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Ingrid Noll

Die Häupter
meiner Lieben

Roman

 
 
 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Erstausgabe erschien 1993

im Diogenes Verlag

Umschlagillustration:

Artemisia Gentileschi, ›Giuditta e la fantesca‹, 1613

Florenz, Palazzo Pitti, Galleria Palatina

Foto: Scala, Antella (Firenze)

 

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2012

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 22726 0 (36. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60033 9

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5]  

Inhalt

  1  Elefantengrau   [7]

  2  Seladongrün   [19]

  3  Rot wie Blut   [35]

  4  Persischrosa   [51]

  5  Schwarzer Freitag   [68]

  6  Siena   [85]

  7  Safrangelb   [100]

  8  Grau in grau   [117]

  9  Goldenes Kalb   [132]

10  Grüne Witwe   [147]

11  Weiß wie Alabaster   [163]

12  Rosa Wolke   [180]

13  Inkarnat   [199]

14  Blaues Wunder   [223]

15  Glasklar   [241]

16  Weißglut   [265]

17  Perlmutt   [278]

[7] 1

Elefantengrau

Wenn ich im Bus zum Mikrofon greife und den deutschsprachigen Touristen Florenz vorführe, dann hält man mich für eine Romanistikstudentin, die ihr Taschengeld aufbessern will. Sie finden mich reizend; ein altes Ehepaar sagt mir ins Gesicht, daß sie sich ein Mädchen wie mich als Tochter wünschten. Sie haben immer noch nicht gelernt, daß das äußere und innere Bild eines Menschen nicht übereinstimmen muß.

Meine Touristen beginnen hier im allgemeinen ihre Toskanareise und können die Nullen der Lire nicht rasch genug einschätzen. Man könnte annehmen, daß das Trinkgeld deswegen zu hoch ausfällt, aber leider ist das Gegenteil der Fall. Um wenigstens einigermaßen auf meine Kosten zu kommen, warne ich meine Schäflein am Ende der Rundfahrt vor Diebstahl und Handtaschenraub und erzähle ihnen als abschreckendes Beispiel die Geschichte einer Rentnerin aus Leipzig, der alle Verwandten zum siebzigsten Geburtstag eine Italienreise schenkten, ein lang gehegter Herzenswunsch. Vor wenigen Tagen habe man ihr das ganze Geld gestohlen. Ich lasse eine Zigarrenschachtel herumgehen, um für die Rentnerin zu sammeln. Die meisten lassen sich nicht lumpen, denn der Nachbar schaut zu.

Wenn die Tour beendet ist, teile ich mit Cesare, dem Busfahrer. Das ist gewissermaßen Schweigegeld, damit er der Agentur nichts von der sächsischen Tante verrät.

[8] Cesare sagt mir Skrupellosigkeit nach. Natürlich liegen die Wurzeln einer solchen Eigenschaft in der Kindheit; in meinem Fall war es eine dumpfe Zeit der Schwermut und Verlorenheit, die wie ein grauer Bleiklumpen meinen Seelenmüll beschwert. Erst als ich Cornelia kennenlernte, ging es mit mir bergauf, und ich begann damit, krankmachende Elemente auszuschalten.

Als Kind bekam ich nie, was ich brauchte. Dabei wußte ich nicht einmal genau, was ich nötig hatte; heute ist mir klar, daß es Wärme und Fröhlichkeit sind. Wie jeder Mensch will ich geliebt werden, ich will ein bißchen Witz und Abenteuer; ich mag Freunde, die Humor haben und schlagfertig sind. Eine Prise Bildung und Kultur sollte nicht fehlen. Das alles gab es zu Hause nicht. Verbitterung war die Grundhaltung. Später nahm ich mir einfach, was mir fehlte; dabei bin ich wohl gelegentlich über das Ziel hinausgeschossen.

Meine Mutter sprach wenig, aber was sie sagte, war von präziser Bosheit. Sicher war das eine der Ursachen für mein unerschöpfliches Reservoir an verdrängter Wut, die sich gelegentlich heftig entladen mußte.

Schon als ich sehr klein war und beim Mittagessen eine naive oder spontane Mitteilung wagte, konnte ich nicht übersehen, daß mein verhaßter Bruder und meine Mutter einen sekundenschnellen Blick des Einverständnisses wechselten. Dieser Blick sagte mir, daß sie bereits oft über mich und meine Unbedarftheit gesprochen hatten und es auch in Zukunft häufig tun würden. Ich pflegte dann für Wochen zu verstummen. Mein unterdrückter Jähzorn ließ mich verschlagen werden.

[9] Als mein Bruder Carlo vierzehn und ich zehn war, stahl ich seine heimlich gekauften Zigaretten und warf sie auf dem Schulweg in fremde Mülltonnen. Da er mich für feige und dumm hielt und überdies wußte, daß es mir gleichgültig war, ob er rauchte oder nicht, hat er mich nie verdächtigt. Er war sich sicher, daß unsere Mutter ihm auf die Schliche gekommen war und auf diskrete Weise dafür sorgte, daß er seine Gesundheit nicht ruinierte.

Ich wurde zur Diebin. Man hat mich nie beschuldigt, weil der Bestohlene davon ausging, daß ein Dieb seine Beute besitzen möchte. Was soll ein kleines Mädchen mit Zigaretten anfangen? Was nützt ihm das Parfüm seiner Tante, wenn doch jeder den teuren Duft sofort riechen kann? Ich stahl damals Hausschlüssel, Pässe und Lehrerbrillen, um sie wegzuwerfen; L’art pour l’art. Erst Jahre später habe ich gestohlene Gegenstände behalten.

Vielleicht hätte ich mich anders entwickelt, wenn mich mein Vater nicht so früh verlassen hätte. Ich sage bewußt, daß er mich und nicht unsere Familie verlassen hat, denn so empfand ich es. Ich war sieben Jahre alt, als es geschah, und war bis dahin seine Prinzessin gewesen.

