cover.jpg

img1.jpg

 

Zweiter Band der Polychora-Trilogie

 

Kommandofehler

 

von Rüdiger Schäfer

 

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

Kleines Who is Who

 

Aamaka Cugota – die ferronische USO-Spezialistin stellt die Standardfrage

Aiman Kathibi – ein werdender Vater wird zum ersten Opfer des Wahnsinnigen

Aliken Hantoon – eine »Tote« erzählt Atlan eine lange Geschichte.

Angen-Math – der eitragende Wanderer bewahrt seine Geheimnisse

Atlan – der Lordadmiral der USO jagt einen übermächtigen Gegner – und wird selbst zur Beute

Bep Faruss – die terranische USO-Spezialistin bereut nichts

Daniel Pherson, Osmooth Alerin und Varen Thorik – die Mitglieder der Abteilung A912 müssen alles riskieren

Das Orakel – die Bewusstseinskopie verliert erneut ihren Körper

Denzen Hesper und Ganus a That – Tipa Riordans Wissenschaftler sind auf der Flucht

Ernesto Kalafarr – der Kommandant der WAV-E wird zum Anführer der Überlebenden

Faun Malkovoch – Tipa Riordans Erster Wesir macht die schlimmste Erfahrung seines Lebens

Galverin Schmidt – der Herr des Quantenschaums will Polychora retten

Harl Dephin – der Chef des Thunderbolt-Teams führt eine mächtige Waffe ins Feld

Harlon Darter – der Siganese erfüllt sich einen Kindheitstraum

Hoyka Kah – die USO-Generalin muss in eine Bitterbeere beißen

Lemut Halet – der junge ertrusische USO-Kadett erlebt die Härte des Einsatzes

Menning Harkness und Regg Cooper – zwei USO-Spezialisten auf gefährlicher Erkundungsmission

Mohai Barras – ein junger Mann glaubt an die feurige Wiedergeburt

Persher Gust, Satran Kalandaar und Silana tar Kosh – ihre Gabe wird ihnen zum Verhängnis

Pertar Almoth – der USO-Spezialist hat immer einen flotten Spruch auf den Lippen

Rulan Karkeron – der Chef der Abteilung A912 trifft eine folgenschwere Entscheidung

Tarquosch – die »Krücke« zeigt ihr wahres Gesicht

Tengit Smolin – der Wissenschaftler schließt Bekanntschaft mit dem Glitter

Tipa Riordan – die Piratin verliert nicht gern die Kontrolle – und erst recht nicht ihren Stock

Vernil Grosz – der terranische Offizier ordnet sich unter

Kapitel 1

 

9. September 3126

Maikora, Maiko-System

 

»Da kommt eine ganze Korvettenladung Ärger auf uns zu, Sir!«

Die Stimme Pertar Almoths klang verzerrt. Immer wieder wurde die Verbindung von atmosphärischen Störungen unterbrochen. Rulan Karkeron regulierte zum wiederholten Mal die Einstellungen seines Helmempfängers. Kaum mehr als eine Geste der Hilflosigkeit, denn er wusste ja, dass er damit keine Verbesserung der Kommunikation erreichen würde. Der Magnetsturm, der seit rund zwölf Stunden die Ionosphäre des Planeten in Aufruhr versetzte, war durch eine massive Sonneneruption ausgelöst worden und stand kurz vor seinem Höhepunkt. Noch zögerte der Oxtorner, seinen Leuten das Umschalten auf Hyperfunk zu befehlen. Die Lage war unübersichtlich. Man wusste nicht genau, auf welche Ressourcen der Gegner zurückgreifen konnte, und wenn ihr Stoßtrupp zu früh angemessen wurde, war es möglich, dass die Situation sehr schnell eskalierte.

»Geht das vielleicht auch etwas genauer, Korporal?«

Almoth blieb die Schärfe im Tonfall seines Vorgesetzten offenbar nicht verborgen. Außerdem sprach dieser ihn nur dann mit seinem militärischen Rang an, wenn er es ernst meinte – oder stinksauer war. Pertar Almoths Antwort kam schnell und präzise.

»Roboter, Sir. Mindestens fünf, aber die Messwerte des Umgebungsscanners sind nicht verlässlich. Ich tippe eher auf zehn bis zwanzig. Wenn ich vom üblichen Normradius ausgehe, dürften sie uns in unter zwei Minuten erfassen.«

Karkeron fluchte stumm vor sich hin. Ein Blick auf die Daten der Passivortung verriet ihm, dass sie noch mindestens vier Kilometer von ihrem Ziel entfernt waren. Zwar erlaubten die schweren Kampfmonturen ihm und seinem Team, diese Strecke problemlos in der geforderten Zeit zurückzulegen, doch die Energie, die dafür von den Mikrofusionsmeilern in den Rückentornistern erzeugt werden musste, hätte sie auf der Stelle verraten.

»Die können doch unmöglich wissen, dass wir hier sind«, sagte Pertar Almoth.

»Komm sofort zurück zum Sammelpunkt!« Der Oxtorner ging nicht auf die Äußerung des Korporals ein. »Das gilt auch für alle anderen. Wir werden uns tot stellen.«

»Ist das Ihr Ernst, Sir?«, fragte Daniel Pherson, sonst ein eher wortkarger Vertreter seiner Art.

»Ihr habt dreißig Sekunden«, gab Karkeron zurück. »Wer dann nicht da ist, putzt die Latrinen im Mannschaftsquartier auf Quinto-Center. Und zwar mit einer siganesischen Zahnbürste!«

Der Oxtorner verringerte die künstliche Schwerkraft auf 2,4 Gravos und rannte los. Jede weitere Anweisung erübrigte sich, denn bei den Mitgliedern der Abteilung A912 handelte es sich ausnahmslos um umfassend ausgebildete und erfahrene USO-Spezialisten – handverlesen und von ihm persönlich auf Herz und Nieren geprüft. Jedem von ihnen war klar, dass sich die Benutzung der Fluggeräte von selbst verbot. Mit den Robotern im Anflug stieg die Gefahr einer Entdeckung ohnehin auf ein nicht mehr tolerierbares Maß. Selbst das Aktivieren der Antigravs war ein kaum zu kalkulierendes Risiko, doch anders war die Strecke in der verfügbaren Zeit nicht zu schaffen.

Rulan Karkeron blies der Wind wirbelnde Schneeflocken entgegen. Der USO-Captain eilte mit weiten Sprüngen über ein karges Felsplateau. Die im Vergleich zu seiner Heimatwelt auf die Hälfte reduzierte Schwerkraft verlieh ihm dabei ein beachtliches Tempo. Immer wieder versuchten Windböen ihn vom Kurs abzubringen, doch der wuchtige Oxtorner glich die teils heftigen Stöße geschickt aus.

Maikora war eine ungemütliche Welt. Fast vollständig von einer kilometerdicken Eisschicht bedeckt, zog sie ihre einsame Bahn in durchschnittlich drei Milliarden Kilometern Abstand um ihre Sonne. Diese war in den Katalogen der raumfahrenden Milchstraßenvölker als MRK-366, Eigenname Maiko verzeichnet, und wies als typischer Vertreter der G-Klasse nur einen geringfügig größeren Durchmesser als Sol auf.

