1. Kapitel

Schottland, zu Beginn des 13. Jahrhunderts

»Ihr braucht keine Angst zu haben.«

Wie ein frostiger Windhauch glitt die Stimme an Meredith Munros Ohr vorbei; Kälte drang bis in die Tiefen ihrer Seele – eine Kälte, die sie nie zuvor verspürt hatte.

Ihr Rosenkranz fiel zu Boden. Ihr braucht keine Angst zu haben, hatte die Stimme gesagt. Aber sie verging beinahe vor Angst, denn in ihrer winzigen Zelle standen drei Gestalten – zwei kräftig gebaute Männer, die sie nur aus den Augenwinkeln sah, und der dritte hielt ihr den Mund zu.

Im Priorat Connyridge hatten Männer nichts zu suchen; der Einzige, der das alte Gebäude betrat, war Vater Marcus. Regelmäßig kam er zu ihnen, um die Messe zu lesen und den Nonnen und Novizinnen die Beichte abzunehmen, mochten sie auch nur geringfügige Sünden begangen haben.

Merediths Gedanken überschlugen sich. Gütiger Gott! Während sie neben ihrem Bett auf den Knien gelegen und gebetet hatte, war sie plötzlich emporgezerrt worden.

Welch eine große Hand dieser Mann besaß ... Sie bedeckte Merediths Lippen und die Nase, sodass sie kaum atmen konnte. Alles, was sie hörte, war das Rauschen ihres Bluts in den Ohren.

Mit jedem Herzschlag wuchs ihre Angst, von der grausigen Gewissheit geschürt, dass diese Männer ihr etwas Böses antun wollten. So viele Fragen schwirrten ihr durch den Kopf. Wo waren Mutter Gwynn und Schwester Amelia? Wieso hatten diese Eindringlinge die geheiligten Mauern überwunden? Drei Männer! Warum hatte niemand etwas bemerkt? Ein schrecklicher Gedanke gewann die Oberhand: Hatten die anderen am Ende deshalb nichts gehört, weil sie bereits tot waren?

Nein, so etwas durfte sie nicht denken, das würde sie nicht ertragen ...

Als sollte sie an die Gefahr erinnert werden, verstärkte der Arm, der ihre Taille umschlang, den harten Griff, und ein warmer Atem streifte ihre Ohrmuschel. »Nur zur Warnung«, flüsterte der Mann. »Wenn Ihr schreit, wird es Euch schlecht ergehen. Das verspreche ich Euch. Habt Ihr mich verstanden?«

Obwohl die Stimme beinahe freundlich klang, erriet sie, dass der Mann dies gewiss nicht beabsichtigte. Wie könnte ich schreien?, fragte sie sich. Geradezu lächerlich ... Eisiges Grauen drohte sie zu lähmen. Ihrer engen Kehle würde sich nicht mal ein leiser Laut entringen.

»Wenn Ihr mich verstanden habt, müsst Ihr nicken.«

Irgendwie gelang es ihr, das Kinn zu heben und zu senken.

»Ausgezeichnet«, murmelte er. »So, und jetzt lasst Euch anschauen, Meredith Munro.«

Rings um sie schien die Welt sich in einem wilden Wirbel zu drehen. Er kannte ihren Namen. Wie war das möglich? Langsam nahm er die Hand von ihrer Nase und ihrem Mund.

Dann drehte er sie zu sich herum. Als wollte der Vollmond ihm einen Gefallen erweisen, warf er sein bleiches Licht durch das schmale Fenster in die Zelle. Meredith spürte den prüfenden Blick des Fremden und errötete. Wenn die graue Robe aus grobem Wollstoff ihren Körper auch verhüllte – sie trug kein Brusttuch, kein Schleier verbarg ihr langes Haar. In dieser unzulänglichen Aufmachung musste sie sich zum ersten Mal einem Mann zeigen, seit sie vor vielen Monaten Abschied von ihrem Vater genommen hatte.

Wenigstens berührte er sie nicht mehr, obwohl sie dicht voreinander standen. Dieser Mann war der Anführer. Das wusste sie instinktiv. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und schaute zu ihm auf. Von ihrer Angst beherrscht, glaubte sie die Verkörperung des Bösen vor sich zu haben. Im Halbdunkel verschwammen seine Züge, aber sie hatte nie zuvor so eisig funkelnde, gnadenlose Augen gesehen. War dies das Antlitz des Todes?

