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Über das Buch:

Dominic St. Bride, der neue Earl of Ravenwood, hat eine dunkle Vergangenheit. Die gesamte Dienerschaft tritt ihm deshalb ablehnend und mit Misstrauen entgegen. Nur das Dienstmädchen Olivia Sherwood kann sich nicht der ungeheuren Faszination entziehen, die der geheimnisumwitterte Mann ausstrahlt. Dominic spürt den inneren Kampf der schönen jungen Frau, die er selbst leidenschaftlich begehrt … Kann ihn etwa ausgerechnet die Liebe eines Dienstmädchens erlösen?  

Titlepage

Prolog

»Ich muss dir etwas sagen«, wisperte sie.

Mit ihrem glänzenden schwarzen Haar, das bis zu den Hüften reichte, den schräg stehenden dunklen Augen und dem makellosen olivfarbenen Teint sah sie bildschön aus. Aber Madeleine war sich ihrer Reize kaum bewusst, obgleich schon viele Männer ihre Ausstrahlung, ihren Liebreiz und ihr melodiöses Lachen bewundert hatten. Nur ein Einziger hatte jemals ihren Blick und ihr Herz zu fesseln vermocht.

Dieser.

»James? Ich … ich muss dir etwas sagen.« Der samtige Klang ihrer Stimme – eine Nachwirkung des Liebesakts – hatte sich verloren und neben ihrem exotisch anmutenden Akzent schwang nun ein scheuer, unsicherer Unterton in ihren Worten mit.

Die Bettdecke bewegte sich. Auf einen Ellbogen gestützt, hob James St. Bride, der Earl of Ravenwood, die dunklen Brauen. »Worum geht es denn, petite?«, fragte er und strich mit einer Fingerspitze über ihren nackten Arm.

Unwillkürlich erschauerte sie vor Entzücken. Welch ein hinreißender Mann …

Während er auf ihre Antwort wartete, schaute er geistesabwesend ins Leere. Dann fing er ihren Blick auf und lächelte ermutigend.

Sie holte tief Atem. Da ihr nichts anderes übrig blieb, musste sie es einfach aussprechen und endlich hinter sich bringen. »Ich bin guter Hoffnung«, erklärte sie leise.

Sofort erstarrte sein Finger in der Bewegung, sein Lächeln erlosch. Tiefe Stille lastete bleischwer auf Madeleines Seele. Kaum zu glauben, dass James’ ekstatischer Schrei das Schlafzimmer erst vor wenigen Minuten erfüllt hatte … Hastig zog er seine Hand zurück und stand auf.

Als er ihr den Rücken kehrte, schluckte sie krampfhaft. Sie betrachtete seinen Hinterkopf, das dichte mahagonibraune Haar, das im Feuerschein glänzte, die angespannten Muskeln der kraftvollen Arme.

Ruckartig schlüpfte er in seinen Morgenmantel, bevor er sich zögernd zu ihr umwandte. Zu ihrer Bestürzung verriet seine Miene nicht, was er dachte. Seine saphirblauen Augen wirkten kühl und abweisend, die Lippen bildeten einen dünnen Strich. In ihrem Herzen stieg eisige Angst auf.

»Sicher kennst du eine Arznei.«

»Eine Arznei?«, wiederholte sie verwirrt.

»Ja, eine Arznei! Irgendwie musst du das Balg loswerden!« Noch nie hatte er so brüsk mit ihr gesprochen. Er konnte seinen Zorn kaum zügeln, und sie musste sich mühsam beherrschen, um nicht vor seiner Ungeduld zurückzuschrecken. »Komm schon, Madeleine! Du bist eine Zigeunerin. Zweifellos kennst du ein geeignetes Mittel.«

Sie setzte sich auf und presste die Decke an ihre Brüste. Fassungslos erwiderte sie seinen Blick. Schlug er ihr tatsächlich vor, ihr eigen Fleisch und Blut zu töten? »James …«, begann sie stockend. In ihren Augen brannten Tränen. »Bitte, James …« Und dann fehlten ihr die Worte. Sie konnte nur noch den Kopf schütteln.

»Dachtest du, ich würde mich freuen?«

Flehend schaute sie zu ihm auf. »Nun, ich dachte, dass du – dass wir …«

»Großer Gott!«, rief er angewidert. »Hast du tatsächlich erwartet, dass ich dich heiraten würde?«

Wortlos rang sie nach Atem. Das hatte sie nicht zu hoffen gewagt, aber jeden Abend darum gebetet. Auf eine kirchliche Hochzeit legte sie keinen Wert. Ein Versprechen, das ihn für immer an sie band, würde ihr genügen.

In ihren großen schwarzen Augen lag die Antwort auf seine Frage. James stand reglos am Fußende des Betts. So weit entfernt. So abweisend. Wachsende Verzweiflung schnürte ihr die Kehle zu. Alles hatte sie ihm gegeben. Ihren Körper und ihr ganzes Herz.

Spöttisch verzog er die Lippen. »Petite, ich bin der Earl of Ravenwood. Und du bist eine Zigeunerin.«

Wie grausam er sie verhöhnte … In diesem Augenblick wäre sie am liebsten gestorben. Aber ihr Stolz zwang sie, das Kinn zu heben. »Wäre ich deinesgleichen, würdest du mich nicht so behandeln.«

»Du entstammst einer anderen Gesellschaftsschicht«, entgegnete er gelangweilt.

