cover

Dick Francis

Zügellos

Roman
Aus dem Englischen von
Malte Krutzsch

 

 

 

 

 

 

 

 

Titel der 1994 bei Michael Joseph, London,
erschienenen Originalausgabe:

›Wild Horses‹

Copyright © 1994 by Dick Francis

Die deutsche Erstausgabe erschien 1996
im Diogenes Verlag

Umschlagillustration von
Tomi Ungerer

 

 

 

 

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2012

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 22986 8 (6. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60015 5

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

 

[5] Seelen, dicht verschleiert, sind wir,
Mensch, du siehst den Menschen nicht;
So innig wir auch Zwiesprach’ halten,
Ein Schattenvorhang trübt die Sicht.

Christopher Pearce Cranch
(1813–1893)

[7] 1

Der abgemagerte alte Mann, der langsam an Knochenkrebs starb, saß wie immer in seinem großen Armsessel, und Tränen einsamen Schmerzes liefen an seinen eingefallenen Wangen hinunter.

An diesem Dienstag, seinem letzten, verstärkte er in anhaltendem Schweigen krampfhaft den harten Griff um mein Handgelenk, während ich sah, wie seine Lippen unter der immensen Anstrengung, etwas zu sagen, zitterten und bebten.

»Pater.« Endlich brachte er die Worte heraus, ein verzweifeltes Flüstern, geboren aus höchster Not. »Pater, ich muß beichten. Ich muß um Vergebung bitten.«

Überrascht und voll Mitgefühl sagte ich: »Aber… ich bin doch kein Priester.«

Er hörte nicht zu. Die schwache Stimme, die seine Verfassung besser spiegelte als die grimmig zupackende Hand, wiederholte einfach: »Pater… vergeben Sie mir.«

»Valentine«, sagte ich ruhig, »ich bin Thomas Lyon. Wissen Sie nicht mehr? Ich bin hier, um Ihnen vorzulesen.«

Sein äußeres Gesichtsfeld war noch halbwegs intakt, aber er konnte nichts mehr sehen, geschweige denn lesen, was er direkt vor Augen hatte. Ich kam so etwa alle acht Tage vorbei, um ihm das Neueste aus den Rennsportbeilagen vorzutragen, und auch, damit seine geplagte, chronisch erschöpfte alte Schwester in Ruhe einkaufen gehen und ein Schwätzchen halten konnte.

Diesmal hatte ich ihm gar nicht vorgelesen. Als ich gekommen war, hatte er unter einem seiner in Abständen auftretenden Schmerzanfälle gelitten: Seine Schwester Dorothea hatte ihm [8] einen Teelöffel flüssiges Morphin eingeflößt und danach Whisky mit Wasser, um die Wirkung zu beschleunigen.

Nach Rennsportneuigkeiten hatte ihm nicht der Sinn gestanden.

»Setzen Sie sich einfach zu ihm«, bat Dorothea. »Wie lange können Sie bleiben?«

»Zwei Stunden.«

Sie hatte sich auf die Zehen gestellt, mich dankbar auf die Wange geküßt und war davongeeilt, korpulent, Ende siebzig, immer offen und direkt.

Ich saß wie gewohnt auf einem Frisierhocker gleich neben dem alten Mann, der die Körpernähe suchte, als ob sie ihm das Sehen ersetzte.

Die flatterige Stimme kam wieder, drang angestrengt in den stillen Raum, entschlossen und vertraulich: »Ich bekenne vor Gott dem Allmächtigen und vor dir, mein Vater, daß ich maßlos gesündigt habe… und ich muß beichten… bevor ich… bevor…«

»Valentine«, wiederholte ich lauter, »ich bin kein Priester.«

Es war, als hätte er es nicht gehört. Er schien sich mit aller ihm noch verbliebenen Energie auf ein geistiges Würfelspiel ganz besonderer Art zu konzentrieren, auf einen Wurf, mit dem er am Rand des Abgrunds noch die Hölle besiegen konnte.

»Ich bitte um Vergebung für meine Todsünde… bitte um Frieden mit Gott…«

Ich protestierte nicht mehr. Der alte Mann wußte, daß er sterben würde, daß der Tod nahe war. In den vergangenen Wochen hatten wir mit Gleichmut, ja sogar mit Humor über seine mangelnden Zukunftsaussichten gesprochen. Er dachte an sein langes Leben zurück. Er sagte mir, daß er mir testamentarisch alle seine Bücher vermacht habe. Wenn er überhaupt einmal eine religiöse Überzeugung geäußert hatte, dann die, daß der Gedanke an ein Leben nach dem Tod abergläubischer Quatsch sei.

Ich hatte nicht gewußt, daß er katholisch war.

[9] »Ich bekenne«, sagte er, »…daß ich ihn umgebracht habe… Gott verzeihe mir. Demütig bitte ich um Vergebung… Ich bete zu Gott dem Allmächtigen, er sei mir gnädig…«

»Valentine…«

»Ich habe Derry das Messer gegeben, und ich habe den Jungen aus Cornwall umgebracht und über die ganze Sache nie ein Wort gesagt, und dafür klage ich mich an… und ich habe nur Lügen erzählt… mea culpa… was habe ich ihnen angetan… ihr Leben habe ich zerstört… und sie wußten es nicht, sie haben mich weiter gemocht… nur ich habe mich verachtet… bis heute. Pater, lassen Sie mich Buße tun… und sprechen Sie mich los… sagen Sie es… Ego te absolvo… Ich vergebe deine Sünden im Namen des Vaters… bitte… ich bitte Sie…«

Ich hatte von den Sünden, die er bekannte, noch nie etwas gehört. Seine Worte sprudelten hervor, als spräche er im Fieber, ohne erkennbaren Zusammenhang. Ich hielt es für wahrscheinlich, daß er von einer schweren Schuld phantasierte, die es nicht gab.

Die Verzweiflung hinter seinem wiederholten Flehen stand jedoch außer Frage.

»Pater, sprechen Sie mich los. Bitte, Pater, sagen Sie die Formel… sprechen Sie.«

Ich konnte keinen Schaden darin sehen. Er wünschte sich verzweifelt, in Frieden zu sterben. Jeder Priester hätte ihm die Absolution erteilt: Sollte ich so hartherzig sein, sie ihm zu verweigern? Ich war nicht seines Glaubens, aber das konnte ich auch nachher noch mit meiner unsterblichen Seele abmachen.

Also kam ich seinem Wunsch nach. Ich sagte die Formel, förderte die Worte aus dem Gedächtnis zutage. Sagte sie auf Latein, da er sie offensichtlich so kannte und weil es mir weniger geflunkert erschien, als wenn ich sie unverblümt auf englisch ausgesprochen hätte.

»Ego te absolvo«, sagte ich.

[10] Ein Schauer lief durch meinen Körper. Aberglaube, dachte ich.

Weitere Wörter stellten sich ein. Sie gingen mir von den Lippen. »Ego te absolvo a peccatis tuis, in nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti. Amen.«

Ich vergebe dir deine Sünden im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Die bislang größte Gotteslästerung in meinem Leben. Möge Gott mir den Frevel verzeihen, dachte ich.

Die fürchterliche Gespanntheit des alten Mannes ließ nach. Die fast blinden, entzündeten Augen schlossen sich. Der Griff um mein Handgelenk lockerte sich – die alte Hand fiel herab. Sein Gesicht erschlaffte. Er lächelte leise und lag dann still.

