Jes 53,4 f.). Was bedeutet das »Wort vom Kreuz« für das Verständnis des Evangeliums von Jesus Christus, und was für das darin offengelegte Verständnis von Gott und von den Menschen?

Über Sünde und Vergebung sprechen wir als neuzeitliche Menschen ungefähr so gerne wie von den Dingen, die unserer leiblichen Gesundheit schaden und unser Leben einschränken – nämlich möglichst gar nicht. Dabei wäre die »Krankheit« der Sünde durch das im Evangelium zugesprochene Geschenk der Vergebung durchaus heilbar und ohne ungewollte Nebenwirkungen zu kurieren. Setzt die Gesundung von dem, was unser Leben einschränkt und unsere Kraft bindet, doch schon im Prozess der Genesung selbst ungeahnte Kräfte und verloren geglaubte Zuversicht frei. Allerdings bedarf es dazu zunächst einer genauen Aufklärung darüber, wie die »Sünde« – jenseits aller Klischees und Vorbehalte – aus der Perspektive des Evangeliums zu verstehen und zu überwinden ist.

Es mag manche überraschen, dass sich die Rede vom »Gesunden im Glauben« (Tit 1,13) im Neuen Testament zunächst und zentral auf die »gesunde« Lehre und Verkündigung bezieht – und damit auf Wort und Verstand, auf Reden und Denken.1 In der Tat sind wir als Menschen bei all unseren Entscheidungen, Handlungen und Gefühlen von unseren Vorverständnissen, Denkmustern und inneren Botschaften viel mehr bestimmt, als wir es uns bewusst machen und eingestehen. Als eine der grundlegenden Aufgaben einer an Christus orientierten und heilsamen »Lehre von Gott« gilt die saubere »theo-logische« Unterscheidung und Klärung der beiden so verschieden wirkenden Größen »Gesetz« und »Evangelium«. Sosehr eine »gesetzlich« missverstandene Frömmigkeit auch krank machen kann, sosehr lohnt die befreiende und heilsame Wirkung des Evangeliums in jedem Fall die Mühe der gedanklichen Durchdringung.

Die Erfahrung der Befreiung und Erlösung soll den Einzelnen in seinem persönlichen Glauben erfassen; zugleich wird die gesundende Wirkung des Glaubens gerade auch in zwischenmenschlichen Beziehungen erfahren und entfaltet. Wir sind zur Beziehung mit Gott und miteinander geschaffen, und wir werden darin heil und ganz, dass Christus in uns und untereinander diese Vertrauensbeziehung neu begründet. Damit stellt sich abschließend die Frage, wie die Gemeinschaft, Gemeinde und Kirche zu verstehen ist, die als von Christus belebt in ihren vielen Gliedern Christi Leib bildet.

Wenn wir Glaube als diese vertrauensvolle Beziehung selbst verstehen, die Christus in uns hervorruft und weckt, wird verständlich, dass uns dieser Glaube heilt und rettet. Die folgenden Beiträge wollen aus ihrer jeweiligen Perspektive zu dieser Lebenszuversicht und Beziehungsgewissheit eines gesunden Glaubens einladen.

Hans-Joachim Eckstein

GESUNDEN IM GLAUBEN

LIEBE ALS LEBEN – SCHWACHHEIT ALS STÄRKE

HEILSAMER GLAUBE – GESUNDEN DES GLAUBENS?

Mit der Formulierung unseres Themas »Gesunden im Glauben« kommen gleich zwei verschiedene Gesichtspunkte in den Blick. Wir mögen die Hoffnung vor Augen haben, dass der Glaube von Krankheiten heilen und die Erkrankten gesund machen kann – gemäß der bekannten Zusage: »Dein Glaube hat dich geheilt!« Oder wir erwarten eine Betrachtung darüber, wie der Glaube selbst gesunden soll, wie ungesunde und lebensabträgliche Momente unserer Religiosität erkannt und geheilt werden können. Ob wir also an die Heilung durch Glauben denken oder an den Gesundungsprozess des Glaubens – in jedem Fall wird es darum gehen, wie sich Glaube und Gesundheit zueinander positiv verhalten mögen.