Natürlich, sie war eine Zigeunerin. Das würde er niemals vergessen.

Aber sie hatte es vergessen. In ihren Träumen, in ihren Illusionen.

Im vergangenen Sommer waren sie einander zum ersten Mal begegnet. Er hatte ihrem Volk erlaubt, auf einem seiner Landgüter zu kampieren … Eines Abends tanzte sie zu melancholischen Geigenklängen, und ihr Körper drückte alles aus, was diese Melodie erzählte – eine uralte Geschichte von tiefem Herzenskummer, von der Hoffnung auf eine bessere Zukunft, auf ein Morgen voller Glück und Heiterkeit. Während die Musik immer fröhlicher und lebhafter ertönte, folgten Madeleines Füße und ihr ganzes Herz dem faszinierenden Rhythmus. Lachend warf sie die Arme hoch und ihr wirbelnder Rock entblößte schlanke, geschmeidige, verführerische Beine. Nach dem Tanz, immer noch im Bann ihrer Gefühle, sah sie ihn auf sich zukommen …

Sie sei das schönste Geschöpf, das er jemals gesehen habe, beteuerte er.

Am nächsten Abend kam er wieder. Und dann an sechs Abenden hintereinander. Oh, welch ein wundervoller Mann! Die anderen Zigeuner warnten sie, er sei ein gadjo, der nur ihren Körper besitzen wolle. Doch sie hörte nicht auf ihre Gefährten. Und in einer mondhellen Sternennacht gab sie sich dem Earl hin.

Im Gegensatz zur Ansicht der meisten gadje war sie keine Hure. Sorgsam hatte sie ihre Jungfräulichkeit gehütet. James war erstaunt – und entzückt, weil er ihr erster Liebhaber war. Als er den Landsitz verließ, ging sie mit ihm.

Fast sechs Monate lebte sie mit ihm zusammen und wartete auf ihn, wenn er London oder seine anderen Landgüter besuchte, um seine Geschäfte zu erledigen. Aber so oft er auch von seiner Leidenschaft gesprochen hatte, von heißer Sehnsucht, die sein Blut erhitzte und im Herzen brannte – so war kein einziges Liebeswort über seine Lippen gekommen.

Jetzt ließen sich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Langsam rollten sie über Madeleines Wangen.

»Was soll das?«, stieß James hervor. »Eine Zigeunerhure weint?«

Ungläubig musterte sie seine verächtliche Miene. War er jemals zärtlich und gut zu ihr gewesen? In diesem Augenblick sah sie nur ein stolzes, hartes Herz, das sie niemals erweichen würde.

Vielleicht hatte es schon immer in seiner gefühllosen Brust geschlagen.

Ihre Hände bebten. Auch ihre Stimme würde zittern. Aber sie bekämpfte mit Gewalt ihre Schwäche. Tapfer hielt sie dem frostigen Blick seiner blauen Augen stand. »Ich bin keine Hure, James. Alles habe ich dir gegeben – alles. Mit keinem anderen Mann war ich zusammen. Nur mit dir.«

»Welche Rolle spielt das schon? Ich habe dich aus diesem schmutzigen Zigeunerlager geholt und dir ein angenehmes Leben geboten. Was ich von dir wollte, wusstest du von Anfang an, Madeleine. Und du wolltest es doch auch. Wie unersättlich du warst!«

Darauf gab sie keine Antwort. Ihre Finger krallten sich in die Bettdecke.

»Willst du etwas anderes behaupten?«, forderte er sie heraus. »Ich habe dich mit Samt und Seide und Pelzen überhäuft. Vom kostbarsten Porzellan hast du gegessen. Was ich dir gab, hättest du ohne mich niemals besessen. Du hast alles angenommen — und gewusst, mehr würde ich dir niemals zugestehen.«

Zum ersten Mal schämte sie sich für ihr Verhalten.

Warum war sie so leichtsinnig gewesen? Sie hatte geglaubt, sie könnte ihn ändern und dazu bringen, sie so innig zu lieben, wie sie ihn liebte. O ja, sie liebte ihn – und er hatte immer nur Lust empfunden. Bedrückt hob sie den Kopf. »Du nennst mich eine Hure. Aber ich bin nur die Frau, die du aus mir gemacht hast.«

Er lächelte verkniffen. »Für deine Dienste wurdest du fürstlich entlohnt, petite. Und was du bist, wirst du immer bleiben – eine Zigeunerhure.«

Heftig hob und senkte sich ihre Brust, jeder Atemzug brannte wie Feuer. »Mein Baby … Dein Kind …«

»Und wenn es gar nicht existiert? Wahrscheinlich willst du nur einen üblen Trick anwenden, um mich vor den Traualtar zu schleppen. Doch das wird dir bestimmt nichts nützen. Niemals werde ich dich heiraten. Meine künftige Gemahlin muss aus einer erstklassigen Familie stammen.«

Welch eine Närrin sie doch war … Einem solchen Mann hätte sie ihr Herz nicht schenken dürfen – denn er hatte Recht: Ein Aristokrat würde keine Zigeunerin heiraten.

