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A l e x a   v o n   H e y d e n

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E i n   k l e i n e s   M ä d c h e n
v e r l i e r t   s e i n e n   V a t e r.
E i n e   j u ng e   F r a u
f i n d e t   z u   s i c h.

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Meine Mutter steht hinter einer Absperrung in Terminal eins und lächelt in sich hinein. Noch sieht sie mich nicht, aber ich sehe sie: Wie sie von einem Bein auf das andere tritt, in ihrer knautschigen braunen Lederhandtasche nach einem Pfefferminzbonbon kramt und dann wieder aufschaut und lächelt – sie kann ihre Vorfreude nicht verbergen. Auch ich würde am liebsten losrennen und sie umarmen, aber ich warte noch auf meine Siebensachen, während fremde Koffer auf dem quietschenden schwarzen Gepäckband an mir vorbeifahren. Es herrscht Gedränge, die Stimmung ist angespannt. Am Freitagabend betet jeder Passagier, dass seine Tasche nicht die letzte ist. Alle wollen zu ihrer Familie, ins Wochenende. Das Gepäck einer Frau ist so schwer, dass sie es nicht allein hochheben kann. Ein Mann hilft ihr. Als er sich bückt, um den Trolley mit beiden Händen vom Band zu schaufeln, rutscht seine Hose ein Stück runter und legt seine behaarte Po-Ritze frei. Ich muss lachen. An den Glaswänden stehen in großen gelben Klebebuchstaben die Artikel aus dem Rheinischen Grundgesetz geschrieben. »Jede Jeck is anders« – das ist mein Lieblingsspruch. Während der Mann seine Last auf einen klapprigen Gepäckwagen krachen lässt, schiebe ich mich mit einem »’tschuldigung« an ihm vorbei und berge, was mir gehört.

Hinter der Glaswand, die mich und meine Mutter nur noch wenige Augenblicke voneinander trennt, recken und strecken sich die Köpfe von Menschen, um ihre Verwandtschaft zu entdecken. Meine Mutter ist nicht groß, so wie viele Mütter kleiner als ihre erwachsenen Töchter sind. Als sie mich sieht, winkt sie mit beiden Armen, als müsse sie einen Hubschrauber einwinken, und lacht so doll, dass man die Lücke zwischen ihren Vorderzähnen sieht. Ich sehe sie auf- und abspringen, stumm, ohne Geräusche, und forme mit dem Mund ein »Hallo«.

Meine Mutter liebt Wiedersehen. Am liebsten hätte sie uns Kinder nie von zu Hause wegziehen lassen. Jetzt lebt sie allein in einem Haus, in dem zu viele Zimmer leer stehen und in dem ihr niemand eine gute Nacht wünscht, bevor sie schlafen geht. Immer, wenn ich wegfahre, muss ich ihr versprechen, dass ich bald wiederkomme. Ich wünschte, ich könnte sie einpacken und mitnehmen, aber so funktioniert das Leben nicht.

»Sonnenschein!«, ruft sie, als ich in die Ankunftshalle des Flughafens trete. Ein paar Leute schauen zu uns hin. Meine Mutter klatscht in die Hände und presst sie vor ihrem Herzen zusammen. Dann breitet sie ihre Arme aus und lässt mich in sie hineinlaufen, wie ein Sprinter ins Ziel. Wir umarmen uns länger als die meisten anderen, die sich heute wiedersehen. Meine Mutter überschüttet mein Gesicht mit Küssen. Als Teenager war es mir peinlich, wenn sie mich in der Öffentlichkeit »Sonnenschein« nannte und abknutschte. Heute will ich in den Arm genommen, geküsst und mit Kosenamen gerufen werden. Alle sollen sehen, wie glücklich ich bin, meine Mutter zu haben. Mein Vater holt mich nicht ab. Er ist tot.