Wie in einer Renaissancekomödie gab es in unserer Familie zwei Liebespaare: ein hochstehendes – der König und die Prinzessin und ein Dienerpaar – meine Mutter und mein Bruder. Der König nannte mich »Prinzessin Maja«, später »Infantin Maja«. Er besaß ein Kalenderblatt mit der Abbildung spanischer Hofdamen, die ein Mädchen bedienen. Obgleich meine dünnen hellbraunen Haare im Gegensatz zu den blonden jener Prinzessin standen, behauptete mein Vater, ich sähe ihr ähnlich. Ich liebte dieses Bild.

[10] Vor kurzem habe ich mir eine Reproduktion gekauft und neben meinen Spiegel gehängt. Genau in der Mitte des Bildes steht die liebliche Infantin Margarita; ihr ernsthaftes Kindergesicht wird von seidenweichem Haar umrahmt. Wie die erwachsenen Frauen trägt auch sie eine steife Krinoline, wodurch sie wahrscheinlich zur Streckhaltung gezwungen wird. Anscheinend weiß Margarita genau: alles dreht sich um sie. Links im Bild hat sich der Maler in Arbeitspose porträtiert; ein schöner, selbstbewußter Mann. Im Kontrast zu ihm steht rechts im Bild eine Zwergin mit verkniffenem Mopsgesicht. Neben ihr versucht ein Kind oder Zwergenkind mit seinem zierlichen Fuß den dösenden Hund aufzuscheuchen, aber erfolglos. Der Hund verkörpert die Ruhe und Würde auf diesem schönen Gemälde. Man sieht noch andere Personen, die von historischer Bedeutung sind, mich aber nicht interessieren. Die Farben im Hintergrund sind grau, grünlich, umbra; im Vordergrund herrscht ein leichtes Elfenbein vor, mit einigen köstlichen Tupfern Nelkenrot. Alles Licht scheint sich auf der Infantin zu sammeln.

Mein Vater war ebenso ein Maler wie jener Mann im Hintergrund des Gemäldes, der vor langer Zeit die Infantin gemalt hatte; als er mich verließ, verschwanden auch alle seine eigenen Bilder. Das Blatt mit der spanischen Prinzessin fand ich unter einer Kommode, zerknittert und eingerissen. Ich faltete es zusammen und versteckte es in Dierckes Weltatlas, wo es mein Bruder entdeckte und zerriß.

Mein Bruder mochte darunter gelitten haben, daß er nie ein Prinz gewesen war und seine Schwester über ihn gestellt wurde. Er nahm Rache, wo er nur konnte.

[11] Meistens mußte ich den Tisch decken. Einmal stolperte ich über einen umgetretenen Teppich, und drei Tassen, Untertassen und Teller gingen zu Bruch. »Wie ein Elefant im Porzellanladen«, bemerkte meine Mutter. »Die Infantin ist zur Elefantin geworden«, sagte Carlo. Sie lachte beifällig. »Hämisch, aber gut gesagt.«

Ich war nun die Elefantin. Jahrelang gebrauchte mein Bruder diesen Namen. Meine Mutter sprach mich zwar im Notfall mit »Maja« an, aber ich hörte beim Hereinkommen gelegentlich, wie sie zu Carlo sagte: »Die Elefantin naht.«

Aschenputtel wird Königin, das häßliche Entchen ein Schwan. Mein Traum war, berühmt zu werden und die Welt unter meinen Elefantenfüßen zu haben. Mit fünfzehn Jahren beschloß ich, Sängerin zu werden, eine zweite Callas. Von da an mußten Mutter und Carlo immer die gleiche Arie aus ›Carmen‹ aushalten. Meine Stimme war laut, mein Gesang feurig. Ich war weder stimmlich begabt noch besonders musikalisch, aber mein Temperament konnte sich dabei austoben. »Sie singt wieder das Elefantabile«, pflegte meine Mutter zu sagen.

Auch eine Mitschülerin hörte einmal, wie mein Bruder mich ansprach. Tags darauf wurde ich in der Klasse von einem ohrenbetäubenden Tarzanschrei begrüßt. Selbst in der Schule war ich zum Dickhäuter geworden.

Sah ich einem Elefanten ähnlich? In Größe und Gewicht entsprach ich der menschlichen Norm, meine Füße waren zierlich, meine Nase glich durchaus keinem Rüssel, und meine Bewegungen waren weder unkoordiniert noch trampelig. Einzig meine Ohren paßten nicht ganz zum Standard; zwar waren sie von durchschnittlicher Größe, [12] standen aber ab und ragten aus meinen glatten Strähnen heraus. Bis ich zu alt dafür war, pflegte mich meine Mutter nach dem Haarewaschen unbarmherzig zu kämmen, und dabei blieben die Zinken des Kammes am Ohr hängen und harkten es talwärts. Als ich längst erwachsen war, geschah das gleiche Mißgeschick mitunter einer Friseuse. In solchen Fällen dachte ich sofort mit einer Gänsehaut am ganzen Körper an meine Mutter, die auch noch bei anderen Aktivitäten ein körperliches Mißbehagen in mir hervorrief: ihr spitzer Finger zwischen meinen Schulterblättern, das laute Knacken ihrer verschränkten Hände und die grauenerregenden Quietschtöne, die sie beim Fensterputzen produzierte.

Meine Mutter sorgte dafür, daß sich meine Elefantenhaftigkeit auch äußerlich manifestierte. Ich brauchte einen Wintermantel und wünschte mir einen feuerroten. Angeblich war kein Geld für einen neuen Mantel vorhanden. Mutter ließ mir aus einem geerbten Umhang aus Lamawolle ein graues Cape nähen, das mir in der Tat eine gewisse Unförmigkeit verlieh. Auch meine Schuhe wurden in Grau und eine Nummer zu groß gewählt, damit sie zum Cape und im nächsten Jahr noch paßten.

