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Titel

Ulla Lenze

Der kleine Rest des Todes

Roman

1

Wie uns die Nachmittagssonne im Nacken saß, als wir durch die Häuserschlucht gingen, unseren wegspringenden Schatten hinterher. Leander legte seine Hand in meinen Rücken, ich suchte den Schlüssel. Mein Vater kam am Flugplatz an, ging zur Luftaufsicht im Tower. Dann zum Hangar, umrundete die kleine Maschine einmal zur Kontrolle und stieg ein. Leander setzte sich nicht, stand herum, ließ sich küssen.

Davon könnte ich Beatrice erzählen.

An diesem kalten Frühlingstag, fünf Tage später.

Aber wir schweigen und husten. Wir husten einander zu wie bellende Hunde nachts über die Dörfer hinweg. Das ist, ein brachliegendes Feld lang, unsere ganze Unterhaltung. In den Pfützen steht der Himmel. Wenn ich den Blick hebe, sehe ich meinen Vater. Er hat das Gehöft schon erreicht. Er hinkt ein bisschen, das war eine Angewohnheit nur, eine Respektbezeigung dem Altsein gegenüber. War. Ich bin diese neue Grammatik noch nicht gewohnt. Mein Handy gluckert mir eine Nachricht in die Jackentasche.

Alles so weit in Ordnung?, fragt Arndt. Nein, schreibe ich zurück. Dann noch eine Nachricht: Nie. Dann eine dritte: Nie wieder. Er antwortet auf jede. Ich überfliege das nur. Denke, wenn nur eine von Leander wäre. Schrieb ihm doch: Mein Vater ist tot. Schrieb ihm vor drei Tagen eine Mail, und jetzt versuche ich mich zu erinnern, sagte er Kairo oder Paris, die Konferenz. Er wollte, wenn er zurück ist, sich melden. Das war neu.

Ockerfarbener Hund. Er bellt, läuft auf uns zu, und eine Kette reißt ihn hoch.

»Unsere Wachhunde waren immer ohne Kette«, sagt Beatrice. Ein Silberring an ihrer Oberlippe hüpft auf ihren Worten. Früher waren wir gleich groß. Ein Turm aus verfilzten Zöpfen schummelt sie in die Höhe. Ich müsste etwas erwidern, aber mir fallen nur die Namen der Hofhunde damals ein: Asta, Anna, Adele. Alle mit A. Wie mein Name.

Beatrice dreht sich eine Zigarette, wird langsamer, ich hänge sie ab. Aber ihr Geruch kommt mit: nach Dieselmotor und etwas Gärendem, wie Müll, stehen gelassen. Der alte Postbus, in dem sie lebt, wohl ein Geruchsfänger, ein Stau aus Leben.

Ich erreiche die Rückfront des Hofes. Der Wind fährt in die Kastanien, und ich kann hören, dass die Blätter nass sind. Mein Vater geht wieder vor mir her. Wie viele Bilder habe ich von ihm gut? Das hier bereits ein kleiner Film. Ein Film wie dieser verwackelte Handyclip in den Nachrichten, der für alle, die vor dem Fernseher saßen, seine letzten Sekunden festhielt. Die haben sie mir voraus. Auch Beatrice. Es sei laut gewesen. Ein schreckliches Motorendröhnen. Inzwischen auf YouTube, das weiß ich von Arndt.

Eine Hand fasst nach meiner Schulter.

»Umgeknickt?«, spricht Beatrice mir in den Nacken.

Ich bleibe stehen.

»Du humpelst«, erklärt sie.

Ich schaue sie stumm an. Ein Netz aus Regentröpfchen glitzert auf ihren Dreads und auf ihrer Wolljacke, und nun spüre ich den Regen auch in meinem Gesicht.

»Wir werden nass«, sage ich.

»Man müsste woanders hin«, sagt sie und zieht mich an der Hand den kleinen Hang abwärts zur Mauer.

Ich weiß, was sie vorhat. Sie will in den Garten. Über das Wasserrohr sind wir damals hoch und dann an einer Leiter hinab in den ummauerten Holundergarten zwischen Kuhstall und Scheune. Holunder, nichts als Holunder, bis wir ihn eines Tages ausgruben, um einen Ziergarten anzulegen, für den es zu dunkel war.

Beatrice ist bereits oben. Die Leiter sei weg. »Spring!«, rufe ich zurück, und sie springt tatsächlich. Und mein Körper schmiegt sich in die Erinnerung hinein, meine Hände, Knie und Füße wissen, wie man da hochkommt, leichter ist es jetzt, weil wir größer sind, und die Erinnerung drückt sich mit dem rauen Stein in die Finger. Ich könnte weinen, als ich oben bin, weinen, und denke, nicht jetzt. Jemand geht und ein anderer kommt und das ist die Kindheit. Der Holunder ist zurück. Papierene, borstige Stämme, zipfelige Blätter.

