Titelbild
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www.piper.de

ISBN 978-3-492-97234-5

August 2015

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2004

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: Hans Makart (»Romeo und Julia an der Treppe«, Artothek)

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

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Für Paula

Den »Kaufmann von Venedig«

haben wir zusammen gesehen.

Erinnerst du dich, mein Liebling?

Der Bruno hat den Shylock gespielt.

Macbeth

Es war einmal ein König, der hieß Duncan. Er wurde der Friedfertige genannt. Da wußten die Leute, daß er nicht friedfertig war. Er führte Krieg und verhandelte nicht mit seinen Feinden. Ein Feind bleibt immer ein Feind – das war seine Devise. Die Kriege waren kurz und verheerend. Bald hatte er alle seine Feinde besiegt. Sieg hieß Vernichtung. Nun war es nicht mehr nötig, Krieg zu führen. Viele Jahre herrschte Frieden, und Duncan wurde der Friedfertige genannt. Die Leute sagten: Friede ist, wenn kein Krieg ist. Aber sie fürchteten den Friedfertigen, sie liebten ihn nicht.

Daß die Siege vollkommen waren, verdankte König Duncan vor allem zwei seiner Generäle: General Banquo und General Macbeth. Diese beiden wußten die Heere zu führen, und sie wußten, daß man mit Feinden nicht verhandelt. Sie wußten, daß der Friede nicht aus Diplomatie, sondern aus Vernichtung erwächst.

Über Macbeth hieß es, er sei der Bessere von beiden, weil der Konsequentere, und das hieß: der brutalere Krieger. Die Soldaten bewunderten Macbeth. Angst schien er nicht zu kennen. Den Tod schien er nicht zu fürchten. Wenn die Schlacht um ihn herum tobte, hielt er sein Pferd an und richtete sich auf. Die Majestät des Todes verneige sich vor ihm, hieß es. Macbeth scheute keine Konfrontation. Stirn gegen Stirn mit dem Feind – und am Ende des Tobens war er der einzige, dem keine Wunde geschlagen worden war. Ruhe, Gelassenheit, Voraussicht, Kälte in der Analyse – als gelänge ihm das Unmögliche, nämlich die Gegenwart in Vergangenheit zu verwandeln, die er gleichsam im Rückblick betrachtete: Aus der Vergangenheit droht keine Gefahr, aus der Vergangenheit ragt kein Schwert herüber.

Macbeth war ein Schweiger. Er sprach nicht viel mit seinen Leuten. Die meisten seiner Sätze hatten am Ende ein Ausrufezeichen. Einmal aber habe er General Banquo die Prinzipien seines Handelns erläutert.

»Was ist Handeln?« fragte Macbeth seinen Mitstreiter.

»Handeln«, gab Banquo zur Antwort, »handeln heißt, eine Strecke Zeit nach deinem Willen gestalten.«

»Ich weiß«, sagte Macbeth, »das denken alle. Und dann sind sie enttäuscht und versagen. Nicht der Weg soll dich interessieren, sondern nur das Ziel. Was ist das Ziel, das ich erreichen will? Ausschließlich diese Frage ist für mich von Bedeutung. Das Ziel sucht sich den Weg von allein. Du mußt Vertrauen zu deinem Ziel haben. Du mußt dich darauf verlassen, daß der Weg der einzig richtige sein wird, weil ihn das Ziel selbst für dich ausgewählt hat. Du wirst dem Ziel untreu, wenn du dich um den Weg kümmerst. Hast du das Ziel erreicht, wirst du sagen: Ich bin den einzigen Weg gegangen, der zu diesem Ziel
führte.«

Banquo und Macbeth waren nicht Freunde. Macbeth hatte keine Freunde. Aber Banquo war der einzige Mensch, mit dem er manchmal ein paar Worte über das Notwendige hinaus wechselte.

Der General war verheiratet. Und er war glücklich verheiratet. O ja, darüber wurde viel spekuliert. Die Offiziere sprachen darüber hinter vorgehaltener Hand, die Soldaten redeten drüber. Die Soldaten rissen über alles ihre Witze, über die Ehe von General Macbeth aber sprachen sie voll Respekt. Aber aus dem Staunen kamen sie nicht heraus. Der hat eine Frau? Der liebt? Der weiß, was Liebe ist? Der ist glücklich? Der weiß, was Glück ist? Der? Das konnten sie sich nicht vorstellen. Aber es hieß, die Liebe und das Glück seien so mächtig zwischen den beiden, daß sie niemanden sonst in ihrem Leben brauchten. Lady Macbeth und ihr Gemahl genügten einander. Das war schön. Es war schön, solche Worte auszusprechen. Und am Ende staunten die Soldaten, wie sie von Anfang an gestaunt hatten: Wie konnten in diesem kältesten aller Herzen Zärtlichkeit und Hingabe gedeihen und überleben?

Die Geschichte beginnt im Krieg, genauer: mit dem Ende eines Krieges. König Duncan, der Friedfertige, hat sein Heer gegen Aufständische geschickt. Wir wissen nicht, wogegen sich der Aufstand gerichtet hatte. Wir können es uns denken, wahrscheinlich gegen das, was Duncan Frieden nannte. Der Aufstand wurde rasch niedergeschlagen: Banquo und Macbeth hatten die Operation durchgeführt.

