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Als Perry Rhodan bei einem scheinbaren Routinebesuch den Mars besichtigt, geschieht das Ungeheuerliche: Mitsamt seinem besten Freund Reginald Bull und einer wild zusammengewürfelten Gruppe von Menschen wird der Terraner entführt – in eine Zukunft, die rund eine Milliarde Jahre von seiner eigenen Zeit entfernt ist ...

 

Dort ist nichts mehr so, wie sie es kennen. Menschen sind unbekannt, die Erde ist nicht einmal mehr eine Legende. Und der Mars, auf dem sie in einer Milliarde Jahre herauskommen, entpuppt sich als ein Planet, dem eine unglaubliche Zukunft winkt.

 

Die Rückkehr in ihre eigene Zeit scheint der kleinen Gruppe von Menschen verwehrt zu sein. Das einzige, was bleibt, ist der Kampf um die eigene Menschlichkeit und gegen eine düstere Zukunft für die intelligenten Wesen ihrer neuen Umgebung ...

 

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Odyssee

 

Gesamtausgabe

 

 

Odyssee 1

Die Kolonisten der Zukunft von Hubert Haensel

 

Odyssee 2

Der geheime Krieg von Leo Lukas

 

Odyssee 3

Das Energie-Riff von Hans Kneifel

 

Odyssee 4

Die Traumkapseln von Frank Böhmert

 

Odyssee 5

Das strahlende Imperium von Frank Borsch

 

Odyssee 6

Die Lebensboten von Uwe Anton

 

 

Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt.

Impressum

 

 

EPUB-Version © 2012 Pabel-Moewig Verlag GmbH, PERRY RHODAN digital, Rastatt.

Chefredaktion: Klaus N. Frick.

ISBN: 978-3-8453-3195-9

Internet: www.perry-rhodan.net und E-Mail: mail@perry-rhodan.net

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Odyssee Band 1

 

Die Kolonisten der Zukunft

 

von Hubert Haensel

 

Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt.

Prolog

 

 

Unheimlich und faszinierend zugleich ging die Sonne auf. Weitaus fahler als die Terraner es gewohnt waren und um ein Drittel kleiner, stieg sie über den zerklüfteten Horizont. Doch ihre Umrisse verwischten schnell – ein aufkommender Sturm peitschte Sandfontänen vor sich her.

Im Widerstreit von Licht und Schatten verwischten die Kraterwände. Sekunden später fegte der Orkan über den Schwebebus hinweg. Die Ebene zwischen dem unwirtlichen Süden und den Lavafeldern des Nordens verwandelte sich in einen mahlenden, alles verschlingenden Strom. Mit Urgewalt brandete die rote Sandflut heran.

»Es besteht kein Grund zur Aufregung.« Die Stimme des Piloten klang geschäftsmäßig monoton. »Bislang hatte die Anreicherung der Atmosphäre mit Sauerstoff Vorrang vor der Einführung der Wetterkontrolle.« Er lachte leise. »Der Sturm ist eine Zugabe, in wenigen Monaten wird das in den Siedlungsgebieten niemand mehr erleben.«

Sand und Geröll schmirgelten über den Rumpf. Jenseits der Scheiben tobte eine rotschwarze Hölle. Es war unmöglich geworden zu erkennen, ob Mars-Liner-01 weiterhin dem engen Grabenbruch folgte oder schon zum Stillstand gekommen war.

Kaum jemand sagte noch etwas. Hier und da war ein Murmeln zu vernehmen, eine erschreckte Äußerung, nicht mehr.

»Wir ändern den Kurs, um dem Orkan auszuweichen ...«

Ein dumpfer Aufprall übertönte die Durchsage. Der Schwebebus bockte. Er schüttelte sich unter dem heranprasselnden Gesteinshagel. Die porösen Brocken zerplatzten beim Aufprall in ein Meer von Splittern.

Die erste Verwünschung war zu hören. »Mars sehen und sterben – hieß es nicht einmal so?«

»Wahnsinn!«, konterte eine jugendliche Stimme. »Wenn ich mir vorstelle, dass wir bald hier leben werden ...«

»Ahnst du überhaupt, was es heißt, in dieser Wüste auf sich allein gestellt zu sein?« Ein rot geädertes, aufgequollenes Gesicht wandte sich der jungen Frau zu. »Wie alt bist du? Neunzehn? Dann halte dich mit solchen Äußerungen zurück!«

Shim Caratech lächelte säuerlich. »Siebzehn.« Sie nutzte die Gelegenheit, den Mann zu taxieren. »Sonst noch Fragen?« Zögernd strich sie mit einer Hand über das verhüllte Bündel auf ihrem Schoß.

»Bewahre ...« Ihr Gegenüber verzog das Gesicht, fasste sich an die massige Nase – und nieste schallend. Gleich darauf ein zweites Mal, während er aus zusammengekniffenen Augen suchend um sich blickte.

Draußen herrschte Weltuntergang. Unaufhörlich malträtierte der Gesteinshagel das museumsreife Gefährt. Der Mars präsentierte sich von seiner denkbar schlechtesten Seite.

»Man könnte annehmen, diese Welt mag uns nicht«, sagte der Mann hinter Shim.

Braungebrannt und gut aussehend, gefiel er ihr vom ersten Moment an, er gefiel vermutlich jeder Frau. Aber wenn sie ihn mit Perry Rhodan verglich, der vorn im Bus saß ... Rhodan war interessanter. Trotzdem wandte Shim sich halb um. »Ich finde das aufregend. Eine beinahe unberührte Welt, wo gibt es die sonst noch?«

»Wenn du das so siehst. Wir wurden uns leider noch nicht vorgestellt. Allgame. Pratton Allgame. Ich bin ...« Seine Züge versteinerten, als das Aufheulen des Triebwerks die Isolierungen durchschlug. Der Orkan drückte den Bus zur Seite und schob ihn einen Abhang hinab. Die Schräglage wurde trotz der Stabilisatoren bedrohlich.

»Kein Grund zur Aufregung ...!«, meldete der Pilot.

Das Kreischen berstenden Stahls übertönte die Durchsage. Mars-Liner-01 schrammte an Felsblöcken vorbei. Blitze zuckten durch die Düsternis. Ein gigantischer Sog tobte jetzt über dieser Region des Mangala Vallis.

Mit dem Heck voran rutschte der Bus ab, Sekunden später überschlug er sich. In dem Moment schienen nur noch die automatischen Rückhaltesysteme der Sitze zu funktionieren. Shim Caratech wurde tief in die Polsterung gedrückt. Sie verkrampfte beide Hände um das Bündel auf ihrem Schoß, während sie schicksalsergeben die Augen schloss.

Jemand schimpfte erbärmlich.

Eine andere Stimme lachte fast hysterisch – und brach gurgelnd ab, als die Prallfelder wieder wirksam wurden. Mars-Liner-01 schlingerte spürbar, doch Augenblicke später sank er so dicht neben einer zerfurchten Felswand zu Boden, dass niemand den Bus verlassen konnte. Jedenfalls nicht über eine der beiden Schleusen.

»Wir hatten ein kleines Problem«, meldete der Pilot. »Bitte bewahrt Ruhe ...«

»Problem?«, rief jemand aufgebracht. »Ich muss verrückt gewesen sein, als ich ... als ich glaubte ... hier mein Glück zu finden. Der Mars ist ... fremd geworden. Wer erinnert sich denn noch, wie er früher war?«

Das eine oder andere zustimmende Nicken. Shim Caratech fragte sich, warum Perry Rhodan dazu schwieg. Die Szene wirkte auf sie so surrealistisch wie viele der virtuellen Spiele, die in den letzten Jahren den Markt überschwemmt hatten.