Rulan Karkeron hatte den von Pertar Almoth abfällig als Schneeball bezeichneten Zwergplaneten vom ersten Augenblick an gemocht, auch wenn er von einigen besonders üblen Vertretern der galaktischen Unterwelt als Zuflucht missbraucht wurde. Kälte hatte dem Oxtorner noch nie viel ausgemacht, und die schroffe Lebensfeindlichkeit Maikoras vermittelte ihm eine tiefe Ruhe, jene kostbare Art von Gelassenheit, die er in seinem Beruf nur selten erfuhr.

Karkeron konzentrierte sich wieder auf die vor ihm liegenden Probleme. Es ging – wie so häufig in letzter Zeit – gegen die Weiße Brigade. Seit der Festnahme der Ertruserin Seena Belt, die unter ihrem Spitznamen Shylock die Geschicke dieser Verbrecherorganisation viele Jahre lang geleitet hatte, war das von der skrupellosen Frau errichtete Imperium nicht etwa zusammengebrochen, sondern geradezu aufgeblüht. Nicht wenige behaupteten, dass Belt ihr kriminelles Reich inzwischen aus ihrer Zelle im Staatsgefängnis von Baretus heraus steuerte und dort lebte wie eine Königin.

Karkeron hatte den streng geheimen USO-Bericht über die Ereignisse im Juni 3114 gelesen. Lordadmiral Atlan selbst hatte sich damals im Rahmen eines Einsatzes auf dem Zentralplaneten des Carsualschen Bundes aufgehalten und war in die Gewalt Shylocks geraten. Nur das Eingreifen der geheimnisvollen Trilith Okt hatte Schlimmeres verhindert und schließlich zur Verhaftung von Seena Belt geführt. Offiziell hatten freilich die ertrusischen Behörden die Lorbeeren geerntet, denn das Bekanntwerden von Atlans heimlicher Anwesenheit auf Ertrus hätte ein beispielloses politisches Beben ausgelöst. Die aus diesem Vorfall resultierenden Ereignisse hatten schließlich zur Beilegung der sogenannten Illochim-Krise geführt. Das Schemawesen Trilith Okt war seit diesen schicksalhaften Tagen einmal mehr untergetaucht und nicht mehr aufzufinden.

In den letzten Jahren hatten Karkeron und die Frauen und Männer des Spezialkommandos Atropos immer wieder an Aktionen gegen die Weiße Brigade teilgenommen. Doch die Bande war wie eine oxtornische Sumpfviper: Sobald man ihr einen ihrer zahlreichen Köpfe abschlug, wuchsen zwei neue nach.

Hinweise des Kommandanten eines von USO-Einheiten aufgebrachten ertrusischen Drogentransporters hatten Karkeron und sein Team schließlich ins Maiko-System geführt. Der Drogenkurier hatte sich mit seiner Kooperation die Auslieferung an die Staatspolizei des Carsualschen Bundes und ein vermutlich sehr ungemütliches Verhör auf der berüchtigten Geheimdienstwelt Camyam erspart. Rulan Karkeron und seine Abteilung A912 erhielten dadurch die Chance, einen bedeutenden Schlag gegen die mächtige Brigade zu führen. Wenn der Kurier nicht gelogen hatte, dann hielt sich kein Geringerer als Dheren Valt, Seena Belts gegenwärtiger Statthalter in der galaktischen Westside, auf Maikora auf.

In seinem Helmempfänger knackte und rauschte es. Durch das von Sekunde zu Sekunde dichter werdende Schneetreiben konnte Rulan Karkeron schon den spitzen Felskegel erkennen, der den Beginn einer kleinen Gebirgskette markierte. Der vom rauen Wind über die Jahrtausende abgeschliffene Höhenzug lief in Äquatornähe gut zwanzig Kilometer lang wie eine verkrustete Narbe durch die gefrorene Landschaft.

Korporal Pertar Almoth, Sergeant Osmooth Alerin und Korporal Daniel Pherson waren bereits eingetroffen. Sie standen eng zusammengedrängt vor einem schmalen Höhleneingang, so als wollten sie sich gegenseitig Schutz vor der unwirtlichen Witterung spenden.

»Wo sind Varen und der Kleine?«, fragte Karkeron, als er das Trio erreichte. In unmittelbarer Nähe funktionierte die Funkverbindung fast störungsfrei. Ein Öffnen des Helmes erschien bei minus 88 Grad Celsius Außentemperatur und einem atmosphärischen Sauerstoffgehalt von gerade einmal zwei Prozent ohnehin nicht ratsam. Für den umweltangepassten Captain vom Planeten Oxtorne stellten solche Bedingungen zwar kein unüberwindliches Hindernis dar, doch die drei Terraner unter seinem Kommando waren weit weniger robust.

»Unterwegs«, antwortete Almoth. »Vielleicht musste Varen unserem Küken noch die Windeln wechseln.« Die beiden anderen Männer grinsten.

»Halt dein loses Mundwerk, Pert«, wies Karkeron seinen Untergebenen zurecht. Die Zeitanzeige auf dem Multifunktionsschirm am linken Unterarm zeigte, dass der Oxtorner fast eine volle Minute gebraucht hatte, um die Gruppe zu erreichen. Die Zeit wurde knapp.

»Varen?«, versuchte er es über Funk. »Varen? Lemut? Könnt ihr mich hören? Wo zum Teufel bleibt ihr?«

»… ind … ast … a«, kam es undeutlich aus dem Empfänger. Das Heulen des Windes, der sich an den umliegenden Felsen brach, machte es noch schwerer, etwas zu verstehen.

»…urden … auf … alten …stens …ei… …inuten.«

Unbewusst fasste sich Karkeron mit der behandschuhten Rechten in den Nacken. Dort, oberhalb der Halswirbelsäule, saß das subkutan implantierte Kommunikationsmodul aus siganesischer Fertigung, das jedes Mitglied der Abteilung A912 besaß. Das münzgroße Hightech-Gerät war durch Mikrofasern aus Pseudogewebe mit dem Schläfenlappen des Großhirns verbunden und mit gewöhnlichen Scannern praktisch nicht zu entdecken. Allerdings hatten auch die Implantate vor dem Magnetsturm kapitulieren müssen.

»Los, rein mit euch!«, kommandierte Rulan Karkeron. »Sucht euch ein gemütliches Plätzchen und schaltet sämtliche Systeme ab.«

»Kommen Sie zur USO… «, maulte Pertar Almoth, während er und seine Kameraden sich durch den engen Felsspalt zwängten. »… und Sie erwartet ein Leben voller Aufregung und Abenteuer.«

»Auf dich wartet ein Tritt in den Allerwertesten, wenn du dich nicht beeilst«, erwiderte der Captain trocken. Trotz der drohenden Gefahr konnte er sich ein Grinsen nicht verkneifen. Er kannte seine Spezialisten besser als diese sich selbst. Jeder hatte seine eigene Art mit dem immensen Druck, der während eines Einsatzes herrschte, umzugehen, und Almoth baute seine Anspannung nun einmal gern mit ein paar flapsigen Sprüchen ab.

»Ein Tritt von Ihnen, Sir«, sagte der zwei Meter große Terraner wie auf Zuruf, »ist mir stets ein ausgesprochenes Vergnügen.«

Rulan Karkeron kam nicht mehr dazu, etwas zu entgegnen, denn in diesem Moment drang ein lauter Schrei aus seinem Helmempfänger. Fast gleichzeitig explodierte der spitze Felskegel, den er kurz zuvor noch als Orientierungspunkt genutzt hatte, in einem grellen, blauweißen Feuerball.

