Coverbild

Kay Rivers

KÜSSE UNTER PALMEN

Roman

Originalausgabe:
© 2012
ePUB-Edition:
© 2013

édition el!es

www.elles.de
info@elles.de

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-006-6

Coverfoto, -illustration:
© Hunta, matamu – Fotolia.com

1

Dale Richards hasste es, einkaufen zu gehen. Deshalb raste sie an den Regalen im Supermarkt entlang und achtete nicht auf ihre Umgebung.

»Dale?« Ein Ruf hallte durch den Gang.

Zuerst bemerkte Dale gar nicht, dass sie angesprochen worden war. Doch dann hörte sie ihren Namen erneut. Sie blieb stehen und drehte sich um.

»He, Dale, bist du’s wirklich?« Eine Frau mit auffallend roten Haaren blickte sie strahlend an, als ob sie sich nichts Schöneres vorstellen konnte als Dale bei den Konservendosen gegenüberzustehen. Sie streckte Dale die Hand hin. »Mensch, dass ich dich hier treffe! Das ist ja ein toller Zufall!« Sie war ganz begeistert.

»Ja, toll«, sagte Dale. Sie gab ihr die Hand und runzelte innerlich die Stirn. Wer zum Teufel war das?

»Ausgerechnet Thanksgiving treffen wir uns hier«, sagte die Frau. »Erinnerst du dich?«

An was?, dachte Dale irritiert. »Ja, sicher«, sagte sie.

»Das war ein Thanksgiving damals, was?« Die Rothaarige wollte sich gar nicht beruhigen.

»Ja«, sagte Dale wieder. Sie zermarterte sich das Gehirn, wer diese Frau, die sie so gut zu kennen schien, sein konnte. Aber ihr fiel nichts ein.

»Wie die Zeit vergeht . . .« Die Frau war passend zu ihrer Haarfarbe ebenso auffallend gekleidet. Der verträumte Gesichtsausdruck, mit dem sie Dale jetzt ansah, passte dazu jedoch überhaupt nicht. »Bist du immer noch bei dieser IT-Firma?«

Das war wenigstens ein Anhaltspunkt. Es konnte nicht länger als sechs Jahre her sein, dass Dale diese Frau getroffen hatte. Erst seit diesem Zeitpunkt war sie bei Matrix International. »Ja«, sagte sie. »Da bin ich noch.«

Ein strahlendes Lächeln traf Dale. »Ich hatte vergessen, wie groß du bist. Man muss ganz schön hochgucken an dir.«

»Ich schrumpfe sicher, wenn ich älter werde«, erwiderte Dale mechanisch, weil sie immer noch überlegte.

»Ich liebe deinen trockenen Humor! Du bist unvergleichlich!« Ein perlendes Lachen aus perlweißen Zähnen unterstrich diese Aussage.

Dale verlor die Geduld. Sie wollte raus hier. »Danke«, sagte sie. »Freut mich, dass er dir gefällt. Dann wollen wir mal . . . Ich muss weiter.«

»Ja, Thanksgiving . . .« Kokette Augen zwinkerten, als ob dieses Fest mehr als eine Bedeutung hätte. Die glitzernden Ohrringe nickten Beifall dazu.

»Ja, Thanksgiving«, wiederholte Dale und wollte gehen.

»Hast du jetzt eine Familie?«

Dale blieb abrupt stehen und drehte sich um. »Nein«, sagte sie. »Keine Familie.«

»Dann brauchst du ja nicht groß einzukaufen.« Sorgfältig gezupfte Augenbrauen hoben sich leicht. »Das ist doch mal ein Vorteil.«

»Ja . . . nein . . . ich wollte eigentlich nur . . . ein paar Chips«, sagte Dale.

»Chips sind aber sehr ungesund. Trainierst du immer noch?«

Mein Gott, was habe ich ihr alles erzählt? Und warum? Woher weiß sie das alles? Und wieso weiß ich nichts davon? »Machst du immer noch . . . was du damals gemacht hast?«, fragte sie. Vielleicht erfuhr sie dadurch etwas.

»Oh ja!« Wieder das perlende Lachen. »Immer noch dasselbe. Natürlich nicht so spannend wie das, was du tust«, fügten die im gleichen Farbton wie das Haar rotgefärbten Lippen hinzu.

»Oh, doch, doch, das ist es«, widersprach Dale. Oh Gott, wie komme ich hier nur raus?

»Hast du alles? Können wir gehen?« Eine zierliche blonde Frau kam von der anderen Seite des Ganges auf sie zu und blickte Dale fragend an.

Ich glaube, ich bin im falschen Film!, dachte Dale. Diese Frau kannte sie auch nicht! Hatten die sich denn alle verschworen heute?

Die blonde Frau lehnte sich etwas näher zu ihr. »Wenn ich gehen soll, brauchen Sie es nur zu sagen«, flüsterte sie sehr leise.

Dale sah sie irritiert an. »Äh . . . ja . . . ich habe alles«, erwiderte sie zögernd.

»Dann komm«, sagte die Blonde. »Ich muss noch kochen.«

»Äh . . . tschüss«, sagte Dale zu der Frau, die sie zuerst angesprochen hatte, und folgte der blonden Frau schnell.

»Tut mir leid«, entschuldigte die sich lächelnd, als sie zwei Gänge weiter endlich die andere Frau aus dem Blick verloren hatten. »Ich hoffe, ich habe Sie nicht in Verlegenheit gebracht. Sie sahen so – entschuldigen Sie, wenn ich das sage – hilflos aus. Und bei einer großen Frau wie Ihnen ist das irgendwie . . . merkwürdig.« Sie lachte. »Verzeihung.« Sie hob die Hand. »An Ihrer Stelle würde ich schnell zur Kasse gehen. Könnte sein, dass sie wiederkommt.« Sie verschwand im nächsten Gang.

Dale starrte ihr fassungslos hinterher. Sie brauchte eine Sekunde, dann schüttelte sie den Kopf. Komische Sachen passierten manchmal an Thanksgiving. Sie ging schnell zum Chipsregal und holte zwei Tüten. An der Kasse sah sie sich noch einmal um. Die Frau, die sie zuerst angesprochen hatte, war nicht zu sehen – die andere auch nicht. Sie bezahlte und verließ den Markt.

Es war bereits dunkel, aber der Supermarkt war hell erleuchtet und ebenso die Autos, die vor der großen Glasfront standen.

Als Dale in ihren Wagen steigen wollte, hörte sie ein Geräusch. Es klang dumpf . . . irgendwie nicht gut. Sie drehte sich um.

