Roman

Berthold Auerbach

Barfüßele

Roman

Mit einleitenden Worten von Arno Holst

Einleitung.

In einer Erzählung Berthold Auerbachs wandert ein schwäbischer Bauer nach Amerika aus, und vor seinem neuen Besitztum errichtet er einen Wegweiser, auf dem geschrieben steht: Nach Nordstetten. Das ist nämlich seine Heimat. In diesem kleinen Gedanken steht der ganze Berthold Auerbach vor uns. Auch er ist aus seinem Schwarzwälder Heimatdorfe Nordstetten in die große Welt hinausgewandelt, hat sein Glück gesucht und gefunden – aber immerdar und überall hat dieser nach Nordstetten weisende Zeiger vor seiner Seele gestanden, immer wieder ist er dahin zurückgekehrt und schließlich hat er sich dort beerdigen lassen. Auch in geistigem Sinne hat er sich immer wieder dem engen Bezirk von Nordstetten zugewandt. Es ist der Schauplatz seiner Dorfgeschichten, der Boden, in dem seine Bauerngestalten wurzeln. Als er ihn verließ und es mit einem großen Roman versuchte, hatte er wenig Glück. Mit den nächsten Schöpfungen kehrte er zu dem Schwarzwalddorf zurück. Und auch nachdem er sich später im großen Zeitroman des damaligen Stils ehrenvoll hervorgetan, kam es trotzdem doch noch zu einer zweiten Umkehr und Heimkehr nach Nordstetten in Gestalt einer neuen Folge von Schwarzwälder Dorfgeschichten.

Berthold Auerbach wurde am 28. Februar 1812 geboren als das neunte Kind jüdischer Eltern. Unter den knorrigen, doch herzensguten Bauern von Nordstetten, die später durch ihn zu Weltberühmtheiten weiden sollten, gab es keinen Unterschied zwischen Christen und Juden, und so wuchs er unter der Knabenwelt des Dorfes auf ohne jegliche Absonderung, ohne das Bewußtsein einer Kluft zwischen ihm und den andern, bis eines Tages ein seltsames Erlebnis ihn stutzig machte. Er holte aus einer nahegelegenen Kreisstadt Salz für die Eltern. Da lauerten ihm ein paar Jungen aus der Stadt unterwegs auf, fielen über ihn her und hießen ihn Christum preisen. Er weigerte sich, da schlugen sie ihn, fesselten ihn, knebelten ihn und ließen ihn liegen. Als er daheim vermißt wurde, ging man mit einem Hunde auf die Suche und fand ihn, halbtot vor Angst und Erschöpfung. Dieser Vorfall, der ihn an den Rand des Todes brachte, hat einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht, und später, als er in der Talmudschule zu Hechingen weilte, um dem Wunsch der Eltern gemäß sich zum Rabbiner auszubilden, mag das Abenteuer aus seiner Kindheit zu einer Art Symbol für ihn geworden sein. Sich befehden, sich hassen, sich verfolgen: das war nichts für sein friedfertiges, liebevolles Gemüt. Aber Brücken schlagen, Gegensätze ausgleichen, Fäden von einer Partei zur andern spinnen: das war nach seinem Herzen. Und damit treffen wir einen der Grundzüge seines Wesens. Er ist immer eine Art Vermittler gewesen, zwischen dem Christentum und dem Judentum, zwischen der vornehmen Gesellschaft und dem Bauernstande, und schließlich auch in politischem Sinne zwischen Süddeutschland und Norddeutschland, zwischen denen zu seiner Zeit bis zum einigen Deutschland noch harte Steine wegzuräumen waren. Allein nach einem langen Leben solcher Vermittlerarbeit fand das feindselige Begebnis aus seiner Kinderzeit sein Gegenstück in dem wilden Haß, mit dem plötzlich der Antisemitismus auch über Berthold Auerbach herfiel und ihn einen Erzjuden schalt, mit dem ein Deutscher nichts zu tun hätte. Da mag er wieder an die Stunden der Angst und der Qual zurückgedacht haben, wo er als kleiner Junge mißhandelt und gefesselt am Boden lag.1

Als er sich darüber klar geworden war, daß er sich zum Beruf eines Rabbiners nicht eigne, waren seine ersten vermittelnden Arbeiten zwei auf jüdischem Boden spielende Romane, »Spinoza« und »Dichter und Kaufmann«, durch die er das Judentum der Allgemeinheit näherzubringen versuchte. Zugleich schloß er persönlich in diesen Werken seine Rechnung mit dem rabbinischen Studium und bekehrte sich zur freien Philosophie. Nun studierte er in Tübingen, München und Heidelberg, und der stille, friedfertige Träumer, der er im Grunde immer geblieben ist, nahm ein kleines Weilchen teil an dem tollen Verbindungsleben der damaligen Tage, das von Staats wegen nachdrücklich verfolgt wurde. Er mußte es denn auch mit einem unfreiwilligen Spaziergang auf den Hohenasperg büßen, welchen man im Volksmunde deshalb den höchsten Berg Schwabens nannte, weil es oft Monate dauerte, bis man wieder herunterkam. Hiernach widmete er sich ganz der schriftstellerischen Laufbahn, und nun hieß es arbeiten. Neben einer Uebersetzung der Werke seines Lieblingsphilosophen Spinoza, in dessen Geisteswelt er sich eingesponnen hatte, war es abermals eine Vermittlerarbeit, die er in dem Buche »Der gebildete Bürger« in die Welt schickte. Er schlug hierin eine Brücke zwischen Bildung und Volk und legte den arbeitenden Ständen die ernste Pflicht ans Herz, den Geist zu vervollkommnen. Er wollte ihnen einen Weg weisen zur Höhe des Wissens. Aber trotz allem liebevollen Bemühen, die wissenschaftliche und die volkstümliche Ausdrucksweise zu vereinbaren, traf er den rechten Ton noch nicht und fand keine Gegenliebe.

Er hatte es gut gemeint und auch wohl einen Erfolg erhofft. Der Fehlschlag war für ihn eine bittere Enttäuschung, zumal er sich mit der Feder sein tägliches Brot erwerben mußte. Mitten in diesen Schmerzen und Sorgen traf ihn der Tod des Vaters. Ueber der mühseligen Arbeit um des Leibes Nahrung und Notdurft hatte er Elternhaus und Heimat vergessen. Kraft jenes starken Familiensinnes, jener zähen Anhänglichkeit, die seiner Rasse eigen ist, fühlte er sich wie mit Zaubermacht in die Vergangenheit zurückgezogen. Der Tod des Vaters ließ eine halb vergessene Welt in ihm lebendig werden, und, wie mancher vor ihm und nach ihm, fand er unter der Einwirkung eines tiefen Schmerzes den ersten und wahren Ausdruck ureigenen Dichtergefühls. In der Innigkeit der Trauer versetzte er sich zurück in die Welt, der der Verlorene angehört hatte, und so entstanden die ersten seiner »Schwarzwälder Dorfgeschichten«.