»Streiten wir nicht, petite«, mahnte er. »Du musst nun gehen. Trennen wir uns nicht im Zorn.« Er eilte zu einer hohen Kommode, nahm eine Satinbörse mit Quasten aus einem Schubfach und warf sie ihr zu. Als sie vor Madeleines Füßen landete, klirrten Münzen. »Hier! Ihr Zigeuner seid doch ganz verrückt nach Geld und Gold, nicht wahr? Damit entschädige ich dich über Gebühr.«

Trennen wir uns nicht im Zorn …

Aber Madeleine war zornig. Bittere Enttäuschung verdrängte das Leid ihrer Seele. Wie sehr ich ihn liebte, wird er nie erfahren, gelobte sie sich. Ihr Blick glitt von der Börse zu seinem Gesicht. »Behalte dein Gold – ich nehme es nicht. Du wirst es noch bereuen, James.«

»Tatsächlich?« Lässig zuckte er die Achseln. »Daran zweifle ich. Auf dieser Welt gibt es viele Frauen, die ebenso schön sind wie du.«

»Aber ich erwarte den einzigen Sohn, den du jemals bekommen wirst …«

»Einen Bastard!«, höhnte er.

Regte sich nicht einmal die Spur eines Gefühls in seinem Innern?

Madeleine schob die Decke beiseite. Ohne ihre Nacktheit weiter zu beachten, stieg sie aus dem Bett und trat zu James. Sie hob ihre Hand. Aber sie berührte ihn nicht. Stattdessen beschwichtigte sie den Aufruhr ihres Herzens mit einem Wortschwall in ihrer Muttersprache. In seinen Augen las sie Verwirrung und wachsendes Unbehagen.

Immer lauter erklang ihre Stimme. Anklagend zeigte sie auf ihn. Eine unheimliche Atmosphäre breitete sich im Zimmer aus.

Schließlich packte er Madeleines schmale Schultern und schüttelte sie unsanft, bis sie verstummte, bis ihr Kopf in den Nacken fiel wie eine Blume, vom Stängel gerissen. Doch sie schreckte nicht vor seiner Wut zurück. Mit glitzernden Augen starrte sie ihn an.

»Was war das?«, fauchte er zornig. »Ein Zigeunerfluch?«

Ein schwaches Lächeln umspielte ihre Lippen. »Wenn du das glaubst – dann ist es so.«

Die Stirn gerunzelt, ließ er sie los. »Du bist verrückt. Genauso wie diese Zigeunerin Adriana, die Wahrsagerin.«

Voller Genugtuung erinnerte sich Madeleine an die Worte der alten Frau, die ihm ein grausames Schicksal prophezeit und erklärt hatte, sein Geld würde ihm keine Freude bereiten. »Vielleicht bin ich auch verrückt. Aber Adriana hat dich nicht belogen. Niemals wirst du ein glückliches Leben führen.« Mit beiden Händen strich sie über ihren Bauch. »Beschütze deinen Sohn, James. Aber andere Kinder wirst du nicht bekommen.«

»Dein Zigeunerfluch jagt mir keine Angst ein, Madeleine«, entgegnete er angeekelt. »Wenn ich heute Abend zurückkehre, bist du verschwunden. Geh wieder zu deinen Leuten – oder sonst wohin. Es interessiert mich nicht.« Erbost wandte er sich ab und öffnete die Tür.

Doch sie hatte ihm angemerkt, was er fürchtete. Solche Dinge vermochte nur ihr Volk zu sehen. Nun war es an ihr, ihn herauszufordern. »Eins solltest du bedenken, James – ich nehme deinen Sohn mit, deinen einzigen Sohn.«

Krachend fiel die Tür ins Schloss und Madeleines Schrei schien im ganzen Haus widerzuhallen.

»Verdammt sollst du sein, James, und im ewigen Höllenfeuer schmoren!«

Aber obwohl die Glut des Hasses durch ihre Adern strömte, konnte sie ihre wahren Gefühle nicht verleugnen. Kraftlos sank sie zu Boden, unaufhaltsam rannen Tränen über ihre Wangen, und es dauerte lange, bis sie versiegten.

In tiefer Stille hob sie den Kopf und berührte wieder ihren Bauch – diesmal auf andere Weise, fast ehrfürchtig. Plötzlich wusste sie, was geschehen würde.

So wie es die Musik an jenem Abend verkündet hatte, würde aus dem Schmerz ihres Herzens reines Glück entstehen. Ihr Volk würde sie willkommen heißen. Und sie würde ihren Sohn gebären.

Was ihr Leben überschattete, sollte James St. Bride nicht erfahren. Denn es war ihr eigener Fluch, dass sie niemals aufhören würde, ihn zu lieben.

1

Ravenwood Hall, 1821

»Er ist ein Zigeuner. Das weißt du doch, Olivia.« Zwischen ihre Rippen bohrte sich ein spitzer Ellbogen. »Teufelsbrut!«

Gewiss, ein Zigeuner.

So hatte Olivia ihn genannt, seit sie auf Ravenwood Hall eingestellt worden war. Und so nannten ihn auch alle anderen Hausbewohner. Dominic St. Bride, der Zigeuner, der Bastard des alten Earls.