Beatrice kämpft sich durch den Holunder zum Mauertor vor, drückt mit den Händen ein Vierteljahrhundert beiseite; wie viel von uns ist noch hier, in dieser regenwurmschweren Erde, eine schwarze Erde mit Fettglanz, eine Erde, in die wir unsere Blicke versenkt haben und uns selbst, auf komplizierte, zähe Wurzelnetze starrend, Wurzelsysteme aushebelnd mit dem Spaten, das leichte Knacken, wenn die Fasern brachen, wenn wir stärker waren schließlich, der Sieg über etwas, das uns sowieso nichts anhaben konnte.

Ich springe ihr nach, ich lande zwischen zwei hohen Sträuchern. Sie nicken mir mit ihren tausend Blättern zu. Ich lasse mich auf die schwarze Erde nieder. Ich brauche Zeit. Beatrice höre ich nicht mehr, ich kann mich wegschleichen von allem.

Doch dann ihr Husten gleich neben mir. Sie sagt etwas, und sie sagt es noch einmal: »Das Tor ist verriegelt. Wir kommen nicht in die Scheune. Und ohne Leiter kommen wir hier auch nicht so leicht raus.«

Sie geht in die Hocke. Sie will noch mehr sagen. Meine Mutter, als ich am dritten Tag nach seinem Tod noch immer im selben Hemd vor ihr stehe, weil ich kein anderes habe: Ariane, du riechst ein bisschen. Aber ich habe nichts mitgenommen, mir war nicht klar, dass ich so lange bleiben würde.

»Wisst ihr eigentlich, wie es passiert ist?«

»Nein.«

Ein Nein, das plötzlich ihr gilt, nicht die Antwort ist, auch wenn wir tatsächlich nichts wissen, immer noch nicht, und vielleicht nie.

»Wieso wisst ihr nichts?«

»Das weiß ich nicht.«

Ich sehe meine Schwester vor mir, mit einer Miene wie meine nun, am Bahnsteig vor fünf Tagen, streng und unwillig, ein Gefühl zu zeigen. Und das mit meinem Vater wurde zu etwas, über das man in der Zeitung lesen kann. Ein Fall unter anderen tragischen Fällen. Und er selbst würde sich die Augen reiben, verlegen den Kopf schütteln, verdattert, so stelle ich mir jetzt vor, was sich nicht vorstellen lässt, weil es das nicht gibt, ein für immer Abwesender mit Selbstkommentaren. Halte das mal aus, denke ich, vielleicht macht meine Schwester es sogar richtig, wenn sie stattdessen schweigt oder Witze macht und ihre Gespräche mit Polizei, Gerichtsmedizin und Bestattungsunternehmer wie eine Geschäftsfrau absolviert, so schwungvoll, dass nichts an ihrer Stimme erkennen lässt, um was es hier tatsächlich geht.

Beatrice streicht mit der Hand meinen Arm entlang, schiebt mir ein Frösteln in den Körper. »In Ordnung«, sagt sie, geht ein paar Schritte in den Holunder und dreht sich eine Zigarette.

»Gib mir auch eine!«, rufe ich und mache mir Angst mit diesem psychopathischen Quietschen in der Stimme. Sie reicht mir ihre. Rauchend stehen wir im Regen. In einer Vergangenheit, die nur wir zwei haben. Das nehm ich ihr übel. Sie kennt mich gar nicht. Wir haben uns seit dem Abitur nicht mehr gesehen.

»Wenn du nicht reden willst, okay. Hey.« Ihre Hand rüttelt an mir, fast unsanft.

»Hey, Mensch hey Beatrice, ja, hey.« Es rutscht mir so raus.

»Ari, gib mir eine Chance.«

»Wie bitte?«, frage ich.

»Wie bitte?«, äfft sie nun mich nach und schweigt erschrocken. Erde, Landluft, Regen. Ich zähle auf, was ich weiß über die Welt in diesem Moment. Die Erde steigt zu mir hoch in pilzig-torfigem Geruch. Bei jedem Zigarettenzug fallen Beatrices Wangen ein, das Gesicht wird schmal, der Mund spitz. Gleich hinter dem Schultor die Raucher, sie und die Clique, zu der ich nie gehörte. Da war es längst vorbei mit uns, als sie das Rauchen und Knutschen begann.