Ein Stück weiter war es nicht mehr so hell. Das Licht nahm dort rapide ab. Aus dieser Richtung kam erneut ein dumpfes Geräusch. Sie wandte sich von ihrem Wagen ab und ging aufmerksam und mit angespanntem Gesichtsausdruck auf die dunkle Seite des Parkplatzes zu.

Plötzlich erschien ein Schatten vor ihr. Sie blieb sofort stehen und versuchte mehr zu erkennen. Blonde Haare. Eindeutig blonde Haare. Aber da war auch noch etwas anderes.

»Lass mich los!«, hörte sie eine weibliche Stimme. Sie klang unterdrückt.

Dale sah eine Bewegung.

»He, he!«, hörte sie. Eine männliche Stimme. Jung.

»Lassen Sie sie los«, forderte sie auf gut Glück ins Dunkel hinein.

»Was . . .?« Unterdrücktes Fluchen. Ein junger Kerl trat etwas mehr ins Licht. »Hau ab«, sagte er. »Das geht dich nichts an.«

Hinter ihm erschien ein weiterer junger Kerl mit der blonden Frau, die Dale im Supermarkt ›gerettet‹ hatte. Er hielt sie am Arm fest, und die Blonde versuchte loszukommen.

Die beiden Männer erschienen mehr wie Herumtreiber denn wie Kriminelle, aber gefährlich konnten sie trotzdem sein. Dale spannte ihren Körper an. »Lassen Sie sie los«, wiederholte sie ruhig.

»Mann, Mutter, hau ab«, sagte der erste wieder, der ihr näher war. »Was mischst du dich ein?«

»Wir wollen doch nur ein bisschen spielen«, fügte der andere hinzu, lachte hämisch und griff der blonden Frau ins Haar.

»Ich spiele auch gern«, stieß Dale knapp hervor, wirbelte ansatzlos herum und versetzte dem näherstehenden einen Stoß mit dem Fuß in die Magengrube.

Der Kerl stöhnte auf und klappte zusammen wie ein Taschenmesser.

Der andere starrte Dale an und griff der blonden Frau noch fester ins Haar. Sie stöhnte schmerzlich auf. »Lass mich in Ruhe«, sagte der Junge, »oder ich tue ihr weh.«

Der Kerl auf dem Boden erholte sich wieder und griff nach Dales Knöchel. »Ich hab’ sie!«, brüllte er zu dem anderen hinüber.

Dale blickte zum Himmel hinauf und rollte die Augen. »Ich wollte dir nicht weh tun«, seufzte sie, »aber du hast es nicht anders gewollt.« Sie holte mit dem zweiten Fuß aus und trat dem Kriechenden sorgfältig gezielt ans Kinn.

Diesmal klappte er endgültig zusammen. Er tat keinen Mucks mehr. Seine Hand um Dales Knöchel löste sich.

»Und jetzt du«, sagte Dale und ging auf den anderen zu. »Lass sie los.«

Der andere starrte sie an, krallte sich immer noch in das blonde Haar und schien versteinert.

»Hau ab«, sagte Dale, »oder du leistest deinem Freund Gesellschaft.«

Der Junge ließ die Frau los und stürzte sich auf Dale. Dale wich geschickt aus und ließ ihn ins Leere laufen. Er raste wütend weiter, drehte sich dann um und stürzte mit einem schrillen Schrei erneut auf sie los.

»Muss das sein?«, murmelte Dale.

Sie erwartete seine Ankunft, wirbelte auf einem Bein herum und streckte das andere hoch in die Luft. Der Junge knallte darauf und fiel wie vom Blitz getroffen um. »Tja«, sagte Dale. »Leg dich nie mit jemand an, der größer ist als du.« Sie warf noch einen Blick auf die beiden Körper am Boden, dann richtete sie ihre Augen auf die blonde Frau. »Jetzt sind wir quitt, glaube ich«, sagte sie leicht schmunzelnd.

Die blonde Frau kam auf sie zu. »Das . . . Wie haben Sie das gemacht?«, fragte sie verdattert.

»Leichtes Training«, sagte Dale. »Nichts Besonderes.« Sie sah die Frau an. »Geht es Ihnen gut?«

»Ja.« Die Frau strich sich durch die Haare. »Ja«, wiederholte sie etwas erstaunt. Sie blickte auf die Jungs am Boden. »Haben Sie ihnen wehgetan?«

Dale lachte. »Vermutlich«, sagte sie. »Aber sie werden sich erholen. Es war nichts Schlimmes.«

»Sind Sie sicher?« Die blonde Frau schien skeptisch.

»Ganz sicher«, sagte Dale. »Kann ich Sie irgendwo hinbringen? Mein Wagen steht da drüben.«

»Ich . . . ich habe meinen eigenen hier«, erwiderte die blonde Frau unsicher. »Ich wollte gerade hingehen, da haben die beiden mich aufgehalten. Sie wollten mich einfach nicht weitergehen lassen.«

»Sie wollten spielen.« Dale stieß verächtlich die Luft durch die Nase aus. »Man weiß nie, wo das endet. Manchmal ist es nur Belästigung . . . manchmal –«

»Ich bin froh, dass Sie gekommen sind«, bemerkte die blonde Frau schaudernd. »Entschuldigen Sie. Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Kelly. Kelly Bennett.«

»Dale Richards. Sehr erfreut, Ms. Bennett«, entgegnete Dale lächelnd.

Kelly blickte zu ihr hoch. »In solchen Situationen wäre ich manchmal auch gern so groß wie Sie«, seufzte sie.

Dale sah auf sie hinunter. Wieso?, dachte sie. Du bist doch ganz niedlich, so wie du bist. »Wenn sie angreifen wollen, greifen sie an«, sagte sie schulterzuckend. »Die beiden waren wenigstens nicht auf Drogen, wie es scheint. Dann ist ihnen alles egal, ganz gleich, wie groß man ist.«

»Sind Sie denn auch schon mal angegriffen worden?«, fragte Kelly verblüfft. Anscheinend konnte sie sich das überhaupt nicht vorstellen.

»Ich –« Dale unterbrach sich selbst. »Nicht auf Parkplätzen«, sagte sie. »Wahrscheinlich werfe ich einen zu großen Schatten im Lampenlicht. Obwohl – wenn die der Hafer sticht . . .« Sie lachte. »Lassen wir das. Es ist ja gut ausgegangen, und die beiden werden ihre Wunden noch eine Weile pflegen müssen und spüren, wie weh es tut, wenn man sich nicht beherrschen kann.«

Die bislang leblosen Körper am Boden begannen sich zu rühren.