Olivia lächelte höflich und langte nach ihrer Mahlzeit, einem Stück Hefebrot. Als Kirchenmann hatte ihr liebster Papa – Gott sei seiner Seele gnädig – solchen Klatsch und Tratsch stets als schwere Sünde betrachtet. Sicher würde er sie tadeln, weil sie ihren Tischgefährten zuhörte. Aber sie konnte nicht anders. Obwohl sie den Zigeunern keine Zuneigung schenkte – nach allem, was ihrem Papa widerfahren war –, interessierte sie sich brennend für den neuen Herrn von Ravenwood.

In der großen Küche hatten sich mehrere Dienstboten zum Mittagessen versammelt.

Der Butler Franklin hob die buschigen grauen Brauen. »Wisst ihr, was Langston sagt, der Butler im Londoner Haus? Der neue Earl ist ein launischer Mann. Und er schläft immer bei offenem Fenster. Sogar im tiefsten Winter.«

»Oh, zweifellos ist er ein grausamer Herr«, meinte Mrs. Thompson, die Pastetenbäckerin. Nach ihrer äußeren Erscheinung zu schließen, sprach sie ihren eigenen Erzeugnissen tüchtig zu. Ihr Bauch war ebenso rund wie ihre Kehrseite. Aber Olivia hatte Franklin verkünden hören, außerhalb von London sei keine bessere Bäckerin zu finden.

Angstvoll bekreuzigte sich Charlotte, eine junge Irin, die erst seit wenigen Tagen in Ravenwood Hall arbeitete, und riss die dunklen Rehaugen auf.

»Sicher ist er nicht besser als der alte Earl«, seufzte ein anderes Mädchen. »Wäre er bloß in London geblieben!«

Franklin schüttelte den Kopf. »Dass unser alter Herr sonst keine Söhne gezeugt hat, kann ich noch immer nicht glauben. Stellt euch das nur vor! Drei Ehefrauen. Und alle unfruchtbar.«

»Vielleicht lag’s an ihm und nicht an seinen Frauen«, warf die Köchin ein. »Haben Sie das schon mal bedacht, Mr. Franklin?«

»Nun, in seinen letzten Jahren pflegte er ziemlich tief in sein Weinglas zu schauen …«

»In seinen letzten Jahren? Eher im ganzen vergangenen Jahrzehnt! Mildreds Vetter war sein Stallmeister in London, und der hat erzählt, der alte Earl sei nicht mehr nüchtern gewesen, seit er den Jungen von seiner Zigeunermutter weggeholt hatte.«

»Jedenfalls ist er ein wilder Bursche. Seit er sich in der Obhut des alten Earls befand, war er nicht zu bändigen. Zum Beispiel weigerte er sich, die Schule zu besuchen. Immer wieder rannte er weg. Daran erinnere ich mich ganz genau. Und jetzt, wo er erwachsen ist, interessiert er sich nur fürs Kartenspiel und für Huren …« Hastig unterbrach sich der Lakai. »… und Frauen. Die weiß er sehr zu schätzen, wenn ihr versteht, was ich meine. Unglaublich, was für Frauen er hat sitzen lassen – eine Duchesse und eine Countess. Und mindestens zwei Opernsängerinnen. Neulich soll er die Schauspielerin Maureen Miller erobert haben. O ja, er hat schon zahlreiche weibliche Herzen zertrampelt. Dafür ist er in ganz London berüchtigt.«

Olivias Mundwinkel zogen sich nach unten. Schon jetzt verabscheute sie den neuen Earl – nicht weil er von einer Zigeunerin abstammte, sondern wegen seines lasterhaften Lebenswandels. Offenbar war er ein skrupelloser Schürzenjäger.

»Daran wird sich nichts geändert haben«, fügte ein anderes Stubenmädchen hinzu. »So benahm er sich schon vor dem Tod des alten Earls. Meine Mumm, die wohnt in London, schickt mir immer die Tageszeitungen. Was da alles über den jungen Herrn drinsteht! Sicher ist er schuld am Schlaganfall seines Vaters.«

»Der hat oft gedroht, er würde ihn enterben«, ergänzte ein Gärtnergehilfe. »Aber das war dem Zigeuner vermutlich egal.«

Franklin nickte. »Angeblich konnte er kaum noch gerade stehen. Und wie sich bei der Verlesung des Testaments herausstellte, hatte er den Jungen schon bei der Geburt als seinen rechtmäßigen Sohn anerkannt.«

»Aye«, bestätigte der Gärtner. »Und nachdem er seine letzte Gemahlin begraben hatte, holte er den Zigeuner zu sich. Wer sollte ihn denn sonst beerben? Da gibt’s nur eine entfernte Verwandte, und die ist fast so alt, wie’s der Earl war.«

»Den Adelstitel hätte sie sowieso nicht gekriegt«, betonte Glory, ein Küchenmädchen. »Außerdem mochte er sie nicht besonders.«

»Eigentlich mochte er niemanden.«

Diesem letzten Kommentar folgte schallendes Gelächter.

Die Hände in die Hüften gestemmt, schaute die Köchin von einem zum anderen. »Wie könnt ihr denn lachen? Jetzt trägt ein Zigeuner den Titel. Und wir sollten ihm respektvoll begegnen. Sonst verflucht er uns, so wie seine Mutter seinen Vater.«

Abrupt verstummte das Gelächter.