Ein »gesunder« und am Evangelium von Jesus Christus orientierter Glaube entfaltet gewiss eine Fülle lebensfördernder und beziehungsstärkender Impulse. Es gibt aber offensichtlich auch Formen von Religiosität und Frömmigkeit, die nicht zur Bewältigung von Wirklichkeit und zur Entfaltung der Persönlichkeit beitragen, sondern eher lebensabträglich und selbstzerstörerisch wirken. Es kommt vor, dass jemand nicht nur trotz seines Glaubens körperlich oder seelisch erkrankt, sondern gerade durch die Art seiner Frömmigkeit. So stellt sich in der Tat nicht nur die Frage, ob und wie der Glaube gesund macht, sondern für viele auch die, wie der eigene Glaube gesunden kann.

Was sind die Kriterien für ein Gesunden im Glauben? Was ist das Besondere an dem Glauben, der sich an Jesus Christus und dem neutestamentlichen Gottesbild orientiert? Gesundet der Glaube durch Heilung und heilt ein gesunder Glaube? Birgt ein gesunder Glaube in sich die Kraft, auch mit Schwachheit und Krankheit – oder sogar mit der Perspektive des eigenen Sterbens – versöhnt umzugehen?

WOHER WIR UNS VERSTEHEN

Wie so oft bei Themen des Glaubens und des Lebens beginnt alles mit der Frage nach dem Verständnis von Gott. Denn ganz grundlegend für unseren Glauben und für unsere Lebensentfaltung ist unsere Vorstellung von Gott und seinem Wesen, von seiner Einstellung zu uns und seinem Wirken an uns. Sogar wenn wir uns selbst gar nicht als religiös oder gläubig bezeichnen würden, haben wir dennoch bestimmte Vorstellungen von der Grundlage und dem Ziel unseres Lebens. Wir nehmen uns selbst und die gesamte Wirklichkeit nach uns prägenden Voraussetzungen und Grundbotschaften wahr. So ist es für uns in allen Lebensbezügen von größter Bedeutung, woher wir uns verstehen.

Nun können unsere »Gottesbilder« natürlich durch alle möglichen religiösen Vorstellungen und Erfahrungen mit menschlichen Autoritäten geprägt sein. Ob wir es wahrnehmen oder nicht, werden wir nämlich seit unserer frühesten Kindheit unwillkürlich durch unsere Herkunft und den Einfluss anderer Menschen geformt. Wir erleben und gestalten unsere Gegenwart aufgrund unserer Erfahrungen in der Vergangenheit. Und unsere Erwartung des Kommenden ist nicht nur durch unsere mögliche Zukunft bestimmt, sondern vor allem durch unsere prägende Vergangenheit und bisherige Gegenwart. Umso wichtiger ist es für das christliche Verständnis von Gott, dass es sich nicht nur an irgendwelchen Vorstellungen orientiert, sondern nach der »Selbst-Vorstellung« Gottes fragt, wie sie vom Glauben in der biblischen Überlieferung wahrgenommen wird. Der Glaube will sich nicht länger von inneren und äußeren Prägungen und Botschaften seiner bisherigen Lebenserfahrung abhängig machen. Der Glaube will sich vielmehr ganz bewusst von der – vielleicht aller bisherigen Erfahrung widersprechenden – »Guten Botschaft« Gottes heilsam bestimmen lassen, wie er sie in dem Evangelium von Jesus Christus erfasst.