»Ausschwärmen!«, brüllte der Oxtorner und aktivierte den Schutzschirm seines Kampfanzugs. »Man hat uns entdeckt!«

 

Rulan Karkeron beschleunigte mit Höchstwerten. Links und rechts nahm er aus den Augenwinkeln ein Aufblitzen wahr. Die Wucht der unmittelbar folgenden Detonationen schleuderte ihn brutal zur Seite. Er glaubte die Hitze der beiden schnell expandierenden Glutbälle durch den Schutzschirm hindurch zu spüren. Die Flanke des Berges schien ihn geradezu anzuspringen, ihm ihre nadelspitzen Kronen und Zacken gierig entgegenzustrecken. Dann reagierte die Positronik – schneller, als jeder Mensch, jeder Oxtorner es jemals vermocht hätte.

Die Andruckabsorber schafften es nicht, die gewaltigen Beharrungskräfte, die der blitzartige Kurswechsel verursachte, vollständig zu neutralisieren. Karkeron stöhnte, als für endlos lange Sekunden das mindestens Fünfzehnfache seines eigenen Körpergewichts auf ihm lastete. Um ihn herum sah er nichts als stiebende Flocken. Ab und zu durchzuckten fahle Lichtbahnen das wirbelnde Chaos.

Energieschüsse!

»Lagebericht!«, schrie der USO-Captain. »Kann mich irgendjemand hören?«

Nichts! Nur Knacken und Rauschen.

Die Flugbahn des Oxtorners stabilisierte sich. Die Positronik verarbeitete Hunderte eingehender Messwerte im Bruchteil einer Sekunde und projizierte die wichtigsten Daten auf die Innenseite der Helmscheibe. Die Auswirkungen des Magnetsturms waren in diesem Augenblick Fluch und Segen zugleich. Zum einen machten sie es den USO-Spezialisten unmöglich, die Position des Gegners zu bestimmen, zum anderen verhinderten sie aber auch, dass der Feind klare Ortungsergebnisse erhielt.

Der Oxtorner schaltete den Hyperfunk aktiv. Er wusste, dass seine Leute das Gleiche tun würden. Die Anwesenheit der USO auf Maikora war seit einigen Sekunden kein Geheimnis mehr; der sorgfältig geplante Einsatz, der mit einem schnellen und störungsfreien Zugriff auf den Schlupfwinkel der Brigade hätte enden sollen, war fehlgeschlagen.

Dann also mit Gewalt, dachte Rulan Karkeron. Er war nicht wütend, höchstens ein wenig enttäuscht. Einsätze wie dieser liefen selten ohne Zwischenfälle ab. Selbst die klügsten Köpfe in Quinto-Center, unterstützt von der gewaltigen Rechenkapazität der dort installierten Computersysteme, konnten nicht sämtliche Eventualitäten einer realen Operation voraussehen. Dazu waren die Parameter zu zahlreich, die Wechselwirkungen zu komplex, der Faktor Zufall zu dominant.

»Rückzug nach Anweisung Alpha!«, befahl der Captain. »Ich wiederhole: Rückzug nach Anweisung Alpha!«

Rulan Karkeron gewann schnell an Höhe, doch auch hier oben wurde die Sicht nicht besser. Maiko war selbst bei klarem Himmel kaum mehr als ein stecknadelkopfgroßer Lichtpunkt in einem Meer aus Dunkelgrau. Andere Sterne waren nur selten zu sehen, da die Spiegelungen auf der Eiskruste des Zwergplaneten einen schmutzigen Halo erzeugten und die Umgebung in fortwährendes Zwielicht tauchten.

»Einsatzleiter an MJ-1 bis MJ-4: Zugriffskode Rot! Zugriffskode Rot! Achtung, Widerstand durch schwere Waffen erwartet. Jedes Schiff, das Maikora verlassen will, wird ohne Warnung unter Feuer genommen!«

Karkeron hatte seine Befehle unverschlüsselt gefunkt. Er wollte, dass der Gegner mitbekam, was ihn erwartete. Immerhin bestand die vage Hoffnung, dass sich die Mitglieder der Weißen Brigade, die sich auf Maikora versteckten, einen Rest gesunden Menschenverstand bewahrt hatten und freiwillig kapitulierten. Der Oxtorner rechnete zwar nicht damit, doch auch im Jahr 3126 starb die Hoffnung noch immer zuletzt.

»Verstanden und bestätigt, Einsatzleiter.«

Karkeron erkannte die tiefe Bassstimme von Major Thorwald Enstroem, dem Kommandanten der MIRIA. Irgendwo hoch über ihm schleusten vier Ein-Mann-Jäger aus dem Leichten Kreuzer aus, mit dem er und sein Team ins Maiko-System gekommen waren. Die fünfzehn Meter langen Maschinen gehörten zur neusten Baureihe der LUCE-Klasse, einer Eigenentwicklung aus den Werften der USO. In der Solaren Flotte kamen die Fahrzeuge aus der Frühzeit des Imperiums langsam aus der Mode, wurden mehr und mehr durch Shifts und Space-Jets ersetzt. Lordadmiral Atlan hatte seine Ingenieure dagegen angewiesen, die schnellen und wendigen Jäger gründlich zu überarbeiten und ihnen eine technische Frischzellenkur zu verpassen. Das, was am Ende dabei herausgekommen war, eignete sich vorzüglich, wenn es darum ging, potenzielle Gegner blitzartig und wirkungsvoll anzugreifen und auszuschalten.

»Captain?«, meldete sich in diesem Moment Varen Thorik. Die Arkonidin bemühte sich um Fassung, doch der Oxtorner merkte sofort, dass etwas nicht stimmte.

»Varen! Ist alles in Ordnung? Wo, zum Teufel, steckst du?«

»Wir sind eingekesselt, Sir. Ich fürchte …« Ihre Stimme brach ab; dann war das typische Zischen von Energiefeuer zu hören.

»Varen?« Inzwischen machte sich Rulan Karkeron ernsthafte Sorgen. »Verflucht, rede mit mir!«

»Wir kommen hier nicht mehr raus, Sir.« Die Frau atmete schwer. »Die Kampfroboter rücken vor. Sehr schnell. Ich kann …« Erneut konnte Varen Thorik ihren Satz nicht beenden.

»Achtung, Lemut!«, kam es verzerrt aus dem Empfänger. »Sie greifen von zwei Seiten gleichzeitig an. Gib mir …« Das Zischen war diesmal so heftig, dass Karkeron unwillkürlich die Lautstärke seines Funkgeräts herunterdrehte.

»Habt ihr mitgehört?«, fragte er. Almoth, Alerin und Pherson bestätigten knapp.

»Sind schon unterwegs«, verkündete Pertar Almoth. »Wir könnten allerdings ein bisschen Hilfe gebrauchen.«

»Die kriegt ihr«, versprach der Captain, der längst ebenfalls Kurs auf die Peilsignale der Arkonidin und ihres Begleiters genommen hatte. Der schwere Kombistrahler sprang ihm wie von selbst in die Hand. Varen und der Junge waren weniger als achthundert Meter entfernt. Wenn die Ortungsdaten trotz der ständigen Störungen korrekt waren, wies die Bergkette dort einen schmalen Einschnitt auf, in den sie sich geflüchtet hatten, um sich zumindest den Rücken freizuhalten. Auf der Innenseite der Helmscheibe sah Karkeron das Reliefbild der vor ihm liegenden Felslandschaft. Vierzehn verschwommene rote Punkte – zweifellos die von der Arkonidin erwähnten Roboter – bewegten sich rasend schnell auf die Position der beiden Eingeschlossenen zu.