In diesem Moment erhob sich der schlanke, dunkelblonde Mann im vorderen Bereich des Busses. Sein Blick glitt über die Sitzreihen hinweg. Shim lächelte, als er sie kurz ansah. Er hob die Hand, und jeder wartete plötzlich darauf, was er zu sagen hatte.

»Unser Mars war immer eine faszinierende Welt«, sagte Perry Rhodan. »Wir Menschen haben ihn vor langer Zeit schon einmal besiedelt und wir werden es wieder tun. Unabhängig davon, was inzwischen geschehen sein mag. Fünfzigtausend Menschen warten längst darauf, sich eine neue Heimat zu erobern.«

»Warum zähmt man diese Wildnis nicht, bevor wir ihr ausgesetzt werden?«

»Keiner ist schutzlos.« Reginald Bull hatte sich in seinem Sitz umgewandt, die Arme auf der Rückenlehne verschränkt und das Kinn aufgestützt. Im Gegensatz zu Rhodan wirkte er gereizt.

»Ich fühle mich nicht sicher«, begehrte der Passagier auf. Shim rümpfte die Nase. Der Mann hatte sich schon am Terminal ungeduldig, überheblich und beinahe aggressiv gezeigt. »Mars-Liner-01, ein Überrest der Erstbesiedlung? Ein Seelenverkäufer, behaupte ich. Was soll damit bezweckt werden? Nostalgische Gefühle? Patriotismus? Ich pfeife darauf.«

Perry Rhodan schritt zwischen den Sitzreihen hindurch. »Es steht jedem frei, diese Gemeinschaft zu verlassen. Niemand wird gezwungen, auf dem Mars zu siedeln.«

Der Mann lachte glucksend. »Ich verlange, dass mich eine Space-Jet zurückbringt.«

»Du kannst jederzeit aussteigen.«

»Hier?« Der Mann starrte Rhodan ungläubig an. »Das ... das ist nicht dein Ernst? Da draußen ...«

»... warten Gleiter auf alle, die eben erkannt haben, dass diese Welt ihre Kräfte überfordert. Um Missverständnisse auszuräumen: Seit zehn Minuten befinden wir uns im Sicherheitsbereich einer der ersten neuen Depotstationen.«

»Aber der Sturm ...?«

»Eine Holoprojektion«, murmelte Shim Caratech und lehnte sich zurück. Sie hatte gewusst, dass Perry Rhodan niemanden in Gefahr bringen würde. Er neigte nicht zu Unvorsichtigkeiten. Reginald Bull ebenso wenig. In der Nähe der beiden potenziell Unsterblichen durfte sie sich so sicher fühlen wie nirgendwo sonst.

Shim kaute auf der Unterlippe, als Minuten später der eine Passagier ausstieg. Zwei Offiziere der Raumflotte nahmen ihn in Empfang. Niemand folgte ihm. Alle anderen Passagiere waren fest entschlossen, den roten Planeten zu ihrer neuen Heimat zu machen.

»Eine Welt ... eine ganze Welt für die Kunst.« Der Mann mit der massigen Nase schnäuzte sich und putzte dann mit demselben Tuch seine Brille. Hektisch, wie um sich abzulenken. Shim hatte ohnehin noch nicht gesehen, dass er die Brille wirklich aufgesetzt hatte.

»Wenn das nicht wäre ...«, murmelte er. »Wenn das nicht wäre, würde ich ebenfalls aussteigen.« Abrupt hielt er inne, rümpfte die Nase und blickte starr um sich. Sein Niesen ging durch und durch. Mit dem Handrücken wischte er sich das Wasser aus den Augen. »He, Rhodan! Auf dem Mars gibt es keine Katzen, oder?«

Mindestens zwei Dutzend Augenpaare starrten ihn an. Er hob die Schultern und schniefte laut. »Schon gut. Das war nur eine Frage.«

Kapitel 1

 

Ron Dyke

 

 

Es gibt keinen Sternenhimmel mehr über Terrania City. Die Hauptstadt der Erde ist ein brodelnder Wurmtopf, dessen Nächte sich nicht vom Tag unterscheiden. Manchmal glaube ich, im Überfluss, der unser aller Leben bestimmt, ersticken zu müssen.

Zwei Zimmer stehen mir im Redhorse-Tower zur Verfügung, insgesamt 120 Quadratmeter Dschungellandschaft. Da ist der kleine See, in dem ich sogar schwimmen kann, aber eben nur klein, und daran ändert auch die holografische Weitenprojektion nichts. Vom Wasser aus hast du die Illusion großer Ausdehnung und glaubst, in der Ferne Inseln und brütende Wasservögel zu sehen. Ich könnte die Wiedergabe variieren, doch das Wissen, dass diese Welt eine Illusion ist, lässt sich nicht verdrängen.

Eine leise Stimme unterbricht meine Überlegungen. »Es ist 22 Uhr, Ron. Du wolltest informiert werden, um rechtzeitig ...«

»Schon gut.« Über glatt geschliffene Kiesel – sie sind echt und waren nicht eben billig – wate ich ans Ufer. Die Libelle über dem Schilfgürtel entpuppt sich als Schweberobot.

»Die Temperatur in der Stadt beträgt 23 Grad. Für Mitternacht wurde ein halbstündiger leichter Nieselregen angekündigt. Empfehlung für die nächsten Stunden ist das Starlight Inn mit einem neuen Programm zalitischer ...«

»Es reicht!«, unterbreche ich schroff. Während ich mich abtrockne, flattert der Robot hinter mich und bringt meine Haare in Ordnung. »Ein Vorschlag zur besseren Präsentation, Ron«, schnarrt er. »Regenbogenfluoreszenz. Farbe und Intensität werden von deinen Emotionen bestimmt.«

»Ich weiß. Aber ich halte nichts von diesem emotionalen Voyeurismus. Solange ich das nicht bewusst steuern kann ...«

»Wie willst du anders schnell und ehrlich Kontakt finden, Ron? Grün symbolisiert Interesse, rot sexuelles Begehren. Die Erfolgsquoten beweisen unwiderlegbar ...«

Unwillig fahre ich herum. Die Libelle taumelt, als ich sie mit dem Arm streife. »Wie ich mein Leben außerhalb dieser Wände gestalte, überlass mir! Du bist zu freizügig programmiert, ich werde einen Fix einspielen.« Bei den letzten Worten sehe ich die Libelle schon nicht mehr, sie ist behände zwischen den Pflanzen untergetaucht.

Ich justiere die Panoramaverglasung auf einseitig transparent. Ein grelles Lichtermeer flutet herein. Aus dem 147. Stockwerk bietet sich ein einigermaßen guter Überblick über die Metropole, bis hinüber zu den fernen Raumhäfen. In Minutenabständen starten und landen Kugelraumer, für kurze Zeit wirken sie wie Sternschnuppen, die in großer Höhe aufflammen und ebenso schnell wieder erlöschen.

Winzig wie Ameisen die Menschen unter mir, der Verkehr bildet ein unentwirrbares Chaos auf vielen Ebenen.