Sie wirkten wie eine Offenbarung. Wohl war die Dorfgeschichte nichts Neues mehr. Immermann hatte in seinem »Oberhof« die Thüringer Bauern, Gotthelf, der erste große Realist des 19. Jahrhunderts ,die Schweizer Bauern, Alexander Weill die Elsässer Bauern, der Däne Vlicher die jütländischen Bauern geschildert; aber das waren Erscheinungen geblieben, die nicht das Uebergewicht über den hochtrabenden Adels- und Künstlerroman der damaligen Literaturperiode zu gewinnen vermochten. Auerbachs Erzählungen aber hatten die Frische des Quellwassers, an dem man sich nun nach dem dickblütigen, schwerflüssigen Gebräu der »jungdeutschen« Romane gesund trank. Die Jungdeutschen gefielen sich in einem geistreichen Spiel mit den Emanzipationsideen ihrer Zeit, bewegten sich in einer Sphäre exklusiver Bildung, schwelgten in einem Hautgout der Ueberzivilisation und hatten sich mehr und mehr zu einer Stickluft überreizter Empfindung verstiegen, die die Köpfe verwirrte, den Magen beschwerte. Aber diese Ueberreizung machte es nicht allein. Was Auerbachs Erzählungen sofort Geltung verschaffte, was ihnen vom Augenblick des Erscheinens an zum Welterfolg verhalf, das war wiederum das Vermittelnde, das ihnen innewohnte.

Indem er versuchte, das Leben und Weben der Landleute mit dem der andern Stände in Beziehung zu setzen, die Bauernschaft an der sozialen und politischen Entwicklung der Zeit teilnehmen zu lassen, brachte er das Dorf der Stadt nahe, erweckte er bei dem Städter, bei dem Gebildeten Sympathie mit dem Dörfler, mit dem schlichten, naiven, bildungslosen Bauern, und leitete anderseits aus der derben Kraft des Volksgemüts frische Säfte in das kränkelnde Blut der höheren Welt. Einer in Skeptizismus versinkenden, an Gefühlen verarmenden Zivilisation wies er einen frischen, kernhaften Boden, aus dem noch der Born der Empfindung lebendig und belebend quoll.

Als er die ersten Erzählungen schrieb, für die er, nebenbei bemerkt, nur mit großer Mühe einen Verleger fand, war er sich einer solchen Vermittlung nicht bewußt. Erst der Erfolg und die kritische Beurteilung klärten ihn darüber auf. Und nun ließ sein vermittelnder Eifer ihn in den Fehler verfallen, mehr und mehr Bildung in seine Bauern hineinzulegen, oder, wie die Kritik sich ausdrückte, sie erst sorgfältig Toilette machen zu lassen, damit sie in den Salons vorstellbar wären. Das Quellwasser erhielt einen künstlichen Zusatz, es wurde geschont, Wohl auch ein bißchen gefärbt, aber schmackhaft blieb es bei allem eben doch. Es lag auch ganz und gar in der Natur Auerbachs, daß er der Neigung auf die Dauer nicht widerstehen konnte, in seine Erzählungen allerlei Erläuterungen, Zurechtweisungen, allgemeine Gedanken und Einfälle hineinzuflechten. Diese Kunstmängel entsprangen aus Charaktervorzügen. Er war eine mitteilsame Natur, die stets das Verlangen trug, ihre Schätze auszuteilen, die Mitmenschen mitgenießen zu lassen. Der Drang, zu belehren, war in ihm so übermächtig, daß er es nicht empfand, wie die Redelust schließlich zur Redseligkeit ausartete. Auch die Lesewelt verzieh ihm das. Aus allem, was er sagte, sprach eben immer das lautere, reine Herz, der liebe, gute Mensch, der für das Schöne, Edle und Wahre eintrat. Und als solcher hat er durch seine Schriften Tausende und Abertausende erfreut, gebessert und belehrt, ohne das Gemüt eines Einzigen zu verwunden.

Wie sehr man das anerkannte und ihm dafür Dank wußte, das zeigte sich, abgesehen von dem Ruhm, den er zu Lebzeiten erwarb, von dem Erfolg, der ihm bis zuletzt treu blieb, am schönsten bei seiner Beerdigung (1882). Stadt und Dorf nahm daran teil, alle Schichten des Volkes umstanden seine Bahre, zwei Minister folgten dem Sarge im Auftrag ihrer Regierungen, Hunderte und Aberhunderte gaben ihm das letzte Geleit. An der Gruft sprach Vischer, einer der vier großen Ludwigsburger, die Gedenkrede.

»Hier wolltest du begraben sein.« hieß es darin, »hier in der Heimat, bei dem stillen Dorf, wo deine Wiege stand, wo du als Kind geträumt, als Knabe gespielt hast. Du hast wohlgetan. Denn hier in der traulichen Enge, fern von der lauten, bunten Welt war ja die Heimat deines besten Schaffens, in diesem Elemente floß die vollste Quelle deines wohlverdienten Ruhmes. Hier, wo sich, nach der Natur, menschlich der Mensch noch erzieht, hier ist dein Eigenstes. Hierin tut es dir keiner gleich. So bist du der Schöpfer der lebenswahren Idylle geworden. Du hattest Vorläufer, vereinzelt ist diese Form vor dir dagewesen, aber der Schöpfer heißt, wer eine Form reichlich entwickelt und als bleibende Gattung aufstellt im Saale der Dichtung. Bleibend – so werden auch deine Charaktergestalten bleiben, sie sind ewig, denn sie sind. Hoch, weit, ungehemmt von den Schranken des Raumes und der Zeit geht nun dein Geist durch die Welt. In fernen Tagen wird er noch bei manchem still in deine Blätter vertieften Leser anklopfen, hier im Vaterland und weit hinaus über seine Marken, wird ihm leise die Schulter berühren und ihn grüßen, und er wird innig dankend den Gruß erwidern. Leb wohl. Toter! Sei gegrüßt, Lebendiger!«

Das Wort Vischers wurde nur zum Teil zur Wahrheit. Die Gattung, die Auerbach »modern« gemacht hatte, fand zunächst sehr viele Pfleger. Schon der große Erfolg verlockte zur Nacheiferung. In Melchior Meyr (»Erzählungen aus dem Ries«), Rank (»Aus dem Böhmerwald«), Otto Ludwig (»Heiteretei«) schritt die Dorfgeschichte weiter, bis sie in Anzengrubers »Dorfgängen« einen neuen Aufschwung nahm und in Fritz Reuters »Stromtid« ihren Höhepunkt erreichte. In neuester Zeit ist sie, nachdem kraftvolle Autoren wie Hansjakob, Ganghofer, Rosegger und andere sie mit Vorliebe weitergepflegt hatten, unter der Stichmarke der »Heimatskunst« abermals in große Mode gekommen.