Komm schon, Varen, dachte er, während er in halsbrecherischem Tempo durch das Schneetreiben raste. Zehn Sekunden noch, dann bin ich bei dir.

Es war erneut die Positronik, die schneller schaltete, als es Karkeron jemals hätte tun können. Sie riss den gut siebenhundert Kilogramm schweren Oxtorner zur Seite, und der blassrote Strahl aus ultrastark gebündeltem Licht zuckte nur wenige Zentimeter an dem massigen Körper des Umweltangepassten vorbei.

Viel Zeit zum Atemholen blieb dem Captain nicht. Drei der angreifenden Kampfroboter hatten sich aus der Formation gelöst und strebten direkt auf ihn zu. Mensch gegen Maschine – ein ungleicher Kampf.

»Varen?«, rief Karkeron. »Alles in Ordnung?«

Keine Antwort.

Der Oxtorner ließ sich zweihundert Meter in die Tiefe fallen und fing sich erst haarscharf über einem sanft ansteigenden Geröllfeld wieder ab. Hier unten konnte er etwas besser sehen. Dennoch traf ihn der Angriff völlig unvorbereitet, denn auch die Systeme seines Anzugs reagierten diesmal nicht. Sie waren auf korrekte Ortungsdaten angewiesen, und die standen nicht zur Verfügung.

Der daumendicke Waffenstrahl schlug in Brusthöhe in den Schutzschirm der Kampfmontur. Karkeron wurde herumgeschleudert und verlor für einen Moment die Orientierung. Ein hochfrequenter Signalton wies ihn darauf hin, dass der Mikrofusionsmeiler an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit gehen musste, um die Energie des Treffers zu absorbieren. Vor den Augen des Oxtorners tanzten bunte Leuchterscheinungen. Übelkeit stieg in ihm auf, und er unterdrückte den starken Würgereflex nur mit Mühe. Dann gewann seine Welt wieder Form und Struktur. Wütend feuerte er einige Salven in die Richtung, in der er den Gegner vermutete.

»Nicht so stürmisch, Sir«, hörte er Osmooth Alerin im Helmempfänger. »Sie machen mir sonst noch ein Loch in den Anzug.«

Rulan Karkeron umkurvte eine steil aufragende Felswand. Vor ihm lag nun der Einschnitt, in dem sich Varen und Lemut verschanzt hatten. Plötzlich ging alles unglaublich schnell. Almoth, Alerin und Pherson rasten von verschiedenen Seiten heran und legten breites Sperrfeuer. Der Oxtorner fügte sich sofort in das Muster ein und wählte eine Position, die ihn ins Zentrum eines gedachten Dreiecks brachte, eine klassische Offensivstrategie, die bereits USO-Kadetten im ersten Ausbildungsjahr beherrschten und die jeder Spezialist praktisch ohne nachzudenken ausführen konnte. Die tausendfach erprobte Formation garantierte, dass der zentrale Schütze immer von mindestens zwei Dritteln seiner Kameraden gesichert werden konnte, unabhängig von der Angriffsrichtung des Gegners. Dadurch war es ihm möglich, seine Deckung zu vernachlässigen und sich allein auf das Ausschalten des Feindes zu fokussieren.

Der Rest war positronisch unterstützte Routine. Als die ersten beiden Roboter explodierten, wusste der Captain, dass sie gewonnen hatten. Die Weiße Brigade mochte zwar hochentwickelte Kampfmaschinen besitzen, doch von deren Programmierung verstand sie offenbar wenig. Anstatt sofort auszubrechen und die USO-Kräfte dadurch zu zersplittern, rückten die Blechsoldaten enger zusammen und versuchten, den anrückenden Feind mit reiner Feuerkraft zu überwinden. Zwei Minuten später war alles vorbei.

Varen Thorik und Lemut Halet waren unversehrt. Neben dem über zwei Meter großen und fast ebenso breiten Ertruser wirkte die Arkonidin beinahe zierlich. Lemut machte einen niedergeschlagenen Eindruck. Er ließ Kopf und Schultern hängen, schien sich geradezu hinter Varen verstecken zu wollen, ein Unterfangen, das freilich keine Aussicht auf Erfolg hatte.

Rulan Karkeron sah die Frau durch die Helmscheibe fragend an, doch sie schüttelte nur unmerklich den Kopf. Lass uns später darüber reden, sollte das heißen.

Lemut Halet gehörte mit seinen 27 Jahren zu den jüngsten Rekruten, die die USO jemals aufgenommen hatte. Der Junge war auf persönlichen Wunsch des Lordadmirals in die Einheit des Oxtorners gesteckt worden, und selbstverständlich hatte sich Karkeron die Personalakte des Burschen genau angesehen.

Der Ertruser war in einem Waisenhaus in Baretus groß geworden und hatte nie eine Schule besucht. Mit zehn Jahren wurde er von einem Ehepaar adoptiert, das an nichts weiter als an einer billigen Arbeitskraft interessiert gewesen war. Von da an musste Lemut in einer schäbigen Raumhafenkneipe namens Grauzone schuften. Fünf Jahre später kaufte ein Springerkapitän namens Charas den feinen Zieheltern ihren Sprössling ab und nahm ihn als Schiffsjungen an Bord seines altersschwachen Seelenverkäufers. Im Zuge der Illochim-Krise war es zur Begegnung zwischen dem Jungen und Lordadmiral Atlan gekommen. Aus irgendeinem Grund hatte der Arkonide einen Narren an dem Ertruser gefressen, und der wünschte sich plötzlich nichts sehnlicher als einen Beitritt zur USO.

Atlan schaffte den noch minderjährigen Lemut nach Ertrus zurück, stellte ihm jedoch einen Verbindungsmann der dortigen USO-Niederlassung zur Seite, der sich fortan um seine Angelegenheiten kümmerte und dafür sorgte, dass der Junge eine solide Ausbildung erhielt. Im Jahr 3119 – mit Erreichen der Volljährigkeit – bestand Lemut Halet den Aufnahmetest für die Kadettenakademie auf USTRAC. Aus den Einträgen seiner Personalakte ging hervor, dass der Lordadmiral den weiteren Weg des Ertrusers aufmerksam verfolgte. Vor zwei Jahren hatte der Unsterbliche schließlich Rulan Karkeron in einem persönlichen Gespräch darum gebeten, den Jungen unter seine Fittiche zu nehmen. Seine Motive für das ungewöhnliche Interesse an Lemut Halet hatte der Lordadmiral nicht mit dem Captain geteilt.

»Stützpunkt eingenommen und unter Kontrolle, Sir«, meldete sich Major Enstroem über Funk. Der terranische Offizier führte zwar einen höheren Dienstgrad als der Oxtorner, war jedoch für die Dauer des Einsatzes dem USO-Spezialisten unterstellt.