Beklommen musterte sie das Schwert an seiner Hüfte. Auf der anderen Seite hing ein Dolch, der nicht minder bedrohlich wirkte.

Über ihren Rücken rann ein Schauer, denn jetzt hegte sie keinen Zweifel mehr: Wenn in dieser Nacht Blut fließen sollte, würde es ihres sein.

Einer der anderen Männer entzündete den Kerzenstummel auf dem Tisch. »Ist sie es?«

»Ja«, antwortete der Anführer. Sein kalter Blick ließ Meredith nicht los und schien sie zu durchbohren.

»Aye, sie sieht tatsächlich wie eine Munro aus«, meinte der Mann.

Ihr Mund war staubtrocken. Trotzdem zwang sie sich zu sprechen. »Was führt Euch hierher? Ich kenne Euch nicht. Aber Ihr scheint mich zu kennen.«

Schweigend zuckte er die Achseln.

»Wollt Ihr mich umbringen?«

Das bestritt er nicht. »Verdient Ihr den Tod?«

Nein, wollte sie rufen, doch stattdessen wanderten ihre Fingerspitzen zu dem kleinen silbernen Kruzifix, das an ihrem Hals hing – ein Geschenk von ihrem Vater, das er ihr auf der Reise zum Priorat übergeben hatte.

Bebend betastete sie das fein ziselierte Kreuz und hoffte, es würde ihr Trost spenden und Kraft geben. Dabei erinnerte sie sich an die Abschiedsworte ihres Vaters. Denk daran, mehre Tochter, Gott wird stets bei dir sein. Ebenso wie ich.

Sie schüttelte den Kopf. »Das zu beurteilen steht mir nicht zu.«

»Vielleicht mir.« Das Lächeln des Anführers umspielte nur die Lippen; seine Augen erreichte es nicht.

Merediths Atem stockte. Kannte dieser Mann keinen Respekt vor dem Herrn? Oh, welch eine alberne Frage, tadelte eine innere Stimme. Allein schon seine Anwesenheit bekundete seine Gesinnung. »Solche Dinge darf ein Mensch nicht entscheiden – nur der Allmächtige.«

»Trifft er gerechte Entscheidungen? Wohl kaum. Wie viele unschuldige Geschöpfe Gottes sind schon an schlimmen Krankheiten gestorben?« Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Vielleicht ist dies nicht verwunderlich, wenn es schwache Kinder und alte Leute betrifft. Aber Männer? Nun, Männer töten andere Männer – und manchmal auch Frauen.«

Meredith erschauerte wieder, denn die Drohung war unmissverständlich. Unfähig, ihr Zittern zu unterdrücken, fühlte sie, wie alles Blut aus ihren Wangen wich. »Und – und die anderen ...«, stammelte sie. »Mutter Gwynn, Schwester Amelia. Sind sie ...«

»Keine Bange, sie schlafen friedlich in ihren Betten.«

Langsam stieß sie den Atem aus, den sie angehalten hatte, und bekämpfte ihre panische Angst. Warum war er zu ihr gekommen? Sicher nicht, um sie in die Obhut ihres Vater zu übergeben ... Sie musste diesem Wahnsinnigen entfliehen. Nur ein Verrückter würde es wagen, in ein Haus Gottes einzubrechen. Entschlossen stürmte sie zur Tür.

Oh, das hätte sie sich denken können – natürlich war er viel schneller als sie. Schon nach drei Schritten umfingen kraftvolle Arme ihre Taille und zogen sie zurück, pressten sie an eine harte Brust, und sie glaubte, gegen eine steinerne Wand zu prallen ...

Eher der Instinkt als klares Bewusstsein bewogen sie zur verbissenen Gegenwehr. Verzweifelt versuchte sie, sich loszureißen.

»Lasst den Unsinn!«, fauchte er.

Nein, niemals würde sie sich geschlagen geben. Entschlossen trat sie nach ihm.