Zu unrecht aber ist dabei die neueste Zeit über Berthold Auerbach hinweggegangen. Es ist etwas in ihm, das bleiben wird, das dem wechselnden Geschmack trotzt: Liebe und Seelenreinheit. Die realistische Literatur glaubt die Nase über ihn rümpfen zu sollen, aber noch ist die Zeit nicht alt genug, um sich ein Urteil anzumaßen, und die Duldung, die Auerbach selbst stets in Fragen des Geschmacks gepredigt hat, die versöhnliche Haltung, aus der er nie herausgetreten ist, sollte auch an ihm nicht vergessen werden. »Denn wenn selbst Deutschland,« schreibt Anton Vettelheim, der Biograph Auerbachs, »so reich an Denkern und Dichtern sein sollte, daß es einen Volksmann von Auerbachs Gaben und Gesinnungen vergessen dürfte, seine Sache kann niemals verdunkelt werden. Sie ist größer als seine Person, unzerstörbarer als seine Werke und sein Nachlaß, mächtiger als eine ganze Zeit, unvergänglicher als ein ganzes Volk. Sie gleicht der messianischen Idee, der nie ganz erfüllten, nie ganz verlorenen Sehnsucht nach dem Reich Gottes auf Erden.«

Arno Holst.

1. Kapitel.

Die Kinder klopfen an.

Eines Morgens früh im Herbstnebel wandern zwei Kinder von sechs bis sieben Jahren, ein Knabe und ein Mädchen, Hand in Hand durch die Gartenwege zum Dorf hinaus. Das Mädchen, merklich älter, hält Schiefertafel, Bücher und Schreibhefte unter dem Arm; der Knabe hat das gleiche in einem offenen grauleinenen Beutel, der ihm über der Schulter hängt. Das Mädchen hat eine Haube von weißem Drill, die fast bis an die Stirne reicht und die weit vorstehende Wölbung der Stirn um so schärfer hervortreten läßt; der Knabe ist barhaupt. Man hört nur einen Schritt, denn der Knabe hat feste Schuhe an, das Mädchen aber ist barfuß. So oft es der Weg gestattet, gehen die Kinder nebeneinander, sind aber die Hecken zu eng, geht das Mädchen immer voraus.

Auf dem falben Laub und an den Sträuchern liegt ein weißer Duft und die Mehlbeeren und Pfaffenhütchen, besonders aber die aufrechtstehenden Hagebutten auf nacktem Stengel sind wie versilbert. Die Sperlinge in den Hecken zwitschern und fliegen in unruhigen Haufen auf beim Herannahen der Kinder und setzen sich wieder nicht weit von ihnen, bis sie von neuem aufschwirren und endlich sich hinein in den Garten werfen, wo sie sich auf einem Apfelbaum niederlassen, daß die Blätter raschelnd niederfallen.

Eine Elster fliegt rasch auf vom Wege, feldein auf den großen Holzbirnenbaum, wo die Raben still hocken; sie muß ihnen etwas mitgeteilt haben, denn die Raben fliegen auf, kreisen um den Baum, und ein Alter läßt sich auf der höchsten schwankenden Kronenspitze nieder und die anderen finden auf den niederen Aesten auch gute Plätze zum Ausschauen; es verlangt sie wohl auch zu wissen, warum die Kinder mit dem Schulzeuge den verkehrten Weg einschlagen und zum Dorfe hinauswandern; ja ein Rabe fliegt wie ein Kundschafter voraus und setzt sich auf eine geköpfte Weide am Weiher. Die Kinder aber gehen still ihres Weges, bis da wo sie am Weiher bei den Erlen die Fahrstraße erreichen, sie gehen über die Straße nach einem jenseits stehenden niedrigen Hause. Das Haus ist verschlossen, und die Kinder stehen an der Haustüre und klopfen leise an. Das Mädchen ruft beherzt: »Vater! Mutter!« und der Knabe ruft zaghaft nach: »Vater! Mutter!« Das Mädchen faßt die bereifte Türklinke und drückt erst leise; die Bretter an der Türe knittern, es horcht auf, aber es folgt nichts nach, und jetzt wagt es in raschen Schlägen die Klinke auf und nieder zu drücken, aber die Töne verhallen in dem öden Hausflur; es antwortet keine Menschenstimme, und, den Mund an den Türspalt gelegt, ruft der Knabe: »Vater! Mutter!« Er schaut fragend auf zur Schwester, sein Hauch an der Türe ist auch zu Reif geworden.

Aus dem nebelbedeckten Dorfe tönt der Taktschlag der Drescher, bald wie rascher sich überstürzender Wirbel, bald langsam und müde sich nachschleppend, bald hell knatternd und wieder dumpf und hohl; jetzt tönen nur noch einzelne Schläge, aber rasch fällt alles wiederum ein von da und dort. Die Kinder stehen wie verloren. Endlich lassen sie ab von Klopfen und Rufen und setzen sich auf ausgegrabene Baumstümpfe. Diese liegen auf einem Haufen rings um den Stamm des Vogelbeerbaums, der an der Seite des Hauses steht und jetzt mit seinen roten Beeren prangt. Die Kinder heften den Blick noch immer auf die Türe, aber diese bleibt verschlossen.

»Die hat der Vater im Moosbrunnenwald geholt,« sagt das Mädchen, auf die Baumstümpfe zeigend, und mit altkluger Miene setzt es hinzu: »die geben gut warm, die sind was wert, da ist viel Kien drin, das brennt wie eine Kerze; aber der Spalterlohn ist das größte dabei.«

»Wenn ich nur schon groß wär',« erwiderte der Knabe, »da nähm' ich des Vaters große Axt und den buchenen Schlägel und die zwei eisernen Speidel und den eschenen und da muß alles auseinander wie Glas, und dann mach' ich draus einen schönen spitzigen Haufen wie der Kohlenbrenner Mathes im Wald, und wenn der Vater heimkommt, der wird sich aber freuen! Darfst ihm aber nicht sagen, wer's gemacht hat.« So schloß der Knabe, indem er den Finger drohend gegen die Schwester aufhob. Diese schien doch schon eine dämmernde Ahnung davon zu haben, daß das Warten auf Vater und Mutter nicht geheuer sein könne, denn sie sah den Bruder von unten auf gar traurig an, und da ihr Blick an den Schuhen haftete, sagte sie: »Dann mußt du auch des Vaters Stiefel haben. Aber komm', wir wollen Bräutle lösen. Wirst sehen, ich kann weiter werfen als du.«

Im Fortgehen sagte das Mädchen: »Ich will dir ein Rätsel aufgeben: Welches Holz macht heiß, ohne daß man's verbrennt?«

»Des Schullehrers Lineal, wenn man Tatzen kriegt,« erwiderte der Knabe.