Es wird dem König berichtet, wie tapfer und effektiv Macbeth gekämpft habe. Er habe den Feinden die Bäuche aufgeschlitzt, vom Nabel bis zum Hals, heißt es. Das mag König Duncan nicht so gern hören, er wollte solche Szenen auch nicht sehen. Ihn interessiert nur das Ziel. »Den Weg sollen gehen, die ich auf den Weg schicke. Ich warte beim Ziel.«

Der König will seinen Generälen nicht auf dem Schlachtfeld begegnen. Es wird eine Siegesfeier geben, nach einer Weile, man muß den Helden Zeit lassen, damit sie sich etwas frisch machen. Duncan ist der Friedliebende, Spuren des Krieges machen ihn nervös und traurig, Wunden deprimieren ihn. Er ist gekommen, um den Stand der Dinge zu sehen, und er verläßt das Schlachtfeld wieder, noch ehe seine Generäle erscheinen.

Die Soldaten fassen ihren Sold aus, die Demobilisierung des Heeres wird von den Offizieren geleitet. Die Generäle machen sich auf den Heimweg.

Banquo und Macbeth reiten über die Heide, sie sind allein. Beide leben sie etwas abgeschieden. Jetzt, da der Krieg vorbei ist, verbindet sie nichts mehr. Und als sie schweigend über die Heide reiten, geschieht das Ungeheuerliche. Ungeheuerlich ist nicht das große Abschlachten, scharfer Stahl trifft auf weiche Haut, die Folge widerspricht keinem Naturgesetz. Das Ungeheuerliche ist die Verneinung der Logik, ist die Verwirrung der Kausalität. Als ob der Boden sie ausspeien würde, erscheinen vor den Generälen drei Gestalten: Frauen mit Bärten. Hexen. Ein Scherz? Wer würde die Tollkühnheit besitzen, mit Männern wie Banquo und Macbeth einen Scherz zu treiben? Ein Irrbild, eine Halluzination?

»Ich sehe drei Weiber mit Bärten«, sagt Macbeth.

»Ich sehe sie auch«, sagt Banquo.

»Beschreib mir die rechte!« sagt Macbeth.

»Ihr Gesicht ist blau wie vermodertes Blut«, sagt Banquo. »Beschreib du mir die linke!«

»Ihr Gesicht ist grün wie Schimmel«, sagt Macbeth.

Keine Halluzination, nein. Wie sollten die gleichen Irrbilder zur selben Zeit in zwei so verschiedenen Köpfen entstehen?

Die Hexen begrüßen die Generäle. Zuerst begrüßen sie Macbeth.

Die erste Hexe, die mit dem blauen Gesicht, sagt: »Heil dir, Than von Glamis!«

Sie kennt ihn wohl? Than von Glamis ist ein Titel, und nur Macbeth darf ihn tragen.

Die zweite Hexe sagt zu ihm: »Heil dir, Than von Cawdor!«

Than von Cawdor? Macbeth ist nicht Than von Cawdor, diesen Titel trägt er nicht, ein anderer trägt diesen Titel. Und es ist kein guter Mann, der diesen Titel trägt. Der hat es mit den Aufständischen gehalten. Es ist eine Beleidigung, mit einem solchen Mann verwechselt zu werden!

Aber bevor Macbeth gegen diese Beleidigung ausholen kann, meldet sich die dritte Hexe, die grüne, sie sagt: »Heil dir, Macbeth, du künftiger König von Schottland!«

Es sind Wesen, die es nicht gibt. Weil es sie nicht geben kann. Weil es sie nicht geben darf. Weil sie in keine Logik und in keine Kausalität passen. Aber was sie sagen, wirft ein Licht in die Zukunft. Und Ziele, diese süßen Versprechungen, liegen per definitionem in der Zukunft …

»Sie haben mich erst als den, der ich bin, dann als Than von Cawdor und zuletzt als König von Schottland angesprochen«, sagt Macbeth, und es klingt verlegen. Aber es klingt auch noch anders, Banquo weiß nur noch nicht wie.

Und nun wendet sich Banquo an die Hexen: »Und mir? Was habt ihr mir zu sagen? Habt ihr mir nichts zu sagen?«

Die erste Hexe sagt: »Doch, doch, Banquo. Lauf nicht weg, Banquo!«

»Ich lauf nicht weg. Sag, was du zu sagen hast!«

Und mit Blick auf Macbeth sagt die erste Hexe: »Banquo! Du bist kleiner als Macbeth. Aber, Banquo, dennoch bist du größer.«

Und die zweite Hexe läßt keinen Platz zwischen diesem letzten Wort und ihrem ersten: »Banquo! Du bist nicht so glücklich wie Macbeth. Aber doch bist du viel glücklicher als er!«

Und die dritte Hexe schließt an: »Banquo, Banquo! Du wirst nie König werden, nicht in Schottland und auch in keinem anderen Land. Aber, Banquo, du wirst der Vater von Königen sein.«

Nur für einen Moment lassen die beiden Generäle die Hexen aus den Augen, der eine sieht den anderen an, und beide sehen im anderen einen Feind, denn in diesem Moment glauben Macbeth und Banquo an das, was nicht logisch ist und nicht kausal. Aber dann glauben sie wieder, was sie immer glaubten. Und die Hexen sind weg. Luft, die verblasen wird schon durch das Wiehern der
Pferde.

Darüber reden? Ja, das hätten sie sicher gern getan, Macbeth und Banquo. Aber sie hatten keine Gelegenheit dazu.