»Ich glaube, wir gehen besser«, sagte Dale und nahm Kelly am Arm. »Wo steht Ihr Wagen?«

»Dort drüben.« Kelly wies in eine schwarze Ecke.

»Warum haben Sie so im Dunkeln geparkt?«

Sie gingen zusammen los.

»Hab’ ich gar nicht«, sagte Kelly. »Als ich parkte, war es noch hell. Ich hatte eine Weile in der Gegend zu tun.«

»Die meisten Frauen parken direkt am Eingang«, sagte Dale. »Auf den Frauenparkplätzen. Die sind immer hell erleuchtet.«

»Gut zu wissen«, sagte Kelly. »Ich bin nicht von hier. Ich kenne mich noch nicht so aus.«

»Sind Sie gerade erst hergezogen?«

»Ja.« Kelly blieb stehen. »Das Wetter ist hier so gut.«

Dale lachte. »Abgesehen von den Hurricans!«

Kelly lachte auch. »Die habe ich aus meinen Überlegungen ausgeschlossen. Ich habe noch nie in Florida gelebt. Das Hurrican-Gefühl muss ich erst noch entwickeln.«

»Das tun Sie lieber schnell, denn Sie werden nicht darum herumkommen, den einen oder anderen kennenzulernen«, riet Dale schmunzelnd.

»Tja.« Kelly seufzte. »Das ist mein Wagen.« Sie zeigte auf einen weißen Nissan Sunny, der schon bessere Tage gesehen hatte.

Dale nickte. »Soll ich Sie noch begleiten, bis Sie zu Hause sind?«

»Nein, danke.« Kelly schüttelte den Kopf. »In meinem Auto bin ich sicher genug. Es begleitet mich seit vielen Jahren. Da fühle ich mich schon zu Hause, sobald ich einsteige.« Sie schloss die Tür auf. »Vielen Dank noch mal«, sagte sie. »Ich weiß nicht, wie es ohne Sie ausgegangen wäre.«

»Ebenfalls.« Dale grinste.

»Oh, das . . .« Kelly stieg etwas verlegen ein, schloss die Tür und kurbelte das Fenster herunter.

Weil der Supermarkt im Hintergrund leuchtete, lag Dales Gesicht im Schatten, und die schwarzen Haare wirkten noch schwärzer. Nur die blauen Augen strahlten unvermindert auf Kelly.

So eine Mischung habe ich noch nie gesehen, dachte Kelly. »Auf Wiedersehen«, sagte sie und warf ein wenig bedauernd einen letzten Blick auf dieses Gesicht.

»Kommen Sie gut nach Hause.« Dale trat einen Schritt zurück.

Kelly ließ den Wagen an, winkte und fuhr los.

Dale blickte ihr nach und ging dann zu ihrem eigenen Wagen zurück. Als sie dort angekommen war, sah sie, dass Kelly sehr vorsichtig vom Parkplatz fuhr. Eine Formel-1-Rennfahrerin ist sie nicht. Sie lächelte. Dafür hat sie andere Qualitäten.

Dale stieg ein. Immer noch sah sie Kellys Rücklichter sich langsam entfernen. Und wenn ihr etwas passiert? Wer weiß, wo sie wohnt? Das Auto sieht nicht gerade nach der besten Gegend aus. Sie ließ ihren Wagen an. Der kraftvolle Motor des großen Jeep-SUVs brummte in Erwartung ihrer Befehle.

Sie trat aufs Gas, und der Wagen schoss mit einem Satz nach vorn. Schnell folgte sie Kellys Spur und sah den Nissan innerhalb kürzester Zeit gemütlich vor sich auf der Straße dahinrollen. Dale achtete darauf, dass immer ein Auto zwischen ihnen war oder sie genügend Abstand hielt, so dass Kelly nicht erkennen konnte, dass ihr jemand folgte – und wer ihr folgte.

Kelly bog von der Hauptstraße ab in eine Gegend, die in Miami nicht zu den besten zählte. Sie war aber noch akzeptabel für jemand, der wenig Geld und trotzdem die Hoffnung auf bessere Zeiten nicht aufgegeben hatte. Hier waren Überfälle sicherlich eher selten, schon allein deshalb, weil es nichts zu holen gab. Dennoch waren sie nicht ausgeschlossen, und Dale war froh, dass sie Kelly gefolgt war.

Kelly parkte am Rande der Straße. Dale blieb mit ihrem Wagen stehen und schaltete das Licht aus. Sie wartete, bis Kelly ausgestiegen und in eines der Häuser gegangen war, die sich rechts und links wie ein gleichförmiges Band dahinzogen. Dann ließ sie den Wagen so weit vorrollen, dass sie Kellys Haus von der anderen Straßenseite her im Blick hatte.

Nach einer Weile ging hinter einem der unbeleuchteten Fenster ziemlich weit oben das Licht an. Es konnte Kelly sein oder auch – Es war Kelly. Dale erkannte sie hinter der hell erleuchteten Glasscheibe. Offenbar fühlte sie sich sicher in ihrer Wohnung, denn sie hielt es nicht für nötig, die Gardinen zuzuziehen.

Dale folgte Kellys Bewegungen hinter dem Fenster wie einem faszinierenden Schauspiel. Nach ein oder zwei Minuten seufzte sie und griff nach dem Zündschlüssel, um den Motor anzulassen. Sie war überzeugt, dass Kelly heute nichts mehr passieren konnte.

Sie erstarrte mitten in der Bewegung, als Kelly plötzlich ans Fenster trat und sich auszuziehen begann. Sie ließ ihre Bluse von den Schultern gleiten und stand nur noch im BH da. Sie griff auf ihren Rücken –

In diesem Moment wurde sie sich offenbar des weithin einsehbaren Fensters bewusst und stutzte. Ohne viel Federlesens griff sie nach rechts und links und zog die beiden Gardinenteile in der Mitte zusammen.

Dale sah Kellys Gesicht entschwinden, während der Schlitz zwischen den Stoffbahnen immer schmaler wurde. Als könnte sie noch einen Blick erhaschen, beugte sie sich vor und starrte zu dem zwar immer noch erleuchteten, aber nunmehr undurchdringlich verhüllten Fenster hinauf.

Schade.

Sie atmete tief durch. Langsam löste sich ihre Erstarrung. »Du warst zu lange allein, Idiot«, murmelte sie. Entschlossen drehte sie den Zündschlüssel herum und setzte ihren Fuß aufs Gas. Ein letztes Mal blickte sie zu dem Fenster hinauf.

Ihr Fuß wehrte sich dagegen, das Gaspedal durchzudrücken, aber endlich konnte sie ihn doch dazu bewegen, und ihr Wagen rollte an – weit weniger dynamisch, als sie Kelly gefolgt war.