Mein Vater war manisch-depressiv und hat sich das Leben genommen. Es ist lange her und ich rede nicht gern darüber. Meine ganze Familie redet irgendwie nicht viel darüber. Vielleicht weil keiner so richtig weiß, wie. Irgendwer fängt immer an zu weinen und ehe man sich versieht, ist die Stimmung im Eimer. Aber das soll nun anders werden, zumindest habe ich es mir vorgenommen. An diesem Wochenende bin ich nicht zu Besuch, um gut zu essen und meine Wäsche zu waschen. Es ist weder ein Feiertag noch hat jemand Geburtstag. Ich bin gekommen, um mich zu erinnern. Das hat sowohl persönliche als auch praktische Gründe. Ich brauche Infos für meine Abschlussarbeit, die ich in ein paar Wochen abgeben muss. Das Thema heißt »Lebenslust und Lebensmüdigkeit – der Selbstmord als Kulturphänomen«.

Ich bin jetzt 25 Jahre alt und habe keinen Schimmer, wer ich bin. Vielleicht liegt es daran, dass ich nicht weiß, wer mein Vater eigentlich war. Das Problem war mir vorher nicht so bewusst, aber dann ist etwas passiert und das war so, als hätte mir jemand einen Kübel Eiswasser ins Gesicht gekippt.

Vor ein paar Monaten habe ich mich in Magnus verliebt. Es war in einer Bar in Berlin, wo man Flipper spielen kann. Er stand mit dem Rücken zu mir und hämmerte auf den blinkenden Spielautomaten ein. Mir gefielen sein Lockenkopf und seine Arme, auf denen sich die Adern wie Seile abzeichneten. Als er sich umdrehte, wusste ich, dass da was geht. Meine Knie wurden weich und ich konnte kaum mehr dem Gespräch meiner Freundinnen folgen, mit denen ich an der Theke stand und Tequila trank. Ich dachte nur noch daran, ihn zu küssen.

Zwei Stunden später fuhr ich auf Magnus’ Fahrradlenker mit ihm nach Hause und schlief mit ihm, ohne zu wissen, was er für ein Sternzeichen ist, wie er mit Nachnamen heißt und ob er irgendwelche Geschlechtskrankheiten hat. Magnus sagte, mein Geruch würde ihn süchtig machen, und küsste meinen Busen und meinen Bauch, bevor er mir die Unterhose auszog. Er fragte mich, ob ich wüsste, wie lustig ich sei. Ich hätte in der Bar einen Spruch nach dem anderen rausgehauen; so ein schlagfertiges Mädchen wie mich hätte er noch nie erlebt. Und er kommt aus Berlin, das will was heißen. Ich bin ja eher vom Dorf.

»Meine ganze Familie ist so lustig«, antwortete ich. Es ist nicht so, dass wir uns zu Hause gegenseitig Sketche aufführen. Eine kleine Bemerkung am Rande reicht aus und meine ganze Familie bricht in Lachen aus. Mein Kumpel Andi behauptet, dass Humor eine Art der Kompensation sein kann, man müsse nur an den Jüdischen Humor denken. Gerade weil bei uns in der Familie so etwas Schlimmes passiert ist, sind wir so lustig. Auf der anderen Seite ist es eine sichere Methode, damit man nicht auf »das Thema« zu sprechen kommt.

Dann fragte mich Magnus: »Was machen deine Eltern?«

Ich erzählte ihm, dass meine Mutter Ärztin ist und mein Vater schon tot.

»Tut mir leid zu hören«, sagte er.

Ich schob direkt hinterher: »Das braucht dir nicht leidzutun, der hat sich umgebracht.«

Nie zuvor hatte ich das so geradeheraus zu jemandem gesagt, schon gar nicht zu einem Mann, dem ich gefallen wollte. Aber zu Magnus hatte ich von Anfang an Vertrauen, es war ganz komisch. Den Rest der Nacht blieben wir wach und hörten Musik. Wir konnten nicht schlafen, denn wir verliebten uns. Erst als die Sonnenstrahlen über die Dächer krochen, überkam uns die Müdigkeit.