»Nein, das mein' ich nicht; das Holz, das man spaltet, das macht heiß, ohne daß man's verbrennt.« Und bei der Hecke stehen bleibend, fragte sie: »Es sitzt auf einem Stöckchen, hat ein rotes Röckchen, und das Bäuchlein voll Stein', was mag das sein?«

Der Knabe besann sich ganz ernsthaft und rief: »Halt, du darfst mir's nicht sagen, was es ist ... Das ist ja eine Hagebutte.«

Das Mädchen nickte beifällig und machte ein Gesicht, als ob sie ihm das Rätsel zum erstenmal aufgegeben hätte, während sie es doch schon oft getan hatte und immer wieder aufnahm, um ihn dadurch zu erheitern.

Die Sonne hatte die Nebel zerteilt und das kleine Tal stand in hellglitzernder Pracht als die Kinder nach dem Teiche gingen, um flache Steine auf dem Wasser tanzen zu lassen. Im Vorübergehen drückte das Mädchen nochmals an der Hausklinke, aber sie öffnete sich noch immer nicht und auch am Fenster zeigte sich nichts. Jetzt spielten die Kinder voll Lust und Lachen am Teiche und das Mädchen schien eigentlich zufrieden, daß der Bruder immer geschickter war und darüber triumphierte und ganz hitzig wurde; ja, das Mädchen machte sich offenbar ungeschickter als es wirklich war, denn seine Steine plumpsten fast immer beim ersten Anwürfe in die Tiefe, worüber es weidlich ausgelacht wurde. Im Eifer des Spiels vergaßen die Kinder ganz, wo sie waren und warum sie eigentlich dahergekommen, und doch war beides so traurig als seltsam.

In dem jetzt verschlossenen Hause wohnte noch vor kurzem der Josenhans mit seiner Frau und seinen beiden Kindern Amrei (Anna Marie) und Dami (Damian). Der Vater war Holzhauer im Walde, dabei aber auch anstellig zu allerlei Gewerke, denn das Haus, das er in verwahrlostem Zustand gekauft, hatte er noch selber verputzt und das Dach umgedeckt, im Herbste wollte er's noch von innen frisch ausweißen; der Kalk dazu liegt schon dort in der mit rötlichem Reisig überdeckten Grube. Die Frau war eine der besten Taglöhnerinnen im Dorfe, Tag und Nacht in Leid und Freud' zu allem bei der Hand, denn sie hatte ihre Kinder und besonders die Amrei gut gewöhnt, daß sie schon frühe für sich selber sorgen konnten. Erwerb und haushälterische Genügsamkeit machten das Haus zu einem der glücklichsten im Dorfe. Da warf eine schleichende Krankheit die Mutter nieder, am andern Abend auch den Vater und nach wenigen Tagen trug man zwei Särge aus dem kleinen Hause. Man hatte die Kinder alsbald in das Nachbarhaus zum Kohlenmathes gebracht und sie erfuhren den Tod der Eltern erst, als man sie sonntäglich ankleidete, um hinter den Leichen drein zu gehen.

Der Josenhans und seine Frau hatten keine nahen Verwandten im Ort, und doch hörte man laut weinen und die Verstorbenen rühmen und der Schultheiß führte die beiden Kinder hüben und drüben an der Hand, als sie hinter den Särgen dreingingen. Noch am Grabe waren die Kinder still und harmlos, ja, sie waren fast heiter, wenn sie auch oft nach Vater und Mutter fragten, denn sie aßen beim Schultheiß am Tische und jedermann war überaus freundlich gegen sie, und als sie vom Tische aufstanden, bekamen sie noch Küchle in ein Papier gewickelt zum Mitnehmen. Als am Abend indes, nach Anordnung des Gemeinderats, der Krappenzacher den Dami mitnahm und die schwarze Marann' die Amrei abholte, da wollten sich die Kinder nicht trennen und weinten laut und wollten heim. Der Dami ließ sich bald durch allerlei Vorspiegelungen beschwichtigen, Amrei aber mußte mit Gewalt gezwungen werden, ja, sie ging nicht vom Fleck, und der Großknecht des Schultheißen trug sie endlich auf dem Arm in das Haus der schwarzen Marann'. Dort fand sie zwar ihr Bett aus dem Elternhause, aber sie wollte sich nicht hineinlegen, bis sie, vom Weinen müde, auf dem Boden einschlief und man sie mitsamt den Kleidern ins Bett steckte. Auch den Dami hörte man beim Krappenzacher laut weinen, worauf er dann jämmerlich schrie und bald darauf ward er stille. Die vielverschriene schwarze Marann' bewies aber schon an diesem ersten Abende, wie still bedacht sie für ihren Pflegling war. Sie hatte schon viele, viele Jahre kein Kind mehr in ihrer Umgebung gehabt und jetzt stand sie vor dem schlafenden und sagte fast laut: »Glücklicher Kinderschlaf! Das weint noch und gleich darauf im Umsehen ist es eingeschlafen, ohne Dämmern, ohne Hin- und Herwerfen.«

Sie seufzte schwer.

Am andern Morgen ging Amrei bald zu ihrem Bruder und half ihn ankleiden und tröstete ihn über das, was ihm geschehen war; wenn der Vater käme, werde er den Krappenzacher schon bezahlen. Dann gingen die beiden Kinder hinaus an das elterliche Haus, klopften an die Türe und weinten laut, bis der Kohlenmathes, der in der Nähe wohnte, herzukam und sie in die Schule brachte. Er bat den Lehrer, den Kindern zu erklären, daß ihre Eltern tot seien, er selber wisse ihnen das nicht deutlich zu machen und besonders die Amrei scheine es gar nicht begreifen zu wollen. Der Lehrer tat sein Möglichstes und die Kinder waren ruhig. Aber von der Schule gingen sie doch wieder nach dem Elternhause und warteten dort hungernd wie verirrt, bis man sie abholte.

Das Haus des Josenhans mußte der Hypothekengläubiger wieder an sich ziehen, die Anzahlung, die der Verstorbene darauf gemacht, ging verloren, denn durch die Auswanderungen ist namentlich der Häuserwert beispiellos gesunken; es stehen viele Häuser im Dorfe leer, und so blieb auch das Haus des Josenhans unbewohnt. Alle fahrende Habe war verkauft und daraus ein kleines Besitztum für die Kinder gelöst worden; das reichte aber bei weitem nicht aus, das Kostgeld für sie zu erschwingen, sie waren Kinder der Gemeinde und darum brachte man sie unter bei solchen, die sie am billigsten nahmen.