Erschrocken tastete ich unter seiner Kinnbeuge nach dem Puls und fühlte erleichtert das dünne Klopfen. Er lag regungslos da. Ich schüttelte ihn ein wenig, doch er wachte nicht auf. Nach fünf Minuten schüttelte ich ihn noch einmal fester, und wieder reagierte er nicht. Unschlüssig stand ich von dem Platz an seiner Seite auf, ging zum Telefon und wählte die dick auf einem Block notierte Nummer seines Arztes.

Der Medizinmann war alles andere als erfreut.

»Ich hab dem alten Narren gesagt, daß er ins Krankenhaus gehört«, versetzte er. »Ich kann doch nicht in einer Tour rauskommen und ihm die Hand halten. Wer sind Sie überhaupt? Und wo ist Mrs. Pannier?«

»Ich bin zu Besuch«, sagte ich. »Mrs. Pannier ist einkaufen.«

»Leidet er?« wollte der Arzt wissen.

»Jetzt nicht mehr. Mrs. Pannier hat ihm ein Schmerzmittel gegeben, bevor sie weg ist. Dann hat er geredet. Jetzt liegt er in einer Art Schlaf, aber ich kriege ihn nicht wach.«

Der Arzt legte mit einem halblaut geknurrten Fluch auf und überließ es mir, seine Absichten zu erraten.

Ich hoffte nur, daß er nicht schnurstracks einen [11] Krankenwagen schickte mit heulender Sirene, geschäftigen Sanitätern und all dem unsanften Drumherum, das man den Todkranken anzutun pflegt. Valentine hatte friedlich in seinem Bett sterben wollen. Während ich dort wartete, bedauerte ich den Anruf beim Arzt und dachte, daß ich wahrscheinlich genau das in Gang gesetzt hatte, was Valentine unter allen Umständen vermeiden wollte.

Meine Dummheit bereuend, setzte ich mich dem ruhig schlafenden Mann gegenüber in einen Sessel, der bequemer war als der Hocker neben ihm.

Im Zimmer war es warm. Er trug einen blauen Baumwollpyjama und hatte eine Wolldecke über den Knien. Die noch kahlen Zweige der Bäume draußen vor dem Fenster, an dem er saß, verhießen einen Frühling, den er nicht mehr erleben würde.

Der wie ein Arbeitszimmer gestaltete Raum, ganz von ihm geprägt, spiegelte eine ungewöhnliche Reise durch die Zeit wider, die mit körperlicher Schwerarbeit begonnen und im Journalismus geendet hatte. Als Sohn eines Hufschmieds war er von klein auf in das Schmiedehandwerk eingeführt worden, schon als Knirps hatte er in der Werkstatt des Vaters den Blasebalg bedient, so gut er es mit seinen dünnen Armen nur konnte, die jungen Augen erregt von dem Lärm und dem Feuer. Es hatte nie ein Zweifel bestanden, daß er diesen Beruf ergreifen würde, und erst nachdem er lange Jahre als Schmied tätig gewesen war, hatte er sich anderen Dingen zugewandt.

Gerahmte, schon verblaßte Fotos an den Wänden zeigten einen jungen Valentine mit der Arm- und Brustmuskulatur eines Riesen, einen mehrfach ausgezeichneten Kraftmeier mit dem fröhlichen breiten Grinsen der Unschuld. Aber mit dem Idyll von der Dorfschmiede unterm Kastanienbaum war es schon damals vorbei. Der ältere Valentine war mit Werkzeug und tragbarer Kohlenpfanne im Auto von Kunde zu Kunde gefahren. Jahrelang hatte er auch die Pferde im Rennstall meines [12] Großvaters beschlagen. Er hatte nach den Füßen der Ponys gesehen, die ich reiten durfte. Obwohl er mir damals schon wie ein weiser Mann von sagenhaftem Alter vorgekommen war, wußte ich jetzt, daß er, als ich zehn war, erst fünfundsechzig gewesen war.

Seine Bildung hatte sich ursprünglich auf das Lesen von Rennsportzeitungen, das Schreiben von Lieferscheinen für die Kunden und das Rechnen für die Kosten-Nutzen-Kalkulation beschränkt. Erst als er in den Vierzigern war, hatte er seinen Horizont erweitert und geistige Fähigkeiten entwickelt, die seiner Muskelkraft entsprachen. Auslösend dafür, so hatte er mir in den vergangenen Wochen der Entkräftung erzählt, war die moderne Art des Schmiedens gewesen, bei der man, statt Beschläge nach Maß zu fertigen, Hufe so bearbeitete, daß die in Massenproduktion hergestellten Eisen auf sie paßten. Wo es früher weißglühende Eisenstäbe in Form zu bringen galt, wurden jetzt weichere Metalle kalt gehämmert.

Er hatte angefangen, Geschichtsliteratur und Biographien zu lesen, erst nur zum Thema Rennsport, später in breiterem Rahmen. Schüchtern war er dazu übergegangen, die Zeitungen, die er täglich las, mit anonymen Glossen und Anekdoten zu beliefern. Er schrieb über Pferde, Menschen, Ereignisse und aktuelle Fragen. Eine Zeitung bot ihm eine eigene Kolumne mit geregelter Bezahlung an und gab ihm die Gelegenheit, sich einen Namen zu erschreiben. Während er noch seinem alten Beruf nachging, wurde Valentine zu einer geachteten Institution im Journalismus, gern gelesen und bewundert für seine Einsichten und seinen Esprit. Mit dem Schwinden der Körperkraft war sein journalistisches Können gewachsen. Er hatte geschrieben, bis er über achtzig, bis er halb blind war, ja bis vor vier Wochen die Endphase im Kampf gegen den Krebs begann.

Und dieser alte Mann, geistreich, weltklug, hochgeehrt, hatte nun in heller Angst ein offenbar unerträgliches Geheimnis ausgeplaudert.

[13] »Ich habe den Jungen aus Cornwall umgebracht…«

Das sollte sicher heißen, daß er sich Vorwürfe wegen eines fehlerhaften Beschlags machte – daß durch einen bösen Zufall ein Jockey wegen eines losen Hufnagels tödlich verunglückt war.

Nicht umsonst hatte Valentine Sorgfalt zum Prinzip erhoben und zur Veranschaulichung immer wieder einmal die Geschichte vom Hufnagel erzählt. Ein Nagel war schuld am Untergang eines Königreiches… Kleine Versehen konnten verheerende Folgen haben.

Wieder dachte ich, daß hier ein Sterbender geringfügige alte Sünden zu kolossalen Verbrechen aufbauschte. Armer alter Valentine. Ich beobachtete ihn im Schlaf, das weiße Haar so dünn auf seinem Schädel, große braune Flecke auf der Haut.

Lange Zeit kam niemand. Valentines Atmung wurde schwerer, aber er schnarchte nicht. Ich blickte mich in dem vertrauten Zimmer um, sah auf die Pferdefotos, die ich in den letzten Monaten oft hatte betrachten können, auf die gerahmten Auszeichnungen an der dunkelgrünen Wand, die geblümten Vorhänge, den abgetretenen braunen Teppich, die mit Nägeln beschlagenen Ledersessel, die unentbehrliche Reiseschreibmaschine auf dem schlichten Schreibtisch, die tapfer sich haltende Grünpflanze.