Ich wachte am Nachmittag auf. Magnus war nicht da, als ich die Augen aufschlug. Ich war nackt, er war einkaufen – das stand auf einem Stück kariertem Papier, das neben mir auf dem Kopfkissen lag. Ich überlegte, ob unsere gemeinsame Nacht doch nur eine einmalige Sache gewesen war und ich, ohne Tschüss zu sagen, abhauen sollte, aber ich wollte nicht gehen. Ich stand auf und spionierte in der Wohnung herum, suchte nach einem Ausweis mit Magnus’ Nachnamen, Fotos von einer eventuellen Freundin, schaute mir die Klamotten im Schrank und die Lebensmittel im Kühlschrank an, was für Zeitungen neben seinem Bett lagen und welches Duschgel er benutzte. Ich versuchte mich ein bisschen herzurichten, rubbelte mir mit dem Zeigefinger und Zahnpasta über die Zähne, wusch mir die Wimperntuschereste aus dem Gesicht und suchte nach einem Deo, aber fand keins. Als Magnus die Tür aufschloss, sprang ich unter die weiße Bettwäsche und tat so, als wäre ich gerade erst aufgewacht. Als er einen Himbeerjoghurt für mich aus der Tüte packte, wusste ich, dass es kein One-Night-Stand gewesen war. Mein letzter Freund wollte noch nicht mal, dass meine Zahnbürste in seinem Badezimmer stand. Magnus reichte mir den Joghurt und einen Esslöffel ins Bett und legte sich in Klamotten neben mich.

»Was machst du eigentlich?«, fragte ich ihn.

»Jura studieren«, antwortete er.

»Du siehst gar nicht aus wie ein Jurist.«

»Wie sehen Juristen denn aus?«

»Hast du keinen Lodenmantel?«

»Nein, ich bin doch kein Förster!«

»Und auch keinen Siegelring?«

»Nein!«

»Hast du eine Freundin?«

»Ich hoffe es.«

Dann mussten wir beide lachen.

Die folgenden Tage war ich nur in meiner WG, in der ich mit meinen Freundinnen aus der Bar lebte, um frische Klamotten zu holen, und fuhr dann wieder zu Magnus. Wir gingen im Park spazieren, knutschten hinter den Bäumen und verbrachten den Rest des Tages im Bett. Ich wohnte gewissermaßen seit unserer ersten Nacht bei ihm und habe damit wohl gegen sämtliche Regeln des Datings verstoßen. Im Nachhinein glaube ich, dass unser Kennenlernen wirklich so etwas wie Schicksal war, denn was dann geschah, sollte uns für immer zusammenschweißen.

Eines Abends ging ich los, um uns Rotes Curry vom Thailänder zu holen. Als ich zurückkam, saß Magnus mit seinen Klamotten unter der Bettdecke, war ganz blass und sagte, er wolle nichts mehr essen. Gerade habe ein Kumpel angerufen und gesagt, es sei was Schlimmes geschehen. Sein Freund Thorsten sei angeblich tot. Man wisse nichts Genaues, aber der Bruder hatte wohl einem anderen Freund Bescheid gesagt und in der Zeitung von heute stehe ein Bericht über einen Typen, der in Berlin-Mitte von einem Hochhaus gesprungen war. Auf dem Foto sah man die Schuhe des Toten und Magnus meinte, das wären Thorstens Stiefel. Ein paar Stunden später bestätigten die Eltern, dass ihr Sohn tot war. Seitdem schlief Magnus nicht mehr auf mir, sondern in meinen Armen ein. Er sagte, ich solle ihn einfach nur festhalten.

Vor ein paar Wochen waren wir noch mit Thorsten auf einer Party gewesen, wo er ein paar Worte mit mir gewechselt hatte. »Du bist also die neue Freundin …«, sagte er und es klang, als ob er mich auf die Probe stellen wollte.

Ich antwortete »Hallo, ich bin Helena«, reichte ihm meine Hand und drückte extra fest zu, damit er einen guten Eindruck von mir hatte. Ich wollte, dass er mich mochte. Er sah gut aus, fand ich. Thorsten drehte sich um und bestellte ein Bier, gab mir die Flasche, knallte seine dagegen und ging.

Auf der Beerdigung stand ich neben Magnus und hielt seine Hand. Ich konnte mich nicht bewegen und ihn nicht trösten. Er wankte zu seinen Freunden, die Jungs lagen sich in den Armen. Ein großes, unglückliches Menschenbündel. Alle weinten, außer mir. Ich fand das als neue Freundin irgendwie unhöflich und versuchte, ein paar Tränen aus meinen Augen zu pressen, aber es kam nichts. Ich stand auf dem Friedhof zwischen all den Gräbern herum und war unfähig, etwas zu sagen. Aber mir wurde eins klar: Im Gegensatz zu mir hat diese Familie ein Grab, an das sie gehen kann. Mein Vater hat kein Grab. Deshalb habe ich nie um ihn getrauert, so wie Magnus an diesem Tag um seinen Freund und sein verschenktes Leben trauerte.