In ihren Ohren gellte ein wütender Fluch. »Verdammt, hört auf!« Der Arm des Peinigers umklammerte ihre Taille noch fester, drohte ihre Rippen zu zerquetschen und drückte die Luft aus ihren Lungen. Entsetzt spürte sie seine unbesiegbar starken Muskeln. Und während sie nach Atem rang, konnte sie nicht anders, als den Tatsachen ins Auge zu blicken –dieser Mann würde ihr Rückgrat genauso mühelos zerbrechen können wie einen dünnen Ast.

Ihre Widerstandskraft erlahmte. Den Kopf gesenkt, würgte sie einen halb erstickten Schmerzenslaut hervor. Sie hasste ihr eigenes Zittern – und die Erkenntnis, dass er es wahrnehmen würde. Wenn sie sterben müsste, so würde sie um einen schnellen, gnadenvollen Tod beten, um einen Dolchstoß mitten ins Herz. Inständig hoffte sie, die Heiligen würden ihr diese Feigheit verzeihen.

Aber sie sollte nicht sterben. Stattdessen wurde sie hochgehoben und zu ihrer Verblüffung auf die Bank vor dem Tisch gesetzt.

»Nun werdet Ihr tun, was ich sage.«

Durch ihr Gehirn raste eine Erinnerung wie ein Sturm zwischen schwankenden Bäumen. Schon einmal war sie mitten in der Nacht überfallen worden. Jemand hatte sie aus dem Bett gezerrt ... Musste sie jetzt das etwa gleiche Schicksal erleiden wie damals? Lieber Gott, nein!, flehte sie. Das würde sie nicht ertragen.

Zögernd blickte sie auf. »Falls Ihr ...«, begann sie und verstummte. Diese Worte brachte sie nicht über die Lippen, und es war auch gar nicht nötig.

»Falls ich Euch vergewaltigen will?«

Tiefste Verlegenheit trieb ihr das Blut in die Wangen. »Ja«, wisperte sie.

Freudlos und spöttisch zugleich lachte er auf. »Das habe ich nicht vor. Sollte ich eine Frau brauchen, würde ich mich sicher nicht für Euch entscheiden. Ich muss mich sogar zwingen, Eure Gesellschaft zu erdulden.«

Mit dieser Erklärung konnte er die Angst nur bis zu einem gewissen Grad von ihr nehmen. Sie hörte ihn mit den Fingern schnippen, und einer seiner Begleiter legte ein Pergament und einen Federkiel auf den Tisch. Dann stellte er ein Tintenfass daneben.

»Schreibt einen Brief an die Mutter Oberin, Meredith Munro«, befahl der Anführer. »Teilt ihr mit, Ihr könntet Euer Leben weder dem Allmächtigen weihen noch in der irdischen Welt verweilen, denn Ihr würdet Euch Eurer mangelnden Hingabe und Eures schwachen Geistes schämen.«

Heiliger Himmel, was verlangte er von ihr? Erschrocken griff sie sich an die Kehle. »Unmöglich! Indem ich mir das Leben nähme, beginge ich eine schwere Sünde.«

Der Fremde berührte wortlos den Griff seines Dolchs.

In wachsender Verzweiflung schüttelte sie den Kopf. »Ich kann nicht schreiben.«

»Welch eine törichte Lüge ... In diesem Priorat führt Ihr die Bücher.«

Warum wusste er so viel über sie? Wer war er? Ihr Versuch, ihn erbost und herausfordernd anzustarren, misslang kläglich – genau so kläglich, wie sie sich fühlte.

Noch nie hatte sie sich selbst so verachtet wie in diesem Augenblick. Um ihren qualvollen Kummer zu verbergen, senkte sie die Wimpern, bevor sie nach dem Federkiel griff. Durch einen Tränenschleier las sie die Worte, die sie schrieb.

Verehrte Mutter Gwynn und meine lieben Schwestern in Jesu Christi,

so sehr es mich auch schmerzt, ich habe keine Wahl. Zu meinem Bedauern kann ich dem Herrn nicht länger dienen. Ich schäme mich meiner mangelnden Hingabe und meines schwachen Geistes. Deshalb werde ich Euch und diese Welt verlassen. Verzeiht mir, was ich tun muss, meine Schwestern, und betet für mich, damit meine Seele der ewigen Verdammnis entrinnt.