Nichts hatte sich in all den Wochen geändert: nur die Zeit des alten Mannes lief ab.

Auf einer Seite standen in einem wandhohen Regal die Bücher, die wohl bald mir gehören würden. Da waren zig Jahrgänge gesammelter Berichte über Tausende und Abertausende von vergangenen Rennen, und der Name jedes Pferdes, das Valentine vor dem Start beschlagen hatte, war mit einem kleinen roten Punkt versehen.

Sieger – und es waren Hunderte – hatten ein Ausrufezeichen erhalten.

Unter den Rennberichten standen eine vielbändige Enzyklopädie und reihenweise mit leuchtend bunten Schutzumschlägen [14] versehene Lebensgeschichten unlängst verstorbener Rennsportgrößen, ihr Elan und ihr reizbares Temperament zu Erinnerungen auf Papier verblaßt. Ich hatte viele dieser Leute gekannt. Mein Großvater war einer von ihnen gewesen. Ihre Welt, ihre Leidenschaften, ihre Erfolge gerieten langsam in Vergessenheit, und die jungen Rennreiter, die ich mit zehn bewundert hatte, waren inzwischen Großväter.

Ich fragte mich, wer Valentines Lebensgeschichte aufschreiben würde, ein lohnender Gegenstand, falls ihn je einer in Angriff nehmen wollte. Er hatte sich standhaft geweigert, es selbst zu tun, obwohl die Anstöße von allen Seiten gekommen waren. Zu langweilig, hatte er gesagt. Die Welt von morgen sei viel interessanter.

Dorothea kam erst eine halbe Stunde später wieder, entschuldigte sich dafür und bemühte sich vergebens, ihren Bruder aufzuwecken. Ich sagte ihr, ich hätte ohne Erfolg ihren Arzt angerufen, und das wunderte sie nicht.

»Er meint, Valentine gehört ins Krankenhaus«, sagte sie. »Valentine will aber nicht hin. Er beschimpft den Arzt und umgekehrt.« Sie zuckte resigniert die Achseln. »Der Doktor wird schon rechtzeitig kommen. Er kommt meistens rechtzeitig.«

»Aber ich muß jetzt gehen«, sagte ich bedauernd. »Ich müßte längst in einer Besprechung sein.« Ich zögerte. »Sind Sie eigentlich katholisch?« fragte ich. »Weil… Valentine hat nach einem Priester verlangt.«

»Einem Priester?« Sie staunte. »Er hat den ganzen Morgen phantasiert… sein Verstand will nicht mehr… aber der alte Mostkopf würde nie nach einem Priester verlangen.«

»Ich dachte nur… vielleicht… die Sterbesakramente.«

Dorothea sah mich mit liebenswerter schwesterlicher Gereiztheit an.

»Unsere Mutter war römisch-katholisch, aber Vater nicht. Alles Mumpitz, meinte er immer. Valentine und ich sind ohne [15] Kirche aufgewachsen, und es hat uns nicht geschadet. Er war sechzehn und ich elf, als Mutter starb. Da wurde eine Messe für sie gelesen, und Vater ist auch mit uns hingegangen, aber er fand das sehr anstrengend. Jedenfalls ist Valentine kein großer Sünder, höchstens daß er flucht oder so, und gerade jetzt, wo er so schwach ist, möchte er bestimmt keinen Priester um sich haben.«

»Ich wollte es Ihnen nur sagen«, sagte ich.

»Es ist lieb, daß Sie ihn besuchen, Thomas, aber jetzt täuschen Sie sich.« Sie schwieg. »Dem armen Jungen geht’s sehr schlecht, was?« Sie sah besorgt auf ihn nieder. »Ob es viel schlimmer geworden ist?«

»Ich fürchte, ja.«

»Er stirbt.« Sie nickte, und Tränen stiegen ihr in die Augen. »Wir wußten ja, daß es kommt, aber wenn’s dann soweit ist… o je.«

»Er hat ein schönes Leben gehabt.«

Sie überging die unzulänglichen Worte und sagte gedankenverloren: »Ich werde so allein sein.«

»Könnten Sie nicht bei Ihrem Sohn leben?«

»Nein!« Sie straffte sich verächtlich. »Paul ist fünfundvierzig und ein herrischer Wichtigtuer, so ungern ich das sage, und ich komme mit seiner Frau nicht aus. Sie haben drei widerwärtige Teenager, die ununterbrochen so laut Radio hören, daß die Wände zittern.« Sie brach ab und strich ihrem reaktionslosen Bruder zärtlich über den Kopf. »Nein. Valentine und ich sind zusammengezogen, als seine Cathy starb und mein Bill von uns ging. Aber das wissen Sie ja… und wir haben uns immer gerngehabt, Valentine und ich, er wird mir fehlen. Er wird mir ganz schrecklich fehlen, aber ich bleibe hier.« Sie schluckte. »Ans Alleinsein gewöhne ich mich schon wieder, genau wie nach dem Tod von Bill.«

Dorothea, so schien mir, besaß wie viele ältere Frauen eine resolute Selbständigkeit, die auch da noch standhielt, wo jüngere [16] Leute ins Schleudern gerieten. Unterstützt von der Gemeindeschwester, die einmal täglich vorbeikam, hatte sie ihren kranken Bruder gepflegt, sich mehr und mehr um ihn gekümmert und oft auch ihren eigenen Schlaf geopfert, um ihn zu trösten, wenn er nachts wachlag, und ihm Schmerzmittel zu geben. Sie mochte um ihn trauern, wenn er tot war, doch ihre dunkel geränderten Augen verrieten, daß sie dringend Ruhe brauchte.

Sie setzte sich müde auf den Frisierhocker und hielt ihrem Bruder die Hand. Er atmete langsam und flach, mit einem rasselnden Geräusch. Durch das Fenster neben Valentine fiel schwaches Dämmerlicht auf die beiden Alten; Licht und Schatten unterstrichen das rundlich Fürsorgliche der einen und das knochendürr Abhängige des anderen; sein naher Tod war so offensichtlich, als hätte eine Sense über ihren Köpfen geschwebt.

Ich wünschte, ich hätte eine Kamera gehabt. Ich wünschte sogar eine ganze Kameracrew herbei. Mein Alltag war es, Stimmungen einzufangen, flüchtige Bilder festzuhalten, um Grundwahrheiten damit zu erhellen. Ich arbeitete mit der Unwirklichkeit, um aus der Illusion Funken der Erkenntnis zu schlagen.

Ich drehte Filme.

Mir war bereits klar, daß ich das stille Drama hier eines Tages rekonstruieren und verwerten würde, als ich auf die Uhr sah und Dorothea bat, ihr Telefon benutzen zu dürfen.

»Natürlich, Thomas. Es steht auf dem Schreibtisch.«

Ich erreichte Ed, meinen ersten Assistenten, der wie üblich durch meine Abwesenheit aus der Fassung gebracht schien.