~*~*~*~

Einige Zeit später parkte sie in der Tiefgarage des Apartmenthauses, in dem sie wohnte. Ihre Gegend war weit nobler als die, aus der sie gerade kam, aber ihr erschien es in diesem Moment nicht so. Es war ein kahler Ort, ein kahles Haus, ein kahler Lift, der sie hinauf in ihr Apartment brachte.

Sie betrat die Diele wie jeden Abend mit einem Gefühl von Heimatlosigkeit und der zumindest tröstenden Gewissheit, hier wenigstens ein Bett zu haben. Früher war das nicht immer so gewesen.

Früher . . .

Sie schüttelte die Schuhe von den Füßen. Ein Schlenker zur Bar, ein Getränk floss in ein Glas. Sie ging zu einem kleinen Schränkchen und betrachtete ein schlicht gerahmtes Bild, das darauf stand. Eine Frau in Uniform, lachend, jung, mit strahlenden Augen. Dale griff nach dem Rahmen.

»Was würdest du dazu sagen, hm?«, fragte sie.

Sie nahm das Bild mit hinüber zur Couch und setzte sich.

»Du wusstest immer, was zu tun war. Und hast es mir oft genug gesagt – auch wenn ich nicht immer darauf gehört habe.« Sie betrachtete die Fotografie eine Weile. »Was denkst du? War ich zu lange allein? Ist es Zeit?« Sie schaute auf den lachenden Mund und schluckte. »Du hättest bestimmt gesagt: Ja, es ist Zeit, Dale. Sei vernünftig. Das bringt doch nichts.« Sie ließ das Bild sinken. »Aber ich kann nicht«, flüsterte sie. »Jetzt noch nicht.«

Sie sank auf der Couch zurück und presste das Foto an ihre Brust. »Jetzt noch nicht . . .«, wiederholte sie mit erstickter Stimme.

2

Kelly blickte sich in der Straße um und suchte nach einer Hausnummer. So fremd sie sich hier fühlte, war ihr die Situation doch mittlerweile sehr vertraut: Die Situation, sich für einen Job vorstellen zu müssen.

Sie schaute auf den Zettel in ihrer Hand. Aha, da war die Nummer. Hier musste sie hin.

Es schien ein Hintereingang zu sein. Kelly versicherte sich noch einmal, dass die Beschreibung stimmte, die sie am Telefon bekommen hatte. Ja, das war so. Sie stieß die nur angelehnte Tür auf und trat in den dunklen Flur ein.

»Ja, Baby, ja, mach’s mir!«

Kelly blieb abrupt stehen und versuchte weiter vorn im Gang zu erkennen, woher die Worte kamen. Die Gasse vor dem Eingang war schmutzig und ungepflegt gewesen, vielleicht zogen sich manchmal Leute hier in diesen Flur zurück, weil die Tür immer nur angelehnt war.

Sie atmete tief durch und überlegte. Sollte sie weitergehen und die beiden eventuell mittendrin stören? Oder warten?

»Oh ja . . . ja . . . ja . . .! Komm, du geiles Flittchen!«

Puh. Kelly schluckte bei der Ausdrucksweise. Das war nicht ganz der Umgangston, den sie gewohnt war.

Sie hörte ein Geräusch hinter sich, und plötzlich fiel über ihre Schulter Licht in den Gang vor ihr und zeichnete ihren eigenen Schatten auf den Boden.

»Na, Kleine, willst du dich bewerben?«

Kelly drehte sich mit einem Ruck um.

Ein Mann war genauso wie sie durch die Tür hereingekommen und stand nun vor ihr. Er musterte sie mit einem Blick, über den sie sich lieber keine Gedanken machen wollte.

»Ähm . . .« Sie räusperte sich. »Ja. Ich . . .« Hinter sich hörte sie weiter Geräusche, Stöhnen, Keuchen – anscheinend war der Austausch von Liebenswürdigkeiten vorbei –, aber der Mann schien das gar nicht wahrzunehmen. Erneut räusperte sie sich. »Wissen Sie zufällig, wo das Büro des Managers ist? Ich habe vor einer halben Stunde mit ihm telefoniert.«

»Ach, du bist das.« Er nickte und ging an ihr vorbei. »Komm mit.«

Kelly drehte sich zwar um, zögerte aber ihm zu folgen, weil sie dann wohl unweigerlich an dem geräuschvoll aktiven Paar vorbeikommen mussten.

Wahrscheinlich blieb ihr jedoch keine andere Wahl. Sie gab sich einen Ruck und ging schnell dem Mann hinterher, der schon um eine Ecke im Gang verschwunden war.

Die Geräusche steigerten sich, sie schien ihnen immer näher zu kommen, sie bereitete sich auf einen unangenehmen Anblick vor.

Hinter der Ecke war jedoch absolut nichts, obwohl in diesem Moment offensichtlich der Höhepunkt der Aktivitäten erreicht war, denn ein noch angestrengteres Stöhnen, gefolgt von einem lauten »Ja!« und einem etwas unterdrückten »Baby . . .« beendete die Geräuschkulisse.

Sie ging schnell auf die offene Tür zu, die am Ende des Ganges lag. Obwohl sie den Mann nicht mehr sah, nahm sie an, dass er dort hinein verschwunden war.

In diesem Augenblick ging das Gestöhne erneut los, fast genauso wie am Anfang.

Junge, Junge, dachte Kelly. Der ist aber ausdauernd. Sie versuchte die Geräusche zu ignorieren und betrat das Büro, in dem tatsächlich der Mann saß, den sie im Gang getroffen hatte. »Haben wir telefoniert?«, fragte sie. »Sie sind der Manager?«

»Ja, bin ich, Süße.« Er grinste sie an und betrachtete sie wieder mit diesem Blick, der ihr den Eindruck vermittelte, sie wäre nackt.

»Wegen des Jobs . . .«, setzte Kelly an.

»Wenn ich gewusst hätte, wie du aussiehst, hätte ich dir was anderes angeboten«, sagte der Mann und musterte sie weiter. »Obenherum fehlt zwar ein bisschen was, aber das kann man ja aufpolstern.«

»Wie bitte?« Kelly erwiderte seinen Blick irritiert. »Sie suchen doch eine Rezeptionistin, oder nicht?« Die Geräusche im Hintergrund wurden wieder lauter.

»Ach, dafür finden wir bestimmt jemand, aber du . . .«, er stand auf und kam auf sie zu, »du kannst doch viel mehr.« Er grinste noch schmieriger. »Davon bin ich überzeugt.« Er strich mit einem Finger über ihre Wange.