Mit bebenden Fingern unterzeichnete sie den Brief und hob schweren Herzens den Kopf. Er beobachtete sie; sein Blick glich einer Lanzenspitze. Nachdem er den Brief ergriffen und überflogen hatte, zitierte er: »›Betet für mich ...‹ Nun, das wollen wir hoffen. Steht auf!«, forderte er und legte das Pergament auf den Tisch zurück.

Nur sekundenlang erwog Meredith, den Befehl zu missachten. Vor Erleichterung, dass sie noch lebte, fühlte sie sich völlig entkräftet und fürchtete, ihre Beine würden sie nicht tragen.

»Eure Hand, bitte.«

Wortlos gehorchte sie. Als er nickte, trat einer seiner Männer beflissen vor und umwand Merediths Handgelenke mit einem Strick. Dann öffnete er die Tür. Mit seinen durchdringenden Augen hielt der Anführer den Blick seiner Gefangenen fest.

»Kommt mit mir.«

Intuitiv zuckte sie zurück. Doch das nützte ihr alles nichts. Seine Finger umfassten ihren Ellbogen; sie erduldete den harten Griff, so gut sie es irgendwie vermochte.

Da ihr nichts anderes übrig blieb, folgte sie dem Fremden und kämpfte mit ihrem Unvermögen, mit ihrer Angst. Wer war dieser Mann? Was wollte er von ihr? Warum hatte er sie nicht umgebracht? Aber – warum sollte er ihren Tod wünschen? Würde es seinen Zwecken dienen, wenn sie am Leben bliebe? Oder würde er sie tatsächlich zwingen, Selbstmord zu verüben?

Während sie an Mutter Gwynns Zelle vorbeigingen, biss Meredith sich auf die Lippen, und ihr Puls beschleunigte sich. Jetzt näherten sie sich dem Schlafsaal der Nonnen. Wenn sie um Hilfe riefe und die Schwestern weckte ... Vielleicht waren einige schon wach, denn sie mussten sich bald zur ersten Gebetsstunde in der Kapelle versammeln. Dann würden sie die Eindringlinge entdecken ...

Plötzlich hielt der Anführer inne, riss sie an sich, und sie verwarf den verlockenden Gedanken. Wieder presste er die Luft aus ihren Lungen. Zu ihrem Entsetzen standen sie ganz dicht voreinander, Brust an Brust, Schenkel an Schenkel.

Als sie seinen eisenharten Körper spürte, erstarrte sie. Beinahe geriet sie in Panik, denn er neigte sich herab, und sein Mund berührte den ihren. Hätte er sie nicht umklammert, wäre sie zurückgesprungen. Heiliger Himmel, er beabsichtigte doch nicht ...

»Tut das nicht«, mahnte er in heiserem Flüsterton, der nur für ihre Ohren bestimmt war. »Wenn Euch die Nonnen zu Hilfe eilen, werden sie womöglich schwer verletzt. Diesen Kampf können sie nicht gewinnen. Ebenso wenig wir Ihr, Lady. Ich bin fest entschlossen, und niemand wird sich in meinen Weg stellen. Niemand!« Bevor er zurückwich, drückte er sie ein paar Sekunden lang noch fester an sich.

Welch eine wirkungsvolle Warnung, dachte sie bitter und verabscheute ihre Schwäche. In ohnmächtigem Zorn ballte sie die gefesselten Hände. Um ihre Demütigung noch zu steigern, lächelte er.

Ihre Lippen verkniffen sich. Durch düstere Schatten suchte und fand sie seinen Blick.

»Nicht nur das Schwert eignet sich zum Kampf.« Woher nahm sie den Mut, solche Worte auszusprechen?

Sein Lächeln vertiefte sich. »Ja, in der Tat.« Nach dieser rätselhaften Bemerkung packte er wieder ihren Arm, zog sie weiter den dunklen Gang entlang und die schmale Treppenflucht hinab. Seine Männer blieben ihnen auf den Fersen.