Ein monströser Schatten lässt mich zusammenzucken. Gefahr!, schreit etwas in mir. Ich versteife mich in Erwartung eines vernichtenden Aufpralls, obwohl Prallfelder in der Fassade eine Kollision verhindern. Der Gleiter ist riesig, er sinkt vor meinem Fenster abwärts und folgt der Spiralwindung des Turms. Ein holografisches Schriftband am Heck verkündet: »Terrania Sightseeing Tours«. Im Innern 200 Schaulustige aus vielen Bereichen der Milchstraße. Ich hasse diese organisierten Reisen, sie zerstören den letzten Rest von Individualität. Ich verdunkle die Verglasung wieder.

Ich wurde zu spät geboren. Das ist mein Problem. Um einige tausend Jahre zu spät. Früher gab es noch das Unbekannte und Fremde, den Reiz der Entdeckung. Aber heute? Das Leben ist leicht und einfach wie nie – allen galaktischen Konflikten zum Trotz. Wenn die Nachrichten Raumschlachten zeigen, bleibt das oberflächlich und ist kaum anders als die ungezählten Trivid-Szenen. Realität und Fiktion sind häufig nicht voneinander zu unterscheiden.

Uns Terranern wurde eine transparente Glocke übergestülpt. Hier sind wir, hier hat sich unser Leben abzuspielen, aber das Reizvolle auf der anderen Seite erleben nur wenige Auserwählte. Den Männern und Frauen der Raumflotte steht das Universum offen ...

... meine Bewerbung wurde abgelehnt. Mit 53 zu alt. Lächerlich. Aber trotzdem nicht zu ändern.

Vielleicht, rede ich mir ein, wäre ich bei den großen Materialschlachten am Sternenfenster ums Leben gekommen.

Egal.

Ich will aus meiner Haut heraus, doch genau das kann ich nicht. Manchmal fühle ich mich wie die Puppe, aus der bald ein Schmetterling schlüpfen wird. Nur fehlt mir die Kraft zur letzten entscheidenden Anstrengung. Wahrscheinlich werde ich sie nie aufbringen.

»Träume weiter, Ron.« Die eigene Stimme schreckt mich auf. Aber genau das ist mein Problem: Ich träume nur. Weil ich zu behütet aufgewachsen bin. Nie habe ich Entscheidungen von echter Tragweite treffen müssen. Das Leben ist keine Herausforderung.

Die Luft flimmert. Zwischen mir und dem kleinen See verdichtet sich die Holowand. »Eine Sondersendung aller terranischen Nachrichtendienste«, flüstert die vertraute Servostimme. »Der Empfangsbereich erstreckt sich ausschließlich auf das Solsystem.«

Das ist ungewöhnlich. Schlechte Neuigkeiten? Ich kann es mir kaum vorstellen. Was sollte schwerer wiegen als der überstandene Krieg gegen das Reich Tradom?

Das Symbol der Solaren Residenz stabilisiert sich. Störungen überlagern das Bild. Ich kneife die Brauen zusammen und warte.

Aus dem Flirren heraus verdichtet sich Reginald Bulls Konterfei. Die Arbeit der Maskenbildner kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sein Gesicht gerötet ist. Er schwitzt. »Soeben«, verkündet er, »habe ich für das Solsystem Großalarm ausgelöst.«

Er scheint mich anzustarren. Durchdringend. Und wie mir ergeht es in dem Moment Milliarden anderer Menschen. Bull zögert, er blickt auf sein Kombiarmband und nickt. »Es ist definitiv. Vor wenigen Sekunden ist der Planet Mars ins Sonnensystem zurückgekehrt. Mit tektonischen Beben und anderen unliebsamen Erscheinungen muss gerechnet werden. Die Heimatflotte steht bereit.« Die Einblendung eines zerklüfteten, rostroten Planeten folgt. Zwei kleine, unregelmäßig geformte Monde umkreisen diese Welt. »Das sind Archivaufnahmen aus der Zeit der ersten Besiedlung«, fuhr Reginald Bull fort. »Heute können sich nur noch die älteren unter uns an den Mars erinnern. Beinahe hundert Jahre sind seit seinem Austausch gegen Trokan vergangen – aber nun wird dieser Tausch rückgängig gemacht ...«

Ich höre nicht mehr zu. Meine eigenen Überlegungen lenken mich ab. Ich bin zu jung, um den roten Planeten jemals erlebt zu haben und kenne seine Geschichte nur aus Datenholos.

Trotzdem spüre ich eine unglaubliche Faszination ...

Diese Welt, die nach einem altertümlichen Kriegsgott benannt wurde, ist fremd, aber zugleich sehr nahe. »Das sind Archivaufnahmen aus der Zeit der ersten Besiedlung ...« Bulls Stimme klingt in mir nach. Es wird eine zweite Besiedlung geben, dessen bin ich mir sicher, ich interpretiere seine Worte genau so.

Wann? Sicherlich nicht heute und morgen. Einige Jahre werden wohl vergehen, bis alle Untersuchungen durchgeführt worden sind und der Planet freigegeben wird. Aber dann werde ich zu den Ersten gehören, die ihren Fuß auf diese Welt setzen. Das ist mein neuer Traum.

Wir leben in einer Zeit, in der Träume Wahrheit werden.

Mit einem Fingerschnippen lasse ich die Holowand zerstieben. Jetzt ist mir danach, im Starlight Inn zu feiern. Wenn es sein muss, sogar mit einer dreibusigen Zaliterin im Arm, die Manie der Körperveränderung macht vor nichts halt.

Ich glaube, ich beginne von heute an erst richtig zu leben, denn ich habe in allem Überfluss ein Ziel gefunden.

Ich werde vom Mars aus wieder die Sterne sehen können.

 

 

16. Juni 1329 Neue Galaktische Zeitrechnung

 

Drei weit geschwungene Kuppeln erhoben sich über die Geröllwüste. In den Strahlen der Morgensonne schimmerte ihr Wabenmuster wie ein rostbraunes Gitter.

Zwei kleine Raumschiffe schwebten im Umkreis der Station auf Prallfeldern. Eine der beiden 60 Meter durchmessenden Korvetten wurde entladen. Wie ein Mückenschwarm hingen die Arbeitsroboter in der Luft.

Für einen Augenblick verharrte ich in der runden Schleusenkammer des Mars-Liners und ließ das Panorama auf mich wirken. Wild zerklüftet der Hintergrund der Marslandschaft, eine endlose Ödnis. Die Station hingegen weit mehr als nur ein Hauch von Zivilisation. Siebzehn Jahre waren seit meinem Entschluss vergangen, mich auf dem Mars niederzulassen, eine lange Zeit, in der ich mehr als einmal des Wartens überdrüssig geworden war. Doch im Nachhinein bereute ich nichts.

Tief atmete ich ein. Die Luft schmeckte anders als auf der Erde, künstlich und nach Desinfektionsmitteln. Zumindest bildete ich mir das ein.

Hinter mir erklang ein mürrisches Seufzen. Ich wurde unsanft vorwärts gestoßen und stolperte die wenigen Stufen hinunter.

»Nichts für ungut.« Der Mann, der mich angerempelt hatte, grinste wirr. Aber nur für einen Augenblick, dann drehte er seine Hände, als könne er keiner Fliege ein Leid antun. Er war groß und unförmig, seine Nase war rot geschwollen. Im Bus hatte er schräg hinter mir gesessen. »He!«, er atmete durch Mund und Nase gleichzeitig, »ich nehm dir schon nicht das Land weg, keine Sorge.« Schnaufend schwang er sich durch den Ausstieg.