»Es läßt sich nicht ändern«, sagte ich. »Ich habe mich verspätet. Sind alle da? Besorgen Sie ihnen was zu trinken. Halten Sie sie bei Laune, aber daß sich Jimmy nicht mehr als zwei Gin Tonic reinpfeift, und sehen Sie zu, daß wir von den Änderungen im Skript genug Kopien haben. Okay? Gut. Bis gleich.«

Es tat mir leid, Dorothea zu einem solchen Zeitpunkt alleinlassen zu müssen, aber ich hatte den Besuch in einen Terminplan [17] eingeschoben, der eigentlich gar keinen Raum dafür ließ, auch diese Woche wieder mein Versprechen einzulösen.

Vor drei Monaten, in der ersten Vorbereitungsphase des Films, an dem ich jetzt arbeitete, hatte ich Valentine einen kurzen Höflichkeitsbesuch abgestattet, eine Geste, um ihn wissen zu lassen, daß ich mich aus Großvaters Zeiten noch an ihn erinnerte und seine Entwicklung zum Weisen, wenn auch von fern, stets bewundert hatte.

»Von wegen Weiser!« Er hatte es als Schmeichelei abgetan, sich aber trotzdem darüber gefreut. »Ich sehe neuerdings nicht mehr gut, mein Junge. Könnten Sie mir ein bißchen vorlesen?«

Er lebte am äußeren Rand von Newmarket, der Stadt, die seit langem als Wiege und Zentrum der internationalen Rennsportindustrie galt. »Stammsitz« nannte es die Fachpresse. Fünfzehnhundert ausgesuchte Vollblüter rasten hier über das windgepeitschte Trainingsgelände und die weiten schwierigen Arbeitsbahnen, und immer wieder einmal zeugten sie Wunderkinder, die ihre glorreichen Gene an kommende Generationen weitergaben. Ein altes, sehr rentables Gewerbe, die Züchtung schneller Pferde.

Ich war im Begriff zu gehen, als es an der Haustür klingelte, und um Dorotheas müde Füße zu schonen, öffnete ich.

Draußen stand ein untersetzter Mann um die Dreißig, der ungeduldig auf die Uhr sah.

»Kann ich Ihnen helfen?« fragte ich.

Er warf mir einen kurzen Blick zu und rief an mir vorbei: »Dorothea?«

Trotz ihrer Ermüdung kam sie aus Valentines Zimmer und sagte unglücklich: »Er liegt… im Koma, glaube ich. Kommen Sie rein. Das ist Thomas Lyon, der Valentine vorliest – ich habe es Ihnen erzählt.« Als wäre es ihr nachträglich eingefallen, wedelte sie mit der Hand und ergänzte die Vorstellung: »Robbie Gill, unser Hausarzt.«

[18] Robbie Gill hatte rote Haare, einen schottischen Akzent und für den Umgang mit Kranken oder ihren Angehörigen nicht genug Talent zum Plaudern. Er trat mit seiner Arzttasche in Valentines Zimmer und klappte sie auf. Mit dem Daumen zog er die Augenlider des Patienten hoch und umfaßte nachdenklich eines der dünnen Handgelenke. Dann hantierte er schweigend mit Stethoskop, Spritzen und Tupfern. »Es ist besser, wir bringen ihn ins Bett«, sagte er schließlich. Erfreulicherweise kein Wort von einer Einweisung ins Krankenhaus.

»Geht’s mit ihm –?« sagte Dorothea angespannt und ließ die Frage offen, da sie kein Ja hören wollte.

»Zu Ende?« sagte Robbie Gill halbwegs freundlich auf seine schroffe Art. »In ein paar Tagen, denke ich. Schwer zu sagen. Sein altes Herz ist noch gut dabei. Ich glaube zwar nicht, daß er noch mal aufwacht, es könnte aber sein. Kommt auch darauf an, was er will.«

»Was er will? Wie meinen Sie das?« fragte ich erstaunt.

Er ging ausführlich darauf ein, vor allem wohl Dorothea zuliebe, aber auch wie ein Lehrer, dem es Vergnügen bereitet, Fachwissen weiterzugeben.

»Alte Leute«, sagte er, »bleiben sehr häufig am Leben, wenn es noch etwas gibt, was sie unbedingt tun wollen, und danach sterben sie dann recht bald. Diese Woche ist mir eine Patientin gestorben, die noch erleben wollte, daß ihr Enkel heiratet. Sie ging zu seiner Hochzeit und feierte schön, und zwei Tage später war sie tot. So geht das oft. Wenn Valentine nicht noch unerledigte Geschäfte hat, kann es sein, daß er uns jetzt bald verläßt. Hätte er noch eine Auszeichnung zu erwarten oder so etwas, sähe das schon anders aus. Er ist ein willensstarker Mensch, und da können selbst bei so weit fortgeschrittenem Krebs erstaunliche Sachen passieren.«

Dorothea schüttelte traurig den Kopf. »Keine Auszeichnungen.«

[19] »Dann sollten wir ihn bereitmachen. Ich habe mit Schwester Davies vereinbart, daß sie heute abend spät vorbeikommt. Sie gibt ihm noch eine Spritze, damit er heute nacht schmerzfrei ist, und morgen früh komme ich zuallererst wieder hierher. Der alte Krauter hat mich überlistet, verdammt. Er hat seinen Kopf durchgesetzt. Jetzt überweise ich ihn nicht mehr. Er kann hier zu Hause sterben.«

Dorotheas Tränen dankten ihm.

»Es ist ein Glück, daß er Sie hat«, sagte der Arzt zu ihr, »machen Sie sich nur nicht selber krank.« Er sah abwägend von ihr zu mir hoch und meinte: »Sie sind kräftiger als wir. Könnten Sie ihn tragen? Schwester Davies bringt ihn sonst immer mit Dorothea zusammen rüber, aber normalerweise ist er bei Bewußtsein und geht mit, so gut er kann. Schaffen Sie ihn allein?«

Ich nickte. Er wog erbärmlich wenig für einen Mann, der einmal stark wie ein Pferd gewesen war. Ich hob die schlafende Gestalt aus dem Sessel, trug sie durch die schmale Diele ins Schlafzimmer und legte sie behutsam auf das weiße Laken, nachdem Dorothea die Bettdecke zurückgeschlagen hatte. Der Atem ihres Bruders ging schnarrend. Ich zog seinen Pyjama glatt und half Dorothea, ihn zuzudecken. Er wurde nicht wach. Er war innerlich gestorben, dachte ich, sobald er sich von seinen Sünden losgesprochen glaubte.

Ich sprach Dorothea nicht nochmals auf einen Priester an und sagte auch dem Arzt nichts davon. Ich war überzeugt, daß sie beide meine Handlungsweise mißbilligt hätten, auch wenn Valentine deshalb jetzt friedlich hinüberging. Laß es, wie es ist, dachte ich. Dorothea braucht nicht noch mehr Kummer.

Ich gab der alten Dame einen Kuß, dem Arzt die Hand, bot unbestimmt, aber bereitwillig meine künftige Hilfe an und fuhr wieder zu meiner Arbeit.

[20] Das Leben, ob wirklich oder imaginär, war laut und rege in Newmarket, wo die Filmgesellschaft, für die ich arbeitete, auf drei Monate einen leeren Rennstall gemietet hatte – ein gutes Geschäft für den bankrotten Besitzer-Trainer, der nun auf immer den Unterhalt für seine Kinder würde zahlen können.