Kelly zuckte zurück. »Da muss ein Missverständnis vorliegen. So einen Job suche ich nicht.«

»Hab dich nicht so. Du brauchst doch Geld, oder nicht?« Er verzog die Mundwinkel.

»So dringend auch wieder nicht«, sagte Kelly.

»Ja, Baby, ja!« Im Hintergrund schien der nächste Höhepunkt zu nahen.

Kelly blickte sich verwirrt um.

»Kümmer dich nicht darum.« Der Manager winkte ab. »Das ist nur das Kino.«

»Ein . . . Kino?« Durch den Hintereingang war das nicht zu erkennen gewesen, und Kelly war überrascht.

»Na, komm schon. So ’ne Jungfrau bist du doch auch nicht mehr. Noch nie ’n Porno gesehen?« Er lachte.

Ein Pornokino. Na super . . . Kelly seufzte innerlich.

»Eigentlich haben wir ja nur ’ne Kartenabreißerin gesucht, aber dafür bist du doch viel zu schade. Es gibt ein paar Jungs, die hätten ab und zu auch gern mal ein bisschen mehr. Und wir machen regelmäßig Live-Shows drüben in unserem Club auf der anderen Seite der Straße. Das bringt wesentlich mehr ein als der Job hier. Interessiert?« Er hob fragend die Augenbrauen.

Kelly versuchte sich zu fassen und schluckte. »Oh nein«, erwiderte sie dann fest. »Das ist nicht mein Fall.« Sie hörte noch einmal hin, und die männliche Stimme stöhnte: »Los, Baby, los!« Kelly lächelte ein wenig. »Definitiv nicht«, fügte sie zum Manager dieses Etablissements gewandt hinzu, drehte sich um und ging rasch durch den dunklen Gang davon.

Als sie draußen vor der Tür stand, atmete sie tief durch. Sie hatte es sich einfacher vorgestellt einen Job zu finden, als sie hergezogen war. Bislang hatten sich alle als Nieten herausgestellt.

Die einen, weil sie sie, wie diesen hier, gar nicht erst annehmen konnte, und andere, weil sie sie nur kurz behalten konnte, bis die jeweiligen Chefs meinten, einen ›Bonus‹ von ihr verlangen zu müssen.

Dieser Manager hier war keine Ausnahme gewesen, sondern eher die Regel. So musste sie, kaum dass sie begonnen hatte zu arbeiten, dann sofort wieder kündigen und stand erneut vor demselben Problem: einen Job zu finden.

Es war wirklich wie verhext. Wenn sie sich für Stellen bewarb, die eher ihrem Geschmack entsprachen, wurde sie abgelehnt, weil sie keinen Collegeabschluss hatte, andere verlangten Berufserfahrung, die sie ebenfalls nicht besaß, wieder andere erklärten ihr, sie wäre zu jung.

Ganz besonders charmant waren die Angebote, bei denen sie zuerst einmal ohne Bezahlung arbeiten und dann erst entschieden werden sollte, ob sie den Job überhaupt bekam.

Und wie oft hatte sie nun schon gehört: Wir rufen Sie an? Dann wusste sie sofort, dass nie ein Anruf kommen würde.

Einmal hätte sie fast ihren Traumjob ergattert, aber da war es an ihrer Hautfarbe gescheitert. Der Personalchef erklärte ihr, sie wäre eigentlich genau die richtige, genau das, was er gesucht hätte, aber sie dürften nur noch Nicht-Weiße einstellen, weil sie zu viele Weiße in der Firma hätten.

Desillusioniert schlenderte sie die Straße entlang. An einem Supermarkt vorbei, wo Hilfskräfte für das Einpacken der Wochenendeinkäufe gesucht wurden. Nur am Wochenende. Sie seufzte. Aber immerhin besser als nichts.

Sie war schon versucht, den Laden zu betreten, da riss sie sich zusammen. »Du kannst mehr als das. Gib nicht auf.« Sie sprach laut zu sich selbst, straffte ihre Schultern und ging energisch weiter.

Bevor sie um die Ecke bog, warf sie aber noch einmal fast sehnsüchtig einen Blick auf das Schild im Fenster zurück: Hilfskräfte gesucht.

Sie atmete tief durch und ging dann endgültig die Straße hinunter zu ihrem Auto.

3

»Dale, Dale, Dale, Dale!«

Dale blickte irritiert von ihrem Schreibtisch auf.

Eine jubilierende Frau stürzte ins Zimmer, gefolgt von einer gehetzt aussehenden Rezeptionistin.

»Tut mir leid, Ms. Richards. Ich konnte sie nicht aufhalten. Sie wollte Sie unbedingt sprechen.« Die Rezeptionistin warf einen genervten Blick auf die Frau, einen entschuldigenden auf Dale und keuchte.

»Ist schon gut.« Dale winkte ab und stand auf. »Vielen Dank, Mrs. Alvarez.«

Mrs. Alvarez stieß einen erleichterten Seufzer aus und ging, nicht ohne noch einen strafenden Blick auf die Person zu werfen, die sie zu diesem morgendlichen Sprint gezwungen hatte.

Die Frau kam mit einem strahlenden Lächeln auf Dale zu. »Sie wollte mich einfach nicht hereinlassen«, verkündete sie selbstbewusst, »da musste ich doch etwas tun.«

»Die Sicherheitsvorschriften haben ihren Sinn«, erwiderte Dale reserviert. »Deshalb habe ich sie erlassen.«

Die Frau, die vor ihr stand, war die Frau, die sie vergangene Woche im Supermarkt so überschwänglich begrüßt hatte. Dale fühlte ein unbehagliches Kribbeln in der Magengrube, normalerweise ein deutliches Zeichen für Gefahr. Aber was konnte diese Frau ihr schon tun? Sie war kleiner als Dale und sicherlich unbewaffnet.

Dennoch ließ Dale ihre Augen aufmerksam über den Körper der Rothaarigen streifen, ganz automatisch, um abzuchecken, ob sie irgendwo etwas versteckt haben könnte. Eine langjährige Gewohnheit, der sie sich kaum mehr bewusst war.

»Versuchst du dich an meinen Körper zu erinnern?«, fragte ihre Besucherin süffisant lächelnd. »Und was du damit gemacht hast?«

Dale schreckte auf und konzentrierte sich auf das Gesicht ihres Gegenübers. »Ich . . . nein . . . entschuldige –« Sie war verwirrt. Wovon sprach diese Frau? Das hörte sich ja fast an, als hätten sie – »Bitte.« Sie wies auf einen Sessel, der vor ihrem Schreibtisch stand. »Setz dich doch. Was kann ich für dich tun?«

Doch die Rothaarige blieb stehen und lächelte sie weiter ironisch an. »Du hast nicht die geringste Ahnung, wer ich bin, nicht wahr?«, fragte sie mit einem amüsierten Blitzen in den Augen.