Fünfzig Hektar Marsboden hatte ich für den Nutzungswert meiner Wohnung in Terrania City erhalten. Gekauft ab Reliefbild. Das Stück Land hatte mich an ein ausgetrocknetes Flussdelta erinnert. In wenigen Wochen würde ich die ersten Pfosten eines Energiezauns aufstellen und alle Brücken hinter mir abbrechen.

Der Dicke schob sich neben mich. Obwohl ich selbst nicht klein bin, musste ich zu ihm aufsehen. »Ich bin Quart«, ächzte er. »Ich meine, ist doch gut möglich, dass wir Nachbarn werden, oder?«

»Ron.« Ich ergriff seine Pranke und staunte über den sensiblen Händedruck.

Mit der Linken rieb sich mein Gegenüber die Nase. »Der Kraterkegel hinter den Kuppeln ... Was meinst du, Ron? Mich erinnert er an ein Gesicht. Mit großen Desintegratoren sollte man den überschüssigen Fels verdampfen. Jahrmillionen würde das Kunstwerk überdauern, eine Skulptur, die schon aus dem Weltraum ...« Ein heftiges Niesen stoppte seinen Wortschwall. Eine junge Frau, eher noch ein Mädchen, ging an uns vorbei. Quart wollte sie festhalten, reagierte aber zu langsam. »Ich weiß nicht«, murmelte er. »Irgendetwas hat sie, was mir absolut nicht ...«

Er schürzte die Lippen und verzog die Mundwinkel zu einem Lächeln. Perry Rhodan stand keine zwanzig Schritte entfernt. Er hatte mit einem Offizier geredet und blickte in dem Moment zu uns herüber.

Er schaut mich an, stellte ich überrascht fest.

Rhodan kam auf uns zu. Mit seinem Namen war das Schicksal der Menschheit unlösbar verbunden. Man konnte geteilter Meinung über seine Erfolge sein, aber sicher war, dass Terra ohne ihn nicht zu dem heutigen Sternenreich geworden wäre. Eigentlich unglaublich, dass er und Reginald Bull die erste Mondlandung erlebt hatten. Nein, nicht erlebt – sie selbst waren die ersten Menschen auf dem Mond gewesen. So unendlich weit in der Vergangenheit, dass viele die beiden schon als Fossilien ansahen. Wenn ich es recht bedachte, mussten sie an die dreitausend Jahre alt sein. Ob so ein Aktivatorchip, der ihnen die potenzielle Unsterblichkeit verlieh, wirklich erstrebenswert war? Aber weshalb sollte ich mir darüber Gedanken machen? Niemand würde mir je das ewige Leben anbieten.

Rhodan schüttelte dem Dicken die Hand, dann wandte er sich mir zu. »Kennen wir uns?«, fragte er wie beiläufig.

Er war so anders als in den Trivid-Sendungen. Natürlicher. Außerdem spürte ich eine Ausstrahlung, der ich mich nicht entziehen konnte.

»Leider nein«, hörte ich mich sagen.

Seine graublauen Augen lachten. »Das können wir ändern. Wir werden noch einige Tage lang Gelegenheit haben, uns zu unterhalten.«

Mehr als meinen Namen brachte ich nicht heraus. Dabei hatte ich so vieles fragen wollen.

Rhodan schien meine Gedanken zu erraten. »In der Hauptkuppel wartet ein Frühstücksbuffet«, sagte er. »Dort wird jeder die noch fehlenden Informationen erhalten. Unser gemeinsamer Flug wird zweifellos anstrengend werden. Aber das Schlimmste haben wir ja schon hinter uns.«

»Pah!«, schnaubte Quart. »Wer hat sich diesen ... diesen ...«

»Unfug«, half Rhodan aus.

»Jawohl, Unfug – wer hat sich das ausgedacht? Mir ist seither hundeelend.«

»Das war eine Idee des Einwanderungsbüros. Nur der Pilot wusste davon. Bully und ich wurden erst in letzter Sekunde informiert.«

Quart verzog das Gesicht. »Wollten die uns umbringen, bevor wir einwandern können?«

Eine steile Falte erschien über Rhodans Nasenwurzel. »Dieser Vorgang wird sich nicht wiederholen«, versprach er. »Es gibt Grenzen, die nicht überschritten werden sollten.«

»Also, für mich war das alles sehr realistisch.« Den Mann, der sich unvermittelt einmischte, hatte ich kurz vor dem Aufbruch kennen gelernt. Pratton Allgame war Weinbauer, der sich zum Ziel gesetzt hatte, die Tradition der alten marsianischen Weine wiederzubeleben. »Wer das nicht aushält, der sollte auf Terra bleiben. Der Mars ist schon immer eine Welt besonderer Herausforderungen gewesen.«

Der Dicke blähte die Wangen auf. Aber statt eine Schimpftirade loszulassen, wischte er sich nur mit dem Ärmel seines viel zu weiten Pullovers über die Nase. Das Ding war ebenso altmodisch wie seine ausgewaschene und verbeulte Hose. Ich konnte Quart nicht einschätzen. Angefangen vom Sektenpriester bis hin zum Geheimagenten mochte er so ziemlich alles sein.

Reginald Bulls Stimme übertönte die Geräusche der Verladearbeiten. »Hat denn keiner Appetit auf ein anständiges Frühstück?«, rief er laut. »Vor uns liegt ein langer Tag, und der nächste Sandsturm wird echt sein, das garantiere ich.«

 

Ich bin überzeugt, dass keiner von uns jemals so viele Holos vom Mars gesehen hatte wie während des Frühstücks. Die eindrucksvollen Bilddokumente gaben einen Abriss über mehr als zweieinhalbtausend Jahre Geschichte des Sonnensystems wieder.

Die offizielle Vorstellung aller Teilnehmer wurde nachgeholt, als weitere Passagiere eintrafen. Bislang war unser Schwebebus nur zu drei Vierteln besetzt gewesen. Als wir zu Beginn der Nacht den im Entstehen begriffenen neuen Raumhafen verlassen hatten, hatte niemand solche Dinge hinterfragt. Und zugegeben, ich war ebenfalls zu müde und zu aufgeregt gewesen.

Das Los hatte uns aus den fünfzigtausend Siedlern ausgewählt, die bereit standen, wie ein Heuschreckenschwarm über den Planeten herzufallen. Exakt so formulierte es Reginald Bull in seiner knapp gehaltenen Begrüßung, nachdem Perry Rhodan vor ihm von Zuversicht und menschlichem Beharrungsvermögen gesprochen hatte.

Bei den Neuankömmlingen handelte es sich um Wissenschaftler. Ein Geologe, zwei Hyperphysiker, ein Spezialist für Terraforming. Allerdings fragte ich mich, weshalb auch eine Kosmopsychologin anwesend war. Wahrscheinlich sollte sie uns im Auge behalten.

Sie setzte sich zu mir, weil an meinem Tisch der letzte freie Platz war. Ihr Blick, mit dem sie nicht nur mich musterte, hatte etwas von der Präzision eines Sezierlasers.

»Ich habe nicht vor, unseren Ausflug mit einem Nervenzusammenbruch zu beenden«, sagte ich. Die Bemerkung konnte ich mir nicht verkneifen.

Das plötzliche Lächeln um ihre Augen herum war echt. »Umso besser«, antwortete sie.

Zwei Personen fehlten noch. Sie trafen mit einer Space-Jet ein, nachdem wir anderen uns schon wieder an Bord des Liners begeben hatten. Medienleute – ich hätte es mir denken können. Ihre Ausrüstung beschränkte sich auf zwei kleine Metallkoffer. Also war keine Direktübertragung vorgesehen.