Eine Lehrerin hörte den Elefantenruf meiner Mitschüler und sah mich in meiner ganzen Tristesse durch den Novembernebel stapfen: »Maja Westermann, solche Scherze geben sich mit der Zeit! Im übrigen solltest du die Kraft eines Elefanten nicht gering veranschlagen; eine starke Frau ist etwas Erstrebenswertes!«

Aber ich wollte nicht stark sein. Ich hatte mich verliebt, und in meinem Kopf war nur noch für die Liebe Platz. [13] Natürlich war es nicht das erste Mal. Es fing so früh an, wie meine Erinnerung reicht, und das erste Liebesobjekt war mein Vater. Als er mich verließ, hielt ich ein Trauerjahr ein.

Neulich stieg mein früherer Geographielehrer samt Frau in meinen Touristenbus; es waren Osterferien, die er für einen kleinen Bildungsurlaub in Italien verwandte. Seit meinem Abitur vor drei Jahren hatten wir uns nicht mehr gesehen, aber wir erkannten uns sofort, begrüßten uns freundlich und entließen uns gegenseitig unter wohlwollenden Versicherungen. Er ahnte nicht, daß er monatelang das Zentrum meiner Phantasien gewesen war. Einzig Herr Becker und der Traum von einer Karriere als Operndiva verhinderten ein Abgleiten in Depressionen, so grau und verhangen waren Schulzeit und Familienleben. Von diesen beiden Zukunftswünschen war einer unrealistischer als der andere. Übrigens besitze ich noch einen Kamm meines Lehrers, den ich beim einzigen Besuch in seiner Wohnung als Erinnerungsstück mitgehen ließ.

Er war damals fast dreißig, und ich befürchtete schon, einen Ödipuskomplex zu haben. Über Nacht wurde ich ein Star in Geographie.

Im Erdkundeunterricht wurden historische, wirtschaftliche und politische Zusammenhänge betrachtet. Es ärgerte Herrn Becker, daß die meisten Schüler nur den Sportteil und die Kinoanzeigen der Zeitung lasen, Politik und Wirtschaft aber aussparten. Jeden Morgen bekam ich Streit mit Carlo, der mir das Tageblatt hemmungslos wegriß. Als wir im Unterricht über wirtschaftliche Auswirkungen der Dürrekatastrophen im Tschad, Niger und Sudan sprachen, [14] hob ich als einzige der Klasse die Hand. Bevor Herr Becker mich befragen konnte, brüllte jemand: »Kein Wunder, daß sie Bescheid weiß, wo doch Afrika ihre Heimat ist!«

»Bist du in Afrika geboren?« fragte Herr Becker interessiert und nichtsahnend. Wie eine echte Elefantin stürmte ich unter dem Trompetenschrei meiner Mitschüler hinaus und warf beim Aufspringen zwei Stühle um. Vor der Turnhalle sank ich auf ein Mäuerchen und brauchte meine Papiertaschentücher auf. Dabei hegte ich die Hoffnung, daß mich mein Lehrer suchen und finden würde. Vielleicht konnte ich ihm signalisieren, daß ich eine vorurteilslose Frau war. Aber niemand kam. Später sagte eine Mitschülerin: »Sorry wegen Afrika – wer kann schon wissen, daß du zur indischen Sorte gehörst.«

Meine Mutter habe ich nie bestohlen, auch wenn ich sie manchmal auf den Mond wünschte. Wir hatten wenig Geld. Von meinem Bruder wußte ich – denn meine Mutter sprach nie darüber –, daß unser Vater zwar gelegentlich etwas überwies, aber unregelmäßig und unberechenbar. Meine Mutter arbeitete als Altenpflegerin, und das war mit Sicherheit der ungeeignetste Beruf für sie. Sie hatte den Lehrgang für Altenpflege absolviert, weil es eine besonders kurze Ausbildung war. Bei ihrer Intelligenz und schnellen Reaktion hätte sie alle Büroarbeiten mühelos erlernen können. Statt dessen pflegte sie mit harten Händen und verschlossenem Herzen alte Menschen, als wären sie ein Stück Holz.

Nicht nur wegen unserer Armut bestahl ich Mutter nicht. Der eigentliche Grund war, daß ich sie mit unglücklicher, quälender Inbrunst liebte. Je älter ich wurde, desto [15] klarer sah ich, daß sie eine Verletzte war, deren Wunden nicht heilen konnten. Wir trauerten beide auf unsere Weise um den Verlust des Königs, ohne einander helfen zu können. Ich ahnte damals natürlich nicht, wie grausam ich ebenfalls von Vater enttäuscht werden sollte. Ein wenig aber schien auch meine Mutter, die meinen Bruder als Liebesersatz für ihren Mann ansah, an mir zu hängen. Trotz ihrer Bosheiten und ihrer Weigerung, meine Wünsche und Bedürfnisse wahrzunehmen, widersetzte sie sich kräftig meinem Plan, die Schule zu verlassen.

»Es wird dir einmal leid tun«, war ihr Hauptargument gegen meine Schulmüdigkeit. Das schönste Mädchen unserer Klasse wollte abgehen und eine Lehre in einer Drogerie antreten. Dadurch kam mir die Idee, wie wunderbar es sein müßte, eigenes Geld zu verdienen und nicht Stunde um Stunde in einem miefigen Klassenzimmer zu verdämmern. Aber ich wußte auch nicht genau, ob eine Lehre das Richtige war. Die Schule war ein ruhiger Parkplatz. Ich ließ mich ohne allzu große Aufsässigkeit von meiner Mutter zum Weiterlernen überreden. Heute denke ich, daß es nicht nur Ehrgeiz, sondern Liebe war, die sie zu diesem Standpunkt gebracht hatte. Für meine Mutter wäre es leichter gewesen, wenn ich Geld verdient hätte. Das ist eines der wenigen Dinge, die ich ihr positiv anrechne.

Übrigens war ich ihr für die Elefantenkleidung am Ende noch dankbar. Hatte ich es zuvor nach Kräften vermieden, das Lama-Cape zu tragen (nur der besonders eisige Winter hatte bewirkt, daß ich die wärmende Wolle überzog), so kamen jetzt Zeiten, wo ich selbst an lauen Frühlingstagen nicht aus meiner Hülle schlüpfte.