»Keine Verluste, weder auf unserer noch auf gegnerischer Seite. Außerdem haben wir Dheren Valt eindeutig identifiziert. Da ist uns ein ganz dicker Fisch ins Netz gegangen. Das war verdammt gute Arbeit.«

»Danke, Major.« Rulan Karkeron schob das Thema Lemut Halet vorerst beiseite und widmete sich wieder der unmittelbaren Gegenwart. »Ich glaube, heute haben wir uns alle unseren üppigen Sold verdient.«

Enstroem lachte. »Da ist noch etwas, Sir. Wir haben einen Rafferspruch von Quinto-Center erhalten. Generalin Hoyka Kah wünscht Sie zu sprechen. So schnell wie möglich.«

»Dann stellen Sie das Gespräch durch«, forderte der Oxtorner.

»Das kann ich nicht, Sir. Es handelt sich um eine Alpha-Anfrage mit Sicherheitsstufe 1.«

Rulan Karkerons Mundwinkel zuckten. Sicherheitsstufe 1! Das hieß zum einen, dass ihn wahrscheinlich keine guten Nachrichten erwarteten, und zum anderen, dass die Verbindung ausschließlich über eine isolierte und mehrfach abgesicherte Relaisstrecke geschaltet werden durfte. So etwas war nur an Bord eines Raumschiffes oder in einer entsprechend ausgerüsteten Station möglich.

»Schicken Sie mir eine Jet«, bat Karkeron. »Die Generalin wartet nicht gern …«

 

»Lassen Sie mich die Erste sein, die Sie zur erfolgreichen Festnahme von Dheren Valt beglückwünscht, Captain. Die Brigade wird einige Zeit brauchen, um sich von diesem Schlag zu erholen.«

Das herbe Gesicht der Paronerin stand überlebensgroß auf dem Holobildschirm. Thorwald Enstroem hatte die beiden diensthabenden Funkoffiziere vorübergehend von ihren Posten abgezogen und den entsprechenden Bereich der Kommandozentrale mit einem Isolierfeld optisch und akustisch von der Außenwelt abgeriegelt.

»Vielen Dank, Generalin«, sagte Rulan Karkeron artig. »Ich werde Ihre Glückwünsche an alle Beteiligten weitergeben. Allerdings vermute ich, dass das nicht der Grund ist, aus dem Sie mit mir reden wollten.«

»Sie vermuten richtig.« Die hellbraunen Augen der Frau blitzten kurz auf. Im Hintergrund des Bildausschnitts erkannte Karkeron ein spartanisch eingerichtetes Zimmer, das von einem riesigen leeren Schreibtisch beherrscht wurde. Wahrscheinlich rief ihn die Generalin direkt aus ihrem persönlichen Büro im USO-Hauptquartier an.

»Es ist zwar nicht notwendig, Sie darauf hinzuweisen, dass alles, was ich Ihnen jetzt sage, streng vertraulich ist, aber ich tue es trotzdem.«

Der Oxtorner versteifte sich unwillkürlich. Hoyka Kah war normalerweise niemand, die zu übertriebener Theatralik neigte. Ihr Verhalten ließ somit vermuten, dass irgendetwas ausgesprochen Unangenehmes passiert sein musste.

»Am 3. September kam es in der Nähe der Ortungsstation Glomar am Rand des Perseus-Arms zu einem streng geheimen Treffen zwischen Lordadmiral Atlan und den Vertretern des Solaren Imperiums Großadministrator Perry Rhodan und Solarmarschall Julian Tifflor. Seit diesem Zeitpunkt gilt der Lordadmiral als vermisst.«

»Vermisst?«, wiederholte Karkeron ungläubig. »3. September? Aber … das ist jetzt fast eine Woche her!«

»So ist es«, bestätigte die Generalin. »Und jetzt seien sie still und hören Sie weiter zu. Am 4. September fand eine Hyperfunkkonferenz zwischen der obersten Führungsebene der USO und den Terranern Rhodan, Tifflor und Bull statt. Dabei gestand der Großadministrator ein, das Verschwinden seines Freundes Atlan durch ein fehlgeschlagenes wissenschaftliches Experiment selbst verursacht zu haben. Über die Natur des Experiments verweigerte er jegliche Aussage. Allerdings erhielten wir detaillierte Listen der an der Aktion beteiligten Personen.«

Rulan Karkeron wusste, dass die Generalin das Solare Imperium im Allgemeinen und Perry Rhodan im Besonderen nicht unbedingt mochte. Ihrer Meinung nach, war die USO viel zu eng mit den Terranern verbunden und gefährdete dadurch die in ihren Statuten verankerte Neutralität. Der Oxtorner konnte diesen Standpunkt sogar nachvollziehen. Auch wenn für ihn außer Frage stand, dass der Lordadmiral ein durch und durch integrer Mann war, der die Ressourcen der USO niemals für politische Zwecke missbrauchen würde, so sorgte die enge und galaxisweit bekannte Freundschaft zwischen dem Arkoniden und Perry Rhodan immer wieder für diplomatische Verwerfungen.

»Ich bin sicher, dass der Großadministrator alles tun wird, um …«, setzte Rulan Karkeron an, wurde jedoch von Kah unterbrochen.

»Der Großadministrator kann tun und lassen was er will«, sagte die Generalin scharf. »Fakt ist, dass es seit fast einer Woche kein Lebenszeichen von Lordadmiral Atlan gibt und Rhodan sich weigert, der USO dringend benötigte Informationen zur Verfügung zu stellen. Ich habe deshalb den Fall Dezembermond ausgerufen.«

Rulan Karkeron hatte bereits damit gerechnet. Hinter dem Fall Dezembermond versteckte sich ein spezieller Notfallplan, der bei einer Entführung oder einem unerklärlichen Verschwinden des Oberbefehlshabers der United Stars Organisation in Kraft trat. Ein wesentlicher Aspekt dieses Plans bestand darin, eine Reihe von kleinen, aber schlagkräftigen Gruppen aus USO-Spezialisten an strategischen Punkten überall in der Milchstraße zu verteilen, um Hinweisen auf den Aufenthaltsort des Vermissten so schnell wie möglich nachgehen zu können. Das Spezialkommando Atropos spielte dabei eine maßgebliche Rolle.

»Das wird Rhodan nicht gefallen«, wagte der Captain einzuwerfen.

»Das hoffe ich doch sehr.« Hoyka Kah lächelte eisig.

»Ich nehme an, Sie brauchen alle vierzig Teams?«, fragte der Oxtorner.

»So ist es.«

»Möchten Sie, dass ich die Aktion von Quinto-Center aus koordiniere?«

Hoyka Kah überlegte einen Moment lang. »Nein«, gab sie dann zurück. »Sie und ihre Leute beteiligen sich direkt.«

»Verstanden«, bestätigte Karkeron knapp. »Ist das alles, Generalin?«

»Ja.« Die Paronerin nickte ernst. »Das ist vorerst alles.«

Kapitel 2

 

11. September 3126

Mond Nacht, Gainbal-System

 

Tengit Smolin blickte so intensiv auf die Holowiedergabe der Simulation, als könnte er es allein durch sein Starren dazu bringen, endlich das zu zeigen, was er sehen wollte. Doch die Simulation ignorierte ihn. Schon wieder. Zum nunmehr 451. Mal!