 

Nur wenige Meter über dem Boden jagte der Schwebebus der Sonne entgegen. Erst allmählich wurde mir die bizarre Schönheit dieser Welt so richtig bewusst. Rot bis Rostbraun waren die beherrschenden Farben, und immer wieder wirbelte der Wind Staubschleier auf. Ich versuchte mir vorzustellen, dass schon in wenigen Jahren üppiges Grün bis an die Berghänge heranreichen würde. Die Planung sah künstliche Seen ebenso vor wie einen in viele Seitenarme verzweigten Fluss, der den Grabenbrüchen folgen sollte. Zeitweise schien der Horizont sehr nahe zu sein. Dahinter, nur noch gut zweitausend Kilometer entfernt, wartete mein Grundstück.

»Du gehörst zu den ersten Siedlern, die auf dem Mars ihr Glück suchen ...«

Ich wurde aus meinen Gedanken aufgeschreckt. Neben mir stand einer der Reporter und blickte mich forschend an.

»Natürlich«, sagte ich.

Der Mann verzog die Mundwinkel. »Milliarden Menschen sind daran interessiert, mehr zu erfahren«, drängte er. »Was ist das für ein Gefühl? Was erwartest du hinter dem Horizont?«

Er würde nicht locker lassen. Ein halbes Dutzend Mikrooptiken umschwirrten mich und zeichneten holografische Aufnahmen aus allen Perspektiven auf. »Ein unberührtes Paradies«, antwortete ich.

»Die fünfdimensionale Streustrahlung, zweifellos ein Erbe der nahen Vergangenheit und der Versetzung des Planeten, hat bislang die Besiedlung verhindert. Aber du sprichst von einem Paradies?«

Was wollte er hören? Es fiel mir schwer, den Mann richtig einzuschätzen. »Die schädliche Strahlung ist abgeklungen«, fuhr ich fort. »Nicht umsonst mussten wir siebzehn verdammt lange Jahre auf diesen Tag warten. Der Mars wurde zur Neubesiedlung freigegeben. Es gibt keine Gefahr mehr, in keiner Hinsicht.«

»Du glaubst also, heute sei ein guter Tag.«

»Warum sollte er das nicht sein?«

»Mühe, Strapazen, fehlende Infrastruktur ... Fürs Erste wahrscheinlich ein Einwohner auf den Quadratkilometer, wenn überhaupt. Das ist Einsamkeit pur. Kann ein Mensch das auf Dauer ertragen?«

Mit einer Kopfbewegung deutete ich auf eine ferne Hügelkette, die sich langsam aus dem Dunst herausschälte. »Irgendwo dahinter liegt mein Grundstück. Dort wartet sehr viel Arbeit. Ich werde keine Zeit haben, mich einsam zu fühlen. Und wer sagt dir, dass ich nicht gerade die Einsamkeit suche?«

»Ja.« Der Mann nickte zögernd. »Wer sagt mir das?« Er blickte an mir vorbei und widmete sich den Optiken. »Das war also eine Stimme der Unentwegten, die sich hier zusammengefunden haben – die erste Stimme dieses Tages. Ein Individualist, zweifellos. Aber es gibt auch andere, Menschen, die das knallharte Geschäft wittern und die einen sechsten Sinn zu haben scheinen. Wie zum Beispiel Pratton Allgame, der sich vorgenommen hat, innerhalb eines Jahrzehnts marsianischen Rebensaft zu einem ernst zu nehmenden Konkurrenten terranischer Weine zu machen. Die Passagierliste dieses Museums-Vehikels zeigt überhaupt eine Reihe interessanter Personen, angefangen von der Mars-Nostalgikerin Fran Imith bis hin zu – ein schwer auszusprechender und noch schwerer zu merkender Name: Quartodezimus Filidor Edlervon Homphé. Er ist Künstler, ein Exzentriker, der auf dem Mars nicht siedeln, sondern der Nachwelt gewaltige Monumente hinterlassen will. Es mag sein, dass uns schon in einigen Jahren das Gesicht von Quartodezimus vom Olympus Mons entgegen strahlt. So wie gleich, wenn ich mit ihm rede – nach der Verlautbarung des Einwanderungsbüros. Und für alle, die sich jetzt berufen fühlen, dieser gigantischen Fels- und Sandwüste Mars ebenfalls ihren Stempel aufzudrücken: Es steht noch Areal der ersten Tranche zur Verfügung.«

Er dirigierte die Optiken zwischen den Sitzreihen hindurch. Er hatte Recht, wenn er den Schwebebus als Museums-Vehikel bezeichnete. Mars-Liner-01 war eine authentische Hinterlassenschaft der ersten Kolonisten und mit dem heutigen Stand der Technik keineswegs mehr zu vergleichen. Aber er erfüllte seinen Zweck. Vor allem empfand ich den Hauch von Nostalgie als reizvoll.

»In wenigen Minuten erreichen wir die erste der archäologischen Grabungsstätten«, gab der Pilot bekannt. »Dieser Planet war bekanntlich nicht immer kahl und unwirtlich. Der Ausgrabungsbereich liegt auf der Sohle eines ausgewaschenen Flussbetts, gut zwei Kilometer unter dem Standardniveau der Oberfläche. Dieses Tal verläuft überaus geschwungen, die Geröllschichtung in den Wänden gibt einen guten Querschnitt über Jahrmillionen planetarer Geschichte.«

Nicht alle im Bus schienen daran interessiert. Aber das gehörte eben auch zu unserer Tour, deren medienwirksame Inszenierung sich auf die Siedlungsregion konzentrierte. Wahrscheinlich warteten die ersten Teams von Terra-News, Independent LFT und wie sie alle hießen, schon bei den Ausgrabungen.

Ich lehnte mich zurück und blickte auf die vorbeihuschende Landschaft, die sich in der Ferne kaum zu verändern schien. Die Weite faszinierte ebenso wie das fahle Spiel von Licht und Schatten.

Hinter mir wurden Stimmen laut. Jemand lachte schrill und hörte ebenso abrupt wieder damit auf.

Die Bergkette verschwand hinter aufkommendem Dunst. Ich blinzelte verwirrt. Da war ... Jäh straffte ich mich. Nichts ... Ich hatte mich getäuscht. Da waren nur Staubschleier in der Atmosphäre.

Für einen Augenblick hatte ich geglaubt, bizarre Gebäude zu sehen, die Silhouette einer riesigen Metropole. Sie hatte die gesamte Ebene bedeckt. Unglaublich fremde Bauten waren mit filigraner Architektur eine Symbiose eingegangen, wie sie nicht einmal Terrania City aufwies.

Ich starrte nach draußen, doch das Bild wiederholte sich nicht.

Erst am Abend würde ich mein Grundstück zu sehen bekommen. Darauf wartete ich. Die Ausgrabungen interessierten mich nur am Rand. Ich schloss die Augen und versuchte, mir diese seltsame Erscheinung in die Erinnerung zurückzurufen. Es wollte nicht gelingen, zu vage war der Eindruck gewesen.

Der Reporter stand jetzt hinter mir. Laut redete er mit zwei Passagieren. Ich achtete nicht darauf, was sie sagten, weil es mich nicht interessierte. Irgendwie war das alles unwichtig und weit weg: der Bus, die Siedler und Wissenschaftler ... Eine nie gekannte Leichtigkeit erfüllte mich, ein schwer zu beschreibender Zustand, als könnte ich alle planetare Schwere abstreifen wie eine zu eng gewordene Haut.