»ICH BIN DER HERR, DEIN ARZT«

Schon auf den ersten Blick erschließt sich jedem Leser, dass das Thema des »Heilens« und des »Gesundens« in den biblischen Texten von zentraler Bedeutung ist. Die Motive der »Rettung«, der »Erlösung« und des »Heils« ziehen sich als ein roter Faden durch die ganze biblische Überlieferung. Dies gilt sowohl im Hinblick auf die Erinnerung an die heilvoll erlebte Vergangenheit als auch für die Wahrnehmung der Erlösung und Bewahrung in der Gegenwart. Selbst die Erwartungen der Vollendung des eigenen Lebens und der gesamten Schöpfung und Menschheitsgeschichte werden noch im Licht der Verheißungen des endgültigen Heilens und Erlösens Gottes gesehen. Die Selbstvorstellung Gottes gegenüber seinen Menschen könnte gar nicht prägnanter wiedergegeben werden als mit der Zusage Gottes an sein Volk in 2. Mose 15,26: »Denn ich bin der Herr, dein Arzt!«

So spricht Gott dem in Schuld, Leid und Unheil verfangenen Israel durch den Propheten Jesaja zu: »Stärkt die müden Hände und macht fest die wankenden Knie! Sagt den verzagten Herzen: ›Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott! Er kommt zur Vergeltung; Gott, der da vergilt, kommt und wird euch helfen.‹ Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden. Dann werden die Lahmen springen wie ein Hirsch, und die Zunge der Stummen wird frohlocken. … Die Erlösten des Herrn werden wiederkommen und nach Zion kommen mit Jauchzen; ewige Freude wird über ihrem Haupte sein; Freude und Wonne werden sie ergreifen und Schmerz und Seufzen wird entfliehen« (Jes 35,3-6.10). Anschaulicher kann man die überwältigende Erfahrung der Erlösung von Leid und Schmerzen kaum ausmalen. Das kommende Heil Gottes soll sich also darin konkretisieren, dass Gott die Verzagten trösten, die Seufzenden mit Freude erfüllen und die Kranken heilen möchte.

Was bei Jesaja als zukünftige Lebensperspektive verkündet werden soll, wird in der Gewissheit mancher Psalmen wie eine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfassende Zuversicht des Vertrauens entfaltet. So ruft der 103. Psalm zu einem in Gottes umfassender Barmherzigkeit und Güte begründeten Loben als Ausdruck der Geborgenheit auf: »Lobe den Herrn, meine Seele, und was in mir ist, seinen heiligen Namen! Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat: der dir alle deine Sünde vergibt und heilet alle deine Gebrechen, der dein Leben vom Verderben erlöst, der dich krönet mit Gnade und Barmherzigkeit, der deinen Mund fröhlich macht, und du wieder jung wirst wie ein Adler« (Ps 103,1-5).

Wenn wir danach fragen, woher sich der Beter dieses Psalms versteht, fällt die Antwort leicht: Er versteht sich von dem Gott her, der sich wie ein Vater über seine Kinder erbarmt (V. 13), der seine Gnade so überragend über denen bestehen und wirken lässt, wie der Himmel über der Erde ist (V. 11). Dabei zeigt sich die große Güte und Geduld dieses fürsorglichen Gottes auch darin, dass sie die menschliche Vergänglichkeit, Krankheit und Fehlbarkeit nicht etwa ausblenden muss, sondern gerade voraussetzt und vergebungsbereit heilt. Die Hinfälligkeit und Endlichkeit des Menschen lässt für den staunenden Beter sogar die Unverbrüchlichkeit der Treue Gottes umso rühmenswerter erscheinen: »Die Gnade aber des Herrn währt von Ewigkeit zu Ewigkeit über denen, die ihn fürchten« (V. 17). Wer Gott lobt, weiß sich gerade angesichts seiner eigenen Unzulänglichkeit und Begrenztheit in Gottes umgreifender Zuwendung und Treue geborgen.