»Was für ein Unsinn!«, protestierte ein Diener.

»O nein«, erwiderte die Köchin. »Darüber hörte ich den Earl auf seinem Totenbett jammern. Die Zigeunerin hatte ihn verflucht und angekündigt, außer dem Kind in ihrem Bauch würde er keine Erben bekommen.«

»Angeblich sieht er fabelhaft aus«, bemerkte Enid, ein hübsches Stubenmädchen mit blonden Locken und runden blauen Augen.

»Wie auch immer, bald kommt er hierher. Darauf sollten wir uns vorbereiten.« Franklin stand vom Küchentisch auf. »Nun haben wir lange genug gefaulenzt, Ladys und Gents. Gehen wir wieder an die Arbeit.«

Trotz der strengen Miene, die der hoch gewachsene, hagere Butler meistens zur Schau trug, besaß er eine sanftmütige Seele. Seine erlauchte Position im Ravenwood-Haushalt bewog ihn keineswegs, auf die anderen Dienstboten herabzuschauen. Sogar für die niedrigste Scheuermagd fand er stets ein freundliches Wort und deshalb hatte Olivia ihn sofort in ihr Herz geschlossen.

Aber Mrs. Templeton, die Haushälterin, gehörte einer anderen Kategorie an. Ihr Verhalten war ebenso spröde wie ihr Gesichtsausdruck, und Olivia gewann den Eindruck, die Züge der Frau würden Risse bekommen, wenn sie zu lächeln versuchte. Nicht, dass diese Gefahr bestanden hätte. Mit kalten Augen schien sie ihre Untergebenen regelrecht zu durchbohren. Niemals sprach sie eine Bitte aus, erteilte immer nur Befehle, und ihre Stimme glich einem Peitschenknall.

Auch Olivia erhob sich und wischte ein paar Krümel von der gestärkten weißen Schürze, die sie über ihrem schlichten weißen Kleid trug. Seit einigen Tagen ging es in Ravenwood Hall ziemlich hektisch zu – einzig und allein wegen der unmittelbar bevorstehenden Ankunft des Zigeuners.

Olivia war in Stonebridge aufgewachsen. Den alten Earl hatte sie nicht persönlich gekannt, aber gelegentlich durch das Dorf fahren oder reiten sehen. Kein einziges Mal hatte er sich zu einem Grußwort herabgelassen, von einem Lächeln ganz zu schweigen.

Als Vikar hatte ihr Vater manchmal geschäftliche Dinge mit ihm besprechen müssen. Dass ihr Papa in Wut geraten wäre, hatte sie nur selten erlebt. Umso deutlicher entsann sie sich, wie er eines Tages voller Zorn aus Ravenwood Hall zurückgekommen war. Er hatte den Earl um finanzielle Hilfe gebeten, um das undichte Kirchendach reparieren zu lassen. Dazu war James St. Bride jedoch keineswegs bereit gewesen und so hatte Olivia einen wenig schmeichelhaften Eindruck von ihm gewonnen. Nach ihrer Ansicht war er ein äußerst kaltherziger, selbstsüchtiger Mann gewesen, der sein Geld ebenso wie seine Privatsphäre mit eiserner Faust gehütet hatte.

Ravenwood Hall stand auf dem Gipfel eines Hügels an der Nordseite des Dorfs – ein majestätisches Ziegelgebäude mit Sprossen in den Fenstern. Da der alte Earl diesen Landsitz in den letzten fünf Jahren nur selten besucht hatte, war der Großteil des Hauses geschlossen gewesen. Nicht einmal der Beginn seiner Krankheit vor etwa zwei Jahren hatte ihn bewogen, ins Heim seiner Ahnen zurückzukehren. Schließlich war er in seinem Londoner Haus gestorben.

Nun hatte Olivia lange genug getrödelt. Als eine der Letzten war sie von dem wuchtigen Eichentisch aufgestanden.

In diesem Augenblick betrat Mrs. Templeton die Küche. Ihr frostiger Blick fiel sofort auf Olivia. »Das hätte ich mir denken können, dass Sie in diesem Haus keinen Finger rühren würden, junge Dame«, zischte sie. »Bedauerlicherweise blieb mir nichts anderes übrig, als Sie einzustellen.«

Was sie damit meinte, war Olivia nur zu bewusst. Vor einem knappen Monat hatte der Zigeuner dem Butler geschrieben, er werde nach Ravenwood Hall übersiedeln. Wie ein Lauffeuer hatte sich die Nachricht im ganzen Dorf verbreitet. Nur wenige Leute wollten hier arbeiten. Der neue Earl erregte das Misstrauen der Bewohner von Stonebridge. Für sie war er ein Außenseiter – ein Fremder.

Aber Olivia konnte das gute Gehalt, das ihr geboten wurde, nicht in den Wind schlagen. Ihr Papa hatte seine finanziellen Angelegenheiten mehr schlecht als recht geregelt. Nach seinem Tod war ein bisschen Geld übrig geblieben, gerade genug für ein halbes Jahr. Der Verlust des Vaters – vor allem die Art, wie er gestorben war – hatte sie tief getroffen. Dazu kam noch eine weitere Last – Emilys Behinderung. Inzwischen war das Geld knapp geworden und Olivia musste den Lebensunterhalt für sie beide verdienen. Deshalb hatte sie den Dienst auf Ravenwood angetreten.