Ich ließ mich treiben und hatte gleich darauf den Eindruck zu schweben. Es war ein schönes Gefühl. Nur noch wie aus weiter Ferne nahm ich die Geräusche hinter mir wahr. Aber auch sie verstummten.

Plötzlich sah ich sie wieder, die fantastische Metropole. Im Licht der hoch stehenden Sonne erwachte sie zu vielfältigem Leben. Sie zog mich mit unwiderstehlicher Gewalt an.

Die Stadt rief mich.

Kapitel 2

 

 

»Alles in Ordnung«, sagte Reginald Bull. Er hatte einige Worte mit einer Frau gewechselt, deren holografische Miniatur sekundenlang über seinem Kombiarmband sichtbar geworden war. »Wir werden an der Ausgrabungsstätte schon von einem Medienaufgebot erwartet. Die Burschen wollen unseren Mars-Liner-01 als das Ereignis feiern.«

»Sei froh, dass sie uns nicht mit einer flüssigtreibstoffgetriebenen Rakete zum Mars geschickt haben.«

Bullys Kopf ruckte herum. Aus zusammengekniffenen Augen fixierte er Perry Rhodan. »Nicht mit mir«, sagte er ächzend. »Ich denke, im Alter haben wir uns ein Mindestmaß an Bequemlichkeit verdient.«

»Alter ist relativ«, wandte eine Frauenstimme ein.

Lachfalten prägten sich um Reginald Bulls Augenwinkel ein, als er sich umwandte. »Richtig«, pflichtete er bei. »Ich fühle mich ohnehin von Minute zu Minute jünger.« Er suchte den Blick der hinter ihm sitzenden Frau. Sie mochte um die dreißig sein, vielleicht etwas jünger, und hielt seinem prüfenden Blick mühelos stand.

»Mir ist neu, dass man dem Kriegsgott Mars eine verjüngende Wirkung zuschreibt«, entgegnete sie.

»Wieso ausgerechnet dem?« Bully lächelte wissend. »Das hat wohl eher unsere Unterhaltung bewirkt.«

Bis vor wenigen Minuten hatten sie ausgiebig miteinander geredet. Über sehr vieles, was mit dem vierten Planeten des Solsystems zusammenhing. Bull war über Fran Imiths profundes Wissen verblüfft gewesen, das bis in die Anfangszeit der terranischen Raumfahrt zurückreichte. Sie war ebenso intelligent wie schön, wobei er sich auf die Reihenfolge nicht festlegen wollte. Vor allem hütete er sich davor, diesen Gedanken auszusprechen.

Vielleicht hatte ihn ihre Haarfarbe auf sie aufmerksam gemacht. Dunkelrot. Die Locken fielen ihr luftig bis über die Schultern, und ihre Augen strahlten in einem leuchtenden Blau, das eine starke Persönlichkeit ausdrückte. Bully hatte vor zwei Tagen die Dateien der Teilnehmer durchgeblättert, um sich wenigstens annähernd ein Bild machen zu können. Jetzt bedauerte er, dass er Fran Imiths Kurzvita nicht ausführlicher betrachtet hatte. Aber das ließ sich spätestens übermorgen nachholen. Falls es dann noch nötig war.

Fran Imith hatte ein kleines Areal am Rand des Siedlungsgebiets erworben, in schnell erreichbarer Nähe einer archäologisch viel versprechenden Region. Sie war Mars-Nostalgikerin, und schon dieser Begriff erklärte ihr Interesse und ihre Kenntnisse.

»Reginald«, begann Fran unvermittelt, »du und Perry Rhodan, ihr gehört zu den ersten Menschen, die den Mars betreten haben ...«

Bull nickte zögernd. »Wenn ich daran zurückdenke, erscheint mir die Zeit seither wie eine kleine Ewigkeit.«

»Es ist eine kleine Ewigkeit«, bestätigte die Frau. »Jedenfalls für Menschen wie mich, die ganz normal altern.«

»... noch lange nicht«, rutschte es Bull heraus.

Fran Imith überhörte die Bemerkung. »Wie fühlt es sich an, nach so langer Zeit wieder den Mars zu betreten?«

»Es ist keineswegs das erste Mal in den letzten Jahren. Aber bislang waren wir unter Ausschluss der Öffentlichkeit hier.«

Fran streifte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ich verstehe.«

»Es tut gut, wieder auf dem Mars zu sein.« Perry Rhodan wandte sich nun ebenfalls der Frau zu. »Er ist wie ein Stück Heimat.«

»So sehe ich das auch.« Fran Imith hatte noch mehr sagen wollen, schwieg aber, weil sich Reginald Bulls Kombiarmband meldete. Sie reckte den Kopf, um zu sehen, mit wem Bull redete.

Das kleine Hologramm wurde von Störungen durchzogen. Vage war ein verzerrtes Gesicht zu erkennen. Bully hob den Arm ein wenig höher. »Ich verstehe nicht. Muss das Mistding ausgerechnet jetzt den Geist aufgeben?«

Ein Knistern verzerrte die akustische Wiedergabe. Dazwischen einzelne Satzfetzen. »... über dem Gebiet ... außergewöhnliche Interferenzen ... wissen nicht, wodurch sie ausgelöst ...«

Das Bild verblasste und baute sich neu auf. Diesmal war die Farbwiedergabe völlig verdreht. Bull tippte Berührungssensoren an, die das Display in rascher Folge veränderten. »Das Ding funktioniert einwandfrei, eigentlich«, stellte er fest.

»Probleme?«, fragte Perry Rhodan.

Bull hob die Schultern. »Wenn ich das wüsste. Scheint einer unserer Sicherheitsleute gewesen zu sein.«

»In fünf Minuten sind wir vor Ort und können persönlich mit ihm reden.«

Reginald Bull wirkte keineswegs überzeugt. Rhodan ebenfalls nicht. Aber da Mars-Liner-01 über kein Hyperfunkgerät verfügte, blieb ihnen keine andere Wahl, als zu warten.

»Falls etwas Unvorhergesehenes geschehen sein sollte, schicken sie uns ohnehin eine Korvette entgegen.« Bull hantierte wieder am Armband. Vorübergehend schien sich das Hologramm zu stabilisieren, dann verwirbelte es in einem Funkenregen. »Ich halte das für die Auswirkung einer starken Störstrahlung«, sagte er.

»Als Ausgangsort kommt dann wohl nur das Grabungsfeld in Betracht.«

Fran Imith beugte sich nach vorn. »Probleme?«, erkundigte sie sich wie beiläufig.

»Das wird sich in wenigen Minuten herausstellen«, antwortete Rhodan.

»Möglicherweise bei den Maulwürfen.« Bulls Blick schien jede Linie um die Augen der Frau nachzuzeichnen. »Falls es sich als erforderlich erweist, müssen wir weiter von den Grabungen entfernt anhalten als vorgesehen.«

Fran Imith nickte irritiert. Ihr war anzusehen, dass sie sich in der Nähe der Aktivatorträger wohl fühlte. Immerhin ergab sich eine Gelegenheit wie diese nicht jeden Tag.

Urplötzlich zuckten ihre Hände hoch. Mit den Fingerspitzen massierte sie ihre Schläfen. Bull musterte sie aus halb zusammengekniffenen Augen. »Kopfschmerzen?«, wollte er wissen.