»FÜRWAHR, ER TRUG UNSERE KRANKHEIT«

Sosehr die Zeugen des Neuen Testaments sich einerseits in Kontinuität zu Gottes Reden und Handeln gegenüber dem Volk Israel verstehen, sosehr sehen sie mit Christus doch eine heilsgeschichtlich und offenbarungsgeschichtlich grundlegend neue Zeit gekommen: In seinem Sohn hat sich Gott in letztgültiger Weise offenbart, sodass Jesu Wirken, Sterben und Auferstehen als die Erfüllung der vorangegangenen Verheißungen und die Vollendung der bisherigen Heilsgeschichte erkannt werden können.

So beginnt das öffentliche Wirken Jesu nach dem ältesten Evangelium mit den programmatischen Worten Jesu: »Die Zeit ist erfüllt und die Königsherrschaft Gottes ist gekommen – d. h.: sie ist da. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!« (Mk 1,15). Hier wird nicht nur von dem nahen Bevorstehen der heilvollen Gottesherrschaft gesprochen, sondern bereits von seinem Dasein, seinem gegenwärtigen Angebrochensein in der Person und dem Wirken Jesu.2 Angesichts dieses Erfüllungsanspruchs der »Guten Nachricht« von Gottes Offenbarsein und Gegenwart in Jesus Christus kann es nicht überraschen, dass dessen Wirken nicht nur durch seine vollmächtige Verkündigung und Lehre bestimmt sind (Mk 1,22.27), sondern ganz ausdrücklich durch sein Heilen von Krankheiten3, sein Befreien von Belastung und Besessenheit4 sowie durch sein Gewähren von Zuwendung und Vergeben von Sünden5: »Die Starken bedürfen keines Arztes, sondern die Kranken. Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten« (Mk 2,17). So heilt Jesus einen Gelähmten in Kapernaum, indem er ihm – gleichsam als Erfüllung von Psalm 103,3 – zunächst alle seine Sünden vergibt und damit verbunden alle seine Gebrechen heilt (Mk 2,1-12). Die Augenzeugen der Heilungen Jesu können mit Bezug auf Gottes gute Schöpfung und auf die Heilsverheißung durch Jesaja nur verwundert bestätigen: »Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hörend und Sprachlose redend« (Mk 7,37).

Dabei kommen zwei Aspekte des heilenden Wirkens Jesu besonders in den Blick. Erstens ist es die gegenwärtige Wirklichkeit der Heilserfahrung im Wirken Jesu: »Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren« (Lk 4,21), lautet Jesu prägnante Predigt in Nazareth nach der Verlesung der Heilsworte aus Jesaja 61,1 f. Die Befreiung von dämonischen Belastungen und Besessenheiten gilt als eindeutiger Erweis dafür, dass die heilvolle Königsherrschaft Gottes bereits wirksam erschienen und gegenwärtig ist (Lk 11,20; Mt 12,28).

Zweitens ist offensichtlich, dass das Gesunden im Glauben den Menschen ganzheitlich meint. Der Gelähmte erfährt zugleich die Vergebung seiner Sünden wie die Heilung von seiner leiblichen Lähmung (Mk 2,1-12). Der Aussätzige wird sowohl leiblich von seiner Krankheit geheilt als auch sozial wieder in die Gemeinschaft aufgenommen, von der er durch seine Unreinheit ausgegrenzt war (Mk 1,40-45). Der Blinde Bartimäus bekommt durch Jesus nicht nur sein leibliches Augenlicht geschenkt, sondern er darf ihm fortan zugleich auf dessen Weg als Jünger sehenden Auges nachfolgen (Mk 10,46-52).6 Im Fall von Levi und den anderen Zöllnern und Sündern geht es bei ihrer Begegnung mit Jesus als »dem Arzt« gar nicht um eine offensichtliche leibliche Krankheit, sondern um ihr Geheiltwerden in ihrer Gottesbeziehung und in ihren Selbst- und Sozialbezügen (Mk 2,13-17). Wir könnten sagen: Es handelt sich um eine ganzheitliche Heilung, um Heiligung und Bewahrung des Menschen in all seinen Bezügen und nach allen Aspekten – d. h. nach »Leib, Seele und Geist« (1. Thess 5,23).