Obwohl ich eine gute Stunde zu spät zu der für halb sechs angesetzten Drehbuchbesprechung kam, entschuldigte ich mich nicht, denn ich hatte festgestellt, daß meine Mitarbeiter hauptsächlich auf Grund eigener Unsicherheiten jede Äußerung von Bedauern als Schwäche auslegten. Es war ihnen ein Bedürfnis, in mir einen Fels zu sehen, auch wenn mir dieser Fels manchmal nicht fester vorkam als gestampfter Sand.

Sie hatten sich alle im einstigen Eßzimmer des höhlenartigen Hauses des Trainers versammelt (die ganze Einrichtung war unter den Hammer gekommen, nur die halbmatte grüne Tapete mit den goldenen Streifen prangte noch an den Wänden) und saßen auf weißen Plastikstühlen um einen langen Klapptisch herum, der auf den blanken Fußbodenbrettern stand. Die von der Küche gestellten Drinks hatten kaum für die eine Stunde gereicht: Niemand in der Produktion warf Geld für übertriebenen Komfort hinaus.

»Also«, sagte ich und scheuchte Ed von seinem Platz in der Mitte der einen Tischseite weg, um ihn selbst einzunehmen, »haben alle die Änderungen und Ergänzungen gelesen?«

Sie hatten. Es waren drei Charakterdarsteller, ein Kameramann, ein Produktionsleiter, ein Protokollant, ein Regieassistent – Ed – und ein Drehbuchautor, auf den ich gern verzichtet hätte. Er hatte die bewußten Änderungen auf mein begründetes Drängen hin vorgenommen, fühlte sich aber unverstanden. Er glaubte, daß ich der Geschichte eine Wendung geben wollte, die neunzig Grad von seinem Original abwich.

Er hatte recht.

Es war schrecklich einfach, schlechte Rennsportfilme zu [21] drehen, und erfolgreich wurde meiner Ansicht nach nur ein Film, bei dem das Pferderennen die Kulisse für menschliche Dramen abgab. Soweit ich wußte, hatte man mir die Regie hier aus drei Gründen übertragen: Nummer drei war, daß ich bereits zwei Tiergeschichten gewinnbringend auf den Kopf gestellt hatte; Nummer zwei, daß ich mein Handwerk in Hollywood gelernt hatte, wo das Geld für unser Epos herkam; und Nummer eins, daß ich meine Kindheit und Jugend in Rennställen verbracht hatte, man also annehmen durfte, daß ich mit dem Metier vertraut war.

Wir waren seit zehn Tagen in der Produktion, das heißt, wir hatten ein Sechstel des Films oder anders ausgedrückt rund zwanzig Minuten brauchbaren Film pro Tag gedreht – Meterware, aus der die Endfassung geschnitten werden würde. Insgesamt waren sechzig Drehtage angesetzt, ein Zeitraum von nicht mal zehn Wochen, denn Ruhetage waren knapp und kostbar. Ich als Regisseur entschied, wann letztlich welche Szenen gedreht wurden, hatte aber vorab ein Programm ausgegeben, an das wir uns weitgehend hielten.

»Wie Sie sehen«, sagte ich in die Runde, »ergibt sich aus den Änderungen, daß wir morgen auf dem abgezäunten Vorplatz des Jockey-Club-Hauptbüros in der High Street drehen. Autos, die durchs Tor ein und aus fahren. Da die Polizei uns den Stadtverkehr nur von elf bis zwölf fernhält, müssen wir alle Ankünfte und Abfahrten in die eine Stunde packen. Der Jockey Club erlaubt uns auch, das Rein und Raus an der Eingangstür zu filmen. Die Innenräume sind ja hier im Haus nachgebaut. Ihr drei…«, sagte ich zu den Schauspielern, »…solltet mit Gehässigkeit bei euren Dialogen nicht sparen. George, Sie sind verschlagen. Typ Iago. Sie leiten insgeheim jetzt Cibbers Untergang in die Wege.«

Der Drehbuchautor klagte: »Das sehen Sie falsch. Es paßt mir nicht, was Sie da von mir verlangen. Die beiden sind sehr gute Freunde.«

[22] »Nur bis einer den anderen aus Eigennutz verrät«, sagte ich.

Howard Tyler, der Autor, hatte sich beim Produzenten, bei der Buchhaltung und bei den Bossen der Filmgesellschaft bereits über kleine frühere Änderungen beschwert, ohne damit meine Entlassung zu erreichen. Ich konnte seine Feindseligkeit ebensogut wegstecken wie ich den Unmut hinunterschluckte über seine runde Großmutterbrille, seinen ewig zickigen kleinen Mund und sein Faible für lange, sinnlose Handlungspausen, wo doch nur Action und Bewegung die Kinos füllten. Er liebte gewundene, unausgesprochene Spitzfindigkeiten, die umzusetzen kaum einem Schauspieler gegeben war. Er hätte bei den gefühlsgeladenen Wälzern bleiben sollen, von denen er herkam.

Das Buch, nach dem er das Skript für unseren Film geschrieben hatte, basierte auf einer wahren Begebenheit, einem sechsundzwanzig Jahre alten, erfolgreich vertuschten Rennsportskandal in Newmarket. Howards Romanversion schilderte angeblich die wahren Zusammenhänge, doch das war eher unwahrscheinlich, da keiner der noch lebenden Betroffenen es für nötig gehalten hatte, der Darstellung zu widersprechen.

»Wie Sie sehen, haben Sie alle einen Plan vom Vorplatz des Jockey Clubs«, teilte ich der Versammlung mit. Sie nickten und blätterten in ihren Unterlagen. »Außerdem«, sagte ich, steht auf der Liste, welche Szenen wir drehen und um welche Zeit ungefähr. Die drei beteiligten Wagen werden morgen in aller Frühe zum Vorplatz gefahren. Seien Sie bitte alle zeitig dort, damit Licht und Kamera dem Plan entsprechend gesetzt werden können. Wenn jeder guten Willens ist, dürften wir fertig sein, ehe das Tageslicht grell wird. Irgendwelche Fragen?«

Fragen gab es immer. Eine Frage stellen hieß, man hatte aufgepaßt, und wie so oft waren es die Darsteller mit den kleinsten Rollen, die am meisten fragten. In diesem Fall war es George, der wissen wollte, wie seine Rolle sich aus der eingefügten Szene heraus entwickelt. Nur als einer von vielen Faktoren in Cibbers [23] Nöten, erklärte ich ihm. Cibber werde schließlich durchdrehen. Rot sehen. Peng. Cibber sagte dankbar: »Halleluja.« George kniff die Lippen zusammen.

»Aber sie waren doch Freunde«, wiederholte Howard stur.

»Wir hatten das ja besprochen«, sagte ich freundlich. »Wenn Cibber durchdreht, ist Ihre Motivierung schlüssiger.«

Er öffnete den kleinen Mund, sah, daß alle anderen nickten, biß sich auf die Lippen und benahm sich fortan, als wäre Cibbers Zusammenbruch seine Idee gewesen.