Amrei verkündete eines Tages mit Jubel ihrem Bruder, sie wisse jetzt, wo die Kuckucksuhr der Eltern sei, der Kohlenmathes habe sie gekauft; und noch am Abend standen die Kinder draußen am Hause und warteten, bis der Kuckuck rief, dann lachten sie einander an.

Und jeden Morgen gingen die Kinder nach dem elterlichen Hause, klopften an und spielten dort am Weiher, wie wir sie heute sehen, aber jetzt horchen sie auf, das ist ein Ruf, den man in dieser Jahreszeit sonst nicht hört, denn der Kuckuck beim Kohlenmathes ruft achtmal.

»Wir müssen in die Schule,« sagte Amrei und wanderte rasch mit ihrem Bruder wiederum den Gartenweg hinein in das Dorf. An der hintern Scheuer des Rodelbauern sagte Dami: »Bei unserm Pfleger haben sie heute schon viel gedroschen.« Er deutete dabei auf die Wieden der abgedroschenen Garben, die wie Merkzeichen über dem Halbtore der Scheune hingen. Amrei nickte still.

2. Kapitel

Die ferne Seele.

Der Rodelbauer, dessen Haus mit dem rotangestrichenen Gebälke und einem frommen Spruche in einer großen Herzform nicht weit vom Haufe des Josenhans war, hatte sich vom Gemeinderat zum Pfleger der verwaisten Kinder ernennen lassen. Er weigerte das um so weniger, da Josenhans vordem als Anderknecht bei ihm gedient hatte. Seine Pflegschaft bestand aber in weiter nichts, als daß er die unverkauften Kleider des Vaters aufbewahrte und manchmal, wenn er einem der Kinder begegnete, im Vorübergehen fragte: »bist brav?« und ohne die Antwort abzuwarten, weiter schritt. Dennoch war in den Kindern ein seltsamer Stolz, da sie erfuhren, daß der Großbauer ihr Pfleger sei; sie kamen sich dadurch als etwas ganz Besonderes, fast Fürnehmes vor. Sie standen oft abseits bei dem großen Hause und schauten verlangend hinauf, als erwarteten sie etwas und wußten nicht was, und bei den Eggen und Pflügen neben der Scheune saßen sie oft und lasen immer wieder den Bibelspruch am Hause. Das Haus redete noch mit ihnen, wenn auch sonst niemand.

Es war am Sonntag vor Allerseelen, als die Kinder wiederum vor dem verschlossenen Elternhause spielten – sie waren wie an den Ort gebannt – da kam die Landfriedbäuerin den Hochdorfer Weg herein; sie trug einen großen roten Regenschirm unterm Arm und ein schwarzes Gesangbuch in der Hand. Sie machte ihren letzten Besuch in ihrem Geburtsorte, denn schon gestern hatte der Knecht auf einem vierspännigen Wagen den gesamten Hausrat zum Dorfe hinausgeführt und morgen in der Frühe wollte sie mit ihrem Manne und ihren drei Kindern auf das neugekaufte Gut im fernen Allgäu ziehen. Schon von weitem bei der Hanfbreche nickte die Landfriedbäuerin den Kindern zu, denn Kinder sind ein guter »Angang« – so nennt man die erste Begegnung – aber die Kinder konnten nichts davon sehen, so wenig als von den wehmutsvollen Mienen der Bäuerin. Als sie jetzt bei den Kindern stand, sagte sie: »Grüß Gott, Kinder! Was tut denn ihr schon da? Wem gehört ihr?«

»Dem Josenhans da,« antwortete Amrei, auf das Haus deutend.

»O, ihr armen Kinder,« rief die Bäuerin, die Hände zusammenschlagend. »Dich hätte ich kennen sollen, Mädle, gerad so hat deine Mutter ausgesehen, wie sie mit mir in die Schul' gangen ist. Wir sind gute Kamrädinnen gewesen und euer Vater hat ja bei meinem Vetter, dem Rodelbauern, gedient. Ich weiß alles von euch. Aber sag', Amrei, warum hast du keine Schuhe an? Du kannst ja krank werden bei dem Wetter. Sag' der Marann', die Landfriedbäuerin von Hochdorf ließe ihr sagen, es sei nicht brav, daß sie dich so herumlaufen läßt. Nein, brauchst nichts sagen, ich will schon selber mit ihr reden. Aber Amrei, du mußt jetzt groß und gescheit sein und selber auf dich achtgeben. Denk' daran, wenn das deine Mutter wüßt', daß du in solcher Jahreszeit so barfuß herumläufst.« Das Kind schaute die Bäuerin groß an, als wollte es sagen: weiß denn die Mutter nichts davon? Die Bäuerin aber fuhr fort: »Das ist noch das Aergste. daß ihr nicht einmal wissen könnt, was für rechtschaffene Eltern ihr gehabt; drum müssen's euch ältere Leute sagen. Denket daran, daß ihr euren Eltern erst die rechte Seligkeit gebt, wenn sie im Himmel droben hören, wie hier unten die Menschen sagen: des Josenhansen Kinder, die sind die Probe von allem Guten, da sieht man recht deutlich den Segen der rechtschaffenen Eltern.«

Rasche Tränen rannen bei diesen letzten Worten der Bäuerin von den Wangen. Die schmerzliche Rührung in ihrer Seele, die noch einen ganz andern Grund hatte, brach jetzt bei diesen Gedanken und Worten unaufhaltsam hervor, und Eigenes und Fremdes floß ineinander. Sie legte ihre Hand auf das Haupt des Mädchens, das im Anblicke der weinenden Frau auch heftig zu weinen begann; es mochte fühlen, wie sich eine gute Seele ihm zuwendete, und eine dämmernde Ahnung, daß es wirklich seine Eltern verloren, begann ihm aufzugehen.

Das Angesicht der Frau leuchtete plötzlich. Sie richtete das Auge, in dem noch Tränen hingen, zum Himmel auf und sagte: »Guter Gott, das schickst du mir.« Dann fuhr sie, zu dem Kinde gewendet, fort: »Horch, ich will dich mitnehmen. Meine Lisbeth ist mir in deinem Alter genommen worden. Sag', willst du mit mir ins Allgäu gehen und bei mir bleiben?«

»Ja,« sagte Amrei entschlossen.

Da fühlte sie sich von hinten angefaßt und geschlagen.

»Du darfst nicht,« rief Dami, der sie umfaßte; sein ganzes Wesen zitterte.