Sie nickte. »Das kenne ich überhaupt nicht. Bisher ...«

Die nachdenklichen Falten auf Bulls Stirn gruben sich tiefer ein. »Ich spüre das auch«, murmelte er und schwang sich aus dem Sitz. Mit raschen Schritten verschwand er Richtung Pilotenkanzel.

»Was ist ...?«

»Später, Fran.« Rhodan folgte dem Freund. Er sah nicht mehr, dass Fran Imith sich ruckartig versteifte. Sie trug an allen Fingern fein gravierte silberne Ringe. An einem dieser Schmuckstücke hantierte sie überaus interessiert. Dabei schweifte ihr Blick mehrmals zur Pilotenkanzel.

Draußen hatte sich der Himmel zugezogen. Die Sicht war auf ein Minimum geschrumpft, die fernen Höhenzüge ließen sich nicht einmal mehr erahnen. Fran Imith ballte die Linke zur Faust. Sie schlug mit den Knöcheln gegen die Zähne. »Irgendetwas stimmt nicht«, murmelte sie.

Im Bus machte sich Unruhe breit. Viele Passagiere hatten den nahenden Sturm schon bemerkt, die anderen wurden jetzt aufmerksam.

Jemand stieß einen erschreckten Ausruf aus. Funken huschten über die Verstrebungen zwischen den Fenstern, energetische Entladungen, die an Elmsfeuer erinnerten. Ein heftiges Unwetter schien sich zusammenzubrauen.

 

Der Pilot wandte sich nicht um, als Reginald Bull die Kanzel betrat. Mehrere Zusatzaggregate waren aktiviert und überspielten ihre Anzeigen auf die Frontscheibe. Die Bodentaster vermittelten ein monochromes Abbild der Planetenoberfläche. Größere Spalten wurden ebenso angezeigt wie die verstreut liegenden Findlinge. Eine Kollision mit den teils sehr großen Felsen wäre dem Schwebebus trotz der Prallfelder schlecht bekommen.

»Und?«

»Noch zwölf Kilometer bis zu den Ausgrabungen.«

»Das meine ich nicht. Ich will wissen, ob alles in Ordnung ist.«

»Schon.« Kopfnickend deutete der Mann nach draußen. »Da braut sich allerdings einiges zusammen.«

Reginald Bull beobachtete die Anzeigen auf der Scheibe ebenso wie die rasch um sich greifende Schwärze. Der Stand der Sonne war nicht mehr festzustellen, lediglich ein fahler Hauch hing noch irgendwo im Zenit. Nicht weit voraus zuckte ein vielfach verzweigter Blitz aus den Wolken herab.

Die Schwärze riss auf. Ein grelles Licht traf den Schwebebus und zerstob in einem irrlichternden Funkenmeer.

»Erzähl mir keiner, dass das normal ist!«, brauste Bull auf. »Was ist mit den Steuerimpulsen?«

Ein kurzes Zögern, dann: »Keine Beeinträchtigung. Soll ich den Bus landen?«

»Nein!«, bestimmte Perry Rhodan aus dem Hintergrund. »Solange wir nicht wissen, was geschieht ...«

»Du glaubst ...?« Bull schüttelte den Kopf. »Das kann nicht dein Ernst sein.«

In rascher Folge flammten neue Entladungen in der Schwärze auf. Ein Funkenmeer umfloss den Bus wie ein dichter werdendes Schneetreiben. Die Energieortung spielte verrückt.

»Das ist alles, nur kein Unwetter.« Rhodan checkte die Anzeigen seines Kombiarmbands. »Mehrdimensionale Energien ... Bestimmung nicht möglich.«

»Du glaubst«, Reginald Bull schüttelte den Kopf, »dieser dreimal verdammte Mars verschwindet schon wieder aus dem Sonnensystem? Ausgerechnet in dem Moment, in dem wir ...? Nein, das kannst du anderen erzählen, aber nicht mir.«

Der Bodentaster fiel aus. Flackernd erloschen alle Einblendungen auf der Frontscheibe. Mars-Liner-01 schwamm inmitten eines endlos schwarzen Ozeans, in dem es keine Orientierung mehr gab.

»Ausfall der Leitimpulse!«, meldete der Pilot.

»Umschalten auf Handsteuerung! Runter mit der Kiste!«

Die Geschwindigkeit hatte nur noch zweihundert Stundenkilometer betragen. Den Bus aus wenigen Metern Flughöhe aufzusetzen, erschien Reginald Bull weit ungefährlicher als blind ins Ungewisse zu fliegen.

»Runter, hab' ich gesagt!«

Heftiger peitschte der Funkenregen dem Liner entgegen. Wirbel bildeten sich, Strömungszonen wie unter einem unsichtbaren äußeren Einfluss. Dennoch schien die Zeit plötzlich stillzustehen. Etwas veränderte sich. Reginald Bull spürte es deutlich. Er brachte dennoch keinen Laut über die Lippen. Ein unheimlicher Zwang schnürte ihm die Luft ab.

Neben ihm sackte der Pilot im Sessel zusammen, seine Hände fielen auf die Kontrollen – aber weder bohrte sich der Bus kopfüber in den Sand, noch kippte er seitlich weg. Bulls Reaktion wäre ohnehin zu spät erfolgt.

Ein unheimlicher goldener Schein durchflutete plötzlich die Kanzel. Der Funkenregen stob nicht mehr seitlich davon, sondern klatschte zäh auf den Rumpf des Schwebebusses, und das Licht schien sogar den Stahl zu durchdringen.

»Angleichung unterschiedlicher Energieniveaus«, bemerkte Perry Rhodan.

Bull reagierte nicht darauf. Er hatte die Magnetgurte des Piloten gelöst und zerrte ihn aus dem Sessel. »Hilf mir schon! Der Kerl wiegt mindestens 120 Kilo.«

Es war zu spät.

Das Arkonit der Außenhaut löste sich in flirrenden Eruptionen auf. Dahinter zeigte sich – Nichts!

Ein anderer, treffenderer Begriff kam Reginald Bull nicht in den Sinn. Nicht einmal Sekundenbruchteile blieben ihm, dann war nur mehr das entsetzliche Gefühl, von gewaltigen Kräften zerrissen zu werden, mit einem Teil des eigenen Ich noch auf dem Mars zu sein, während der Rest in Raum und Zeit verwehte.

Er stürzte in die Unendlichkeit.

Kapitel 3

 

Quart Homphé

 

 

»Nein, nein, nein, so geht das nicht. Etwas mehr Gefühl, wenn ich bitten darf. Das ist ein Kunstwerk. Kunst, verstehst du? K wie kolossal, U wie unübertrefflich, N wie ...«

»Nicht normal?«, platzt der Gnom heraus.

»Ja. – Äh, nein, natürlich nicht. Du machst mich völlig wirr im Kopf, Quintus.«

Der Kleine kichert schrill. »N wie natürlich von Quartodezimus Homphé. War es das, was du sagen wolltest, großer Meister?«

»Nein«, ächzt Quart Homphé. Das klingt schon nicht mehr so fest wie eben, sondern eher weinerlich. »Nein und nochmals nein. Mein Kunstwerk lasse ich mir nicht von einem dahergelaufenen ...« Ohne darauf zu achten, passiert er die äußere Sperre. Seine unförmige Gestalt, einmal in Bewegung geraten, ist nicht so leicht wieder zu stoppen. Erst als die Holosäulen aufbrechen, bleibt er breitbeinig stehen. Vornübergebeugt, die Hände auf die Oberschenkel gestützt, schaut er sich nach seinem Assistenten um. Doch die in der Dämmerung aufflammende Helligkeit blendet ihn.