Ein Bote kommt geritten. Er springt vom Pferd, geht auf Macbeth zu, Zeigefinger voran, und sagt: »Ich habe eine gute Neuigkeit für dich: Der König hat dich zum Than von Cawdor ernannt!«

Macbeth: »Aber es gibt doch schon einen Than von Cawdor. Was ist mit ihm?«

Der Bote: »Er ist ein Verräter! Du weißt es, und du hast es immer gewußt. Er ist verhaftet worden, er ist degradiert worden, er ist eingesperrt worden, er wird hingerichtet werden. Er hat es mit den Aufständischen gehalten. Du, Macbeth, hast es als einziger gewußt, du, Macbeth, hast als einziger vor ihm gewarnt. Der König ist beschämt, daß er dir nicht geglaubt hat. Der König möchte, daß du von nun an diesen Titel trägst!«

Banquo und Macbeth lassen nur für einen Moment den Boten aus den Augen, der eine sieht den anderen an, und der eine sieht in den Augen des anderen das Ziel, das ihm die Hexen gesteckt haben. Die erste Weissagung der Hexen hat sich bereits erfüllt! Und wie hat die dritte Hexe den Macbeth begrüßt? »Heil dir, du künftiger König von Schottland!«

Kann Banquo an etwas anderes denken, als daß er kleiner und doch größer, unglücklicher und doch glücklicher als Macbeth ist, daß er selbst zwar nie König, aber Vater von Königen werden wird?

»Man soll sich vor solchen Weissagungen hüten!« sagt er, als der Bote davon ist. »Manche solcher Sprüche wecken Ambitionen. Wenn du weißt, was ich meine …«

Macbeth weiß, was Banquo meint. Aber warum sollte er Banquo antworten? Er ist nun Than von Cawdor. Er ist es. Er ist es geworden, ohne es gewollt zu haben. Und wenn alle anderer Meinung sind: Macbeth ist kein ehrgeiziger Mann. Ambition und Ehrgeiz sind Wasser und Brot für den Weg. Der Weg aber hat Macbeth nie interessiert. Nur das Ziel. Die beiden trennen sich.

Lady Macbeth weiß bereits alles. Sie umarmt ihn, als er nach Hause kommt. Ihre Freude gilt dem Mann und dann erst der Ehre, die ihm zuteil wurde. Sie liebt ihren Mann. Und sie weiß, daß sie von ihm geliebt wird. Sie kennt ihren Mann, und sie weiß, was ihm fehlt. Ihr Herz ist für ihn geöffnet, nur für ihn. Er blickt in ihr Herz und sieht dort seine Mängel und sieht, daß die Mängel in diesem Herzen zu liebenswertem und begehrtem Überfluß werden.

»Mein Mann«, sagt sie, »ist weich, und sein Herz ist voll Milch des Mitleids.« Zu wem spricht Lady Macbeth, wenn sie so spricht? Auch sie hat keine Freunde, niemanden, dem sie vertraut. Als sie so zu ihrem Gatten spricht, legt er seinen Kopf in ihren Schoß, und sie erzählt ihm, und in ihren Erzählungen ist er ein anderer. Er ist der Beste.

Heute erzählt er. Von den Hexen erzählt er und von ihren Weissagungen. Und von den Ideen, die sie ihm in den Kopf gesetzt haben.

»Wer auch immer diese Wesen waren«, sagt Lady Macbeth, »ob Hexen, ob Teufel, ob Abgesandte aus der Zukunft, sie wissen, was in dir steckt: der König von Schottland.«

Die Lady weiß, es wird ihrem Mann an Ehrgeiz fehlen. Mögen ihn seine Soldaten für einen mutigen Krieger, mag ihn Banquo für einen genialen Strategen, mag ihn Duncan für einen treuen Vasallen halten, sie kennt ihren Mann: Er tut, was er tut, und er tut es ohne Ehrgeiz. »Ich«, sagt sie, »ich werde die Kraft sein, die dem Mann fehlt. Wir beide sind eins.«

Aber Lady Macbeth kennt ihren Mann in Wahrheit nicht. Was er über Weg und Ziel sagt, das nimmt sie nicht ernst, daß das Ziel sich den Weg von allein sucht und so weiter. »Er soll den Weg gehen, ich werde ihm den Weg bereiten, ich werde den Weg in die Wildnis der Zukunft schlagen«, sagt sie.

Lady Macbeth mißversteht ihren Mann im Grundsätzlichen. Sie unterschätzt die Kraft ihres Mannes, weil sie die Beschaffenheit dieser Kraft nicht kennt. Niemand kennt diese Kraft. Macbeth mag vielleicht nicht besonders intelligent sein – in diesem Punkt ist ihm seine Frau weit überlegen –, ganz bestimmt ist er nicht redegewandt, wie etwa Banquo. Aber: Macbeth verfügt über die Kraft der Einbildung wie kein Mensch in seiner Welt, vielleicht wie kein Mensch vor ihm und keiner nach ihm. Diese Kraft kann mehr als Berge versetzen. Sie vermag Dinge, die sich in der Zukunft ereignen, in die Gegenwart seines Bewußtseins zu rücken, so daß sie als bereits geschehen vor dem Geist des Macbeth erscheinen. Was sagte die letzte Hexe? »Heil dir, Macbeth, dir, künftigem König Heil!« Damit war das Ziel gesetzt. Für Macbeth aber, für seine Einbildungskraft bedeutet dies nicht: Er wird König von Schottland werden – nein, es bedeutet: Er ist es. Als ob der Weg zu diesem Ziel bereits hinter ihm läge. Die Zeit bis dorthin ist für Macbeth nur noch mit Warten ausgefüllt; mit Warten und Staunen darüber, was der Weg alles zu bieten hat. Und Macbeth sieht, der Weg wird blutig sein.

Lady Macbeth sagt: »Du weißt, was dir im Wege steht, um König von Schottland zu werden?«

Selbstverständlich zunächst einmal der König selbst, Duncan; er wird sterben müssen. Dann: Duncan hat zwei Söhne, Malcolm und Donalbain; auch sie müssen verschwinden. Macbeth ist ein Vetter des Königs. Erst wenn König und Prinzen nicht mehr sind, wird er an der Reihe sein.