Offenbar wusste er genau, wohin er ging. Er führte Meredith in die Kapelle, um die Kanzel herum, durch den Kreuzgang. Beim Refektorium bog er nach links ab. Viel zu schnell traten sie in die mondhelle Nacht hinaus. Ohne seine Schritte auch nur ein einziges Mal zu verlangsamen, zerrte er seine Gefangene an den hölzernen Außengebäuden vorbei, durch die Gärten, in den Obstgarten.

Erst außerhalb der hohen Steinmauer, unter dem Jahrhunderte alten Granitkreuz des heiligen Michael, hielten sie an. Den Salzgeruch des Meeres, den der Wind heranwehte, nahm Meredith kaum wahr. Allzu schmerzliche Erinnerungen stürmten auf sie ein und trieben ihr brennende Tränen in die Augen.

Hier hatte sie sich von ihrem Vater verabschiedet und ihn angefleht, das Priorat niemals aufzusuchen – es sei denn, sie würde ihn darum bitten. Denn sie fürchtete, mit ihm ins Schloss Munro zurückkehren zu wollen, das Heim ihrer Jugend, wenn sie ihn nur sähe. Krampfhaft schluckte sie. Ganz deutlich sah sie ihn in ihrer Fantasie vor sich, die blauen Augen, die ihren glichen, voller Tränen, die er nicht verborgen hatte. Auch sie war in Schluchzen ausgebrochen ...

So lange lag jener Tag zurück. Dennoch gewann sie den Eindruck, sie hätte sich erst gestern von ihrem geliebten Vater getrennt. Lebhaft entsann sie sich, wie qualvoll sie unter der Enttäuschung gelitten hatte, die sie ihm hatte bereiten müssen. Da sie sein einziges Kind war, hatte er gehofft, sie würde eines Tages heiraten und ihm Enkelkinder schenken.

Aber sie würde niemals heiraten.

Von jener schrecklichen Nacht hatte sie ihrem Vater nichts erzählt – keiner Menschenseele auf Erden. Wenn es ihr auch das Herz zerrissen hatte, Schloss Munro zu verlassen – dort hatte sie nicht bleiben dürfen. Wie hätte sie in diesen Mauern wohnen können, wo sie doch beim Anblick eines jeden Mannes gefürchtet hätte, er wäre es gewesen, der sie berührt und entehrt hatte. Ihrem Vater hatte sie unmöglich anvertrauen können, was geschehen war. Nicht einmal sie selbst kannte die ganze Wahrheit.

Deshalb würde sie nie mehr heimkehren, den geliebten Vater nicht wieder sehen.

Als sie ihn gebeten hatte, er möge sie nach Connyridge bringen, war er völlig verwirrt gewesen. Er hatte sie mit Fragen bestürmt, die sie nicht beantwortet hatte. Letzten Endes hatte er ihren Wunsch erfüllt, in der schmerzhaften Überzeugung, er würde sie für immer verlieren.

Nur um Zuflucht zu suchen, war sie in das Priorat gekommen. Und das Grauen jener Nacht hatte sich allmählich verflüchtigt. Hinter diesen Mauern hatte sie Ruhe gefunden, sogar den inneren Frieden, den sie nicht zu erhoffen gewagt hatte. Wenn es auch eine Weile gedauert hatte, so fühlte sie sich wohl in Connyridge, obwohl die Kälte des Steinbodens durch ihre dünnen Sandalen und bis in ihre Knochen drang.

Vor einiger Zeit hatte sie beschlossen, ihr Leben dem Allmächtigen zu weihen. Eine Nonne im Dienst des Herrn wäre vor den Gelüsten der Männer geschützt ...

Aber der innere Konflikt und die Verwirrung hatten kein Ende gefunden. Und sie war immer noch unsicher. Würde sie ihr Gelübde irgendwann bereuen? Entsprach das Klosterleben ihrer wahren Berufung? In ihrem Herzen müsste sie es wissen. Doch sie wurde von Zweifeln geplagt. In den letzten Wochen hatte sie täglich um göttlichen Rat gebetet, um die Bestätigung des Herrn, sie habe die richtige Entscheidung getroffen.

Im nächsten Monat sollte sie ihr Gelübde ablegen. Würde sie dann noch leben?