»Zweifellos bilden Sie sich ein, Sie würden über uns allen stehen«, fuhr Mrs. Templeton empört fort. »Aber ich warne Sie, Miss Olivia Sherwood! Bringen Sie mich nicht dazu, Ihre Einstellung zu bereuen!«

Auf Olivias Wangen brannten zwei rote Flecken. Einige Dienstboten waren in der Tür stehen geblieben. Während sie die Szene beobachteten, sperrten sie Mund und Nase auf. Nur mühsam unterdrückte sie einen scharfen Protest. Was geschehen würde, wenn ihr die Haushälterin die Tür wies, wollte sie sich gar nicht ausmalen. In ruhigem Ton erwiderte sie: »Tut mir Leid, dass Sie einen falschen Eindruck gewonnen haben, Mrs. Templeton. Seien Sie versichert, ich weiß sehr gut, welchen Platz ich hier einnehme, und ich werde all Ihre Wünsche erfüllen.«

Mit ihrer würdevollen Haltung schien sie Mrs. Templetons Unmut noch zu schüren. »Großartig, Miss Sherwood.« Die dünnen Lippen bewegten sich kaum. »Zunächst werden Sie die Haupttreppe putzen und polieren. Diese Arbeit beenden Sie erst, wenn sie zu meiner Zufriedenheit erledigt wurde.«

Auf halber Höhe teilte sich der breite Aufgang in zwei Treppen, die zu den beiden Flügeln des Herrensitzes führten. Um den Befehl auszuführen, würde Olivia einige Stunden brauchen. Schweren Herzens widerstand sie der Versuchung, ihre Peinigerin wütend anzustarren. Von Anfang an hatte Mrs. Templeton sie nicht gemocht. Das las Olivia in den kalten Augen, und sie fand es erstaunlich, dass ihr das schwere Los einer Küchenmagd erspart blieb.

An der Ecke des Flurs wartete Charlotte und berührte ihren Arm. »Sorg dich nicht, Olivia. So war sie schon immer. Zumindest hat man’s mir erzählt. Offenbar steht sie mit der ganzen Welt auf Kriegsfuß.«

Olivia lächelte schwach. »Und ich dachte, sie würde nur an mir herumnörgeln.«

Wenige Minuten später trug sie mehrere Putzlappen und Bienenwachs in die Eingangshalle. Energisch machte sie sich ans Werk. Auf der anderen Seite der Treppe sah sie den Widerschein der Sonne, die allmählich hinter dem Horizont versank.

Langsam schleppten sich die Stunden dahin. Als die Uhr in der Halle zehnmal schlug, erreichte Olivia den Absatz, wo sich die Treppe teilte. Plötzlich fiel ein Schatten über ihre gebeugte Gestalt. Sie hob den Kopf und strich sich eine rotblonde Haarsträhne aus der Stirn.

Zum Glück war es nur Charlotte. »Ich werde dir helfen.«

»O nein!«, entgegnete Olivia und stand auf. »Wenn Mrs. Templeton dich hier findet, wird sie schrecklich böse sein.«

»Nun, dann werde ich ihr erklären, es gehe sie nichts an, was ich in meiner Freizeit mache.«

Olivia rückte Charlottes verrutschtes Spitzenhäubchen zurecht. »Vielen Dank für dein Angebot, meine Liebe. Aber das ist meine Arbeit, nicht deine.«

»Komm schon! Du musst für deine Schwester sorgen. Um diese Zeit solltest du längst daheim sein.«

»Und du bei deinem Sohn«, erwiderte Olivia und hob die fein geschwungenen Brauen.

Die 23-jährige Charlotte, nicht viel älter als sie selbst, hatte einen siebenjährigen Jungen namens Colin. Vor einiger Zeit hatte sein Vater einen tödlichen Unfall erlitten. Um den harten Zeiten in Irland zu entrinnen, war sie mit ihrer Mutter und dem Kind dann nach Yorkshire gezogen.

»Den kann meine Mum genauso gut betreuen wie ich. Vielleicht sogar besser, weil sie vierzehn Kinder großgezogen hat«, fügte Charlotte lächelnd hinzu.

Da gab sich Olivia geschlagen. Es wäre sinnlos gewesen, der eigenwilligen jungen Frau noch länger zu widersprechen. Und so reichte sie ihr einen Putzlappen.

Mit Charlottes Hilfe kam sie viel schneller voran. Eine Stunde später berührte Olivia die Schulter ihrer Gefährtin. »Jetzt hast du genug getan, Charlotte. Bitte, geh nach Hause zu deinem Sohn.« Charlotte öffnete den Mund, um zu protestieren, aber Olivia kam ihr zuvor und zeigte auf die restlichen Stufen. »Sieh mal, wir sind fast fertig. Den Rest schaffe ich allein. Wenn du noch länger hier bleibst und von Mrs. Templeton ertappt wirst, verlierst du womöglich deine Stellung. Das möchte ich nicht auf mein Gewissen laden.«

»Also gut …« Zögernd stand Charlotte auf und Olivia umarmte sie.