Der Terraner nahm einen Schluck aus der neben ihm auf dem Arbeitspult stehenden Tasse. Natürlich war der Kaffee längst eiskalt. Auf manche physikalischen Gesetzmäßigkeiten konnte man sich eben felsenfest verlassen. Wenn man sich eine Tasse heißen Kaffee einschenkte und die folgenden drei Stunden mit dem 451. Versuch zubrachte, die Quantisierung der Raumzeit anhand phasenverschobener Gammastrahlen-Ausbrüche bei Supernova-Explosionen nachzuweisen, war der Kaffee danach kalt. Leider war dieses Phänomen bereits zweifelsfrei bewiesen. Die sogenannte Schleifenquantengravitation, Tengits Spezialgebiet, mit dem er sich nun schon ein halbes Leben lang beschäftigte, war es noch nicht.

Ein Blick auf sein Armbandchronometer verriet dem Physiker, dass sie es wohl auch einen weiteren Tag lang nicht sein würde, denn es war bereits früh am Morgen und er spürte, dass er nicht mehr die Kraft hatte, einen neuen Simulationslauf zu starten. Wie immer um diese Zeit war er der einzige, der sich im Laborkomplex aufhielt, doch das störte ihn nicht. Er kam spät und blieb lange. Auf diese Weise reduzierte er den Kontakt mit den sogenannten Kollegen auf ein vertretbares Minimum.

Obwohl er schon seit über einem Jahr auf Nacht, dem zweiten Mond des Planeten Nancanor Dienst tat, kannte Tengit die meisten der hier tätigen Wissenschaftler nur flüchtig. Ganus a That, der immer ein wenig rechthaberisch wirkende Marsianer, hatte ihn einmal zu einem Bier in die Kantine der Forschungsstation eingeladen. Allerdings waren nach fünf Minuten alle Allgemeinplätze ausgetauscht gewesen, sodass keiner von ihnen mehr gewusst hatte, was er noch sagen sollte. Weitere Treffen hat es seither keine mehr gegeben.

Tengit war gern allein. Das Alleinsein besaß für die meisten Menschen etwas Abschreckendes. Viele fürchteten sich sogar davor. Nicht so Tengit Smolin. Im Zwiegespräch mit sich selbst kamen ihm oft die besten Ideen. Dann belästigte ihn niemand mit sinnlosen Anfragen, verlangte, dass er unwichtige Routinearbeiten erledigte oder ewig gleiche Messergebnisse in positronische Algorithmen übersetzte.

Dass ihn die meisten auf Nacht für einen Sonderling hielten, für einen Spinner, der mit sich selbst sprach und schon mal zwei verschiedenfarbige Socken trug, störte ihn nicht. Im Gegenteil. Sein Ruf als weltfremder Wolkenschieber bewahrte ihn davor, sich über ein erträgliches Maß hinaus mit all den sozialen Konventionen auseinandersetzen zu müssen, deren Sinn er nicht begriff und die alle anderen als so unverzichtbar erachteten.

Tengit Smolin warf einen resignierten Blick auf das eingefrorene Bild des Holomonitors. Es zeigte die Werte der letzten Messreihe, die auf der simulierten Explosion eines blauen Riesen basierten. Er hatte die dabei entstandenen energiereichen Photonen auf eine virtuelle, zwei Milliarden Jahre dauernde Reise durch das Universum geschickt und sie somit künstlich gealtert. Seiner Theorie zufolge hätte dabei die Geschwindigkeit jener Partikel mit einer geringfügig niedrigeren Energieladung messbar abnehmen müssen. Doch das tat sie nicht. Auch nach einer zurückgelegten Strecke von sagenhaften zwei Milliarden Lichtjahren waren die verdammten Biester immer noch alle gleich schnell.

Der Terraner schaltete den Monitor ab und rieb sich die brennenden Augen. Die mathematischen Vorgaben waren korrekt; er hatte sie in den vergangenen Wochen mindestens hundert Mal überprüft. Lediglich die Wirklichkeit sperrte sich gegen das Unvermeidliche und wollte sich der unbestechlichen Logik seiner Schlussfolgerungen nicht fügen. Es war die Geschichte seines Lebens, die Geschichte eines Mannes, der seit seiner Schulzeit immer wieder an den Anforderungen scheiterte, die vom Alltag vor ihm aufgetürmt wurden.

Tengit Smolin schob den Ordner mit seinen Notizfolien in die altmodische Aktentasche, die ihm schon an der Akademia Terrania den Spott seiner Kommilitonen eingebracht hatte, und verließ das Labor. Seine Kabine lag in der Nähe des Schachts, jener hundertzwanzig Meter durchmessenden Röhre, die die Magmakammer des aufgelassenen Springer-Bergwerks mit der Mondoberfläche verband. Irgendwo dort war normalerweise die Korvette geparkt, die nicht nur als Fluchtraumschiff für den Notfall diente, sondern auch zum Transport von Vorräten und Ausrüstungsgegenständen benutzt wurde. Die im Gainbal-System häufig tobenden Sonnenstürme und ein hochentwickeltes Anti-Ortungssystem sorgten für die nötige Tarnung. Zurzeit war der Raumer allerdings unterwegs.

Der Terraner ging an dem breiten Doppelschott vorüber, das in die tieferen Bereiche der Anlage führte. Dort befand sich die Kernblase, jene mit künstlicher Atemluft gefüllte Magmakammer, in der man die Auswirkungen der Zone am besten beobachten konnte. Tipa Riordans Ingenieure hatten eine Reihe von Kuppeln errichtet und mit immensem Aufwand in der Kammer verankert, damit es den Wissenschaftlern möglich war, bis unmittelbar an die Störung heranzurücken. Tengit konnte über so viel Ignoranz nur den Kopf schütteln. Als ob die Erforschung physikalischer Phänomene jemals eine Frage der räumlichen Distanz zu ihnen gewesen wäre.

Den Preis für so viel Unverstand hatte man bereits bezahlt. Vor drei Tagen war eine Gruppe, die die Zone aus nächster Nähe hatte untersuchen wollen und deshalb in sie eingedrungen war, spurlos verschwunden. Selbstverständlich hatte man Sonden hinterhergeschickt, doch die waren nicht zurückgekehrt. Mit den spärlichen Daten, die sie vor dem Abreißen des Funkkontakts übermittelt hatten, ließ sich so gut wie nichts anfangen. Die Experten waren erwartungsgemäß ratlos gewesen und hatten sich nicht mehr anders zu helfen gewusst, als die Chefin persönlich herbeizurufen.

Tipa Riordans Ankunft auf Nacht hatte Tengit Smolin verschlafen. Aber mehr als fruchtlose Debatten und unproduktive Streitereien unter den Forschern hatte er dabei nicht versäumt. Schließlich waren drei weitere Männer unter der Führung von Ganus a That in die geheimnisvolle Anomalie eingedrungen. Die verschwundenen Wissenschaftler hatte man nicht gefunden. Dafür war man auf einen mysteriösen Fremden gestoßen, der sofort in die Medostation gebracht worden war.

Tengit interessierte all das nur am Rande. Die anderen sollten ruhig glauben, dass sie das Rätsel mit ihren überzüchteten Messgeräten und multidimensionalen Raumzeit-Modellen lösen konnten. Er wusste es besser. Sie nannten die Anomalie eine strukturelle Schwächung des Universums und hatten nicht einmal eine vage Ahnung, was für einen Unsinn sie da redeten.