Lady Macbeth sagt: »Wir müssen es tun. Das Schicksal hat Großes mit dir vor. Erweise dich als würdig! Der König muß sterben!«

Der König hat seinen Besuch im Schloß von Macbeth angesagt. Er will seinen General besuchen, will ihm gratulieren, will ihn ehren, ihm danken.

»Was wir tun müssen, tun wir gleich«, sagt Lady Macbeth.

Macbeth zaudert – so interpretiert ihn seine Frau –, er hadert mit dem Schicksal, so meint sie. Trotz der Nähe kann es ihr nicht gelingen, in den Kern seines Wesens vorzudringen: in die Mechanik seiner Einbildungskraft. Macbeth zaudert nicht, er hadert nicht mit seinem Schicksal. Er wird nicht ein blutiger Schinder werden, er ist bereits ein blutiger Schinder. Im Gegensatz zu seiner Frau, die nach der Tat von ihrem schlechten Gewissen gepeinigt wird, hat er das schlechte Gewissen vor der Tat; lange bevor er den ersten Schritt getan hat. Was habe ich getan! Noch bevor er es getan hat.

Duncan kommt mit königlichem Gefolge. Er betrachtet das Schloß seines Generals, der Anblick stimmt ihn milde.

»Das ist ein Schloß, das für den Frieden gebaut wurde«, sagt er. »Die Schwalben nisten auf den Fenstersimsen unter dem Dach. Wo Schwalben nisten, da ist es friedlich, dort ist die Luft gut.«

Der König hat eine lange Reise hinter sich.

»Laßt uns erst morgen unser Fest feiern«, sagt er. »Ich will mich bald zur Ruhe begeben und lange schlafen.«

Lady Macbeth hat das schönste Gemach für den König herrichten lassen. Der König hat recht: Alles hier erzählt vom Frieden. Die Farben sind warm und weich, es riecht nach Behaglichkeit. Aber ein König ist ein König, und er ist immer ein König. Und es gehört zur Etikette, daß im Schlafzimmer des Königs zwei Wächter sitzen. Und es gibt keinen Grund, warum sich der König für königliche Gepflogenheiten entschuldigen sollte. Aber er tut es
doch.

»Ich kenne keinen Platz auf dieser Welt, der für den König von Schottland sicherer wäre als das Schloß von Macbeth. Aber weil ich weiß, daß mein General die Formen noch mehr schätzt als ich, bitte ich, auch für meine Wächter Quartier in meinem Gemach zu machen.«

Hat Lady Macbeth vergessen, was Sitte ist?

Lady Macbeth ist eine gute Gastgeberin. Wichtig ist nicht nur, daß der König zufrieden ist. Ihre Warmherzigkeit zeigt sich vor allem in ihrem Bemühen um die kleinen Leute. Da sind ja so viele mit dem König gekommen – Knappen, Diener, Knechte, Wachpersonal.

»Ihr sollt nicht bis morgen warten müssen«, sagt die Lady. »Ihr dürft heute schon feiern. Morgen beim großen Fest habt ihr ohnehin genug zu tun.«

Und zu den beiden Soldaten, die im königlichen Schlafgemach Wache halten sollen, sagt sie: »Braucht es in der Sicherheit noch Sicherheit? Ist Macbeth nicht der Wächter aller Wächter?«

Und die beiden Soldaten sagen: »Man kann es gar nicht anders ausdrücken.«

Sie dürfen auch feiern. Alkohol. Viel Alkohol.

Und dann schlafen sie und wachen nicht. Liegen neben dem Bett des Königs. Und schnarchen mit ihm um die Wette.

»Jetzt!« sagt Lady Macbeth zu ihrem Mann. »Jetzt geh! Nimm den Dolch, töte den König!«

Er zaudert. Wieder zaudert er. Sie meint, er fürchte sich.

Sie nimmt den Dolch und sagt: »Ich tue es!«

Sie schleicht in die Kammer, wo der König schläft, neben ihm die betrunkenen Wächter. Da fällt ein Lichtschein auf das Gesicht des Königs. Sie verläßt die Kammer.

»Ich konnte es nicht tun«, flüstert sie ihrem Mann zu. »Er sah aus wie mein Vater.«

Sie schließt seine Finger um den Griff des Dolchs. »Du hast es versprochen«, sagt sie.

Macbeth geht. Und dann hat er eine Vision. Er sieht vor sich den Dolch schweben, den er doch mit der Hand umklammert. Der Dolch ist blutig. Er folgt dem Trugbild. Der Weg ist frei. Macbeth ersticht den König.

Er kommt zurück zur Lady, den blutigen Dolch in der Hand. Weiß im Gesicht.

»Ich sehe es«, sagt sie.

Er ist ruhig, ruhig wie in der Schlacht.

»Du hast einen Fehler gemacht«, sagt sie. »Du hättest den Dolch neben die Wachen legen sollen. Hättest Blut in ihre besoffenen Gesichter schmieren sollen und an ihre Hände und an ihre Kleider, die nach Wein stinken!«

Sie schleicht sich ein zweites Mal in die Kammer. Wendet den Blick vom König ab. Legt die Spuren. Es ist
getan.

Macduff, einer der Edlen aus dem Gefolge des Königs, entdeckt am nächsten Morgen den Mord. Das Bild, das sich ihm zeigt, erzählt eine einfache, eindeutige Geschichte: Die Wächter waren es. Niemand weiß, warum sie es getan haben. Blutbesudelt stehen sie da. Tun so, als wüßten sie von nichts. Haben obendrein die Frechheit zu fragen, was eigentlich geschehen sei. Haben übernächtigte Räusche im Gesicht.