Dem entspricht es, dass der neutestamentliche Begriff für »Heil« nicht auf eine einzelne Bedeutungsfacette festzulegen bzw. zu beschränken ist. »Heil« bedeutet sowohl »Rettung« wie »Heilung« wie »Bewahrung« – Rettung aus der bisherigen Not und Bindung, gegenwärtige Heilung von einer Krankheit sowie Bewahrung vor zukünftiger Gefährdung und Bedrohung. Und der umfassend zu übersetzende Zuspruch: »Dein Glaube hat dich geheilt / dich gerettet / dir geholfen«7 beinhaltet sowohl die umfängliche Gesundung des Angesprochenen wie vor allem auch seine endgültige und für alle Ewigkeit gültige Rettung in der bleibenden Gemeinschaft mit Gott. Es geht bei der Zuwendung Jesu in dieser Zusage gegenüber Kranken, Zerschlagenen und Gebeugten zugleich um Heilung von konkreter Not wie auch um die umfängliche Rettung zu einem ewigen Leben in der Gottesgemeinschaft.

Bei einem solch umfassenden Verständnis von Rettung, Heilung und Bewahrung des Menschen durch das Verkündigen und Wirken Jesu im Hier und Jetzt der Begegnung mit ihm wird verständlich, warum Jesus nach Lukas 4,14 ff. verkünden kann, dass die gute Botschaft von Jesaja 61,1 f. im Heute seiner Gegenwart erfüllt ist: »Der Geist des Herrn ist auf mir, darum weil er mich gesalbt hat, zu verkündigen das Evangelium den Armen; er hat mich gesandt, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und den Zerschlagenen, dass sie frei und ledig sein sollen, zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.« In ihm – dem um der Schwachen, Kranken und Sünder willen gekommenen Arzt – erkannten auch schon die Evangelisten den geheimnisvollen Gottesknecht, von dem das 4. Gottesknechtlied in Jesaja 52,13 – 53,12 bekennt: »Er hat unsre Schwachheiten auf sich genommen, und unsre Krankheit hat er getragen« (Mt 8,17; Jes 53,4).

Es mag sein, dass die Bedeutung der Heilungen und des Gesundens im Glauben in Kirche und Wissenschaft, in Verkündigung und Forschung lange Zeit eher vernachlässigt wurde. Es steht aber außer Frage, dass das Wirken Jesu und der Anbruch der Königsherrschaft Gottes in ihm sich nach allen Evangelien ganz zentral als Heilen, Retten und Bewahren der Kranken, Gebundenen und Niedergeschlagenen entfaltet haben.8

DIE GABE, GESUND ZU MACHEN

Nun könnten wir einwenden, dass die Zeit, in der Jesus als der Sohn Gottes leiblich auf dieser Erde war, im Neuen Testament als ganz herausgehoben und unvergleichlich verstanden und beschrieben wird. Ist das Zeitalter der frühen Gemeinden und das der Kirche nicht prinzipiell von dieser einmaligen Heilszeit zu unterscheiden und zu trennen? Ganz unbestreitbar sind wir heute auf das Zeugnis derer angewiesen, die den irdischen Jesus selbst begleiten konnten, ihn als Auferstandenen sehen durften und von ihm das Evangelium und ihre besondere Beauftragung persönlich empfangen haben. Zweifellos versteht sich die Gemeinde Jesu Christi seit ihren Anfängen als die Schar derer, die seit dem Abschied von ihrem Herrn nach Ostern nun auf sein abermaliges Kommen wartet und ihm und mit ihm ihrer eigenen Vollendung, Erlösung und endgültigen Rettung entgegenzieht. Aber im Neuen Testament wird durchaus auch für die Zeit der frühen christlichen Gemeinden vorausgesetzt, dass es neben der Beauftragung der Glauben weckenden Verkündigung durch Apostel, neben der ermunternden und ermahnenden Verkündigung durch Propheten und neben der grundlegenden und vertiefenden Unterrichtung im Glauben durch Lehrer auch die spezielle Gabe gibt, gesund zu machen: »Und Gott hat in der Gemeinde eingesetzt erstens Apostel, zweitens Propheten, drittens Lehrer, dann Wundertäter, dann Gaben, gesund zu machen, zu helfen, zu leiten und mancherlei Zungenrede« (1. Kor 12,28; vgl.V. 9.30).