»Ich . . . doch . . . natürlich . . .« Dale fühlte, wie das unbehagliche Kribbeln in ihrer Magengrube sich noch verstärkte. Sie musterte die Frau wieder. Ein Name, wenigstens ein Name! Aber nichts drängte sich in ihr leeres Hirn, keine Tür tat sich auf, kein Licht am Ende des Tunnels verkündete Erlösung.

»Ich wette, du weißt nicht einmal mehr, wie ich heiße«, sagte die zierliche Frau. Sie lächelte entgegen aller Erwartung zufrieden. Endlich setzte sie sich und schlug die Beine übereinander, elegante Beine in eleganten Strümpfen und Schuhen.

Dale setzte sich auch. Die Peinlichkeit lag wie eine elektrisierte Wolke zwischen ihnen, aus der jederzeit ein Blitz hervorschießen konnte.

»Ich will dich nicht länger auf die Folter spannen.« Ein belustigtes Schmunzeln verzog die nach allen Regeln der Schminkkunst sorgfältig gestylten Lippen. »Ich habe schon im Supermarkt gemerkt, dass du nicht wusstest, wer ich war. Es war süß, wie du dich gewunden hast.« Aufreizende Augen unter schwarzgetuschten Wimpern lächelten Dale kokett an.

Sie flirtet mit mir!, dachte Dale. Was ist da los? Was habe ich getan?

»Megan«, plauderte die Rothaarige entspannt vor sich hin. »Megan O’Reilly. Sagt dir das was?«

»Selbstverständlich«, behauptete Dale. Was hieß das jetzt? Dass diese Frau Megan O’Reilly war oder dass es irgendetwas mit einer Megan O’Reilly zu tun hatte?

Die andere schmunzelte nun so sehr, dass es fast unverschämt hätte genannt werden können. »Du erinnerst dich immer noch nicht«, sagte sie. »Langsam müsste ich schon ein wenig beleidigt sein. Mein Name ist doch nicht so schwer zu merken.«

Dale atmete auf. Also sie war Megan O’Reilly! »Tut mir leid, Megan«, sagte sie. »Mein Gedächtnis ist manchmal nicht das beste.«

»Du musst ja einen enormen Verbrauch an Frauen haben, wenn du dich nicht mal mehr an eine erinnerst, neben der du aufgewacht bist«, erwiderte Megan spitz. »Ganz zu schweigen von allem, was vorher war.«

Oh Gott! Dale wusste immer noch nicht, wovon Megan O’Reilly sprach.

Megan lachte leicht. »Du siehst so gequält aus. Ich werde dich erlösen. Erinnerst du dich an die Party bei Nancy Grand? Ist so fünf, sechs Jahre her.«

»Oh.« Dale lehnte sich in ihrem Sessel zurück. Langsam dämmerte ihr etwas. Sie hatte es verdrängt. Aus gutem Grund. Auch jetzt wollte sie nicht daran erinnert werden, aber den Gefallen würde Megan ihr wohl kaum tun.

»An Thanksgiving«, fügte Megan hinzu.

Dale sah sie an. »Ja, Thanksgiving«, wiederholte sie leise. »Ich erinnere mich.« Deshalb hatte Megan im Supermarkt all diese Andeutungen gemacht. Dale seufzte und stand auf. »Es war schön, dich einmal wiederzusehen, Megan, aber jetzt«, sie lächelte entschuldigend, »habe ich zu tun.« Sie streckte Megan verabschiedend die Hand hin. »Danke für deinen Besuch.«

»Oh nein!« Megan lachte. »So leicht wirst du mich nicht los! Jetzt, wo ich dich zufällig wiedergetroffen habe. Das kostet dich mindestens ein Mittagessen. Hast du heute schon was vor?« Ihre Augen blitzten Dale erwartungsvoll an. Ein Nein, so sah es aus, würde sie nicht akzeptieren.

»Ich . . . ich esse eigentlich nie mittags«, erwiderte Dale überrumpelt.

»Dann tust du es heute.« Megan stand auf. »Wir treffen uns im Avalon, wie wär’s?« Es war offensichtlich eine rhetorische Frage.

»Am Ocean Drive?« Dale verzog ablehnend das Gesicht. »Das ist ein bisschen weit von hier.«

»Für mittags, meinst du?« Megan lachte. »Du bist doch keine kleine Angestellte, die ihre halbe Stunde Mittagspause nicht um eine Minute überziehen darf. Du bist die Sicherheitschefin, Mitglied der Geschäftsleitung. Da wird es ja wohl einmal gehen, dass du deine Mittagspause verlängerst.«

»Normalerweise mache ich gar keine«, sagte Dale.

»Das ist definitiv ein Fehler. Der Ocean Drive wird dich vielleicht davon abbringen«, behauptete Megan selbstbewusst.

»Das glaube ich kaum.« Dale konnte der weltberühmten Flaniermeile in South Beach, kurz SoBe, dem südlichen Teil von Miami Beach, nichts abgewinnen. Hier war die Fashion- und Lifestyle-Szene von Miami zu Hause, ein Boutique-Hotel reihte sich ans nächste, es gab trendige Bars, Lounges, Cafés und Restaurants en masse, und über den Türen der Modeboutiquen prangten fast nur Namen aus der internationalen Welt des Designs. Und da auch einige der berühmten Modelagenturen ihren Sitz direkt am Ocean Drive hatten, konnte man sich manchmal des Eindrucks nicht erwehren, sich auf einem lebenden Laufsteg zu befinden.

Obwohl Dale den Anblick schöner Frauen durchaus zu schätzen wusste, war ihr dieses Gehabe zu viel. Es war nicht ihre Welt.

Aber Megans – jedenfalls wiesen alle Äußerlichkeiten darauf hin.

»Tut mir leid, Megan«, sagte Dale, »aber ich habe wirklich keine Zeit.«

»Du schuldest mir was, weil du mich nicht erkannt hast«, sagte Megan mit kokett zur Seite gelegtem Kopf.

Dale seufzte. »Also gut. Aber muss es unbedingt der Ocean Drive sein? Ich hasse diesen Miami-Vice-Chic.«

»Es muss«, sagte Megan. Sie wirkte zufrieden. Sie wusste, sie hatte gewonnen. »Oder wolltest du mich an einen Hot-Dog-Stand einladen? Das brächtest du glatt fertig!« Sie lachte.