Dann geschieht etwas Begreifliches. Macbeth reißt sich den Dolch vom Gürtel und ersticht die beiden.

»In meinem Haus ist der König ermordet worden!« sagt er. Und er sagt es mit ruhiger Stimme. So kennt man den General: ruhig, gefaßt, voraussehend, den Moment streng analysierend. »Ich konnte meine Gefühle nicht zurückhalten.«

Die Täter sind tot. Der Mord ist gerächt. Macbeth sind die Nerven durchgegangen. Das ist begreiflich. Aber es ist auch höchst unvorteilhaft für die Aufklärung des Königsmordes. Denn es glaubt ja keiner, daß diese bis dahin so treuen Diener von sich aus eine solche Tat planen und durchführen.

Macduff spricht aus, was alle denken: »Wenn sie wirklich die Täter waren, dann haben sie den Tod verdient. Aber wenn sie es nicht waren, sind mit ihnen vielleicht die einzigen Zeugen beseitigt worden.«

Die Söhne von König Duncan, Malcolm und Donalbain, gehen noch weiter: »Warum sollten die Wachen das tun? Sie verdienten gutes Geld in ihren Positionen. Außerdem kann ein Mensch nicht so dumm sein und sich ausgerechnet neben den zum Schlafen legen, den er gerade ermordet hat.«

»Also, was denkt ihr?« fragt Macbeth.

»Nicht, was hinter unserer Stirn verborgen ist, ist wichtig«, antwortet Malcolm, »sondern was du dir denkst, Macbeth!«

Macbeth bleibt ruhig. Nichts geschieht, alles ist bereits geschehen. Er blickt Malcolm kalt ins Auge. »Ich will dir sagen, was ich denke: Wem nützt der Tod des Königs?«

Und jedem ist klar, was Macbeth damit meint: Nun werden Malcolm und Donalbain, die Prinzen, das Erbe antreten. Vielleicht regieren sie gemeinsam, vielleicht wechseln sie sich ab, vielleicht bekriegen sie einander. Aber am Ende wird in den Königsstand gehoben – Malcolm oder Donalbain oder beide.

Oder keiner von beiden.

Malcolm und Donalbain ahnen, worauf das alles hinausläuft. Der Mord an ihrem Vater wäre lächerlich dilettantisch, wenn man dahinter raffiniertes Kalkül vermuten wollte. So plump kann auch der Dümmste nicht vorgehen. Nein! Nicht das ausgeklügelte Ränkespiel irgendeiner Partei präsentiert hier sein blutiges Resultat. Brutale, primitive Gewalt steckt dahinter, eine Gewalt, die sich vor niemandem rechtfertigen zu müssen glaubt. Die Spuren der Tat wurden nur obenhin verwischt, nur der Form halber. Da will sich einer den Thron nehmen, einer, dem gar nichts an Raffinesse, Intrige, niederträchtiger Eleganz liegt. Da ist einer am Werk, dem nur das Ziel etwas
gilt.

Und so einen gibt es hier. Nur einen. Und Malcolm und Donalbain wissen, gegen den können sie nicht antreten. Und wenn der den Thron will, dann sind sie die nächsten, die ihm im Weg stehen. Sie fliehen. Malcolm nach England, Donalbain nach Irland.

Das macht keinen guten Eindruck.

Macbeth tritt vor die Edlen des Hofes. Er hält keine lange Rede, kann er nicht und ist nicht nötig. »Die Königssöhne sind geflohen«, sagt er und fragt: »Haben sie einen Grund?«

Ja, daß es durchaus verschiedene Gründe geben könnte, würde der eine oder andere gern antworten. Auch Gründe, bei denen Macbeth einiges zu erklären hätte. Aber keiner sagt etwas. Macbeth hat nämlich die Fähigkeit, alle Menschen um sich herum in zwei Gruppen zu teilen: in die, die für ihn sind, und in die, die gegen ihn sind. Und wer gegen ihn ist, ist für die geflohenen Prinzen. Und so einer ist verdächtig. Darum schweigt man.

Der Thron ist vakant. Macbeth wird in logischer Folge zum König von Schottland gekrönt. – Die zweite Weissagung der Hexen hat sich erfüllt.

Macbeth regiert das Land mit eiserner Faust. Was heißt das? Mordet er? Läßt er Oppositionelle verschleppen? Wahrscheinlich. Man sagt es. Niemand kennt einen, der ermordet worden wäre, niemand einen, der verschleppt worden wäre. Aber beinahe jeder kennt einen, der einen kennt, den ein ähnliches Schicksal heimgesucht hat. Niemand will einen Oppositionellen persönlich kennen. Macbeth ist die Inkarnation des Schreckens. Seine Person entzündet die Phantasie der Menschen, und sie brennt wie vom Höllenfeuer genährt. Die Menschen fürchten sich vor der Rache des neuen Königs so sehr, daß ihm niemand Grund zur Rache geben möchte. Muckertum ist die Folge.

Macbeth ist am Ziel.

Ist er am Ziel? Was ist das Ziel in einem Menschenleben? Er ist an dem Punkt angekommen, den ihm die Hexen gewiesen haben. Er betrachtet den Weg, den er gegangen ist, und es erscheint ihm, als hätte ihn ein anderer zurückgelegt. Das Ziel ist erreicht, aber das Leben geht weiter. Und das Ziel des Lebens ist das Ende. Davon aber haben die Hexen nicht gesprochen. Macbeth ahnt sein Ende. Und er ahnt, das Ende wird sich den Weg ebenso selbst suchen wie jedes andere Ziel.