Paulus selbst, der als Apostel der Heiden in ganz herausgehobener Weise zur Glauben weckenden Verkündigung des Evangeliums berufen und begabt war, wurde vom Auferstandenen offensichtlich zugleich und begleitend dazu gebraucht, durch »Wort und Werk« – d. h. »in der Kraft von Zeichen und Wundern und in der Kraft des Geistes Gottes« – Glauben zu wecken und Heil umfassend zuzusprechen (Röm 15,18 f.). So kann er die zweifelnden Korinther auch an seine eigene Gabe, gesund zu machen, erinnern: »Es sind ja die Zeichen eines Apostels unter euch geschehen in aller Geduld, mit Zeichen und mit Wundern und mit Taten« (2. Kor 12,12).9

»DEIN GLAUBE HAT DICH GEHEILT!«

Nicht nur im Hinblick auf unsere heutige Verlegenheit, sondern ganz grundsätzlich und bereits für die Schriften des Neuen Testaments selbst stellt sich damit die entscheidende Frage, wie der Zusammenhang von Glaube und Heilung näher zu bestimmen ist. Ob wir den Ausdruck zurückhaltend mit »helfen« übersetzen oder eindeutiger mit »heilen« und »retten« – was ist das für ein Glaube, dem eine so lebens-, heils- und beziehungsfördernde Wirkung zugesprochen wird? Gilt dies für jede Form von Glauben – ganz unabhängig vom konkreten Inhalt? Genügt es, einen starken Willen und die Kraft des positiven Denkens zu haben, um das hier Gemeinte zu erfahren? Müssen wir nur fest genug daran glauben, um in jedem Fall geheilt zu werden? Und wenn Angehörige oder wir selbst trotz allen Gebetes nicht geheilt werden, haben wir dann nicht genug Glauben aufgebracht oder haben wir Gottes Voraussetzungen und Erwartungen an uns nicht erfüllt?

Bei all diesen offenen Fragen gilt es wohl zunächst zu klären, was die ersten Christen – was vor allem der Kronzeuge des Glaubensbegriffs im Neuen Testament, Paulus, – genau unter »Glaube« verstanden haben. Wie sind Bedeutung und Wesensmerkmal dieses Zentralbegriffs der neutestamentlichen Theologie und Verkündigung präzise zu bestimmen? Denn nur, wenn es gelingt, den vorausgesetzten Glauben zutreffend zu erfassen, kann auch der heilvolle Zusammenhang eines Gesundens durch Glauben und eines Gesundens im Glauben nachvollzogen werden.10

HEISST GLAUBEN NICHT WISSEN?

Umgangssprachlich wird der Begriff »glauben« häufig gebraucht, um hervorzuheben, dass sich etwas nur »annehmen« und »vermuten«, aber eben gerade nicht mit Gewissheit sagen lässt – wie in der Redewendung: »Glauben heißt nicht wissen.« Im Neuen Testament hingegen wird eine Erkenntnis nicht etwa deshalb als Glaubensaussage bezeichnet, weil ihr Wahrheitsgehalt dem Bekenner ungewiss oder zweifelhaft wäre. Der Glaubende darf sich seiner Überzeugung durchaus gewiss sein. Was seine Glaubenserkenntnis vom sonstigen menschlichen Wissen unterscheidet, ist nicht etwa ein Mangel an Gewissheit, sondern lediglich die Weise, in der diese Gewissheit zustande kommt.