»Wie soll ich dir nur danken? Falls ich dir jemals einen Gefallen tun kann oder wenn du irgendwelche Probleme hast – wende dich bitte an mich.«

Charlotte hatte sich gerade noch rechtzeitig verabschiedet. Kaum hatte Olivia die letzte Stufe poliert, kam Mrs. Templeton auch schon die breite Treppe heraufgestiegen. Fachkundig strich sie mit einem Finger über das schimmernde Kirschbaumholz, hob ihn hoch und suchte nach Staubspuren. Nichts entging diesen stechenden kleinen Augen. Voller Angst hielt Olivia den Atem an, bis die Haushälterin vor ihr stand.

Weder Lob noch Tadel kam über die schmalen Lippen. »Sie dürfen jetzt gehen«, war alles, was sie sagte – wie üblich in mürrischem Ton.

Olivia dankte ihr und verabschiedete sich.

Erst am Fuß der Treppe seufzte sie erleichtert auf. Das Haus war dunkel wie ein Grab. In Olivias Fantasie hatte der Name Ravenwood Rabenwald – stets unheimliche, düstere Bilder heraufbeschworen. Aber bei ihrem ersten Besuch war sie angenehm überrascht gewesen. Hohe Fenster füllten die schönen, großen Räume mit einem warmen goldenen Licht, das in seltsamem Kontrast zum Namen des Hauses stand.

Während sie durch den Flur zum Hinterausgang neben der Küche eilte, hallten ihre Schritte auf dem polierten Boden wider. Mittlerweile hatten sich die meisten Dienstboten schon in ihr Quartier zurückgezogen, das ein Stockwerk tiefer lag. Nur wenige wohnten wie Olivia und Charlotte im Dorf.

Die Hand auf der Klinke, zuckte sie zusammen. Am Vortag hatte sie einen Eimer nach dem anderen ins zweite Stockwerk hinaufgeschleppt und alle Böden geschrubbt. Ihre Schultern und ihr Rücken schmerzten immer noch. Auf beiden Handflächen hatten sich mehrere Blasen gebildet und die Finger fühlten sich steif und geschwollen an.

Erschöpft folgte sie dem langen, gewundenen Weg zur Straße. Für die Überstunden an diesem Abend würde sie keinen zusätzlichen Lohn erhalten. Schweren Herzens kämpfte sie mit den Tränen. Manchmal konnte sie noch immer nicht glauben, dass Papa und Mama gestorben waren. Doch es wurde ihr qualvoll bewusst, wenn sie in Emilys blicklose Augen schaute.

Eine kalte Brise wehte ihr ins Gesicht und riss sie aus ihren melancholischen Gedanken. Fröstelnd zog sie ihr Cape enger um die Schultern. Es war spät geworden. Wahrscheinlich fast Mitternacht, überlegte sie.

Über dem Boden hingen Nebelschwaden. Der Wald reichte fast bis zur Straße heran. Vom Wind bewegt, schienen die knorrigen, ineinander verschlungenen Zweige einen makabren Tanz zu vollführen. Schaudernd sah sie sich um.

Sei nicht albern, ermahnte sie sich. Es war nur die Finsternis, die sie so unbehaglich stimmte. In der ruhigen, kleinen Gemeinde von Stonebridge gab es nichts zu befürchten. Während der letzten zehn Jahre war die Ermordung ihres Vaters das einzige schockierende Ereignis gewesen. Den Schuldigen hatte man wenig später festgenommen und bestraft.

Trotzdem konnte sie ihre Angst nicht verdrängen. Sie eilte in die Mitte der zerfurchten Straße. Sobald sie die nächste Biegung erreichte, würde sie das Dorf am Hang des Hügels erblicken.

Zunächst spürte sie die Gefahr nur – unter ihren Füßen bebte das Erdreich. Erschrocken hob sie den Kopf. In ihrer Kehle blieb ein Schrei stecken. Eine Kutsche bog um die Kurve und polterte auf sie zu – immer näher und näher. In ihren Ohren gellte das klirrende Geschirr, und sie glaubte, die vier großen Pferde mühsam keuchen zu hören. In panischem Entsetzen blieb sie wie angewurzelt stehen. Würde der Fahrer sie rechtzeitig entdecken?

Anscheinend nicht … In letzter Sekunde warf sie sich an den Straßenrand und der Wagen raste an ihr vorbei.

Zweige streiften ihre Wange, mit der Schulter voraus landete sie unsanft am Boden, und alle Luft wurde ihr aus den Lungen gepresst. Hilflos rollte sie die Böschung hinab, dann blieb sie halb benommen liegen. Wie aus weiter Ferne drang ein Ruf zu ihr. Verzweifelt rang sie nach Atem.

Nur vage wurde ihr bewusst, dass die Kutsche gehalten hatte. Langsam erhob sie sich auf die Knie und strich das Haar aus ihrem Gesicht.

Und da sah sie das riesenhafte Tier, das zu ihr sprengte. Aus ihrer Kehle drang mühsam ein halb erstickter Schrei, abwehrend hob sie eine Hand. Doch das nützte ihr nichts. Ein gewaltiger Schlag traf ihre Brust und schleuderte sie auf den Rücken. Zum zweiten Mal innerhalb weniger Sekunden stockte ihr Atem. Unfähig, sich zu bewegen, starrte sie in das klaffende Gebiss des sicheren Todes.