Das Schlimme war, dass Thorsten auch noch aufgebahrt wurde. Als Magnus die Leiche von seinem Freund sah, hatte ich Sorge, dass sein Kreislauf zusammenbricht. Es war ein fürchterlicher Anblick.

»Das ist doch nicht Thorsten, der sieht aus wie ein Hase«, schniefte Magnus. Und wirklich: Der hübsche Junge war nicht wiederzuerkennen, wobei schwer zu sagen war, ob es an der Wucht des Aufpralls auf einen vor der Tür des Hochhauses geparkten dunkelblauen Golf lag oder einfach daran, dass er tot war. So oft sieht man als normaler Mensch ja keine Leichen, schon gar nicht von Leuten, die aus dem zwanzigsten Stock gesprungen sind.

Der Pfarrer erzählte in der Trauerrede von Thorstens Einlieferung in die psychiatrische Klinik ein paar Tage vor seinem Tod. Seine Eltern hatten darauf bestanden, weil er ihnen gegenüber Selbstmordabsichten geäußert hatte. Er wurde kurze Zeit später wieder aus dem Krankenhaus entlassen, »weil er auf den Arzt so unheimlich vernünftig wirkte«.

Magnus und seine Kumpel heulten Rotz und Wasser und fragten immer wieder »Warum?«. Eine berechtigte Frage, auf die es viele mögliche Antworten gibt: Krankheit, keine Perspektive, Mobbing, Liebeskummer, Schulden oder Depressionen. Ein paar dieser Punkte trafen mehr oder weniger wohl auch auf Thorsten zu. Aber wie und wann genau kommt man zu der Entscheidung, sterben zu wollen und seine Familie zu täuschen, also so zu tun, als sei plötzlich wieder alles in Ordnung? Auch mich hat diese Frage gar nicht mehr losgelassen.

Das Thema »Selbstmord« wurde von da an mein Hobby, wobei man meiner Meinung nach ja »Suizid« und nicht »Selbstmord« sagen sollte, weil Mord ein Verbrechen ist und ein Selbstmörder ist kein Verbrecher, sondern eher ein armer Tropf. »Freitod« klingt – finde ich – richtig beknackt, so als sei es eine Heldentat, aus einem Hochhaus zu springen. Auch der Suizid meines Vaters war keine Heldentat. Er ließ eine junge Frau und uns Kinder im Stich. Es wäre geradezu absurd, wenn ich von »Freitod« sprechen würde. Thorsten war 27 Jahre alt. Mein Vater 38.

Magnus machte sich bittere Vorwürfe und konnte nicht verstehen, dass er nicht gemerkt hatte, wie schlecht es seinem Freund ging – wie auch? Die letzten Wochen hatte er mit mir im Bett verbracht und war nicht an sein Handy gegangen, weil wir lieber allein sein wollten. Kurz nach der Beerdigung bekam Magnus so hohes Fieber, dass ich ihm nachts Wadenwickel machen musste. Er kroch bei seinen Eltern unter und ließ sich von Mutti mit Hühnersuppe aufpäppeln. Ich blieb allein in seiner Wohnung und las jedes Buch zum Thema »Selbstmord«, das mir in die Finger kam, angefangen von Wenn es dunkel wird – Zum Verständnis des Selbstmordes von der selbst manisch-depressiven Psychiaterin Kay Redfield Jamison bis hin zu Veronika beschließt zu sterben von Paulo Coelho. Ich lud sämtliche Statistiken der Weltgesundheitsorganisation, Broschüren und Merkblätter runter, die man im Internet finden konnte und war geschockt: 350 Millionen Menschen weltweit leiden unter Depressionen, alle vierzig Sekunden nimmt sich jemand das Leben. Pro Jahr sterben mehr Leute durch Suizid als an den Folgen von Verkehrsunfällen und durch Mord zusammen, wobei zwanzig Mal so viele Versuche unternommen werden. Ich wusste nicht, dass es einen »Bilanzsuizid« gibt, dass sich wesentlich mehr Männer als Frauen umbringen – obwohl sich mehr Frauen zu Depressionen bekennen – oder dass in Japan die Leute früher in Scharen in einen Vulkan namens Mihara sprangen, bevor jemand auf die Idee kam, den Krater abzusperren. Die Nazis haben Psychiatrie-Patienten vergast.