In der Tat war das das einzige, was Dale manchmal mittags aß, aber sie sagte nichts zu Megans Vermutung. Sie atmete tief durch. »Wann treffen wir uns?«

»Um eins«, sagte Megan. »Ich gehe vorher noch ein bisschen einkaufen, ich habe schon gar nichts mehr anzuziehen.«

Dale musterte unauffällig das elegante und offensichtlich teure Kostüm, das Megan trug. Sicherlich nicht das einzige, was sie im Schrank hatte. Aber Dale wusste auch, dass es sinnlos war, mit Frauen wie Megan über Bekleidungsfragen zu diskutieren. »Dann bis eins«, sagte Dale. »Ich werde pünktlich sein.«

»Ich wahrscheinlich nicht!« Megan lachte. »Das bin ich nie. Aber es macht dir sicher nichts aus zu warten – bei den vielen Mädels, die da auf und ab laufen!«

Dale hasste es zu warten. Sie hasste es überhaupt, ihre Zeit zu verschwenden. Aber Megan hatte sie schon zu viel ihrer kostbaren Zeit gekostet, als dass sie das jetzt mit ihr erörtern wollte. »Ich werde mir etwas zu lesen mitbringen«, sagte sie.

Megan schaute sie merkwürdig an. »Dann bis später«, sagte sie. »Wir sehen uns.«

»Ja.« Dale setzte sich, nahm ein Blatt von ihrem Schreibtisch und studierte die darauf enthaltene Liste, verglich sie mit einer anderen.

Sie achtete nicht mehr auf Megan, die mit einem weiteren merkwürdigen Blick den Raum verließ.

4

»Ja, du lieber Himmel, was ist dir denn passiert? Was machst du da so ganz allein?« Kelly beugte sich hinab und versuchte unter den Wagen zu schauen.

Von unten blickten sie zwei verängstigte Augen zitternd an.

»Du brauchst keine Angst zu haben.« Kelly ließ sich ganz auf die Knie hinunter und legte sich halb neben den Wagen. »Komm her. Ich tue dir nichts.« Sie schob eine Hand vorsichtig am Reifen vorbei.

Der kleine Hund kauerte sich noch mehr zusammen und kroch weiter zurück.

»Hm.« Kelly betrachtete den Kleinen noch einmal und stand dann auf. Sie hatte genug Erfahrung mit Hunden, um zu wissen, dass es keinen Sinn hatte, das verängstigte Tier zu drängen. »Weißt du, mein Problem ist«, sprach Kelly weiter, obwohl sie wusste, dass der kleine Hund sie nicht verstehen konnte, »dass ich mein Auto jetzt brauche.« Sie seufzte. »Was mache ich bloß?«, murmelte sie leise vor sich hin. »Ich kann doch so nicht losfahren, wenn du da unten hockst.«

»He! He! Weg da!« Eine nur schwer zu identifizierende Figur auf Inline Skates raste ganz knapp an ihr vorbei. Die Straße war hier leicht abschüssig, und der Skater hatte eine Geschwindigkeit drauf, die eher an ein Düsenflugzeug erinnerte.

Kelly spürte den Luftzug und wich aus, taumelte leicht gegen ihr Auto zurück. »Trottel.« Sie schaute die Straße hinunter.

Auf einmal schlich sich ein Grinsen in ihr Gesicht. Für sein Flugzeug war die Landebahn wohl zu kurz gewesen. Die Sträucher am Rande eines Gartens wippten noch heftig, da war er anscheinend hineingerast. Gleich darauf hörte Kelly laute Stimmen, fast schon Geschrei.

Im nächsten Augenblick wippten die Sträucher noch heftiger, teilten sich, und der unglückliche Skater kämpfte sich heraus, verfolgt von einer sehr aufgeregten älteren Dame, die ihn mit etwas verprügelte, das wie ein Poolreinigungswerkzeug aussah, eine Art Schwamm an einem langen Stiel.

Wasser schien überall aus dem armen Rollschuhfahrer herauszufließen, in großen Lachen folgte es ihm über die Straße, bis die Frau endlich von ihm abließ und schimpfend in ihren Garten zurückkehrte.

Kelly grinste. »Das kommt davon, wenn man so rast.«

Er klopfte auf seine Kleidung, aus der immer noch Wasser tropfte. »Das war eigentlich –« Er schaute auf. »Ich wollte gar nicht so schnell fahren. Habe ich dich irgendwie verletzt?« Er betrachtete Kelly etwas besorgt.

»Nein.« Kelly schüttelte den Kopf. »Nur erschreckt.«

»Tut mir leid.« Er verzog das Gesicht wie der sprichwörtliche begossene Pudel – und genauso sah er auch aus. Neugierig warf er einen Blick auf Kellys Auto. »Du fährst nicht zufällig gerade in die Stadt?«

Kelly runzelte sehr skeptisch die Stirn. »Falls du mich fragen wolltest, ob ich dich mitnehme, dann wäre die Antwort: Nein. Durchnässte Sitze brauche ich wirklich nicht.« Der junge Mann setzte zu einer Erwiderung an, aber Kelly unterbrach ihn mit einer Neigung des Kopfes, die unter den Wagen deutete. »Und außerdem gibt es da auch noch ein anderes kleines Problem.«

»Hast du einen Platten?« Der junge Mann musterte die beiden Reifen, die auf dieser Seite zu sehen waren, trat dann zwei Schritte zurück und ging auf die andere Seite. »Ich seh’ nichts.«

»Die Reifen sind in Ordnung«, erklärte Kelly, »aber was dahinter sitzt, scheint nicht so ganz in Ordnung zu sein. Du hast nicht vielleicht auf deiner Brachialtour einen kleinen Hund überfahren?«

»Ich? Nein.« Der junge Mann schien geradezu entsetzt. »So etwas würde ich doch nie tun!«

»Wie kannst du das noch steuern, wenn du die Kontrolle verlierst?« Kelly atmete tief durch. »Also selbst wenn ich dich mitnehmen wollte, könnte ich das nicht tun, weil ich den armen kleinen Rex da unten nicht überfahren will.«

»Rex? Ein Schäferhund ist es?« Der junge Mann ließ sich auf ein Knie nieder.

»Sieht mir so aus«, nickte Kelly. »Aber ich bekomme ihn nicht heraus.«

»Lass mich mal.« Ohne mit der Wimper zu zucken, legte er sich ganz auf den Boden und schob sich auf dem Rücken unter das Auto. »Am besten, du gehst auf die andere Seite«, rief er leise von unten herauf. »Falls er abhaut.«

Kelly hob die Augenbrauen, aber sie tat, was er vorgeschlagen hatte. Der kleine Hund kam jedoch nicht heraus.