[16] Herr Becker sagte, daß ihm unter allen schicken Jacken und Mänteln, die auf dem Pausenhof eine Modenschau veranstalteten, mein grauer Teewärmer am besten gefalle.

»Du bist eine Individualistin, Maja. Ich war genauso wie du, ich wollte nie mit der Masse gleichziehen.«

Obgleich er annahm, daß ich mich für das Elefantenkostüm freiwillig entschieden hatte, so wurde es jetzt durch seine Worte geadelt. Ich war beglückt, daß er dachte, wir hätten eine innerliche Gemeinsamkeit. Ich lächelte ihn an.

Mein Wissen über die Liebe war theoretischer Art und stammte aus Büchern: ›Anna Karenina‹ und ›Madame Bovary‹. Ich hatte davon gelesen, daß sich Frauen hingeben oder wegwerfen. In meinen Träumen war ich aber eine weltberühmte Sängerin, und Herr Becker konnte dankbar sein, daß er sich mir hingeben durfte.

Als ich neulich diesen bemühten, aber spießigen Lehrer mit seiner braven Gattin in meinem Bus entdeckte, konnte ich nur den Kopf schütteln über meine damalige Einfalt. Übrigens hätte ich ohne jegliches Risiko der guten Frau Becker in die Handtasche langen können, die nach meiner Predigt und der Abgabe ihrer Spende immer noch offenstand. Aber Cesare sah mich im Rückspiegel und schüttelte mißbilligend den Kopf.

Als ich mit sechzehn Jahren Cornelia kennenlernte, hatte Herr Becker ausgedient, nicht jedoch das graue Cape. Ich hatte es liebgewonnen. Meine Mutter schenkte mir zu Weihnachten jenen roten Mantel, den ich mir ein Jahr zuvor gewünscht hatte und den sie nun verbilligt kaufen konnte. Sie erkannte wohl, daß ich schon im zweiten Jahr als [17] Elefantin herumlief und jetzt Anspruch auf etwas Eleganz hatte. Leider war es zu spät. Zum großen Leid meiner Mutter zog ich den roten Mantel nie an, ich wollte grau bleiben.

In meinem Bus bin ich keine graue Maus mehr, sondern als eine Art Stewardeß verkleidet, dunkelgrünes Kostüm, weiße Bluse und rotes Seidentuch – also italienische Farben. Auch meine Schuhe sind rot; ständig muß ich den Touristen das Schuhgeschäft nennen, wo ich diese schicken Schuhe gekauft habe. In meiner Handtasche habe ich außerdem die Adressen eines deutschsprechenden Arztes und eines Pfarrers, obwohl letzterer nur ein einziges Mal verlangt wurde. Fleißig schreiben sie sich die Telefonvorwahl nach Deutschland auf, meine Hinweise auf Feiertage und Ladenschluß, die Postgebühren und sogar meinen diskreten Hinweis auf die üblichen Trinkgelder.

Aber nach drei Stunden Fahrt, Besichtigung und diversen Fotostops, ist mein guter Rat längst vergessen, und sie schielen wieder ängstlich auf die vielen Nullen ihres Geldes. Es gibt allerdings auch Pedanten, die den Taschenrechner zücken; die sind mir auch nicht gerade ans Herz gewachsen, denn bei der Spende fehlt ihnen jegliche Spontaneität, und sie produzieren weder Schadenfreude noch feuchte Augen.

Wenn Cesare guter Laune ist, fährt er mich mit dem dicken Bus nach Hause, was natürlich streng verboten ist. Anfangs hätte er niemals solche Extratouren unternommen, aber mit der Zeit habe ich seine Hemmungen abbauen können. Er steigt nie aus und trinkt einen Espresso in der rosa Villa, denn er scheint zu befürchten, Sodom und Gomorrha könnte sich hinter ihren Türen verbergen.

[18] Ich kläre ihn nicht darüber auf, ob ich allein oder in Gesellschaft lebe, ob ich Verwandte und Freunde habe. Meine bewegte Vergangenheit geht ihn nichts an; außerdem bin ich sicher, daß sie seine Phantasien und Unterstellungen bei weitem übertrifft.

[19] 2

Seladongrün

Wenn Cesare ein Liebespaar im Bus ausmacht, ist er entzückt und versucht, mich mit einem Augenzwinkern oder Lächeln auf diese interne Sehenswürdigkeit aufmerksam zu machen. Er ist sentimental; kinderreiche Familien, weißhaarige Omas und knittrige Neugeborene können seine Aufmerksamkeit vom Straßenverkehr ablenken und ihn zu spontanen Sympathiebekundungen verleiten.

Ich bin anders, und bei den Pärchen habe ich Probleme. Was soll Schönes an diesem dümmlichen Anhimmeln, der kritiklosen Einigkeit und geschmacklosen Anfasserei sein? Andererseits weiß jeder, daß diese Phase nicht von Dauer ist, und das tröstet mich. Vielleicht beruht meine Empfindlichkeit aber auch darauf, daß ich neidisch bin und nicht gerade stolz auf meine eigenen Affären (Romanzen waren es nie). Neulich sah ich eine Sechzehnjährige, die mit ihrem gleichaltrigen Freund wie ein altes Ehepaar auf Bildungstourismus machte. Scheußlich. So war ich zum Glück nie gewesen.

Als ich sechzehn war, hatte ich immer noch keinen Liebhaber, dafür endlich eine Freundin. Sie wurde die wichtigste Person in meinem Leben.

Cornelia kam als Neue in die Klasse. Sie gehörte zu jenen, die von allen Menschen angestarrt werden. Nicht weil sie von auffallender Schönheit war (obgleich sie keinen Makel [20] hatte), sondern weil sie eine unerhörte Konzentration und Authentizität verkörperte.