»Sei stet,« beruhigte Amrei, »die gute Frau nimmt dich ja auch mit. Nicht wahr, mein Dami geht auch mit uns?«

»Nein, Kind, das geht nicht, ich hab' Buben genug.«

»Dann bleib' ich auch da,« sagte Amrei und faßte ihren Bruder bei der Hand.

Es gibt einen Schauder, in dem Fieber und Frost sich streiten, Freude an der Tat und Furcht vor ihr. So war die fremde Frau in sich zusammengeschauert und jetzt sah sie mit einer Art von Erleichterung auf das Kind. In überwallender Empfindung, vom reinsten Zuge des Wohltuns erfaßt, hatte sie eine Tat und eine Verpflichtung auf sich nehmen wollen, deren Schwere und Bedeutung sie nicht sattsam überlegt hatte, und namentlich wie ihr Mann, ohne vorher gefragt zu sein, das aufnehmen werde. Als jetzt das Kind selber sich weigerte, trat eine Ernüchterung ein und alles ward ihr rasch klar; darum ging sie mit einer gewissen Erleichterung schnell auf die Abwehr ihres Unternehmens ein. Sie hatte ihrem Herzen genügt, indem sie die Tat tun wollte, und jetzt, da sich Hindernisse entgegenstellten, hatte sie eine Art Befriedigung, daß sie unterblieb, ohne daß sie selbst ihr Wort zurücknahm.

»Wie du willst.« sagte die Bäuerin. »Ich will dich nicht überreden. Wer weiß, vielleicht ist es besser so. daß du zuerst groß wirst. In der Jugend Not ertragen lernen, das tut gut, das Bessere nimmt sich leicht an; wer noch etwas Rechtes geworden ist. hat in der Jugend Schweres erfahren müssen. Sei nur brav. Aber das behalt' im Andenken, daß du allzeit, wenn du brav bist, um deiner Eltern willen, eine Unterkunft bei mir haben sollst, so lange mir Gott das Leben läßt. Denk' daran, daß du nicht verlassen bist auf der Welt, wenn dir's übel geht. Merk' dir nur die Landfriedbäuerin in Zusmarshofen im Allgäu. Und noch eins. Sag' im Dorf nichts davon, daß ich dich habe annehmen wollen; es ist auch wegen der Leute, sie werden dir's übelnehmen, daß du nicht mitgegangen bist. Aber es ist schon gut so. Wart', ich will dir noch was geben, daß du an mich denkst.« Sie suchte in den Taschen, aber plötzlich fuhr sie sich an den Hals und sagte: »Nein, nimm nur das.« Sie hauchte sich mehrmals in die steifen Finger, bis sie es zustande brachte, denn sie nestelte eine fünfreihige Granatschnur, daran ein gehenkelter Schwedendukaten hing, vom Halse und schlang das Geschmeide um den Hals des Kindes, wobei sie es küßte. Amrei sah wie verzaubert drein unter all diesen Hantierungen. »Für dich hab' ich leider nichts.« sagte die Frau zu Dami, der eine Gerte, die er in der Hand hatte, in immer kleinere Stücke zerbrach, »aber ich schicke dir ein Paar lederne Hosen von meinem Johannes, sie sind noch ganz gut. Du kannst sie tragen, wenn du größer bist. Jetzt b'hüt euch Gott, ihr lieben Kinder. Wenn's möglich ist, komme ich noch zu dir, Amrei. Schicke mir jedenfalls nach der Kirche die Marann'. Bleibet brav und betet fleißig für eure Eltern in der Ewigkeit und vergesset nicht, daß ihr im Himmel und auf Erden noch Annehmer habt.«

Die Bäuerin, die zum behenden Gang ihren Oberrock in Zwickel aufgesteckt hatte, ließ ihn jetzt beim Eingang des Dorfes herab; mit raschen Schritten ging sie das Dorf hinein und wendete sich nicht mehr um.

Amrei faßte sich an den Hals, beugte das Gesicht nieder und wollte die Denkmünze betrachten, aber es gelang ihr nicht ganz. Dami kaute an dem letzten Stück seiner Gerte, und als ihn jetzt die Schwester betrachtete und Tränen in seinen Augen sah, sagte sie:

»Wirst sehen, du kriegst das schönste Paar Hosen im Dorf.«

»Und ich nehm' sie nicht,« sagte Dami und spie dabei ein Stück Holz aus.

»Ich will ihr schon sagen, daß sie dir auch ein Messer kaufen muß. Ich bleib' heut' den ganzen Tag daheim, sie kommt ja noch zu uns.«

»Ja, wenn sie schon da wär'!« entgegnete Dami, ohne zu wissen, was er sagte; nur sein Zorn und das Gefühl der Zurücksetzung hatte ihm diesen mißtrauischen Vorwurf eingegeben.

Es läutete schon zum erstenmal, die Kinder eilten ins Dorf zurück. Amrei übergab mit kurzem Berichte den neugewonnenen Schmuck der Marann', und diese sagte:

»Du bist ja ein Glückskind! Ich will dir's gut aufheben. Jetzt hurtig in die Kirche.«

Während des Gottesdienstes sahen die beiden Kinder immer nach der Landfriedbäuerin und beim Ausgange warteten sie an der Türe, aber die vornehme Bäuerin war mit so vielen Menschen umringt, die alle in sie hineinredeten, daß sie sich immer im Kreise drehen mußte, um bald da, bald dort zu antworten. Für den wartenden Blick der Kinder und deren ständiges Nicken fand sie keine Aufmerksamkeit.

Die Landfriedbäuerin hatte das jüngste Töchterchen des Rodelbauern, die Rosel, an der Hand; sie war um ein Jahr älter als Amrei, und diese stieß in der Entfernung immer vor sich hin, als müßte sie die Zudringliche, die ihren Platz einnahm, wegdrängen. Oder hatte die vornehme Bäuerin nur ein Auge für Amrei draußen beim letzten Hause in der Einsamkeit, aber mitten unter den Menschen kannte sie sie nicht? Gelten da nur die Kinder reicher Leute, die Kinder der Verwandten? Amrei erschrak, als sie diesen leise sich regenden Gedanken plötzlich laut hörte, denn Dami sprach ihn aus; aber während sie mit dem Bruder in ziemlicher Entfernung dem großen Trupp folgte, der die Landfriedbäuerin umgab, suchte sie dem Bruder und wohl damit auch sich den bösen Gedanken auszureden. Die Landfriedbäuerin verschwand endlich in dem Hause des Rodelbauern und die Kinder kehrten still zurück, wobei Dami plötzlich sagte:

»Wenn sie zu dir kommt, sag' nur auch, daß sie auch zum Krappenzacher gehen muß und ihm sagen, daß er gut gegen mich sein soll.«

Amrei nickte und die Kinder trennten sich, ein jedes ging nach dem Hause, wo es Unterkunft gefunden hatte.