»Wenn du mir vielleicht Räuberleiter machst? Dann komme ich durch den Innenhof zurück und befreie dich!«

Sie zeigt zur Mauer. Ich spüre ihre kalten Schuhsohlen in meinen Händen, während der Regen mir in den Kragen läuft, und dann, wie Beatrice die Kante erwischt, sich hochzieht, ihr Gewicht endlich aus mir flieht. Sie streckt mir ihre Hände entgegen. Ich greife danach. Sie ist zu leicht. Ich könnte sie von der Mauer reißen, würde ich ihr mein Gewicht anvertrauen.

2

Zuletzt, wenn wir uns auf dem Bahnsteig des alten, in Brombeerhecken ertrinkenden Bahnhofs umarmten, wenn mit schrillem Bremsgeräusch die Regionalbahn einfuhr, habe ich mir meinen Vater dabei einzuprägen versucht, habe mit einer mich selbst beschämenden Wachheit seinen Körper gefühlt, in sein Lächeln gesehen, während wir sagten: »Mach’s gut, komm gut nach Hause, grüß deine Katze«, »Grüß Mama noch mal von mir«, »Jetzt musst du dich aber beeilen, hast du schon die Fahrkarte entwertet?«, »Muss ich doch nicht, Papa, der Automat macht das automatisch«; und wie ich dann die hohe Stufe nehme in den Zug hinein, noch einmal winke bei geöffneter Tür, dann bei geschlossener Tür, dann noch einmal durchs Fenster, so dass er sieht, ich habe einen Sitzplatz gefunden. Winken, bis der Zug anfährt und mein Vater weggezogen wird aus dem Bild. Es schien längst kein Bahnsteig mehr, sondern ein Ort für Abschied, den letzten.

Er wusste nichts von meinen Gedanken. Aber die Vision stimmte. Hier haben wir uns zum letzten Mal gesehen.

Beatrice ist schon zu lange weg. Es ist doch nur der Weg um das Gehöft herum zurück zur Einfahrt und dann über den Innenhof zum Mauertor. Ihre Mutter wollte nie eine Bäuerin sein. Sie kleidete Beatrice in schöne, teure Sachen, schöner als meine, und ließ sie von Modelagenturen buchen, über Laufstege hüpfen, fröhlich hüpfen mussten die Kinder. Und jetzt ist sie ein weißer Engel. Eine jener lebenden Statuen, an denen ich immer vorbeilaufe, die in ihrer provozierenden Reglosigkeit und ihren übertriebenen Gesichtsausdrücken dieses schleimige Spiel entfalten, das noch zehn Schaufenster später an einem klebt.

Ich lehne mich an das Tor mit dem abblätternden grünen Lack, und dann erschrecke ich. Den kalten Regen wie komische Kinderstrafen über mich ergehen lassend, spüre ich plötzlich: Sie suchen nicht mehr nach mir. Die Claudias, Tanjas und Silkes. Die lassen mich glauben, sie suchten, aber sitzen bei Beatrice auf dem Lammfellteppich, zwischen alten bauernbemalten Holzmöbeln, trinken schwarzen Tee mit Erdbeeraroma, und ich hocke noch immer hinter dem Futtertrog im Kuhstall, halte den Atem an bei jedem Klappern, bin stolz auf mein ausgeklügeltes Versteck, starre auf die Wände mit den alten Spinnweben, die in staubpanierten schwarzen Bögen herabhängen, warte, dass die Mädchen in die Nähe des Stalls kommen, so dass in einem günstigen Moment ich an ihnen vorbeisausen und mich zum Frei retten kann, aber sie suchen ja gar nicht mehr.

Ich gehe zur Mauer, strecke die Hand aus, erreiche nicht einmal die Mauerkante. Ich lege meine Wange an den rauen Stein, und dann höre ich etwas, das ich nicht hören will; das Rauschen des Windes am Gehäuse des Fliegers. Ein Schleifen, fein, sauber, wir strömen. Mein Vater hat den Motor abgestellt. Glas und blaues Licht um uns herum. Du hast keine Angst, oder?, schreit er, obwohl wir Kopfhörer tragen, die uns unsere Stimmen direkt ins Ohr leiten. Warum schreit er so, denke ich, hör doch auf zu schreien. Nein, Papa, sage ich ein wenig genervt, und er lacht. Du bist hier so sicher wie in Abrahams Schoß!

Wie ich nach unten blickte auf den Flugplatz und mich dorthin zurückwünschte statt in Abrahams Schoß, und wie ich mich ärgerte, dass, weil seine Begeisterung so groß war, kein Platz blieb für meine.