Gewiss, viele Frauen mochten das Priorat für ein Gefängnis halten, in dem man nichts als betete und arbeitete, studierte, schlief und die Mahlzeiten einnahm. Der Müßiggang galt als Feind der Seele. Und wenn Meredith sich ausschließlich mit solchen Dingen beschäftigte, würde sie nicht an ... an andere Dinge denken.

Doch jetzt gab es die ersehnte Zuflucht nicht mehr. Seinetwegen. Noch ein Mann, dessen Namen sie nicht kannte. Verstohlen musterte sie ihn.

Im Mondschein erblickte sie nur eine gesichtslose Silhouette. Schaudernd überlegte sie, wie er wohl am helllichten Tag aussähe. Sie vermutete, dass er jung sei, nicht so alt wie Vater und Onkel Robert.

So ein bösartiger Mann musste hässlich wie die Sünde des Teufels sein, dachte sie. Zweifellos klafften Lücken in seinen fauligen, gelben Zähnen. Und er würde die dunkle Haut eines Heiden haben, voller Flecken und Pockennarben. Vielleicht war die nächtliche Begegnung sogar vorteilhaft. Im Sonnenlicht würde er sie gewiss zu Tode erschrecken.

Unbehaglich stand sie neben ihm, während er leise mit seinen Leuten sprach. Was er sagte, verstand sie nicht.

Dann nickten die beiden Männer und stapften davon. Bedrückt sah sie ihn zu einem kleinen Wagen gehen, den sie erst jetzt bemerkte. Als er sie zu sich winkte, wuchs ihre Angst. Nur widerstrebend folgte sie der Aufforderung.

Gegen ihren Willen spähte sie in den Wagen. Auf den Planken lag eine Frau, das lange rote Haar schmutzig und verfilzt, den Kopf unnatürlich seitwärts gedreht. Blicklose Augen starrten zurück.

Offensichtlich war die Frau tot. In Merediths Kehle stieg ein Schrei auf, den sie mühsam unterdrückte. Sie schwankte, blieb aber glücklicherweise aus eigener Kraft stehen.

Lange, schmale Finger schlossen sich um ihren Arm. »Zieht Eure Robe aus«, befahl die Stimme, die ihr wachsende Angst einjagte.

Als er den Strick von ihren Handgelenken löste, fragte sie sich, ob sie den Verstand verloren hatte. War das ein Albtraum, ein grässlicher Streich, den ihre Fantasie ihr spielte? Die Augen zusammengekniffen, redete sie sich ein, sie würde in ihrer Zelle auf dem Bett liegen. Nach ein paar Sekunden holte sie tief Atem und hob die Lider.

Lange Beine in Stiefeln. O Gott, er war immer noch da – so unwillkommen wie zuvor ...

Und genau so gefährlich.

»Noch einmal werde ich Euch nicht dazu auffordern«, erklärte er brüsk und reckte das Kinn.

Rings um Meredith schienen Nebelschleier zu tanzen. Nein, dachte sie, sicher habe ich ihn missverstanden. Ihre Lippen bewegten sich. Aber aus ihrer Kehle drang kein Laut.

»Also gut, mir ist es gleichgültig.« Gebieterische Hände sanken auf ihre Schultern, tasteten nach dem Halsausschnitt ihrer Robe, warme Fingerspitzen streiften ihre nackte Haut.

»Nein«, stöhnte sie und wich zurück, als hätte sie sich verbrannt.

»Tut, was ich sage – oder ich nehme Euch die Mühe ab.«

Tatsächlich, er meinte es ernst. Um das zu erkennen, musste sie sein Gesicht nicht sehen. Sie entnahm es seinem Tonfall, der hoch aufgerichteten Gestalt. Gegen die unbeugsame Willenskraft dieses Mannes konnte sie sich nicht behaupten.

Seiner Drohung hilflos ausgeliefert, fühlte sie sich wie gelähmt – vor Angst und beklemmender Scham. Splitternackt würde sie vor ihm stehen. Während sie seinem Befehl gehorchte, machte sie sich bittere Vorwürfe. Warum fügte sie sich kampflos in ihr Schicksal? Warum war sie nicht stärker? Würde sie ihr ganzes Leben lang so wenig Rückgrat zeigen?