»Sollte es morgen regnen«, sagte ich, »drehen wir statt dessen die Szenen im Jockey Club und hoffen, daß es am Donnerstag schön wird. Der erste Newmarket-Block soll bis Samstag fertig sein. Am Sonntag wollen wir die Pferde ja zur Rennbahn in Huntingdon schaffen, vierzig Meilen westlich, und sie dort im Stall unterbringen. Darsteller und Techniker kommen Montag früh nach. Montag ab zwölf wird geprobt. Gedreht dann von Dienstag bis Freitag, und am Wochenende geht’s hierher zurück. Ed gibt allen, die es angeht, eine Dispo. Okay? Und die Muster von gestern sind übrigens prima. Das hören Sie doch sicher gern. Es war ein Stück harte Arbeit, aber es hat sich gelohnt.«

Seufzer der Erleichterung gingen um den Tisch. Wir hatten den ganzen Tag auf dem Stallhof zugebracht und menschliches Treiben vor dem Hintergrund des Pferdealltags gefilmt. Noch nie waren wohl Pferde innerhalb von zwölf Stunden so oft ausgemistet, gefüttert, getränkt und gestriegelt worden: aber nun hatten wir genug Aufnahmen im Kasten, um die fiktiven Stallungen endlos mit Leben zu erfüllen. Nach der Drehbuchbesprechung zerstreuten sich alle, bis auf ein langes dünnes Gestell von einem Mann mit struppigem Bart und nachlässiger Kleidung, dessen wenig eindrucksvolle Erscheinung ein auf Granit gebautes künstlerisches Selbstbewußtsein verbarg. Er hob die Augenbrauen. Ich nickte. Er saß krumm auf seinem Platz und wartete, bis alle außer uns durch die Tür verschwunden waren.

[24] »Ed sagte, Sie wollten mich noch sprechen?« fragte er.

»Ja.«

Jeder Film, der groß herauskommen wollte, bedurfte eines Auges, das alles im Leben wie durch ein Kameraobjektiv wahrnahm, einer Person, für die Scharfeinstellung und Lichtstärken selbstverständliche Erweiterungen des Sinnesapparates sein mußten. Im Vorspann tauchte ihre Funktion schlicht als »Kamera« auf. Ein befreundeter Mathematiker hatte mir einmal gesagt, er denke in Zahlen; Moncrieff, unser Kameramann, dachte in Helldunkel.

Wir waren ein eingespieltes Team. Es war unser dritter gemeinsamer Film. Beim erstenmal hatte mich sein surrealistischer Humor aus der Fassung gebracht, dann hatte ich begriffen, daß die Springquellen seines visuellen Genies daraus gespeist wurden, und schließlich bekam ich das Gefühl, ich würde ganz schön im Regen stehen, wenn ich ohne ihn meine Beobachtungen sinnfällig auf die Leinwand bringen müßte. Sagte ich Moncrieff, was ich einem Publikum vermitteln wollte, fand er instinktiv die geeignete Kameraeinstellung.

Wir hatten einmal eine »Sterbesakramente«-Szene über einen Mann gedreht, dem vor seiner Ermordung durch Terroristen noch die Absolution erteilt wurde: Moncrieff hatte die Unmenschlichkeit dieser üblen Gotteslästerung durch die Ausleuchtung der Gesichter unterstrichen: das versteinerte Opfer, der schwitzende Priester, die Gnadenlosigkeit der Gesetzlosen. Ego te absolvo… es hatte mir Briefe mit Morddrohungen eingetragen.

An diesem Dienstag in Newmarket fragte ich: »Haben Sie den Gitterzaun vor dem Jockey Club gesehen? Vor dem Privatparkplatz?«

»Hoch und schwarz? Ja.«

»Ich möchte eine Einstellung, die das Abgrenzende daran hervorhebt. Es soll deutlich werden, daß der Zaun alles bis auf die [25] Elite aussperrt. Im Innern die hohen Herren des Rennsports. Draußen der Plebs.«

Moncrieff nickte.

Ich sagte: »Außerdem soll der Eindruck entstehen, daß die Leute drinnen, Cibber und George vom Jockey Club, Gefangene ihrer eigenen Konventionen sind. Hinter Gittern sozusagen.«

Moncrieff nickte.

»Und«, sagte ich, »machen Sie eine 5-Sekunden-Aufnahme von den Angeln am Tor, wie es aufgeht und wie es sich schließt.«

»Okay.«

»Die Szene zwischen Cibber und George wird zunächst vom Gitter aus gefilmt. Der Zoo-Aspekt soll klar herauskommen. Dann fahrt ihr durchs Gitter ran, damit man sieht, wo sie stehen. Ab da läuft das Gespräch in Nahaufnahme.«

Moncrieff nickte. Er machte selten Notizen, wenn wir uns unterhielten, setzte aber vor dem Schlafengehen einen genauen Arbeitsplan auf.

»Wir urteilen nicht«, sagte ich. »Kein Holzhammer. Kein großes soziales Anliegen. Nur ein flüchtiger Eindruck.«

»Ein Hauch«, sagte Moncrieff. »Verstanden.«

»Der zu Cibbers Zusammenbruch mit beiträgt«, sagte ich.

Er nickte.

»Den Zusammenbruch kann Howard morgen schreiben«, sagte ich. »Das ist im Grunde nichts als eine Verdichtung der ruhigen Szene, die im Skript steht. Howard muß nur etwas Saft reinbringen.«

»Howard steht auf Preiselbeernektar.« Moncrieff pickte eine Wodkaflasche aus dem Getränkearsenal und hielt sie gegen das Licht. »Leer«, bemerkte er mürrisch. »Haben Sie mal Wodka mit Preiselbeersaft versucht? Das ist ekelhaft.«

Howard trank es unentwegt.

»Howard«, sagte Moncrieff, »ist radioaktiver Müll. Schwer zu entsorgen.«

[26] Er wußte so gut wie ich, daß Howard Tylers Name auf den Plakaten sowohl die Büchereikunden wie auch die gehobene Kritik zu dem Film führen würde. Howard Tyler gewann renommierte Preise und war auf beiden Seiten des Atlantiks zum Ehrendoktor ernannt worden. Man schätzte Moncrieff und mich glücklich, mit einer solchen Lichtgestalt arbeiten zu dürfen.

Nur wenige Autoren konnten oder wollten Drehbücher zu ihren eigenen Romanen schreiben: Howard Tyler hatte für seinen ersten Versuch eine Oscarnominierung erhalten und verkaufte seine Filmrechte seither nur, wenn er im Paket inbegriffen war. Kurz, Moncrieff und ich mußten uns mit Howard abfinden, wie er sich zu seinem Leidwesen auch mit mir abfinden mußte.

Unser Produzent, kahl, sechzig, ein schwer gebauter Amerikaner, hatte einen astreinen Deal für die Filmgesellschaft zustande gebracht: namhafter Autor (Howard), bewährtes Kamera-As (Moncrieff), enorm erfolgreicher Produzent (er selbst) und junger, aber erfahrener Regisseur (T. Lyon), kombiniert mit einem (männlichen) Megastar und einer bildhübschen Jungschauspielerin; das für die großen Namen aufgewendete Geld wurde an der Hauptdarstellerin und mir wieder eingespart. Produzent O’Hara hatte mir einmal gesagt, was Schauspieler angehe, sei es Verschwendung, einen Film mit fünf großen Stars zu besetzen. Ein Star locke die Zuschauer an, zwei seien vielleicht noch erschwinglich. Nehme man mehr, deckten die Bruttoeinnahmen die Kosten nicht.