Cornelia betrachtete die Klasse eine Woche lang und wurde ihrerseits ebenso beobachtet. Sie beteiligte sich locker am Unterricht, plapperte häufig Unsinn, hatte auch geniale Einfälle und schämte sich nie, ehrlich zu gestehen, wenn sie keine Ahnung hatte. Man war fasziniert von ihr und begann, um ihre Gunst zu buhlen.

Doch Cornelia schlug alle Angebote aus und wandte sich entschieden und nachdrücklich mir zu. Ich konnte mein Glück nicht fassen. Der Himmel schenkte mir eine Freundin mit Pfeffer, Witz und Phantasie, mit roten Haaren und unverfrorenem Benehmen. Cornelia stammte aus feinster Familie. Ihr Vater war Professor für Sinologie und, wie ich später feststellen konnte, die Kultur in Person. Fast nach jedem Satzteil schob er ein prononciertes »nicht wahr« ein und sprach wie ein Lehrbuch. Man nannte sie zu Hause »Cora«. Ein chinesischer Student hatte sogar einmal »Miss Cola« gelispelt.

Cora erzählte mir, daß man sie mehr oder weniger aus ihrer bisherigen Schule herausgeschmissen hatte, weil sie sich hinter den Theaterkulissen (von ihr für eine Schulaufführung entworfen) mit dem Kunstlehrer geküßt hatte. Nicht zum ersten Mal. Aber bei jenem verhängnisvollen Kuß waren der Direktor, die Schulsekretärin und ein Referendar unfreiwillig Zeugen geworden. Cornelia lachte darüber. Auch der Lehrer mußte übrigens die Schule wechseln.

Cora wollte Malerin werden und zeigte mir ihre riesigen, auf Packpapier gemalten Werke. Ihre Bilder waren originell und gekonnt; trotzdem gefielen sie mir nicht immer, weil [21] Cornelia einen leichten Hang zu ekelerregenden Objekten zeigte. Um ihr zu imponieren, gestand ich ihr meine Kleptomanie. Sie war entzückt, fand es allerdings unrentabel, nach dem Aufwand des Stehlens die Beute wegzuwerfen. Im Schnellverfahren ließ sie sich von mir in die Kunst des Diebstahls einweihen. Beim ersten Mal nahm ich vor ihren Augen im Kaufhof einen scharlachroten Lippenstift. Sie aber wollte eine Herrenkrawatte. Ich stahl zwei Schlipse aus dem Drehständer, dezent gestreift, und wir trugen sie fortan im Unterricht. Meiner Mutter sagte ich »von Coras Bruder«, während Cora das gleiche zu Hause vorgab. Auf diese Weise kleideten wir uns nach und nach individueller ein. Gefällige Teenagerkleidung mochten wir nicht; alles mußte den Touch des Außergewöhnlichen haben. Wir besaßen Hosenträger und langbeinige Unterhosen, Metzgerberufskleidung und Trauersachen.

Eines Tages gab es im Museum eine Ausstellung chinesischer Porzellane. Zur Eröffnung hielt Coras Vater vor geladenem Publikum eine Rede. Wir sollten die artigen Töchter spielen, Sekt einschenken, Blätterteigspiralen oder Lachsbrötchen herumreichen.

Mit halbem Ohr hörte ich den kultur- und sherrydurchtränkten Vater sprechen. »Seladongrün« war das einzige Wort, das mir im Kopf herumging. Was war das? Cora zeigte mir nachsichtig einige viereckige und runde Gefäße mit einer milchig-blassen, fremdartig graugrünen Glasur, in die ich mich sofort verliebte.

»Cora, ich muß diese seladongrüne Schale haben!«

Meine Freundin nickte. Kein Zögern, keine Skrupel. [22] »Warte, bis die Leute aufbrechen. Wir helfen beim Aufräumen.«

So kam es, daß in meinem kargen Zimmer ein Stück uraltes Porzellan mit eingeschnittener Drachenzeichnung unter der Glasur (aus der Sung-Dynastie) zu finden war. Meine Mutter beachtete dieses unbezahlbare Unikat nicht, denn es war so edel, fein und zurückhaltend, daß ein ungeübtes Auge es übersah.

Es war ganz einfach gewesen, die Schale zu stehlen. Der Museumsdirektor war ein Freund von Coras Vater. Als am Schluß nur noch die Crème de la crème der handverlesenen Gäste anwesend war, schloß er die Vitrinen auf und nahm eigenhändig einige reizvolle Gegenstände heraus, um das interessierte Publikum auf Details aufmerksam zu machen.

Etwa zehn Gäste standen noch um Direktor und Professor herum, als wir begannen, die leeren Sektgläser einzusammeln. Cora deckte mich, als ich die Schale aus der Vitrine nahm. Wir stellten vier Gläser darauf, und Cora trug dieses Miniaturtablett an allen Anwesenden offen vorbei in den Nebenraum, wo ein Spülbecken stand und Flaschen lagerten. Für das Innere meines Elefantencapes hatte ich schon vor einiger Zeit einen abknöpfbaren Beutel genäht, der mühelos meine Fischzüge aufnahm. Wir sammelten die übrigen Gläser ein, spülten im Nebenraum und verabschiedeten uns. Coras Vater winkte uns geistesabwesend zu. »Jeunesse dorée«, sagte der Museumsdirektor. Der Professor hatte uns ein gutes Taschengeld fürs Bedienen bezahlt, denn er glaubte, daß uns die Ausstellung nicht die Bohne interessiere.

Cora berichtete später, daß das Fehlen der Schale erst [23] zwei Tage später von einem Assistenten entdeckt worden war. Es entstand grenzenlose Aufregung. Polizei und Versicherungsspezialisten nahmen diskret ihre Nachforschungen auf, denn in Anbetracht der illustren Gäste sollte nichts über den Vorfall in der Presse erscheinen. Anhand der Einladungsliste wurde ermittelt. Cora und mich hatte man aber vergessen. Schließlich fiel der Verdacht auf den chinesischen Kulturattaché, auf dessen undurchsichtigen Zügen man einen Schauder gesehen haben wollte, als er hörte, daß alle die chinesischen Schätze aus Londoner und Berliner Museen stammten. Ein Profi mußte zugelangt haben, denn es handelte sich bei der Seladonschale um ein besonders altes und erlesenes Stück, das aber für den Laien eher unscheinbar wirkte.