Welch ein elender Schwächling sie war, im Geist, im Herzen, im Körper! Aber wie nur sollte sie die erbarmungslose Macht dieses Mannes bekämpfen?

Den Blick gesenkt, stieg sie aus der grauen Robe. Mit beiden Händen versuchte sie ihren Körper abzuschirmen – nicht nur gegen die kühle Nachtluft, sondern auch gegen den forschenden Blick dieser stahlharten Augen.

Aber er schaute sie gar nicht an. Stattdessen hob er die Robe vom feuchten Erdreich auf, ging zum Wagen und entkleidete die Leiche.

Zu Merediths Verblüffung warf er ihr ein Bündel zu. »Zieht das an!«

Diesmal zauderte sie nicht. Hastig schlüpfte sie in das schmutzige Kleid, das ihr um einiges zu groß war. Wenigstens bedeckte es ihre Blößen.

Inzwischen waren die Männer mit drei Pferden zurückgekehrt. Merediths Atem stockte. Sollte sie mit ihnen wegreiten? Wohin? Während sie sich diese Frage stellte, beobachtete sie entgeistert, wie die beiden ihre Robe über den Kopf der toten Frau streiften. Dann wandte sie sich zu ihrem Anführer.

»Tut, was wir besprochen haben«, verlangte er.

Einer der Männer packte die Frau am rechten Arm, der andere am linken. Mit vereinten Kräften zerrten sie die Tote aus dem Wagen und schleiften sie nach Osten.

Was nun geschah, sträubte Merediths Nackenhaare und ließ ihr Blut gefrieren. Die Frau wurde über den Klippenrand geworfen, hinab auf zerklüftete Felsen.

Natürlich erklang kein Schrei – trotzdem glaubte Meredith, ihn zu hören, in den lautlosen Tiefen ihrer Seele. In Wirklichkeit ertönte nur ein dumpfer Aufprall ...

Schaudernd zog sie das schmutzige Kleid enger um ihre Schultern. Die Felsen würden den Körper der Frau zerreißen, wie die spitzen Zähne eines Meeresungeheuers. Blutig, mit gebrochenen Knochen würde die arme Kreatur da unten liegen. Welch ein Segen, dass sie schon tot war ... Warum hatten diese Schurken sie ermordet? Nur um sie über die Klippen zu werfen?

Ein neuer Gedanke schnürte ihr die Kehle zu. Würde sie die Nächste sein? Einen Sturz in diesen Abgrund würde niemand überleben. Obwohl Meredith nicht unter Höhenangst litt, hatte sie die Klippen stets gemieden.

Voller Mitleid dachte sie an die Frau. Sie war sehr hübsch gewesen, das hatte sie gesehen. Und viel zu jung, um zu sterben ...

Während sie erschüttert um das Seelenheil des Mädchens betete, hielt sie plötzlich den Atem an. Erst jetzt erkannte sie die Bedeutung der Ereignisse, die sie soeben mit angesehen hatte. Rotes Haar – eine Leiche in der grauen Robe ...

Mit schmalen Augen starrte sie ihren Entführer an. Reglos stand er da und beobachtete sie, als würde er ihre Reaktion abwarten.

»Großer Gott«, flüsterte sie, »die Nonnen werden glauben ...« Ihre Stimme versagte. Mühsam schluckte sie, und es dauerte ein paar Sekunden, bis sie weitersprechen konnte. »Ist es das, was Ihr bezweckt? Soll der Eindruck entstehen ...«

»Dass Ihr diese Frau seid.« Warum er voller Genugtuung lächelte, versuchte sie nicht einmal zu verstehen – es wäre sinnlos. »Eine zerschmetterte Leiche auf den Felsen«, fuhr er in beiläufigem Ton fort. »Nicht zu identifizieren.«

Bei allen Heiligen, er hatte Recht. Kurz nach ihrer Ankunft im Priorat war ein toter Fischer an den Strand gespült worden, das Fleisch zerfetzt, das weiße Gesicht aufgedunsen, entstellt und unkenntlich. Vor lauter Grauen hätte sich Meredith beinahe übergeben.