Was haben die Hexen zu Banquo gesagt? Sie haben gesagt: »Du wirst nicht König sein, aber du wirst der Vater von Königen sein.« Wie soll das gehen, denkt Macbeth. Wenn hier einer der Vater von Königen sein wird, dann doch ich!

Die Einbildungen machen ihn weich und verletzlich. Seine Gemahlin, die Lady, sie kennt diese Krankheit der inneren Bilder nicht. Er schmiegt sich an sie. Sie kann ihn nicht heilen. Aber sie kann ihm die Starre nehmen, die ihn befällt, wenn er von seinen Bildern heimgesucht wird. Sie kann für eine kleine Zeit die bösen Ahnungen vertreiben. Er schmiegt sich an sie.

»Von dir«, sagt er, »von dir möchte ich Söhne haben. Sie sollen sein wie du.«

Eine große Liebe ist zwischen den beiden, aber im Tiefsten mißverstehen sie einander, weil jeder das Tiefste des anderen nicht begreifen kann. Lady Macbeth sieht nicht, welche Macht die Einbildung über ihren Mann hat. Und er hält es nicht für möglich, daß sie ein Gewissen hat, und sieht auch nicht, daß ihr Gewissen bereits Gericht über sie hält. Er wird stärker an ihr, sie wird schwächer an ihm. Er verliert seine Zweifel, sie beginnt zu verzweifeln.

Die Logik diktiert ihm: Ich werde Banquo und seine Familie auslöschen. Es ist ganz einfach: Die Weissagungen irrealer Wesen können auf reale Weise außer Kraft gesetzt werden.

Jeder weiß, daß Macbeth König Duncan ermordet hat. Wer Verstand hat, kann nicht anders denken. Macduff, einer der Edlen, flieht. Soll er! Wer gehen will, soll gehen! Macbeth pfeift auf Loyalität. Hochachtung und Liebe von seinen Untertanen bedeuten ihm nichts. Über Macduff haben die Hexen kein Wort verloren. Die Hexen haben das Ziel des Macbeth definiert, und in dieser Definition hatte Macduff keinen Platz.

Macbeth kauft Killer.

»Tötet Banquo und seinen Sohn!«

Dann gibt er ein Fest, und alle, die noch da sind, kommen. Sie kommen, weil sie Angst haben. Wer fernbleibt, ist ein Feind, Macduff zum Beispiel.

»Wo ist Macduff?« heißt es.

»Wo ist Macduff?« fragt Macbeth.

Niemand gibt Antwort. Eine Antwort, und wäre sie noch so kurz, noch so neutral in Wortwahl und Ton gehalten, könnte als Rechtfertigung ausgelegt werden. Kann es einen Grund geben, daß einer nicht kommt, wenn Macbeth einlädt?

Macbeth fragt: »Und wo ist Banquo, Banquo, mein Freund?«

Er bekommt eine Antwort: »Er hat gesagt, er wird sich etwas verspäten.«

»Hat er dringende Geschäfte zu erledigen?«

»Er kommt später«, heißt es, »aber er kommt.«

Man hat nie ein böses Wort aus Banquos Mund über Macbeth gehört. Banquo, der General, ja, er könnte ein gefährlicher Gegner des neuen Königs sein. Aber er könnte auch sein stärkster Verbündeter sein. Er hat gesagt, er komme etwas später, aber er kommt. Warum fragt Macbeth? Weiß er es nicht? Oder weiß er es und will uns prüfen? Aber wie könnte so eine Prüfung aussehen? Vielleicht kommt Banquo später, weil er für Macbeth etwas erledigen soll. Aber was? Vielleicht hat das, was Banquo erledigen soll, mit mir zu tun? Dann mache ich mich verdächtig, wenn ich ein weiteres Wort über sein Zuspätkommen verliere. Ein zweites Wort würde wie eine Kritik an General Banquo klingen. Oder mache ich mich verdächtig, wenn ich gar nichts sage? Also sage ich: »Er kommt später, aber er kommt.« Und mehr sage ich nicht.

»Wir wollen auf ihn warten«, sagt Macbeth.

Ein Diener erscheint, ruft Macbeth nach draußen. Dort warten zwei Herren. Es sind die Killer.

»Und?«

»Banquo ist tot.«

»Und weiter?«

»Sein Sohn konnte entfliehen.«

So viel Stärke hat er aus der Umarmung seiner Frau gewonnen! Eine Mauer haben ihre Arme aufgerichtet gegen seine Bilder. Aber die Frau ist krank. Sie stöhnt in der Nacht. Sie schreit. Am Tag meidet sie seine Gegenwart. Die Mauer hat Risse bekommen. Dahinter stehen die Bilder und die Ahnungen: Banquo wird nicht König werden – nein, das wird er nicht mehr, der nicht mehr. Aber er wird der Vater von Königen sein. – Wieder sieht sich Macbeth einen Weg gehen, den er nicht gewählt hat, und er sieht sich als einen Fremden auf diesem Weg. Und ihm wird klamm ums Herz.

Lady Macbeth erscheint im Saal. Sie kann sich beherrschen. Noch kann sie es. Sie ist guter Dinge. Eine herzliche Gastgeberin. Ein wenig geistesabwesend vielleicht. »Es wäre General Banquo nicht recht, wenn wir auf ihn warten«, sagt sie.

Und dann erscheint Banquo. Ja, er ist da. Er geht um die Tafel herum und setzt sich auf seinen Platz. Macbeth gegenüber. So daß sie sich in den Augen haben. Aber niemand begrüßt diesen hohen Gast; die rechts und links von ihm sitzen, drehen nicht einmal den Kopf.

»Ist Banquo da?« fragt Macbeth seine Gemahlin.

»Nein«, sagt sie.