Der Terraner erreichte seine Unterkunft und trat durch ein schmales Schott in einen Raum, der dem Wort Chaos eine neue Dimension verlieh. Die drei Meter breite und fünf Meter lange Kabine mit der angeschlossenen Nasszelle erinnerte auf den ersten Blick an eine Müllhalde. Auch auf den zweiten und dritten Blick änderte sich das nicht. Nahezu überall lagen verschmutzte Wäschestücke, Schuhe, Schreibfolien, Plastikbecher, Verpackungsreste, TriVid-Speicherkristalle, Konzentratriegel, Holofotos und Dutzende anderer Dinge herum. Fast wäre Tengit über einige leere Konservendosen gestolpert, doch er schaffte es, unfallfrei bis zum Bett. So wie er war, ließ er sich in die zerwühlten Laken fallen und war eine Sekunde später eingeschlafen.

 

»Und?«

Tipa Riordan klopfte mit ihrem Gehstock ungeduldig auf den Boden. Das harte, metallische Geräusch ließ einige der Umstehenden zusammenzucken.

»Alle seine Angaben sind so weit in Ordnung, Ma’am«, sagte Faun Malkovoch bedächtig. »Ich habe hier tatsächlich einen Galverin Schmidt. Er ist Angehöriger der Solaren Flotte. Studium der angewandten Hypertechnik, Spezialgebiet Hyperortung. Dienst auf mehreren Schiffen, darunter ein Schwerer Kreuzer der Explorerflotte. Hat es in all der Zeit gerade mal bis zum Korporal gebracht.«

»Aber?«, fragte die Piratin. Wenn ihr Erster Wesir in dieser Weise sprach, kam immer ein Aber.

»Nun …« Der Terraner zögerte kurz. »Laut Flotten-Personaldatei wurde er im Jahr 3084 geboren.«

Tipa Riordan hob den Kopf und sah den hünenhaften Mann an. »Bist du sicher?«

Malkovoch nickte und trat zur Seite. Der Holoschirm, den er bisher mit seinem wuchtigen Körper verdeckt hatte, zeigte das Gesicht eines etwa vierzig Jahre alten Mannes mit mittellangen, nach hinten gekämmten Haaren. Der Fremde, den Ganus a That, Ropander Tin und Itter Krispen auf ihrer Expedition ins Innere der Anomalie gefunden hatten, und der von Zhyr-Krit, dem Ara-Mediziner der Forschungsstation vor gut einer Stunde als kerngesund in Tipas Obhut entlassen worden war, sah mindestens dreißig Jahre älter aus. Seine Züge wirkten hagerer, das Haar heller. Dennoch war die Ähnlichkeit mit dem Foto aus der Personaldatei der Solaren Flotte unverkennbar.

»Wie ist das möglich?«, wollte Tipa wissen. Ihr Erster Wesir zuckte die breiten Schultern.

»Ich könnte ihn fragen«, schlug er vor.

»Nein.« Die Piratin strich sich mit dem Zeigefinger nachdenklich über ihre hakenförmige Nase. »Das tust du ganz sicher nicht.«

»Wie Sie meinen, Ma’am.«

Tipa Riordan erhob sich aus dem Sessel, in dem sie bislang wie ein hungriger Raubvogel gekauert hatte, und versetzte dem Terraner einen Stockhieb auf die Brust. Obwohl der Schlag mit Kraft geführt war, verzog der Erste Wesir keine Miene.

»Hör auf, den devoten Diener zu spielen, du elender Heuchler. Wenn dir etwas nicht passt, dann sag es mir direkt ins Gesicht. Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass ich dich übers Knie lege und dir eine ordentliche Tracht Prügel verpasse.«

»Geben Sie mir fünf Minuten mit dem Kerl, und er erzählt Ihnen alles, was Sie wissen wollen.« Faun Malkovoch verschränkte seine riesigen Hände ineinander und ließ die Knöchel knacken. »Das garantiere ich Ihnen, Ma’am.«

»Faun, Faun, Faun«, sagte die Piratenlady lächelnd und schüttelte den Kopf. »Nun bist du schon so lange bei mir, und hast immer noch nicht gelernt, dass man mit Gewalt nur selten das bekommt, was man haben will. Menschen wollen überzeugt werden. Mit Worten, nicht mit Fäusten.«

Der Erste Wesir blieb seinen Prinzipien treu. »Am Ende zählt das Ergebnis!«

»Das bestreite ich auch gar nicht, mein Junge«, lenkte Tipa ein. »Die Frage ist nur, ob man mit subtileren Mitteln nicht befriedigendere Ergebnisse erzielt. Aber das musst du nicht verstehen, denn dafür wirst du nicht bezahlt. Ich werde unserem Gast jetzt einen Besuch abstatten und ein zivilisiertes Gespräch mit ihm führen.«

»Allein?«, fragte Malkovoch besorgt.

»Allerdings. Sorgst du dich etwa um mein Wohlergehen?«

»Das tue ich, Ma’am. Denn dafür werde ich bezahlt!«

 

Der Mann, der behauptete Galverin Schmidt zu sein, saß in einer der leeren Mannschaftskabinen und nippte an einer dampfenden Tasse Tee. Er hatte offenbar die Nasszelle aufgesucht, denn sein Haar war noch ein wenig feucht und auf der Koje lag ein benutztes Handtuch. Er trug eine der dunkelblauen Standardkombinationen, in die sich die meisten der auf Nacht arbeitenden Menschen kleideten, und hatte die Beine lässig übereinander geschlagen. Als Tipa Riordan eintrat, lächelte er kaum merklich.

»Ich hatte mich schon gewundert, wo Sie bleiben, meine Liebe. Haben Sie meine Angaben überprüft?«

»Das habe ich.« Die Piratin erwiderte das Lächeln. »Bekomme ich auch eine?« Sie deutete mit einem ihrer langen, dünnen Spinnenfinger auf die Tasse.

»Selbstverständlich.« Schmidt erhob sich und trat an den in die Kabinenwand integrierten Versorgungsautomaten. Sekunden später wurde der in der Luft hängende Duft nach exotischen Früchten noch eine Spur intensiver. Der Mann stellte das Getränk auf einen kleinen Tisch, setzte sich wieder und deutete einladend auf den freien Stuhl ihm gegenüber. Tipa nahm ebenfalls Platz und probierte den Tee.

»Das …«, sagte Schmidt und machte eine vage Geste in Richtung seiner Tasse, »… habe ich da drinnen am meisten vermisst.«

»Da drinnen?«

»Sie wissen schon. Ich glaube, Sie sagen Zone dazu, nicht wahr? Nun, ein Name ist so gut wie der andere.«

»Bevor wir uns mit Details beschäftigen, Mister Schmidt …«

»Galverin. Bitte sagen Sie Galverin zu mir.«

»Na schön. Warum nicht. Also: Es gibt da ein paar … sagen wir Ungereimtheiten bezüglich Ihrer Person, Galverin.« Tipa Riordan beobachtete ihr Gegenüber genau, erkannte jedoch nicht einen Hauch von Unsicherheit.

»Sie meinen mein Alter«, sagte Schmidt und stieß ein helles Lachen aus. »Glauben Sie mir, Tipa … ich darf Sie doch Tipa nennen? Als ich vorhin in den Spiegel sah, bin ich selbst zu Tode erschrocken.«

»Sie sehen allerdings nicht wie ein zu Tode Erschrockener aus«, wandte die Piratin ein.