»Quintus!«, keucht er. »Schalt das ab! Sofort!«

»Unmöglich, Quart.«

»Nichts ist unmöglich, merk dir das.« Endlich entdeckt Homphé den Gnom hinter einer halb kugelförmigen Projektorphalanx. »Abschalten!« Er brüllt beinahe. »Die Präsentation ist erst für übermorgen ...«

Zu spät. 48 dicke Lichtsäulen berühren in dem Moment die tief hängende Wolkendecke über der neu errichteten Anlage für Recycling und Wiederaufbereitung. Zehn Quadratkilometer misst das Areal. Es ist kreisrund angelegt und wird von großen Containertransmittern begrenzt, die in ihrer Bauweise wie Megalithen wirken. Es gibt nichts, was hier nicht entgiftet werden kann, und die offizielle Eröffnung wird in zwei Tagen stattfinden, begleitet von einer holografischen Installation des bislang nur Eingeweihten bekannten Next-Wave-Künstlers Quart Homphé.

Die Lichtsäulen fluten an den Wolken auseinander. Monatelang hat Quart gerechnet und programmiert und immer von neuem modifiziert. Inzwischen ist er überzeugt davon, seine holografische Installation auf geniale Weise fertig gestellt zu haben. Die Farbkomponenten bilden nur noch das Tüpfelchen auf dem I.

Ergriffen starrt Quart Homphé in die Höhe, schwer atmend und den Tränen näher denn je. Wie eine Brandungswelle flutet das Licht von den Säulen nach innen, entlang der fein strukturierten Bänder der Cirrocumuluswolken. In nahezu acht Kilometern Höhe überschlägt es sich in einem perfekten Zusammenspiel von Helligkeit und Schatten, die Farben vermischen sich, und im Zentrum der Installation entsteht ein erster überdimensionaler Tropfen. Erst funkelnd wie ein Diamant, dann von strahlendem Blau. So gewaltig wie ein Leichter Kreuzer. Seltsamerweise denkt Quart in dem Moment an die Wetterkontrolle. Was heute so perfekt funktioniert, muss auch übermorgen klappen.

Der Tropfen löst sich. Schneller werdend fällt er herab – als wolle er alles unter seiner Lichtfülle begraben.

»Imposant«, seufzt Quart Homphé. »Ich habe mich selbst übertroffen.«

Die nächsten Lichttropfen wachsen unter den Wolkenschleiern. Es ist ein unglaublich erhebender Anblick.

Es regnet funkelndes Licht.

Nur fünfhundert Meter vor Quart Homphé schlägt der erste Tropfen auf. Mit offenem Mund beobachtet der Künstler das Geschehen und nimmt jedes Detail begierig in sich auf, während seine Hände die Brille malträtieren, die er an einem geflochtenen Halsband trägt. Die altmodischen Gläser sind für den Fall gedacht, dass er seine Weitsichtigkeit verliert, eine Bedrohung, die wie ein Damoklesschwert über ihm hängt, ihn aber bislang verschont hat, obwohl die genetische Veranlagung zur Kurzsichtigkeit in seiner Familie vorhanden ist.

Zeitlupenhaft langsam schiebt sich das holografische Licht vom Zentrum nach außen, ein Wall, der von den nachströmenden Quanten aufgebauscht wird. Die Ränder wölben sich in die Höhe, fransen aus und bilden geschwungene Zacken. Quart Homphé hat unterschiedliche Strömungsgeschwindigkeiten programmiert und nicht einmal einen Abweichungsfaktor infolge widriger Bodenwinde außer Acht gelassen.

Er steht wie erstarrt. Was sich ihm hier bietet, ist ein erhabenes Schauspiel, der Anfang einer zwanzigminütigen Sequenz, die noch weit Imposanteres offenbaren wird. An den Zacken der aufsteigenden Lichtflut bilden sich jetzt Kugeln, jede zehn Meter durchmessend, und das alles steigt lautlos wieder auf, eine gewaltige, sich ausdehnende Krone, einem zerplatzenden Wassertropfen abgeschaut.

Die nächsten Tropfen schlagen im Rund auf und spritzen in unzähligen gekrönten Zacken erneut in die Höhe.

Es regnet Licht.

»Fantastisch!«, jubelt Quintus. »Es funktioniert!«

Hat sein Assistent daran gezweifelt? Homphé setzt zu einer heftigen Erwiderung an, dass es ihm angesichts solcher Ignoranz nichts ausmachen wird, sich nach einem neuen Helfer umzusehen, dem sechsten in diesem Jahr, den er dann der Einfachheit halber Sextus nennen wird, doch ein heftiger Niesreiz hindert ihn daran, seine Gedanken auszusprechen. Quartodezimus ringt nach Luft, aus seinen Augenwinkeln quellen Tränen. Dann erreicht der unsägliche Niesreiz die Nasenwurzel und Quart Homphé platzt schallend heraus. Er stolpert mehrere Schritte weit vorwärts.

Ein aggressives Fauchen erklingt.

Quart erstarrt. Die Tränen verschleiern seinen Blick. Aber da ist es schon wieder, dieses entsetzliche Gefühl, sein Schädel müsse zerspringen. Er presst sich eine Hand aufs Gesicht, mit der anderen fuchtelt er wild in der Luft herum. »Weg!«, keucht er. »Verschwinde, du Mistvieh!«

Ein Schrei wie der eines Kleinkinds wird zum verhaltenen Wimmern. Aber das ist noch etliche Meter entfernt. Viel aggressiver klingt das Maunzen unmittelbar vor ihm. Abwechselnd heiß und kalt läuft es Homphé den Rücken hinab, als sich etwas Weiches an seine Beine schmiegt.

»Ver... verschwind...« Das neuerliche Niesen sticht wie mit glühenden Nadeln in sein Gehirn. Quart Homphé stolpert zu allem Überfluss über einen der Projektorköpfe. Mit den Armen rudernd, versucht er, sein Gleichgewicht zu wahren, aber rund drei Zentner Lebendgewicht entwickeln eine beachtliche Eigendynamik.

Er bricht in die Knie, kann gerade noch verhindern, dass er der Länge nach hinschlägt.

»Quartodezimus, hast du dich verletzt?«, ruft Quintus scheinheilig.

Dem Künstler stockt der Atem. Über ihn rollt der Widerschein eines zerplatzenden Lichttropfens hinweg. Die grelle Helligkeit zeichnet sekundenlang monströse Schatten.

Es ist ein Ungeheuer, das Quart in dem Moment anspringt, ein Monstrum mit kantigem Schädel und Stachelpelz, die Reißzähne gierig gefletscht und Geifer versprühend. Und so schwarz wie die Hölle erscheint das Biest.

Quart stockt der Atem. Mit einer einzigen weit ausholenden Bewegung schlägt er zu. Eine Reflexbewegung, aber er trifft. Seine Finger streifen ein weiches, nachgebendes Fellbündel – und im gleichen Moment rast ein greller Schmerz über seine Hand hinweg. Warm und klebrig tropft es über die Finger.

»Quintus«, keucht Quart Homphé. »Hilf mir! Ich verblute.« Er niest wieder, nicht mehr so heftig wie zuvor, und spuckt angewidert aus. Immer noch kniet er auf dem nackten Boden, umgeben von flackernden Entladungen, die ihn in dem Moment herzlich wenig interessieren. Seine Gesundheit ist wichtiger.

»Miau«, erklingt es neben ihm.