Ich versuchte, den Unterschied zwischen Freuds »Thanatos« – dem Todestrieb – und »Eros« – dem Lebenstrieb – zu verstehen, und las über die Schicksale von berühmten Selbstmördern, von Kurt Cobain bis Hannelore Kohl. Es gibt so viele Menschen, die berühmt, reich und beliebt gewesen sind und sich trotzdem umgebracht haben. Nicht nur mein manisch-depressiver Vater. Aber früher konnte man ja nichts googeln und in der Zeitung liest man über Selbstmord nur etwas, wenn derjenige, der sich umgebracht hat, prominent war. Wegen dem »Werther-Effekt« vermeiden die Medien es, über Menschen, die sich vor den Zug werfen, zu berichten, da gibt es so etwas wie ein Stillschweigeabkommen.

Man unterscheidet zwischen »harten« (zum Beispiel Erhängen und Erschießen) und »weichen« Methoden (zum Beispiel eine Überdosis Schlaftabletten). Das Aufschneiden der Pulsadern wird angeblich von geistig hochstehenden Menschen bevorzugt, welche die Existenz im Allgemeinen und das eigene Dasein im Besonderen als sinnlos empfinden. Leute, die ihr Geld oder ihren Besitz verloren haben, greifen zur Pistole; in Amerika ist wegen des lockeren Waffengesetzes das Erschießen sowieso eine beliebte Methode. In Großstädten springen die Leute von Hochhäusern, im Zusammenhang mit politischer Gesinnung oder Ehre verbrennen sich die Menschen. Andere, die kein großes Aufheben um ihre Person wünschen, schlucken Tabletten, während Enttäuschte das Wasser bevorzugen. In Wien gibt es einen Friedhof für Selbstmörder. Er heißt »Der Friedhof der Verdammten«. Früher hat sich die Kirche geweigert, Selbstmörder auf dem Gemeindefriedhof zu begraben. Man hat ihre Leichen mit Zangen angefasst und sie auf Wegkreuzungen beigesetzt, damit ihre Seelen nicht zurück in die Stadt finden konnten.

An dieser Stelle merkte ich, wie mir das Lesen wehtat, denn auch ich habe mich immer dafür geschämt, dass mein Vater sich das Leben genommen hat. Irgendwo stand, dass jeder Selbstmörder im Schnitt sechs bis acht Familienmitglieder und bis zu zwanzig Freunde hinterlässt. Ich hätte mich also all die Jahre gar nicht genieren müssen. Ich bin nicht die Einzige.

All diese Fakten haben mich umgehauen. Das müssen die Leute doch wissen, dachte ich und beschloss, meine Abschlussarbeit an der Uni über das Thema »Selbstmord« zu schreiben. Aber dafür fehlte mir noch ein Puzzleteil: Ich wusste, dass ich mich nicht mit Depressionen und Suizid auseinandersetzen konnte, wenn ich mich nicht auch mit dem Tod meines Vaters auseinandersetze. Nicht, dass ich ihn in der Arbeit erwähnen wollte, aber es hätte sich sonst einfach falsch angefühlt. Also buchte ich einen Flug nach Hause und bereitete meine Mutter am Telefon schonend darauf vor, dass ich vorhatte, in dem Karton mit alten Klamotten, Kassetten, Dias und Unterlagen meines Vaters zu wühlen. Magnus, der in der Zwischenzeit wieder genesen war und bei sich zu Hause schlief, war nicht begeistert, dass ich abreiste, und fühlte sich alleingelassen. Aber er spürte, dass es wichtig für mich war, und ließ mich gehen.