»Der Vorteil einer Lebensphilosophie, die nicht mehr Energie als nötig auf unabänderliche Tatsachen verschwendet«, erwiderte der Terraner. »Offenbar ist der Zeitablauf in Polychora gegenüber jenem des Normaluniversums verzerrt.«

»Polychora?«

»Der Lordadmiral sagt auch Arche dazu«, erläuterte Schmidt. »Polychora ist eine zugegebenermaßen rudimentäre Übersetzung des positronischen Translators. Sie basiert auf den griechischen Wörtern poly für viele und choros für Raum oder Ort.«

»Und die Anomalie ist eine Art … Übergang?«

»Unter anderem«, bestätigte der Terraner. »Nennen Sie es wie Sie wollen. Portal, Tor, Pforte, Durchgang, interdimensionaler Verbindungstunnel. Es macht keinen Unterschied. Wichtig ist einzig und allein, dass die Passage geschlossen wird. So schnell wie möglich.«

»Warum?«

Galverin Schmidt lächelte wieder, aber diesmal fehlte jeder Ausdruck von Wärme oder Freundlichkeit in seinen Zügen. Aus den Augenwinkeln glaubte Tipa ein Flimmern an der gegenüberliegenden Wand wahrzunehmen, doch als sie genauer hinsah, war da nichts. Zellaktivator hin oder her: Sie brauchte dringend ein paar Stunden Schlaf.

»Wir sollten ehrlich zueinander sein, Tipa, meinen Sie nicht?« Schmidts Stimme hatte ihren Ton hörbar verändert. Sie klang auf einmal … fremd. Der Piratin fiel kein passenderer Begriff ein. Es war, als würden sie und ihr Gesprächspartner in einer riesigen Halle sitzen und jedes Wort, das der Mann sagte, füllte diese Halle bis in den letzten Winkel aus, während sie selbst schreien musste, um sich überhaupt verständlich zu machen.

Reiß dich zusammen, altes Mädchen, ermahnte sich Tipa Riordan. Du bist schon mit weitaus gewiefteren Kerlen fertig geworden.

»Ehrlichkeit ist die Basis jeder funktionierenden Beziehung«, fuhr der Terraner fort. »Ich behaupte sogar, dass Ehrlichkeit eine notwendige Voraussetzung dafür ist, dass so etwas wie eine Gesellschaft überhaupt existieren kann.«

»Worauf wollen Sie hinaus, Galverin?«

»Wir wissen beide, dass sich Ihre sogenannte Zone seit vielen Jahren ausdehnt, und dass Ihre Wissenschaftler von der Furcht getrieben werden, dass diese Ausdehnung Dimensionen annimmt, die sie nicht mehr kontrollieren können.« Schmidt beugte sich nach vorn, und es kostete Tipa ihre komplette Selbstbeherrschung, nicht zurückzuweichen. Urplötzlich wurde der Tonfall des Terraners wieder weich, fast schmeichelnd.

»Diese Besorgnis hegt auch der Lordadmiral«, sagte er. »Deshalb hat er mich geschickt. Polychora droht tatsächlich zu kollabieren, und ich darf Ihnen versichern, dass die Folgen eines solchen Ereignisses für die Milchstraße noch weit katastrophaler wären, als es sich Ihre Leute in ihren kühnsten Träumen ausmalen können. Sie sind eine kluge Frau, Tipa. Schauen Sie mir in die Augen, und Sie werden erkennen, dass ich die Wahrheit sage. Die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit.«

Die Piratin hatte auf einmal das Gefühl, dass sich ein stählerner Ring um ihren Brustkorb legte und langsam zusammenzog. Ihr Atem ging schwer und Schweiß trat ihr auf die Stirn. Instinktiv packte sie ihre Teetasse und nahm einen großen Schluck. Der brennende Schmerz, den die noch nicht ausreichend abgekühlte Flüssigkeit in ihrem Mund auslöste, brachte sie wieder zur Besinnung. Ruckartig erhob sie sich und umklammerte ihren Gehstock – in Wahrheit ein mit modernster Technik vollgestopftes Waffen- und Ausrüstungsarsenal – mit beiden Händen.

»Ich …«, brachte sie mühsam hervor. »Wir … reden später weiter.«

Als sie sich umdrehte und die Kabine verließ, musste sie sich zwingen, nicht zu rennen.

 

Galverin Schmidt fragte sich, ob er womöglich übertrieben hatte und zu früh in die Offensive gegangen war. Nein, für Selbstzweifel war jetzt nicht der richtige Moment. Auch wenn es in gewisser Weise absurd klang, so war die Zeit dennoch ein Faktor, den er in der gegenwärtigen Situation nicht ignorieren konnte.

Er schloss die Augen und lauschte in sich hinein. Ja, da war es! Das Wispern und Tuscheln der keimenden Raumzeit, das er zu Beginn nur als fernes Hintergrundrauschen vernommen hatte, kam jetzt klar und deutlich. Die Zone reagierte – auf ihn!

Schmidt erhob sich. In den nächsten Stunden musste er Entscheidungen treffen. Wichtige Entscheidungen, die die Zukunft Polychoras und womöglich auch der gesamten Milchstraße betrafen. Konnte er es sich leisten zu warten? Durfte er es riskieren, sich auf Tipa Riordan zu verlassen, eine Frau, die sich die Unsterblichkeit erschlichen hatte und die Weitsicht einer ferronischen Zweifingerraupe besaß?

Galverin Schmidt konzentrierte sich. Unmittelbar vor ihm begann die Luft zu vibrieren. Es sah aus wie das sommerliche Hitzeflimmern über einer der Straßen seiner Geburtsstadt La Paz. Der Terraner wusste nicht mehr viel von seinem ersten Leben. Es war mit den Jahrzehnten in seiner Erinnerung verblasst. Das trotz Wetterkontrolle stets schwülfeuchte Klima und das in den meisten Monaten des Jahres vorherrschende Gefühl, Wasser zu atmen, waren ihm jedoch im Gedächtnis haften geblieben. Jedes Mal wenn er den Glitter sah, musste er wieder daran denken.

Aus dem Flimmern schälten sich erste silbrige Strukturen, mikroskopisch dünne Fäden, die aus sich selbst heraus leuchteten, sich wie ein Nest aus Schlangen umeinander wanden, sich vereinten und wieder voneinander lösten. Dazwischen funkelte ein Meer winziger Diamanten, jeder einzelne ein potenzieller Keim für ein komplettes Universum. Es war das Schönste, das Galverin jemals gesehen hatte, und so erlebte er es jedes Mal wieder.

Der Glitter formte eine amorphe Wolke, deren zerfasernde Ränder wie winzige Tentakel aussahen. Weder Wissenschaft noch Dichtung waren in der Lage, den Zauber dieses unfassbaren Phänomens adäquat in Worte zu fassen. Galverin Schmidt wusste das, denn er hatte es fast hundertfünfzig Jahre lang versucht.

Die irisierende Region aus kondensierter Regellosigkeit kümmerte sich nicht um die Zwänge und Grenzen des in Raum und Zeit erstarrten Universums der Menschen. Naturgesetze besaßen dort keine Gültigkeit. Gegenüber dem Glitter war selbst Chaos ewige Ordnung und Gleichförmigkeit. Aus dem Glitter heraus entstand alles und nichts, definierten sich Traum und Realität. Wie konnte man bei diesem Anblick keine Ehrfurcht vor der Schöpfung empfinden?