Es ist ja nur eine Nachricht, eine Aufforderung zum Glauben. Ich habe nichts gesehen, nichts berühren können. Sah nur einen Sarg und die Hände unserer Mutter, die suchend über das Holz strichen. In diesem Holzsarg steckte ein Zinksarg. Als der Beerdigungsunternehmer vom Zinksarg zu reden anfing, den sie in den Holzsarg legen müssten, wegen des Kerosingeruchs, von der Notwendigkeit in diesem Fall, fiel meine Schwester ihm ins Wort: »Das müssen wir jetzt nicht vertiefen«, vielleicht, weil sie ahnte, was er nun sagen wollte, schließlich telefoniert sie täglich mit der Polizei und mit der Gerichtsmedizin. Zinksarg, Kerosin, was bedeutet das, dachte ich und verlor die Frage an die Angst.

Meine Haare sind nass, die Finger taub. Ich stehe erneut hinter dem Tor, räuspere mich und rufe »Hallo«. Ich rufe lauter, und dann weiß ich, weil auch der Hund nicht anschlägt, dass niemand mich hört. Ich taste in der Jackentasche durch Haarbänder und Kaugummipapiermüll, bis ich das Handy finde. Ich rufe Arndt an, auch wenn, was ich in den letzten Tagen manchmal vergesse, wir seit einem halben Jahr kein Paar mehr sind. Aber jetzt bin ich ganz für dich da, sagte er. Er meldet sich auch sofort. Aber ich kann nicht sagen, was ich sagen müsste. Etwas reißt an mir, ich sage Dinge, die viel richtiger sind, wahrer, in mir einen unbezweifelbaren Sinn ergeben, die das Eigentliche sagen, alles mitteilen, alles: »Der Geist, der in meinem Zimmer hockt am Fußende des Bettes, ist weiß und eine Frau und in ihrem Blick Kälte und Verdruss. Sie kam gestern, gestern Nacht, das stimmt. Das habe ich nicht erfunden.«

Keine Ahnung, warum ich das sage. Muss aber weitermachen, das ist das, was Arndt als nun bester Freund auszuhalten hat.

»Schön. Und sonst so?«, fragt er, als erzählte ich ihm tatsächlich etwas mit Hand und Fuß.

»Ja, wenn alles sich umstülpt im Leben, und ich finde, der Tod tut das, nur dass man ihn einfügt ins Leben wie einen Satzteil, als gehörte er zur ganzen Geschichte, aber das tut er nicht. Ich kann sagen, in so kurzer Zeit bereits genau das begriffen zu haben.«

»Ariane, wo bist du?«

»Ich bin hier.«

»Wo ist das? Zu Hause?«

»Ja«, lüge ich und denke weiter die Worte: Weißer Geist, Dame Blanche, eine zweite Zunge im Mund, ein Finger im Arsch. Aber von Leander kann ich Arndt nichts sagen, und dass er sich noch immer nicht gemeldet hat. Wer bitte ist Leander?, würde er fragen. Ach so, der Schnösel vom letzten Sommersemester, der da vorgesungen hat für die Professur, der mit den Schlangenlederschuhen, der beim Umtrunk im Dozentencafé beim Reden viel zu nah an dich heranrückte und immer wieder die Hand auf deinen Arm legte, und du fandest das toll, so primitiv bist du ja mitunter, aber hat der nicht eine Freundin?

Das zu sagen, die Gelegenheit gebe ich ihm nicht, und in Wahrheit wäre er hinter der Flapsigkeit verletzt. Ich kann noch immer klar denken, sogar diplomatisch, trotz dieser komischen Dinge, die in mir ablaufen.

»Was hat die weiße Dame denn gesagt?«

Plötzlich ein anderer Ton. Vorsichtig, behutsam, vielleicht denkt er, ich will ihm etwas über meinen Vater mitteilen. Er hilft ja mit, die wenigen mir bekannten Fragmente zusammenzusetzen, die letzte Episode meines Vaters dort am Himmel ein zerfetztes, löchriges Etwas, das ich seit Tagen zu flicken versuche.

»Nichts. Sie hat nichts gesagt, aber ich glaube, sie kommt wieder.«

»Dann ist ja gut.«

Stille.

»Ich lege jetzt auf«, sage ich, »aber wenn ich dich in einer Stunde nicht wieder anrufe.«

Ich spreche nicht weiter.

»Was dann?«, fragt er beunruhigt.

»Ich bin gar nicht zu Hause. Ich bin draußen, habe mich verirrt, aber ich finde heim. Gut, dass das Handy hier funktioniert!«

»Ariane!«, ruft er, aber ich lege schnell auf, ich will ihm vom Garten nichts sagen, der gehört nur Beatrice und mir.