»Du hast einen guten Geschmack«, sagte meine Freundin, »ich hätte vermutlich die Ochsenblutvase genommen. Aber das ist bloß Theorie, denn ich kann solches Zeug nicht gut auf meine Fensterbank stellen so wie du.«

Schließlich zahlte die Versicherung eine stattliche Summe an das Victoria-und-Albert-Museum. Die Frau des chinesischen Diplomaten war zwei Tage nach meiner Tat nach Peking geflogen, und man sah diese Reise als Beweis für die Schuld des Chinesen an.

Aber die seladongrüne Schale sollte mir noch Unglück bringen.

Es begann alles an Carlos zwanzigstem Geburtstag, der auf einen Samstag fiel. Mutter hatte an diesem Wochenende Dienst im Altersheim. Ursprünglich wollte sie mit einer Kollegin tauschen, um am Geburtstag ihres Lieblings frei [24] zu haben. Carlo protestierte. Er sei kein Kleinkind mehr, für das die Mama Kuchen backe; es reiche, wenn man abends ein Gläschen Wein zusammen trinke.

Mutter ging also arbeiten, und Carlo plante, ihre Abwesenheit für ein kleines Fest zu nützen. Notgedrungen, wie ich damals dachte, weihte er mich in seinen Plan ein. Er wollte für einige Freunde kochen, ich sollte Cornelia einladen. Erst viel später ging mir auf, daß er alles ihretwegen inszenierte.

Vormittags schickte er mich einkaufen, er gab mir eine Liste und Geld. Das neue Spiel, daß er nett zu mir war, gefiel mir kurzfristig, und ich ging folgsam aus dem Haus, kaufte spanischen Rotwein, Weißbrot und Käse, Weintrauben und Lachsersatz von seinem Geld, stahl Gänseleberpastete, Kaviar und Champagner aus eigener Initiative dazu. Das war allerdings ein grober Fehler, zu dem ich mich aus Enthusiasmus und Gewohnheit hinreißen ließ. Schon an der Haustür war mir klar, daß ich die Delikatessen nicht vor seinen Augen auspacken durfte. Später konnte man sagen, Cornelia habe sie den elterlichen Vorräten entnommen.

Aber als ich die Tür aufmachte, winkte mich Carlo mit geheimnisvoller Miene in die Küche, ohne meine Einkäufe zu beachten. Er deutete auf einen Stuhl. Ich setzte mich erwartungsvoll. Carlo zog einen Umschlag aus der Tasche und überreichte ihn mir wichtigtuerisch. Blöder Affe, dachte ich, war aber natürlich neugierig, von wem der Brief war.

»Von Vater«, sagte Carlo.

Nun wurde ich nervös, riß den Bogen aus dem Umschlag und las.

[25] Mein lieber Sohn, wenn ich mich richtig erinnere, hast du heute Geburtstag – warum hatte er sich nie an meinen Geburtstag erinnert? – Denke nicht, ich hätte Euch vergessen. Doch voller Scham muß ich gestehen, daß aus meinen Plänen, mir eine Existenz aufzubauen, nichts geworden ist. Jahrelang habe ich gehofft, daß meine Bilder eines Tages verkauft würden. Wahrscheinlich wird das erst nach meinem Tod der Fall sein, und Ihr seid dann die lachenden Erben. Karin hat sich von mir getrennt – wer um alles in der Welt war Karin? –, ich lebe einsam und zurückgezogen, habe von fahr zu Jahr mehr Gebrechen und leide unter mißlichen Umständen. Aus reiner Not habe ich die entwürdigende Stelle eines Blutboten angenommen. Wie gern hätte ich Dir ein großzügiges Geschenk zukommen lassen, aber glaube mir, daß ich so manchen Abend ohne Mahlzeit ins Bett gehe. Ich schreibe Dir in dem Wissen, daß mir nicht mehr viele Jahre bleiben. Ich wünsche, daß Maja und Du mir verzeiht und in Liebe an Euren alten Vater zurückdenkt.

»Na?« sagte Carlo.

»Was ist ein Blutbote?« fragte ich.

Er zuckte mit den Schultern. Wir sahen uns ratlos an.

»Wo wohnt er?« fragte ich, sah aber selbst, daß kein Absender angegeben war. Wir betrachteten den Stempel: Bremen, entzifferten wir. »Unser armer Vater«, sagte ich leise.

Carlo rümpfte die Nase. »Sag eher: unsere arme Mutter! Erst haut er mit einer anderen Frau ab, zahlt fast nie Unterhalt, und nun kommt so ein Bettelbrief!«

»Aber er sagt doch gar nicht, daß er etwas will, wir wissen noch nicht einmal, wo er lebt.«

[26] Carlo ging an Mutters Schreibtisch und entnahm ihm ihre Bankauszüge. »Letztes Jahr hat er im April einen kleinen Betrag geschickt, das weiß ich zufällig«, sagte er. »Ich müßte eigentlich den Überweisungsauftrag finden, wahrscheinlich steht auch seine Adresse darauf.«

Mutter hatte Ordnung in ihren Papieren, und Carlo war als Banklehrling geübt im Sortieren. Schnell fand er, was er suchte. Die Anschrift war tatsächlich mit einem Stempel auf das Formular gedruckt. Vater wohnte in Lübeck, nicht in Bremen. Zum zweiten Mal sahen wir uns unschlüssig an. Mit Mutter konnte man über den verschwundenen Vater nicht reden, sie lehnte es ab, uns in irgendeiner Weise Auskunft zu erteilen.

»Wir müssen ihn besuchen«, sagte ich.