»Ich sehe ihn aber.«

Macbeth spricht mit Banquo. »Was schüttelst du die blutigen Locken gegen mich!«

Banquo sagt nichts. Banquo ist ein Geist. Ein irreales Wesen. Etwas, das es nicht gibt. Aber die Hexen waren auch Geister, auch irreale Wesen, die es eigentlich nicht gibt. Aber sie waren da. Banquo hat sie gesehen. Und sie haben Ziele gesetzt.

Macbeth bricht zusammen. Er ist schutzlos seinen Bildern ausgeliefert. Wie er schwach wird, gewinnt sie Stärke.

»Meine lieben Freunde«, so spricht Lady Macbeth zu den Gästen, »mein Mann fühlt sich nicht wohl. Er arbeitet zuviel. Dann führt er Gespräche mit Menschen, die nicht da sind, die erst später kommen. Er hat manchmal solche Anfälle. Ich bitte um Verständnis. Das Fest ist beendet.«

Macbeth will noch einmal die Hexen fragen. Wie das mit Banquo und dem Vater von Königen gemeint war? Das auch, ja. Aber eigentlich gibt es nur eine Frage: Was wird aus mir? Gehe ich unter? Wie gehe ich unter?

Er macht sich auf den Weg hinaus in die Heide, allein, sucht die Stelle, wo er und Banquo den Hexen begegnet sind.

Und sie sind wieder da.

Sie sagen: »Wir haben alles ausgesprochen, was es für uns auszusprechen gibt.«

»Es genügt mir aber nicht«, sagt er.

»Was willst du noch wissen?«

»Alles. Alles bis zum Ende.«

»Das wissen wir nicht. Vom Ende haben wir keine Ahnung. Das wissen nur die Erdgeister.«

»Dann ruft sie herbei!«

Macbeth zittert wie ein Süchtiger, und das Gift, das er braucht, ist ein Blick in die Zukunft.

Der erste Geist erscheint. Ein Kind. Ein blutiges Kind. Es wischt sich den roten Schleier von den Augen. »Macbeth!« So ein feines Stimmchen, unschuldig und voller Staunen. »Macbeth, achte auf Macduff!«

»Macduff ist nicht mehr da«, sagt Macbeth. »Wie soll ich auf ihn achten?«

»Er wird dir dennoch gefährlich werden.«

Und das Geisterkind mit dem Blutschleier vor den Augen versinkt in den Boden, aus dem es eben erst gewachsen war.

Dann steigt der zweite Geist empor, wieder ein Kind, mit seinen Händchen umschließt es den Stamm eines Bäumchens. »Macbeth?« fragt es. »Macbeth, hast du Angst?«

»Ich will nur wissen, was kommt«, sagt Macbeth.

»Ach, du brauchst keine Angst zu haben, Macbeth! Niemand, der von einer Frau geboren wurde, kann dich besiegen.«

»Gut, gut, gut!« ruft Macbeth aus. »Alle sind von Frauen geboren worden. Jeder ist Kind. Niemand wird mich besiegen!«

Da erhebt sich der dritte Geist aus dem Moorboden, auch er ein Kind. »Macbeth«, säuselt er, »was hast du für ein schönes Schloß!«

»Was ist mit meinem Schloß?«

»Die Vögel nisten unterm Dach.«

»Was ist mit den Vögeln unter meinem Dach?«

»Und hinter dem Schloß wächst ein Wald.«

»Was ist mit dem Wald?«

»Macbeth wird erst besiegt werden, wenn dieser Wald auf das Schloß zukommt.«

»Du redest in schönen Bildern!« begeistert sich Macbeth. »Der Wald hat tiefe Wurzeln! Das wird nie geschehen.«

Und Macbeth macht sich auf den Heimweg. Gute Hexen, denkt er, gute Geister. Ich will mich an ihre Ratschläge halten, ich will ihren Weissagungen glauben.

Erstens: Macduff! Kann ja sein, daß er gar nicht nach England geflohen ist, wie gemeldet wurde. Wäre ihm zuzutrauen. Ein tapferer Mann. Nur ein Feigling haut ab. Ein Feigling ist Macduff nicht. Daß er sich vielleicht in seinem Schloß versteckt und auf eine Gelegenheit lauert? Ich soll auf ihn achten? Ich werde auf ihn achten!

Macbeth schickt Soldaten zum Schloß des Macduff. Befehl: »Niederbrennen, was nicht lebt! Umbringen, was lebt!«

Das Schloß wird zerstört, Frau und Kinder des Macduff werden erschlagen.

Die Ärzte berichten, Lady Macbeth sei wahnsinnig geworden. Und in einem Anfall von Wahnsinn habe sie sich das Leben genommen. Sie habe sich das Blut nicht von den Händen waschen können. Aber da war kein Blut. Sie habe es sich nicht von den Händen waschen können. Da hat sie sich das Leben genommen.

Die Freundin, die Geliebte, die Frau ist tot. Und was sagt der Mann dazu? »Sie hätte es auch später tun können. Es hätte sich die Zeit gefunden.«

Die Zeit wofür? Daß sie miteinander gehen? Für einen Augenblick glaubt Macbeth, es wäre möglich gewesen, den Weg zu wechseln. Daß es eben nicht das Ziel ist, das den Weg bestimmt. Daß der Mensch, auch wenn er sich ganz seinem Ziel hingibt, noch über die Freiheit des Willens verfügt. War Selbstmord das Ziel im Leben seiner Gemahlin? Wenn ja, dann ist geschehen, was geschehen mußte. Für einen Augenblick hat Macbeth geglaubt, es könnte vielleicht doch möglich sein, von der Zukunft aus die Vergangenheit zu ändern. Nun gewinnt seine Einbildungskraft wieder Macht über ihn. Glaubt er noch an die Sprüche der kindlichen Erdgeister? Er steckt in seinem Schloß wie die Figur in einem Computerspiel, in dem es nur Mauern gibt und keine Fenster. Sein Feind ist die Zeit, die ihn ans Ende trägt. Seine Ausrüstung besteht aus windigen Zaubersprüchen.