Die Nebel, die sich am Morgen verzogen hatten, kamen am Mittag als voller Regenguß hernieder.

Der große rote Regenschirm der Landfriedbäuerin bewegte sich aufgespannt hin und her im Dorfe und man sah die Gestalt kaum, die darunter war. Die schwarze Marann' hatte die Landfriedbäuerin nicht getroffen und sagte bei der Heimkunft: »Sie kann ja auch zu mir kommen, ich will nichts von ihr.« Die beiden Kinder wanderten wieder hinaus nach dem elterlichen Hause und saßen dort zusammengekauert auf der Türschwelle und redeten fast kein Wort. Wieder schien es ihnen zu ahnen, daß die Eltern doch nicht wiederkämen, und Dami wollte zählen, wieviel Tropfen von der Dachtraufe fielen; aber es ging ihm allzu schnell und er machte sich's leicht und schrie auf einmal: »tausend Millionen!«

»Da muß sie vorbei, wenn sie heimgeht,« sagte Amrei, »und da rufen wir sie an; schrei nur auch recht mit, und dann wollen wir schon weiter mit ihr reden.« So sagte Amrei, denn die Kinder warteten hier noch auf die Landfriedbäuerin.

Es klatschte eine Peitsche im Dorfe. Man hörte jenes nachspritzende Pferdegetrapp im aufgeweichten Wege und ein Wagen rollte herbei.

»Wirst sehen, der Vater und die Mutter kommen in einer Kutsche und holen uns,« rief Dami.

Amrei schaute traurig nach ihrem Bruder um und sagte: »Schwätz nicht so viel.« Als sie sich umwendete, war der Wagen ganz nahe, es winkte jemand von demselben unter einem roten Regenschirm hervor, und fort rollte das Gefährte, und nur der Spitz des Kohlenmathes bellte ihm eine Weile nach und tat, als wollte er mit seinen Zähnen die Speichen aufhalten; aber am Weiher kehrte er wieder zurück, bellte unter der Haustüre noch einmal hinaus und schlüpfte dann ins Haus.

»Heidi! fort ist sie!« sagte Dami wie triumphierend; es war ja die Landfriedbäuerin. »Hast des Rodelbauern Rappen nicht gekannt? Die haben sie davongeführt. Vergiß meine ledernen Hosen nicht!« schrie er noch laut mit aller Kraft seiner Stimme, obgleich der Wagen bereits im Tale verschwunden war und jetzt schon die kleine Anhöhe am Holderwasen hinaufkroch.

Die Kinder kehrten still ins Dorf zurück.

Wer weiß, wie dies Ereignis eine feine Wurzel im innern Dasein bildet und was daraus aufsprossen wird?

Zunächst deckt ein anderes Gefühl dasjenige der ersten schweren Täuschung zu.

3. Kapitel.

Vom Baum am Elternhause.

Am Tage vor Allerseelen sagte die schwarze Marann' zu den Kindern:

»Jetzt holt ordentlich Vogelbeeren, morgen brauchen wir sie auf dem Kirchhof.«

»Ich weiß wo, ich kann holen,« sagte Dami mit einer wahrhaft gierigen Freude und rannte zum Dorf hinaus, daß ihn Amrei kaum erreichen konnte, und als sie am elterlichen Hause ankam, war er schon oben auf dem Baume und neckte stolz, sie solle auch heraufkommen; weil er wußte, daß sie das nicht könne. Er pflückte nun die roten Beeren und warf sie hinab in die Schürze der Schwester. Sie bat ihn, er möge auch die Stiele mit abpflücken, sie wolle einen Kranz machen. Er sagte: »Das tu' ich nicht!« Und doch kam fortan keine Beere ohne Stiel mehr herunter.

»Horch, wie die Spatzen schelten,« rief Dami vom Baume, »die ärgern sich, daß ich ihnen ihr Futter wegnehme.« Und als er endlich alles abgepflückt hatte, sagte er: »Ich gehe nicht mehr herunter, ich bleib' da oben Tag und Nacht, bis ich tot herunter falle, und komme gar nicht mehr zu dir, wenn du mir nicht was versprichst.«

»Was denn?«

»Daß du deinen Anhenker von der Landfriedbäuerin nie trägst, so lange ich's sehe; versprichst du mir das?«

»Nein!«

»So komm' ich nicht mehr herunter!«

»Meinetwegen,« sagte Amrei und ging mit den Vogelbeeren davon. Sie setzte sich aber nicht weit entfernt hinter einen Holzstoß, wand einen Kranz und schielte dabei immer hinaus, ob Dami nicht endlich käme. Sie setzte sich den Kranz auf und plötzlich überfiel sie eine unnennbare Angst wegen Dami. Sie rannte zurück, Dami saß rittlings auf einem Aste an den Stamm zurückgelehnt und die Arme übereinandergeschlagen.

»Komm herunter, ich verspreche dir, was du willst,« rief Amrei und im Nu war Dami bei ihr auf dem Boden.

Zu Hause schalt die schwarze Marann' über das alberne Kind, das sich aus den Beeren, die man zum Grabe der Eltern brauche, einen Kranz gemacht habe. Sie zerriß denselben schnell und sprach dabei einige unverständliche Worte; dann nahm sie beide Kinder an der Hand und führte sie hinaus nach dem Kirchhof. Wo zwei Erdhaufen nahe aneinander waren, sagte sie:

»Da sind eure Eltern.« Die Kinder sahen sich staunend an. Die Marann' machte nun mit einem Stocke Furchen in Kreuzesform auf den Gräbern und wies die Kinder an, die Beeren da herein zu stecken. Dami war behend dabei und triumphierte, da er mit seinem roten Kreuze früher fertig war als die Schwester. Amrei schaute ihn nur groß an und erwiderte nichts, und erst als Dami sagte: »das wird den Vater freuen,« schlug sie ihn hinterrücks und sagte: »Sei still!« Dami weinte, vielleicht ärger, als es ihm ernst war; da rief Amrei laut: »Um Gottes willen verzeih mir, verzeih mir, daß ich dir das getan hab'; gelt. Dami, ich hab' dir nicht weh getan? Kannst dich drauf verlassen, es geschieht nie mehr, so lang ich lebe, nie mehr, nie. O, Mutter, o, Vater, ich will brav sein, ich versprech's euch; o, Mutter, o, Vater!« – Sie konnte nicht weiter reden, aber sie weinte nicht laut, nur sah man, es gab ihr einen Herzstoß nach dem andern, und erst als die schwarze Marann' laut weinte, weinte Amrei mit ihr.