Sehr geläufig ist somit erstens die Wendung »glauben, dass …« in der Bedeutung »für wahr halten«. Hier ist der Glaube also konkret auf einen Glaubensinhalt bezogen, er bezeichnet etwas, das geglaubt wird. Die Geretteten »glauben, dass Jesus gestorben und auferstanden ist« (1. Thess 4,14), »glauben, dass Gott Jesus von den Toten auferweckt hat« (Röm 10,9). In diesem Sinne lässt sich der Inhalt des Glaubens auch von Beginn an in Bekenntnissen formulieren – wie wir in unseren Gottesdiensten bis heute das Apostolische Glaubensbekenntnis gemeinsam bekennen. So wurde den Korinthern nach 1. Korinther 15 in der Verkündigung bezeugt und so haben sie geglaubt (V. 11), »dass Christus gestorben ist für unsre Sünden nach der Schrift und dass er begraben worden ist; und dass er auferstanden ist am dritten Tage nach der Schrift; und dass er erschienen ist Kephas, dann den Zwölfen« (1. Kor 15,3-5). In diesem Sinne fragt Jesus nach Matthäus 9,28 auch die beiden Blinden, die ihn um sein Erbarmen bitten: »Glaubt ihr, dass ich das tun kann?« Und er heilt sie, als sie seine Frage bejahen, mit der Zusage: »Euch geschehe nach eurem Glauben!« (Mt 9,29).

Dabei kommt es zum Glauben an Gottes Existenz, an seine Zuwendung und sein Handeln nicht aufgrund von »Beweisen« und »eigenen Erfahrungen«, sondern vielmehr dadurch, dass der Mensch von Gott angesprochen und das Evangelium von Christus ihm zugesprochen wird. Der Glaubende wird von der Wahrheit des Evangeliums überzeugt, ohne dass er selbst Zeuge der beschriebenen Ereignisse gewesen sein muss. Er kann sich darauf einlassen und verlassen, ohne dass er sie wie andere Tatsachen seines Lebens persönlich nachprüfen und belegen könnte. So versteht auch Paulus als Gegensatz zum »Glauben« nicht etwa das »Wissen«, denn der Glaube ist von Wissen, Erkenntnis und Gewissheit erfüllt – er würde in diesem Sinne wohl eher formulieren: »Glauben heißt wissen!« Für ihn besteht der Gegensatz zum gegenwärtigen Glauben der Christen vielmehr im zukünftigen »Schauen« – in der »Anschaulichkeit«, »dem Sichtbaren« der für uns noch zukünftigen himmlischen Welt. »Denn wir wandeln im Glauben und nicht im Schauen, im Sichtbaren« (2. Kor 5,7). Damit bedeutet Glauben, sich an das zu halten, was man nicht sieht, als würde man es sehen.

Die Glaubenden sind also durchaus davon überzeugt, dass Gott ist und dass er für sie ist; aber sie können dieses Wissen nicht aus der Geschichte und Erfahrung – unabhängig und außerhalb von Christus – ableiten. Sie können ihre Glaubensüberzeugung anderen gegenüber wohl bezeugen und vernünftig erklären, aber eben nicht »beweisen«. Wüssten sie nicht von Gottes Selbstvorstellung und Reden in Christus – von der Verkündigung und dem Wirken Jesu Christi, von seiner Lebenshingabe für uns und seiner Auferstehung –, dann blieben ihre Erkenntnis von Gott und ihre Erfahrung mit der Welt und mit dem eigenen Glauben mehrdeutig und widersprüchlich – und damit gerade nicht vertrauenserweckend und Glauben gründend.

Infolge der Zusage des Evangeliums Jesu Christi hingegen vertrauen sie fest darauf, dass sich Gott dieser widersprüchlichen  Hoffnung