O’Hara hatte mir viel über Finanzen beigebracht und Moncrieff viel über die Kunst der Illusion. Allmählich meinte ich, mein Metier endlich zu verstehen – aber ich war Realist genug, um einzusehen, daß ich jederzeit auf einen Holzweg geraten und künstlerisch auf die Nase fallen konnte. Ließen Publikumsreaktionen sich zuverlässig voraussagen, gäbe es keine Flops. Man konnte sich des Publikumsgeschmacks nie ganz sicher sein: Er war so unbeständig wie das Glück im Rennsport.

[27] O’Hara war an diesem Dienstag bereits im Speisesaal des Bedford Lodge Hotels, als ich zum Abendessen hinkam. Die Studiobosse wollten, daß er mich im Auge behielt und ihnen über mein Treiben berichtete. So kam er Woche für Woche hereinspaziert, manchmal aus London, manchmal aus Kalifornien, wohnte ein paar Tage den Dreharbeiten bei und ging abends Budget und Zeitplan mit mir durch. Vor allem seiner vernünftigen Planung wegen hoffte ich, unterm Budget bleiben und auch ein paar Tage einsparen zu können; und es sollte mir recht sein, wenn künftige Arbeitgeber dies als Zeichen meines Organisationstalents ansahen.

»Die Muster von gestern waren gut, und heute morgen ist alles glatt gelaufen«, stellte O’Hara fest. »Wo waren Sie denn heute nachmittag? Ed konnte Sie nicht finden.«

Ich hielt das Glas mit dem Eindruck schindenden Perrier auf halbem Weg zum Mund an, während ich mich lebhaft an Valentines rasselnden Atem erinnerte.

»Ich war hier in Newmarket«, sagte ich und setzte das Wasser ab. »Ein Bekannter von mir liegt im Sterben. Den habe ich besucht.«

»Oh.« O’Hara tadelte nicht, er faßte meine Antwort als Begründung, nicht als Ausrede auf. Er wußte ohnehin – und sah es als selbstverständlich an –, daß ich an diesem Morgen um sechs mit der Arbeit begonnen hatte und daß ich bis zum Abschluß der Dreharbeiten meist achtzehn Stunden täglich dranbleiben würde.

»Ist er vom Film?« fragte O’Hara.

»Nein. Rennsport… ein Rennsportjournalist.«

»Oh. Hat also nichts mit uns zu tun.«

»Nein«, sagte ich.

So kann man sich irren.

[28] 2

Glücklicherweise brach der Mittwochmorgen hell und klar an: Moncrieff, seine Crew und ich wohnten dem Sonnenaufgang vor der Umzäunung des Jockey Clubs bei und filmten stimmungsvolle Gitterschatten am laufenden Band.

Auch die anschließenden Proben mit Cibber und George ließen sich gut an; Moncrieff verstärkte mit seinen Flutern mühelose die Sonne, und ich sah durch den Sucher, um sicherzugehen, daß die Einstellungswinkel die sich entwickelnde Gehässigkeit bei den ehemals »besten Freunden« zur Geltung brachten. Um elf waren wir klar für die Aufnahmen von den ankommenden und abfahrenden Pkws, zu deren Gelingen auch die hilfsbereite Polizei ihren Teil beitrug.

Unser männlicher Megastar, lakonisch wie immer, kam dreimal geduldig hinter dem Steuer eines Wagens angefahren und marschierte klaglos viermal wie zur Hinrichtung durch die geheiligte Pforte, beherrschte er doch die Kunst, eine Rolle nach Belieben auszufüllen und wieder abzustreifen. Wie in Gedanken klopfte er mir schließlich ermutigend auf die Schulter und fuhr für den Rest des Tages in seinem privaten Rolls-Royce davon.

Gegen zwölf legten wir die wohlverdiente Mittagspause ein.

Danach kam O’Hara vorbei, um sich Georges Iago-Auftritt anzusehen (dem ich außer dem harmlosen Kommentar »Nicht ganz so hitzig« wenig hinzuzufügen brauchte), und saß den größten Teil des Nachmittags lächelnd in einem Regiestuhl. Mir war nicht ganz klar, ob er es wußte, aber das leiseste Lächeln O’Haras wirkte auf die Akteure und die Techniker wie Öl, dann [29] lief die Sache; kniff er hingegen einmal mißbilligend die Augen zusammen, nahmen die Probleme überhand.

Als wir auf dem Parkplatz fertig waren, fuhren O’Hara und ich gemeinsam auf eine Erfrischung (mit nur einem Schuß Alkohol, gemäß dem puritanischen Ethos der Filmgesellschaft) ins Bedford Lodge, um Verlauf und Pläne zu besprechen, ehe er das Reich der Phantasie verließ, um sich in den Londoner Büros mit Marketing und Werbung zu befassen. Mit der Herstellung des Films war es nicht getan; das Produkt mußte auch verkauft werden.

»Ich sehe, Sie haben für Montag unseren ersten Stuntman gebucht«, sagte er beiläufig, als er aufstand, um zu gehen. »Was liegt an?«

»Ungezähmte Pferde am Strand.«

Ich sagte das leichthin und überließ es ihm, ob er mir glaubte oder nicht.

»Im Ernst?« fragte er. »Davon steht nichts im Drehbuch.«

Ich sagte: »Der Stuntman und ich können den Strand ganz früh am Montag morgen sondieren. Dann bin ich rechtzeitig zu den Proben zurück. Aber…« Ich schwieg unschlüssig.

»Aber was?«

»Sie haben mir früher schon mal den einen oder anderen Tag zusätzlich eingeräumt«, sagte ich. »Was ist, wenn ich jetzt einen gebrauchen könnte? Wenn ich eine Idee hätte?«

Schon zweimal hatte ich dank des mir gewährten Spielraums seinen Produktionen eine Dimension hinzufügen können, die beim Publikum angekommen war. Ich verließ mich dabei ganz auf spontane Eingebungen, und O’Hara, der das wußte, sah mich, anstatt Fragen zu stellen, fünf Sekunden lang abschätzend an, nickte dann kurz und gab mir praktisch freie Hand.

»Drei Tage«, sagte er. »Okay.«

Zeit war sehr kostspielig. Drei Tage waren gleichbedeutend mit Vertrauen. Ich sagte: »Wunderbar.«

[30] »Wenn Sie nicht gefragt hätten«, meinte er nachdenklich, »wären wir in Schwierigkeiten.«

»Finden Sie nicht, daß es gut läuft?« Ich war immer in Sorge.

»Es läuft einwandfrei«, sagte er. »Aber ich habe Sie engagiert, weil ich etwas mehr erwarte.«

Ich fühlte mich weniger geschmeichelt als zusätzlich unter Druck gesetzt. Die Zeit der geringen Ansprüche war relativ erholsam gewesen: Der Erfolg hatte eine Spirale erwarteter Wunder in Gang gesetzt, und eines schönen Tages würde ich von der Spitze dieses schrägen Turms hinunterstürzen und auf Pisas hartem Boden landen, und keine vernünftige Finanzabteilung würde sich je wieder auf meinen Namen einlassen.

Vor dem Eingang des Hotels, wo der Wagen mit seinem Chauffeur wartete, sagte O’Hara: »Sie wissen so gut wie ich, daß es im Filmgeschäft um Macht und Geld geht. Bei großen Projekten sagen die Geldgeber dem Regisseur, wo es langgeht. Bei mittelgroßen wie dem hier liegt die Macht beim Regisseur. Also machen Sie Gebrauch davon. Nutzen Sie sie.«

Ich sah ihn groß an. Für mich war er die Triebfeder des Films, war er die Macht. Schließlich hatte er das ganze Projekt ja ermöglicht. Mir wurde klar, daß ich in erster Linie versucht hatte, es ihm recht zu machen, statt nach meiner Nase zu gehen, und jetzt sagte er mir, daß ihm daran nichts lag.