Ein Diener klopft an: »Macbeth!«

Wir wollen es nicht wissen. Wir sehen dieses trostlose Leben, und es atmet neben uns. Wir wollen nicht wissen, was der Diener zu melden hat. Was hat Macbeth aus seiner Macht gewonnen? Was hat ihm das Königsein gebracht? Was hat ihn am Ziel erwartet? Hat er geträumt von diesem Leben? Es ist öd und kalt und einsam. Warum gehen wir nicht? Warum bleiben wir neben ihm stehen? Er ist ein Mörder, ein Schlächter, der sich ungerührt berichten ließ, wie die Kinder des Macduff ihrer Mutter aus den Armen gerissen und erschlagen wurden. Wir schämen uns, daß wir dieser Bestie unsere Sympathie nicht aufkündigen. Wir können es nicht. Wir haben uns darauf eingelassen, seiner Geschichte zu folgen. Nun ist es auch unsere Geschichte. Weil nämlich in dieser Welt keine andere Geschichte erzählt wird.

Der Diener rüttelt seinen Herrn. »Etwas Entsetzliches geschieht draußen!«

Macbeth erschrickt nicht. Letzter Kampfeswille steigt in ihm auf. »Sag es!«

»Der Wald kommt auf das Schloß zu!«

»Was redest du da! Der Wald kann nicht kommen. Ich hänge dich am nächsten Baum auf, wenn das nicht wahr ist. Und wenn es wahr ist, dann will ich, daß du mich aufhängst.«

Von den Zinnen des Schlosses aus kann man es sehen: Der Wald bewegt sich auf das Schloß zu.

Die Wahrheit bringt Macbeth zum Lachen. Malcolm, Duncans Sohn, und Macduff haben in England ihre Heere vereint, nun greifen sie an. Um Macbeth irrezuführen, damit er nicht weiß, wie viele Soldaten es sind, wurde Befehl gegeben, die Soldaten sollen kleine Bäume ausreißen oder Äste vor sich her tragen. Das ist der Wald, der sich bewegt. Keine Magie. Nichts Überirdisches. Kein Wunder. Nur Tarnung, sonst nichts. Hatte er sich schon gedacht, mich kann nur ein Wunder fällen! Und nun erweist sich die erhabene Weissagung eines Erdgeistes als biederer Teil einer militärischen Taktik. Macbeth muß lachen. Aber er wird ruhig, wie er immer ruhig geworden ist, wenn die Schlacht um ihn herum tobte. Er richtet sich auf. Zwei Dinge sind ihm noch geblieben: Haltung und – ein kleines Grinsen zuckt über seine Lippen – und eine zweite Weissagung.

Der Feind dringt ins Schloß ein. Macbeth stellt sich. Macduff hat Befehl gegeben, den Usurpator zu schonen. Er will ihn haben. Durch seine Hand soll er fallen. Dieser Befehl ist verhängnisvoll für viele. Macbeth erschlägt, die vor ihm zaudern.

Dann kommt es zum Zweikampf: Macduff gegen Macbeth.

Macbeth breitet die Arme aus, als würde er den Feind umarmen wollen. Er öffnet sich, verschmäht jede Deckung. »Macduff«, sagt er. »Ich weiß so wenig über dich.«

»Es ist nicht die Zeit, Lebensgeschichten auszutauschen«, höhnt Macduff.

»Warum nicht? Einer von uns beiden wird sterben. Wäre es nicht schön, wenn der Überlebende eine Erinnerung an den Toten hätte?«

»Du wirst sterben, Macbeth!«

»Du kannst mir nichts tun, Macduff. Die Geister der Erde haben es mir verraten. Keiner, den eine Frau geboren hat, wird mich besiegen. Auch wenn ich mit ausgebreiteten Armen vor dir stehen bleibe, du kannst mir nichts antun, Macduff!«

Und Macduff betont jedes seiner Worte: »Verzweifle an deinen Weissagungen, Macbeth! Ich, ich bin nicht geboren worden, ich wurde aus einer Frau geschnitten.«

Sehen wir ein Lächeln in Macbeths Gesicht? Weil sich auch dieser erhabene Spruch eines Erdgeistes lediglich als ein medizinisches Kunststück erweist, durch und durch weltlich, durch und durch real: ein Kaiserschnitt.

»Ergib dich!« herrscht ihn Macduff an.

Er weiß, Macbeth wird sich nicht ergeben. Macbeth will nicht als Wunderschauspiel für den Pöbel weiterleben. Macduff weiß das.

Macbeth kämpft. Er kämpft gegen Macduff, und er kämpft gegen die Bilder seiner Phantasie. Nur noch wenige Augenblicke trennen ihn vom Ende; diese kleine Zeit will er für sich sein, frei von den Zwängen der Imagination. Immer hat er sich ein Ziel gesetzt, und von diesem Ziel aus hat er auf den Ablauf des Lebens geblickt, als gäbe es keine Gegenwart, als wäre der, der da handelt, ein anderer. Nun sind Weg und Ziel eins. Macbeth ist Macbeth.

Und Macbeth fällt. Macduff schlägt ihm den Kopf ab. Die Zeit ist frei. Der Bluthund ist tot, ist seiner höllischen Königin gefolgt.