Jetzt muss ich wohl meine Mutter anrufen, aber ich weiß nicht, welchen Ton anschlagen. Immer suche ich ihr Gesicht ab, hefte meine Stimme, meine Worte an den Schmerz darin, vorsichtig und schuldbewusst, als sei in dieser Lücke alles, was nicht mein Vater ist, zu viel. Einmal, mittendrin, als alles um sie herumsteht, Papierkram, Trauerkartenmuster, Trauerspruchvorschläge, ein Telefon, das regelmäßig klingelt und gehorsam abgenommen wird, bemerke ich einen Blick an ihr, der sich durch sie hindurchschlägt und dabei eher das Ende aller Kraftanstrengung ist. Ein Blick, als wäre sie allein und unbeobachtet auch von sich selbst, ein Blick, der so sehr über sie hinausgeht und was sie von sich zu zeigen gewohnt ist, dass ich glaube, sie bemerkt ihn selbst nicht und wird sich nie erinnern. In diesem Blick sehe ich sie zum ersten Mal, näher bin ich ihr nie gewesen.

Du weißt ja, ruf jederzeit an, da freu ich mich. Zweimal in der Woche rief ich zu Hause an, manchmal zwei Wochen auch gar nicht. Und dann vielleicht am Morgen und am Abend auch noch einmal. Und ich erzähle ihm. Was immer mir so einfällt. Meine Mutter gibt den Hörer weiter nach nur wenigen Sätzen. Du willst sicher den Papa sprechen. Tatsächlich ist das fast immer so. Sie klingt nie verletzt, eher zustimmend. Er selbst ruft nur an, wenn etwas zur Steuererklärung oder Krankenkasse vorliegt. Er räuspert sich unbehaglich, mag keine Anrufbeantworter, bittet um Rückruf mit einer Stimme, als lauschten ihm hundert Zuhörer und bis in alle Ewigkeit.

Vom Mauertor dringt plötzlich ein Quietschen, ein vertrauter Klang, der Eisenriegel wird aufgeschoben. Beatrice wird eine gute Erklärung haben, warum sie mich so lange hier warten ließ. Sie wird sich entschuldigen, und dann können wir nach Hause. Nur ein Streich, haha. Ich arbeite mich durch den wegflitschenden Holunder zurück zum Tor, und auf halbem Weg, mit dem Regenschirm kämpfend, erkenne ich meine Schwester.

»Seid ihr nicht zu alt für so was?«

Ich drücke den Schirm, den sie über mich halten will, beiseite. »Ich bin doch schon nass.« Und als wir in dem Hof stehen, alles sich aufbaut um uns herum, die Scheune, die Schuppen, frage ich vorsichtig: »Was hat Beatrice denn gesagt?«

»Sie wird sich bei dir melden.«

»Mehr nicht?«

»Klär das mit ihr.«

Wir gehen über den Hof, der längst einem anderen Bauern gehört, und meine Schwester schaut nirgends hin. Und ich blicke umso interessierter die Backsteinmauern der Scheune und der Ställe entlang, begutachte mit komischer Expertenmiene den Schuppen, den Kuhstall, die große überdachte Halle, die Traktoren, Mähmaschinen, Anhänger, einst die besten Verstecke. Und ich kann das alles nicht sehen ohne das Gefühl verstaubter Spinnweben an den Fingern, nicht über den knirschenden Kies gehen ohne das Gefühl einer löchrigen, dreckstarren Jeans, gequetschter Füße in zu engen Gummistiefeln, ohne den Hunger im Bauch, der Kinder so plötzlich überfällt wie das Wetter, ständig waren wir verschluckt von diesem Hof, tief in seinen Möglichkeiten. Jetzt steht alles starr und kalt um mich herum, die Gemäuer, die Festigkeit des Steins, der heute keiner Phantasie mehr nachgibt, keinem Gedanken an Geister, Geheimkammern, Geheimgänge, nach denen wir mehrere Winter und Sommer lang suchten.

Im Wohngebäude brennt Licht. Beatrice könnte dort hocken auf der langen Anrichte unter dem Küchenfenster, ein kleines Mädchen, so sehe ich sie zum ersten Mal, sechs Jahre alt, große blaue Augen, eng an den Kopf geflochtene Zöpfe; über einen Schemel ist sie dort hochgeklettert und blickt durchs Fenster zu mir.

Als ich in Svenjas Auto steige, schaue ich mich noch einmal um, zum ockerfarbenen Hund. Aber ich sehe ihn nirgends.