»Sie siegen oder gehen unter«, sagte er. »Es ist Ihr Film.«

Er kann sagen, was er will, dachte ich; wenn ich diese Szene filmen würde, wäre es offensichtlich, daß die wahre Macht bei dem breitschultrigen älteren Mann mit dem knorrig selbstbewußten, verlebten Gesicht und dem trotz Übergewicht in sich ruhenden Körper lag und nicht bei dem unscheinbaren Dreißigjährigen, den man ohne weiteres für einen Statisten halten konnte.

»Sie haben die Macht«, sagte er. »Glauben Sie mir.«

Er nickte mir abschließend zu, um etwaige Ausflüchte zu [31] unterbinden, ging zu seinem Wagen und ließ sich davonfahren, ohne noch einmal zurückzuschauen.

Ich ging nachdenklich über die Einfahrt zu meinem Wagen und fuhr stadtauswärts zu Valentine, während ich mir klarmachte, daß ich, sonderbare Mischung, zugleich mächtig und unbedeutend war. Ich konnte nicht leugnen, daß ich ziemlich oft den Drang und die Fähigkeit in mir spürte, etwas zu schaffen, eine große Zuversicht, die im nächsten Augenblick in Zweifel umschlagen konnte. Ich brauchte Selbstvertrauen, wenn ich etwas von Wert schaffen wollte, und fürchtete doch auch die Überheblichkeit, die so leicht zu unfruchtbarem Größenwahn verleiten konnte. Ich fragte mich des öfteren, warum ich keinen nützlichen Beruf ergriffen hatte, in dem man sich nicht dauernd dem Urteil der Öffentlichkeit aussetzte, zum Beispiel als Briefträger.

Valentine und Dorothea hatten sich ein eingeschossiges Haus mit vier Zimmern gekauft, ein Schlaf- und ein Wohnzimmer für jeden. Sie hatten ein zusätzliches Bad eingebaut, um voneinander unabhängig zu sein, und teilten sich die große Küche, in der ein Eßtisch stand. Wie sie mir beide gesagt hatten, war diese Lebensform für sie als Witwe und Witwer die Ideallösung, ein gemeinsames Fürsichsein, das ihnen sowohl Gesellschaft bot wie auch die Möglichkeit, sich zurückzuziehen.

Alles sah ruhig aus, als ich draußen an der Straße parkte und über den betonierten Fußweg zur Haustür ging. Dorothea öffnete, bevor ich noch klingeln konnte – sie hatte geweint.

Ich sagte verlegen: »Valentine…?«

Sie schüttelte unglücklich den Kopf. »Er lebt noch, mein armer Schatz. Kommen Sie rein, Tom. Er wird Sie nicht erkennen, aber gehen Sie ruhig zu ihm.«

Ich folgte ihr in Valentines Schlafzimmer, und sie sagte, sie habe in dem Ohrensessel dort am Fenster gesessen, um die Straße und ankommenden Besuch sehen zu können.

[32] Valentine, gelblich blaß, lag regungslos auf dem Bett, sein schwerer, langsamer Atem war geräuschvoll, stetig und unwiderruflich todgeweiht.

»Er ist nicht aufgewacht und hat nichts gesagt, seit Sie gestern weggefahren sind«, sagte Dorothea. »Wir brauchen hier also nicht zu flüstern, wir stören ihn nicht. Robbie Gill war heute mittag da, um die Zeit, wo wir sonst gegessen haben, aber irgendwie bringe ich nichts runter. Jedenfalls sagt er, Valentine atmet so schwer, weil sich in seiner Lunge Wasser sammelt, und ich soll mich darauf einstellen, daß es heute nacht oder morgen mit ihm zu Ende geht. Wie soll ich das denn machen?«

»Was meint er mit einstellen?«

»Gefühlsmäßig, nehme ich an. Er sagt, ich solle ihm morgen früh Bescheid sagen, wie’s steht. Er hat mich quasi gebeten, ihn nicht mitten in der Nacht zu rufen. Wenn Valentine stirbt, soll ich ihn um sieben zu Hause anrufen. Trotzdem ist er eigentlich nicht herzlos. Er meint immer noch, es wäre leichter für mich, wenn Valentine im Krankenhaus läge, aber ich weiß, daß sich der alte Knabe hier wohler fühlt. Er schläft friedlich, das sieht man. Ich weiß es einfach.«

»Ja«, sagte ich.

Sie wollte mir unbedingt eine Tasse Tee machen, und ich redete es ihr nicht aus, weil mir schien, sie könne selbst eine gebrauchen. Ich folgte ihr in die leuchtend blau und gelb gestrichene Küche und setzte mich an den Tisch, während sie Tassen und eine Zuckerdose aus feinem Porzellan auflegte. Wir hörten Valentines langsam schnarrenden Atem, es klang fast, als ob er vor Schmerz stöhnte, aber Dorothea sagte, Schwester Davies sei ein Goldstück gewesen und habe ihm ein Schmerzmittel gespritzt, so daß ihr Bruder bestimmt nicht leide, auch tief drinnen hinter dem Koma nicht.

»Gut«, sagte ich.

»Sie mag Valentine gern.«

[33] Ich trank die dünne, heiße Flüssigkeit ohne großen Genuß.

»Es ist schon merkwürdig«, Dorothea setzte sich mir gegenüber und kostete ihren Tee. »Wissen Sie noch, wie Sie mir gesagt haben, Valentine wollte einen Priester?«

Ich nickte.

»Tja, da habe ich Ihnen gesagt, das kann nicht sein, und ich hätte es auch nie geglaubt, aber heute morgen war eine Nachbarin hier – Betty von gegenüber, die kennen Sie, Tom – um zu sehen, wie’s ihm geht, und sie fragte, ob er seinen Priester gekriegt hätte. Ich hab sie bloß angestarrt, und sie sagte, Valentine habe doch von einem Priester phantasiert, der unserer Mutter die Absolution erteilt habe, bevor sie starb, und Valentine habe sie gebeten, diesen Priester zu holen. Was für ein Priester das denn sei, hatte sie gefragt. Soweit sie wußte, hatten Valentine und ich mit Priestern nie was am Hut gehabt, und das hab ich ihr auch bestätigt, selbst zu Mutters Zeiten lief da wenig, aber sie sagte, Valentine habe geredet, als sei er ganz jung, und gesagt, er höre gern die Glocken läuten in der Kirche. Sie sagte, er habe im Fieber geredet. Sie wurde nicht schlau daraus. Was halten Sie davon?«

Ich sagte langsam: »Sehr alte Menschen kehren ja oft in ihre Kindheit zurück.«

»Ob Sie finden, ich sollte Valentine einen Priester holen, meine ich. Ich kenne keinen. Was soll ich machen?«

Ich sah in ihr müdes, faltiges Gesicht, sah die Sorge und den Kummer. Ich spürte die Erschöpfung, die zu ihrer Unentschlossenheit geführt hatte, als wäre es meine eigene.