»Hat er uns je besucht?« fragte Carlo. »Hat er je zuvor an uns geschrieben – zu meinem Abitur, zu Weihnachten –, hat er sich je erkundigt, ob wir überhaupt noch leben?«

Ich schwieg. Carlo haßte ihn, aber er bekam ein bescheidenes Gehalt, er konnte eher helfen als ich. Geld hatte ich noch nie gestohlen, vielleicht war jetzt die Zeit dafür gekommen. Oder sollte ich Vater Care-Pakete mit gestohlenen Lebensmitteln schicken? Ich verfiel ins Grübeln.

Carlo schreckte mich auf. »Wir sagen Mutter erst einmal nichts über diesen Brief und reden später weiter. In einer Stunde kommen die Gäste, jetzt wird gekocht.«

Schweigend versteckte ich die gestohlenen Delikatessen unter meiner Bettdecke, stiftelte Emmentaler, entkernte Weintrauben und tat geistesabwesend alles, was Carlo mir auftrug.

[27] Als seine Freunde kamen, war ich in Gedanken nicht bei der Sache. Ich hatte mich eigentlich gefreut, Carlos neuen Freund aus der Bank kennenzulernen, von dessen Intelligenz er ständig berichtete; aber jetzt sah ich diesen Detlef kaum an. Ich dachte nur an Vater. Sicher, ich hatte schon lange befürchtet, daß er arm war, denn sonst hätte er vielleicht Geschenke für mich geschickt. Ein Künstler wird oft erst nach seinem Tod geschätzt, das sagte er zu Recht. Wenn er sich nicht gemeldet hatte, so geschah dies aus Scham. Aber warum schrieb er ausgerechnet an Carlo und nicht an mich, wo ich seine Prinzessin gewesen war?

Er ist kein Maler mehr, er ist Blutbote, dachte ich mit einem Schauder. Ein furchtbares Wort, das an Dracula erinnerte und mit dem ich nichts anfangen konnte.

Dann trafen zwei weitere Freunde von Carlo mit ihren Mädchen ein, und wir setzten uns zum Essen: Carlo neben Cora, ich neben Detlef. Gern hätte ich Cora von Vaters Brief berichtet, aber in Gegenwart dieser heiteren Gesellschaft konnte ich nicht reden. Wir tranken Rotwein und aßen, es wurde erzählt und gelacht. Schließlich gelang es mir, Cora in mein Zimmer zu dirigieren. Ich hob die Bettdecke auf, Cora sah den Champagner und sagte in ihrer praktischen Art: »Sofort kühlstellen!«

Als ich aus der Küche kam, hatte sie bereits den Kaviar auf meiner seladongrünen Schale angerichtet. »Was hast du?« fragte sie, als sie meine Bestürzung sah, und dachte schon, die Polizei sei im Anmarsch.

Ganz kurz erzählte ich ihr, was in Vaters Brief stand.

»Wir werden ihn besuchen«, sagte sie, »morgen machen wir einen Plan.«

[28] Cornelia schien meinen arroganten Bruder nicht unsympathisch zu finden, sie lachte über seine Secondhandwitze, die ich alle kannte. Allmählich kamen mir Zweifel, ob nicht doch mehr dahintersteckte als ihr bewährter Trick, einen Mann verliebt zu machen, um ihn dann ein bißchen zu quälen. Mochte sie ihn am Ende?

Alles hatte sich gegen mich verschworen. Als ich den roten Kaviar brachte, der sich sehr edel und fast wie ein Goldfisch auf dem grünlichen Porzellan ausnahm, fragte Detlef, ob das eine chinesische Schale sei.

»Könnte sein«, antwortete ich.

Alle waren auf einmal still und starrten die Schale an.

»Woher ist die überhaupt?« fragte Carlo.

»Vom Flohmarkt«, sagte Cora geistesgegenwärtig, und schon ging das allgemeine Geplauder wieder los.

Detlef sah mich unverschämt an. »Mein Onkel ist Custos im Museum«, sagte er bedeutungsvoll.

Leider war ich nicht so abgebrüht wie Cora, ich wurde rot. »Na und?« fragte ich ängstlich.

»Du weißt Bescheid, ich weiß Bescheid«, sagte Detlef, »wir werden uns ein andermal über die Sung-Dynastie unterhalten.« Dann aß er fast allein den Kaviar auf; Cora trug die Schale hinaus, spülte sie aus und stellte sie in meinen Kleiderschrank. Sie hatte mit untrüglichem Instinkt die wichtigsten Worte gehört und dabei routiniert mit Carlo geflirtet. Ich bewunderte sie. Ohne Cora wäre ich wahrscheinlich in mein Zimmer gelaufen und hätte mich nicht im geringsten um den Verlauf dieser schrecklichen Party gekümmert.

Schließlich holte Cora den gekühlten Champagner, ließ [29] ihn von meinem Bruder öffnen und gab mir das erste Glas. Ich trank aus, mußte aufstoßen, alles lachte, und ich trank aus Verzweiflung gleich ein zweites Glas.

Nach zehn Minuten wurde ich redselig und hätte gern gesungen, aber Carlo bremste mich. Als alle heim wollten, weil meine Mutter erwartet wurde, stand auch Carlo auf und brachte Cornelia nach Hause. Ich war verletzt, weil ich damit gerechnet hatte, daß Cora bei mir blieb und wir zu dritt aufräumen würden. Nun blieb alle Arbeit an mir hängen.

Detlef sagte an der Tür: »Bis bald«, und es klang drohend. Dann war ich allein mit meinen Ängsten und dem schmutzigen Geschirr.

Als meine Mutter kam, riß sie sofort die Fenster auf und verdächtigte mich des Rauchens, aber es fiel ihr nicht auf, daß Kaviar auf dem Teppich lag und der Raum nach Rasierwasser und schalem Wein roch. Ich gab vor, Kopfschmerzen zu haben, und verkroch mich. Obwohl ich darauf lauerte, hörte ich nicht, wann Carlo heimkam.

Am Sonntag machte ich mich ohne Frühstück auf den Weg zu Cora. Meine Mutter war bereits ins Altersheim geradelt, mein Bruder schlief. In meiner Wut schüttete ich zwei Eßlöffel Salz in die Kakaotüte, die er meistens als erste Tat nach dem Aufstehen aus dem Kühlschrank zog.