Sie gingen heim, und als Dami »gute Nacht« sagte, raunte ihm Amrei leise ins Ohr: »Jetzt weiß ich's, wir sehen unsere Eltern nie mehr auf dieser Welt;« aber noch in dieser Mitteilung lag eine gewisse kindische Freude, ein Kinderstolz, der sich damit brüstet, etwas zu wissen, und doch war in der Seele dieses Kindes etwas aufgetaucht vom Bewußtsein jenes auf ewig abgeschnittenen Zusammenhanges mit dem Leben, das sich auftut im Gedanken der Elternlosigkeit.

Wenn der Tod die Lippen geschlossen, die dich Kind nennen mußten, ist dir ein Lebensatem verschwunden, der nimmer wiederkehrt.

Noch als die schwarze Marann' bei Amrei am Bette saß, sagte diese: »Ich mein', ich fall' und fall' jetzt immerfort, lasset mir nur Eure Hand;« und sie hielt die Hand fest und begann zu schlummern, aber so oft sie die schwarze Marann' zurückziehen wollte, haschte sie wieder danach. Die Marann' verstand, was das Gefühl vom endlosen Fallen bei dem Kinde zu bedeuten hatte: das ist ja beim Innewerden vom Tode der Eltern, als schwebe man im Wurfe, man weiß nicht woher und weiß nicht wohin. Erst spät gegen Mitternacht konnte die schwarze Marann' das Bett des Kindes verlassen, nachdem sie ihre gewohnten zwölf Vaterunser wer weiß zum wievielten Mal wiederholt hatte.

Ein strenger Trotz lag auf dem Gesicht des schlafenden Kindes. Es hatte die eine Hand auf die Brust gelegt, die schwarze Marann' hob sie ihm leise weg und sagte halblaut vor sich hin:

»Wenn nur immer ein Auge, das über dich wacht, und eine Hand, die dir helfen will, so wie jetzt im Schlafe, ohne daß du es weißt, dir die Schwere vom Herzen nehmen könnte! Das kann aber kein Mensch, das kann nur Er ... Tu du meinem Kinde in der Fremde, was ich diesem da tue.«

Die schwarze Marann' war eine »geschiechene« Frau, das heißt die Leute fürchteten sich fast vor ihr, so herb erschien sie in ihrem Wesen. Sie hatte bald vor achtzehn Jahren ihren Mann verloren, der bei einem räuberischen Anfall, den er mit Genossen auf den Eilwagen gemacht hatte, erschossen worden war. Die Marann' trug ein Kind unter dem Herzen, als die Leiche ihres Mannes mit dem schwarzberußten Gesichte ins Dorf gebracht wurde; aber sie faßte sich und wusch dem Toten das Gesicht rein, als könnte sie auch damit seine schwarze Schuld abwaschen. Drei Töchter starben ihr, und nur das Kind, das sie damals unter dem Herzen trug, war noch am Leben. Es war ein schmucker Bursch geworden, wenn auch mit seltsam schwärzlichem Gesichte, und er war jetzt als Maurergesell in der Fremde. Denn von der Zeit Brosis her, und namentlich seitdem dessen Sohn Severin sich mit dem Steinhammer zu so hohen Ehrenstellen hinaufgearbeitet, hatte sich ein großer Teil des Nachwuchses im Dorfe dem Maurerhandwerk gewidmet. Unter den Kindern war allezeit von Severin die Rede, wie von dem Prinzen im Märchen. So war auch das einzige Kind der schwarzen Marann' trotz ihrer Widerrede Maurer geworden und jetzt auf der Wanderschaft, und sie, die ihr Lebenlang nicht aus dem Dorfe gekommen war und auch kein Verlangen hatte, hinauszukommen, sagte manchmal, sie komme sich vor wie eine Henne, die eine Ente ausgebrütet; aber sie gluckste fast immer in sich hinein.

Man sollte es kaum glauben, daß die schwarze Marann' eine der heitersten Personen im Dorfe war; man sah sie nie traurig, sie gönnte es den Menschen nicht, daß sie Mitleid mit ihr haben sollten. Und darum war sie ihnen unheimlich. Sie war im Winter die fleißigste Spinnerin, so daß sie noch einen guten Teil davon verkaufen konnte, und »mein Johannes,« – so hieß ihr noch lebender Sohn – »mein Johannes,« hörte man in jeder ihrer Reden. Die kleine Amrei hatte sie, wie sie sagte, nicht aus Gutmütigkeit zu sich genommen, sondern nur weil sie ein lebendiges Wesen um sich haben wollte. Sie tat gern recht rauh vor den Leuten und genoß dabei um so mehr den Stolz eines heimlichen Rechtes.

Der gerade Gegensatz zu ihr war der Krappenzacher, bei dem Dami ein Unterkommen gefunden; der stellte sich draußen vor der Welt gern als der gutmütigste Allesverschenker, im Geheimen aber knuffte und mißhandelte er seine Angehörigen und besonders den Dami, für den er nur geringes Kostgeld erhielt. Er hieß eigentlich Zacharias und hatte seinen Spitznamen davon, weil er einst seiner Frau ein Paar fein hergerichtete Tauben als Braten heimgebracht hatte; es waren dies aber ein Paar gerupfte Raben, hierzulande Krappen genannt. Der Krappenzacher, der einen Stelzfuß hatte, verbrachte seine meiste Zeit damit, daß er wollene Strümpfe und Jacken strickte, und so saß er mit seinem Strickzeug überall im Dorfe herum, wo es was zu plaudern gab, und dieses Geplauder, wobei er allerlei hörte, diente ihm zu sehr einträglichen Nebengeschäften. Er war der sogenannte Heiratsmacher in der Gegend, denn namentlich da, wo sich noch die großen geschlossenen Güter finden, geschehen die Heiraten in der Regel durch Vermittler, die die entsprechenden Vermögensverhältnisse genau auskundschaften und alles vorher bestimmen. Wenn dann eine solche Heirat zustande gebracht war, spielte der Krappenzacher noch bei der Hochzeit die Geige auf, denn darin war er ein landeskundiger Meister. Er verstand aber auch Klarinette und das Horn zu blasen, wenn ihm die Hände vom Geigen müde waren. Er war eben ein Allerweltsmensch.

Das weinerliche und empfindliche Wesen Damis war dem Krappenzacher höchst zuwider und er wollte es ihm damit austreiben, daß er ihn recht viel weinen machte und ihn neckte, wo er nur konnte.

So waren die beiden Stämmchen, aus demselben Boden gewachsen, in verschiedenes Erdreich verpflanzt. Standort und Bodensaft und die eigene Natur, die sie in sich trugen, ließen sie verschiedenartig gedeihen.