Und der Abschiedsbrief, der in ihrer Zelle auf dem Tisch lag ... Wenn die Nonnen das rote Haar der Frau sahen, mussten sie glauben, Meredith Munro wäre vom Klippenrand in den Tod gesprungen.

Eine eisige Hand schien ihr Herz zu umfassen. Wenigstens hatte diese bedauernswerte Frau den Sturz auf die scharfkantigen Felsen nicht zu ihren Lebzeiten erleiden müssen.

»Habt Ihr sie getötet?«, würgte sie hervor.

Das lastende Schweigen wirkte beredter als alle Worte; ihr Magen drehte sich um. »Warum?« Ihr Hals schmerzte so heftig, dass sie die Frage kaum hervorbrachte. »Warum habt Ihr das getan?«

Wieder dieses bedrückende Schweigen ...

»Und ich bin die Nächste, nicht wahr?« Von einer plötzlichen Kühnheit getrieben, die sie sich niemals zugetraut hätte, straffte sie die Schultern und schlug mit einer bebenden Faust auf ihre Brust. »Tötet auch mich, wenn Ihr’s ohnehin geplant habt! Tötet mich! Jetzt, sofort!«

»Warum sollte ich?« Lachend schüttelte er den Kopf und zeigte zum Klippenrand. »Glaubt Ihr, ich hätte mir so viel Mühe gemacht, wenn ich Euch töten wollte? Kommt mit. Oder muss ich Euch wieder fesseln?«

Verzweifelt wich sie seinem Blick aus und kämpfte mit sich selbst. Ihretwegen lag eine tote Frau da unten am Strand. Und sie kannte nur einen einzigen Gedanken – wie sollte sie sich retten? Also war sie nicht nur schwach und feige, sondern auch noch selbstsüchtig. Würde ihr der Allmächtige jemals verzeihen?

Aber irgendetwas in ihr wehrte sich gegen das Schicksal, das ihr dieser Schurke zugedacht hatte. Nein, einen so leichten Sieg wollte sie ihm nicht gestatten.

Anscheinend rechnete er mit ihrem Gehorsam, denn er wandte sich ab und bedeutete seinen Männern, die Pferde heranzuführen. Nicht einmal einen Blick gönnte er ihr. »Steigt auf.«

Um sich zu ermutigen, holte sie tief Luft. »Nein«, entgegnete sie klar und deutlich.

Endlich schaute er sie an, und sie musste sich zwingen, seinem frostigen Blick standzuhalten.

»Warum sollte ich einem Verrückten folgen?«, fragte sie herausfordernd.

An ihrer Seite erklang ein Fluch, ein kraftvoller Schlag traf ihren Rücken, und sie stolperte nach vorn. Er war es, der sie auffing und davor bewahrte, der Länge nach vor seine Füße zu fallen.

»Rühr sie nicht an, Finn!«

Meredith wagte kaum zu atmen. Wie Eisenklammern umfassten seine Hände ihre Arme, es gab kein Entrinnen. O ja, sie spürte seine unbezwingbare Kraft. Auf Leben oder Tod war sie ihm ausgeliefert.

Langsam hob sie den Kopf. »Nein – ich werde Euch nicht begleiten.«

»Doch, Meredith Munro.«

»Niemals!« Entschlossen reckte sie ihr Kinn, obwohl ihr eigener Mut sie erschrak. Vielleicht war auch sie wahnsinnig. »Wer seid Ihr? Warum tut Ihr das? Was wollt Ihr von mir?«.

Da ließ er sie los, und sie widerstand der Versuchung, die Flucht zu ergreifen. Stattdessen blieb sie stehen und grub ihre nackten Zehen in die taufeuchte Erde.

»Wer seid Ihr?«, wiederholte sie. »Ihr gebt vor, mich zu kennen. Aber ich schwöre es – vor dieser Nacht habe ich Euch nie gesehen.«

»Allerdings nicht, Mädchen.«

»Wollt Ihr mir nicht endlich verraten, wer Ihr seid?« Wenn sie sterben musste, wollte sie wenigstens wissen, warum – und wer sie töten würde. »So antwortet! Wer seid Ihr?«

Jetzt erinnerte sie sein Blick an geschmolzenen Stahl. »Cameron – vom Clan MacKay.« Mehr musste er nicht hinzufügen.