Cora war noch im Nachthemd (ein altes Erbstück aus Leinen mit Lochspitze) und trank schwarzen Kaffee im Bett. Sie empfing mich wie eine Fürstin beim Lever. Ihre Eltern, mit dem Hund an der Leine, begaben sich gerade [30] auf einen Spaziergang und drückten mir die Klinke in die Hand.

»Unsere Tochter pflegt noch der Ruhe«, sprach der Professor, »wie ein Riesenfaultier, nicht wahr.«

Cora wußte, daß ich über Vater sprechen wollte. »Wir brauchen Geld«, sagte sie, »dann fahren wir hin und sehen nach dem Rechten.«

Mir erschien das unmöglich. »Erstens kann ich nicht verreisen, ohne es meiner Mutter zu sagen! Und zweitens kann ich auch keine Bank überfallen.«

Cora grinste. »Ach Maja, das läßt sich regeln. Wohin fahrt ihr in den Ferien?«

Mir stiegen die Tränen in die Augen. Seit Jahren waren wir nicht mehr verreist, weil kein Geld da war. Als wir klein waren, fuhren Carlo und ich bisweilen zu Mutters Bruder nach Bonn. Onkel Paul hatte das Schreibwarenlädchen unseres Großvaters übernommen, umgebaut und einen florierenden Computerladen daraus gemacht. Ohne seine regelmäßigen Überweisungen hätten wir im übrigen von Mutters Gehalt nicht leben können. Dorthin wollte ich nicht mehr, es war eine einzige Demütigung. Die Kusine war stocklangweilig. Die Tante pflegte mir zwar jedesmal etwas Praktisches zum Anziehen zu kaufen, aber darauf konnte ich pfeifen.

Cora hörte sich alles an. »Ist vorzüglich«, sagte sie, »ich muß zwar zwei Wochen gemeinsam mit meinen Eltern in die Toskana, aber erst am Ende der Ferien, vorher ist noch eine Menge Zeit. Praktischerweise habe ich Verwandtschaft in Hamburg. Deine Mutter wird wohl erlauben, daß ich dich einlade. Im übrigen sind Onkel und Tante beide [31] berufstätig, und es ist ihnen völlig egal, ob wir den Tag im Museum oder im Bett verbringen.«

»Lübeck ist nicht weit, ich kann dann sofort weiterfahren.«

»Nee«, sagte Cornelia, »das wäre unvorsichtig. Du wohnst mit mir in Hamburg, und wir begeben uns gemeinsam zu deinem Königspapa.«

Cora war neugierig auf meinen geheimnisvollen Vater. Ich wäre ihm lieber erst allein begegnet, aber zunächst schwieg ich.

»Das zweite Problem ist die Kohle«, sagte Cora, »und da habe ich einen Plan. Die Reise bezahlen meine Eltern, sicher auch für dich. Aber wir brauchen einen Zuschuß für den hungernden Künstler.« Mir gefiel ihre Ironie nicht, aber ich sagte nichts und wartete auf Vorschläge. »Neulich habe ich in der Zeitung gelesen, daß ein Betrüger täglich die Todesanzeigen studiert hat«, erzählte Cornelia, »etwa zwei Wochen nach dem Tod eines Opas schellte er an der Haustür der Witwe und behauptete, der Verstorbene hätte eine saftige Rechnung nicht bezahlt. Wenn dann die Oma wissen wollte, worum es ging, zog er ein Auftragsformular heraus und sagte, leise und diskret, es handele sich um Pornos, die der Tote bestellt hätte. Alle Omas wurden bleich und zahlten sofort, um nie wieder an diesen Skandal erinnert zu werden.«

»Wie gemein«, sagte ich lachend, »aber es kann doch nicht dein Ernst sein, auf solche Weise Geld einzutreiben! Und außerdem können wir uns vielleicht auf etwas älter schminken, aber eine Pornohausiererin nimmt uns keiner ab.«

[32] Cora bekam einen Lachanfall. »Das wollte ich doch gar nicht, Elefantenbaby. Aber durch diese Geschichte kam ich auf eine gute Idee, paß mal auf: Mein Vater ist unheimlich gebildet, aber zerstreut, wie es sich für seinen Stand gehört. Neulich hat er vergessen, zur Beerdigung eines Kollegen zu gehen oder wenigstens eine Beileidskarte zu schicken. Mutter erinnerte ihn an diesen Termin, als es schon zu spät war und sein schwarzer Anzug in der Reinigung hing. Na, kurz und gut, man hatte darum gebeten, keine Kränze zu schicken, sondern eine Spende. Und zwar ausgerechnet für den Reit- und Fahrverein, als ob die nicht reich genug wären! Vater griff in die Brieftasche, schrieb schnell ein paar unaufrichtige Worte und schickte mich ins Trauerhaus. Weil Geld im Umschlag war, sollte ich ihn persönlich abgeben.«

»Hast du etwa das Geld behalten?«

»Wo denkst du hin. Ein altes Tantchen machte mir auf und führte mich ins Herrenzimmer, bot mir sogar Tee an. Alle anderen Angehörigen waren auf dem Friedhof. Als die Alte in die Küche ging, war ich allein mit einem Schreibtisch voller Spendenumschläge, die ich aber als wohlerzogene Tochter nicht geöffnet habe.«

Ich war fasziniert. »Kann man das machen, einem Toten Geld klauen?«

»Es gehört weder dem Toten, noch hat er etwas davon«, sagte Cornelia, »wir könnten zu wildfremden Beerdigungen gehen, natürlich nur bei reichen Leuten. Wenn in der Zeitung steht, daß für Amnesty oder SOS-Kinderdorf gespendet wird, dann lassen wir die Finger davon. Aber Golf- und Yachtklub oder so – da hätte ich keine [33] Bedenken. Meinst du nicht, daß dein Vater es nötiger braucht?«