»Mein Mädchen, da bist du ja endlich, ich stehe schon so lange hier …«, sagt meine Mutter am Flughafen und drückt mir noch einen Kuss auf die Wange. Wir umarmen uns so fest, als wollten wir eine Orange zwischen uns auspressen. Ich halte den Atem an, weil ich sie durch die Bewegung meiner Brust von mir wegdrücken würde. Meine Mutter streicht mir mit ihrem Handrücken über die Wange. Sie nimmt mein Gepäck, das viel zu schwer für sie ist. Früher hat sie immer die Taschen für mich getragen. Sie ächzt. Der Rücken tut ihr weh. Ich will nicht wahrhaben, dass meine Mutter älter wird. Ihr geht es umgekehrt genauso. Ständig erinnert sie mich daran, wie klein ich als Baby war, so winzig, dass sie mich auf dem Unterarm tragen konnte.

»Mami, lass das doch«, sage ich und löse ihre Finger von dem Tragegurt. Meine Mutter weiß ja, warum ich komme. Sie schaut mich an und wartet, dass ich etwas sage. Ich setze mein Sonnenscheinlachen auf, aber meine Mundwinkel zittern.

»Warum interessierst du dich auf einmal für ihn? Dein Vater war dir doch sonst nicht so wichtig«, hatte sie mich am Telefon gefragt, nachdem ich ihr meine Pläne für das Wochenende eröffnet hatte.

Das stimmt nicht ganz. Ich wollte nie über ihn sprechen, weil ich, wie gesagt, nicht wusste, wie, ohne dass jemand anfängt zu weinen. An jedem Weihnachtsfest wurde geweint, nachdem wir erst das Krippenspiel in der Kirche angeschaut, Wiener Würstchen mit Kartoffelsalat gegessen und unsere Geschenke ausgepackt hatten. Der Abend endete immer mit Heulerei. Sein Todestag war jedes Mal ganz komisch, der ist ja mitten im Sommer. Wir taten alle so, als wäre nichts, aber jeder wartete darauf, dass einer sagte: »Heute vor so und so vielen Jahren ist es passiert.« Meine Mutter drehte sich dann immer zum Fenster, weil sie nicht wollte, dass wir ihre Tränen sahen. Meine Brüder versuchten, sich zusammenzureißen. Manchmal weinte einer von ihnen mit oder sie weinten alle zusammen. An meinem Geburtstag und den Geburtstagen meiner Geschwister jammerte meine Tante, es sei nicht fair, dass wir schon Halbwaisen seien. Auch am Geburtstag meiner Mutter kam aus irgendeiner Ecke ein Schniefen, weil sie viel zu jung war, um Witwe zu sein. An Ostern sahen wir dabei zu, wie der Vater der Nachbarskinder schweißgebadet die Schokoladeneier in den Sträuchern und Bäumen versteckte, und hatten danach alle keine Lust mehr auf Ostern. Mein Vater hat uns jedes Fest versaut, ohne da zu sein. Das hat mich einfach so wütend gemacht, dass ich nichts mehr von ihm hören wollte. Ich habe ihn dafür richtig gehasst.

Wenn wir in der Stadt einkaufen waren, ging meine Mutter mit meiner kleinen Schwester Caro und mir in das Münster und kaufte drei Teelichter. Jeder von uns sollte eine Kerze anmachen und auf einem Holzgestell absetzen, das unter der Pieta stand. Die kleine Flamme sollte meinem Vater zeigen, dass wir an ihn dachten. Als meine Mutter das sagte, wollte ich meine Kerze nicht mehr anzünden und hielt sie so fest in der Hand, dass sich das Metallschälchen verbog. Dann schaute ich zu Maria und schämte mich. Sie sah so traurig aus, mit ihrem sterbenden Sohn auf dem Schoß. Ich traute mich nicht, eine nicht angezündete Kerze unter ihr abzustellen. Ich dachte, dann bekomme ich Ärger mit Gott. Seit der Beerdigung von Thorsten dachte ich oft an Maria, wie sie Jesus in den Armen hielt. In der Kirche gilt Selbstmord als Sünde. Für mich war es das auch. Nicht, weil ich glaubte, dass nur Gott über Leben und Tod entscheiden darf. Nein, weil es eine Sünde ist, was man seiner Familie damit antut. Das kann man einfach nicht machen. Zu diesem Zeitpunkt war mir noch nicht klar, dass Depressionen eine Krankheit sind und Suizidalität ein Symptom.