Kurz darauf erschien der verwuselte Haarschopf des Skaters auf der anderen Seite der Motorhaube, und als er sich ganz erhob, sah Kelly, dass er den kleinen Hund im Arm hielt. »Er scheint nicht verletzt zu sein«, sagte der rollende Raser, während seine Hände vorsichtig über das Fell des kleinen Hundes strichen, »aber total mit den Nerven fertig.«

»Wer weiß, was ihm passiert ist?« Kelly kam langsam zu den beiden herüber. »Ich habe so einen Hund hier in der Nachbarschaft noch nie gesehen. Vielleicht ist er irgendwo weggelaufen.«

»Er ist erst ein paar Wochen alt«, sagte der junge Mann. »Noch ganz jung. In dem Alter sind sie eigentlich noch bei der Mutter.«

»Du kennst dich mit Hunden aus?« Kelly hob vorsichtig die Hand und versuchte den Hund zu streicheln, aber der schaute sie panikerfüllt an und drängte sich an die Brust des Skaters. Anscheinend vertraute er ihm mehr. »Ich tue dir doch nichts«, wiederholte Kelly und ließ ihre Hand sinken. »Keine Angst.«

»Willst du ihn behalten?«, fragte der junge Mann.

»Ich?« Kelly schüttelte traurig den Kopf. »Ich hätte wahnsinnig gern einen Hund, aber in meiner Wohnung darf ich keinen halten. Außerdem –«, sie seufzte, »weiß ich gar nicht, ob ich ihn ernähren könnte. Ich bin immer noch auf Jobsuche, und es sieht nicht gut aus.« Sie schaute sich um. »Wir müssen ihn wohl ins Tierheim bringen. Die können dann ja mal versuchen herauszufinden, ob ihn jemand vermisst.«

»Ins Tierheim?« Der junge Mann sah schon wieder entsetzt aus.

»Er gehört bestimmt jemandem«, sagte Kelly. »Das ist ein Rassehund, die sind teuer. Sicher wird er schon gesucht.«

»Hm.« Der junge Mann wirkte äußerst skeptisch. »Wer weiß, warum er so verängstigt ist. Vielleicht sollten die Leute ihn nicht zurückbekommen.«

»Wie gesagt, solche Hunde sind teuer«, wiederholte Kelly, »und ich glaube nicht, dass es erlaubt ist, so ein kostbares Tier einfach zu behalten. Zumindest müssen wir versuchen, den Besitzer zu finden.«

»Da bin ich anderer Meinung.« Der junge Mann hielt den Hund beschützend im Arm.

»Komm«, sagte Kelly seufzend, aber entschieden. »Ich nehme dich mit in die Stadt. Und dann fahre ich am Tierheim vorbei.«

~*~*~*~

»Wir müssen ihn abgeben! Das geht so nicht!« Kelly schimpfte.

»Wieso? Guck mal, wir haben doch so viel Spaß!« Badger, der junge Mann, der Kelly fast überfahren hatte, sprang am Ufer im Wasser auf und ab, und der kleine Hund sprang begeistert um ihn herum. Er hatte seine Angst schnell überwunden, als er merkte, dass Badger und Kelly ihm nichts taten, und freute sich seines jungen Lebens. »Wuff! Wuff!«, klang es hell über die Promenade.

Kelly seufzte. Badger war wie ein kleines Kind, und der Hund, der war ja sowieso eins. Sie hatte das Gefühl, gegen so viel kindliche Begeisterung kam sie nicht an.

Sie hoffte, dass Badger schnell die Lust an dem neuen Spielzeug verlieren und ihr dann erlauben würde, den Hund ins Tierheim zu bringen.

Sie war selbst nicht begeistert von der Idee, aber was sollte man machen, wenn Hundehaltung nicht erlaubt war?

Die beiden kamen auf Kelly zugestürmt und warfen sie fast um. Lachend wehrte sie die Wassertropfen ab, weil Badger sich genauso schüttelte wie der kleine Rex. »Ich habe heute schon geduscht!«, rief sie, aber ihrer Stimme war anzuhören, dass das Lachen ihr ebenfalls gut tat. Sie hatte wahrlich nicht viel zu lachen gehabt in letzter Zeit.

»Ich behalte ihn«, sagte Badger plötzlich. »Ich werde das schon irgendwie hinkriegen.« Er beugte sich zu dem Kleinen hinunter und streichelte ihn. Rex schnappte spielerisch nach seiner Hand und lachte über das ganze Gesicht, als Badger mit ihm zu spielen begann.

»Das kannst du nicht.« Kelly ließ sich fallen – sie hatte immer eine Decke im Wagen, und die hatte sie auf den Sand gelegt – und begann ebenfalls mit dem Hund zu spielen, der sein Glück gar nicht fassen konnte, nun gleich zwei Spielkameraden zu haben.

»Ich kann alles, was ich will.« Badger plusterte sich auf. »Ich bin stark. Wer will mir irgendetwas verbieten?«

»Ach komm, hör auf.« Kelly winkte ab. »Du hast genausowenig einen Job wie ich. Du hast ja noch nicht einmal eine Wohnung.«

»Umso besser.« Badger grinste. »Habe ich auch keinen Vermieter, den ich fragen muss.«

»Jetzt geht es ja noch.« Kelly hob den kleinen, wuscheligen Körper an, hielt ihn im Arm und streichelte ihn. »Aber was willst du machen, wenn er größer ist? Schäferhunde sind keine Dackel, die man überallhin mitnehmen kann.«

»Du machst dir viel zu viele Gedanken.« Mit einem Plumps ließ Badger sich neben ihr fallen. »Warst du immer schon so?«

Kelly zögerte leicht. »Ich glaube, schon«, sagte sie dann. Sie hob den Kopf und schaute sich um. Es war wundervoll hier in Miami. Von so etwas hatte sie in Maine nur träumen können. Schwimmen im warmen Wasser – das ganze Jahr über.

Plötzlich kniff sie die Augen zusammen. Sie saßen am Strand gleich unterhalb des Ocean Drives, und ständig promenierten Leute an ihnen vorbei, die die Restaurants betraten oder aus ihnen herausgekommen waren oder an deren Einkaufstüten mit den teuren Designernamen man sah, wie viel Geld sie ausgegeben hatten.

Badger fühlte sich etwas vernachlässigt, weil sie ihre Aufmerksamkeit von ihm abgewendet hatte. »Ist was?«, fragte er und versuchte ihrem Blick zu folgen.

Kelly schien abwesend: »Hm?«