Es gab kein Entrinnen. Von kaltem Grauen erfasst, kniff sie die Augen zusammen. Und dann gelang es ihr endlich zu schreien. Mit Haut und Haaren würde die Bestie sie verschlingen …

Unter Stiefelsohlen knirschte Kies. »Keine Bange, er ist harmlos«, versicherte eine Männerstimme, und eine warme, nasse Zunge fuhr über ihre Wange. »Völlig harmlos.«

Langsam öffnete Olivia die Augen. Aus den nächtlichen Schatten tauchte eine hoch gewachsene Gestalt auf, von Kopf bis Fuß in Schwarz gehüllt.

Über Olivias Rücken rann ein Schauer. Noch viel größere Angst als dieses Ungeheuer jagte ihr sein Herr ein.

Einer Ohnmacht nahe, blickte sie in ein Augenpaar – so dunkel wie die Seele des Teufels. Irgendwo im Hintergrund ihres Bewusstseins ahnte sie, wer vor ihr stand.

Der Zigeuner.

2

Wie ein Zigeuner sah er nicht aus. Wo war die farbenfrohe Kleidung? Und warum trug er kein Halstuch?

Natürlich zieht er sich anders an, dumme Gans, schalt sie sich. Der Sturz musste ihr Gehirn benebelt haben. Immerhin führte der Zigeuner schon seit geraumer Zeit das Leben eines Gentlemans.

»Sind Sie verletzt, Miss? Können Sie sprechen?«

Das war also Dominic St. Bride, der Earl of Ravenwood. Seine Stimme klang leise, tief und sanft, wie ein gut geöltes Uhrwerk. Neben ihm stand der unheimliche Köter.

»Hören Sie mich, Miss?« Jetzt schwang ein ärgerlicher Unterton in seiner Frage mit. »Wenn ja, antworten Sie bitte.«

Erst jetzt merkte Olivia, dass sie ihn anstarrte. Zweifellos hielt er sie für schwachsinnig.

»Können Sie sich bewegen, junge Frau?« Dunkle Strähnen fielen ihm in die gerunzelte Stirn. Mit starken Händen umfasste er ihre Oberarme. Dann neigte er sich zu ihr herab. Dabei kam er ihr so nahe, dass sie spürte, wie sich der Wollstoff seines Jacketts an ihrer Kleidung rieb. Sein warmer Atem streifte ihre Lippen. Sonderbar – sie fand es gar nicht unangenehm …

O Gott, was war denn los mit ihr? »Wenn Sie mich loslassen würden, wäre ich Ihnen sehr dankbar, Sir.«

Irgendetwas glitzerte in seinen Augen und seine Mundwinkel zuckten. Ein Lächeln? Nein, unmöglich. Das Personal von Ravenwood hielt ihn – ebenso wie Olivia – für einen grausamen Herrn. Nachdem er ihren Wunsch erfüllt hatte, begann sie sich vorsichtig zu erheben. Er reichte ihr eine hilfreiche Hand, die sie ergriff und sofort losließ, sobald sie aufgestanden war. »Geben Sie Acht!«, mahnte er. »Nicht so schnell.«

Jetzt knirschten wieder Schritte im Kies. Ein stämmiger Mann kam heran und schwenkte eine Laterne. »Alles in Ordnung, Mylord? Beim Allmächtigen, ich schwöre Ihnen, ich sah das Mädchen erst, als es zu spät war. Selbstverständlich versuchte ich auszuweichen …«

»Beruhigen Sie sich, Higgins, wir haben die Lage unter Kontrolle. Gehen Sie zum Wagen zurück.« Die Augen des Earls – dunkel wie ein mondloser Himmel – schauten Olivia unverwandt an. Plötzlich fühlte sie sich albern und verlegen. »Um Mitternacht sollten Sie nicht allein unterwegs sein, Miss«, meinte er.

Indigniert hob sie die Brauen. Er mochte ihr Arbeitgeber sein, was er allerdings nicht wusste, aber außerhalb seines Hauses brauchte er sie nicht zu maßregeln. »Wie spät es ist, weiß ich, Sir. Und ich versichere Ihnen, mir droht keine Gefahr.«

»Wenn Sie Recht hätten, müssten wir dieses Gespräch nicht führen.«

Olivia blinzelte. Was für ein arroganter, unerträglicher Mann. Empört straffte sie die Schultern. Mit ihren zweiundzwanzig Jahren war sie ihre eigene Herrin. Papa hatte ihr niemals Vorschriften gemacht, sondern seine beiden Töchter stets ermutigt, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. »Glauben Sie mir, Sir, ich bin keine jämmerliche, hilflose Frau.«

Offensichtlich nahm er ihre Behauptung nicht zur Kenntnis. Stattdessen zog er ein Taschentuch hervor und presste es zu ihrer Bestürzung an ihre rechte Wange. »Sie bluten«, erklärte er. »Das sah ich vorhin im Laternenlicht.« Instinktiv berührte sie ihre Wange und der Earl entfernte das Tuch. »Nur ein Kratzer. Der wird bald heilen.«

Aus seinen Worten hörte sie immer noch einen Tadel heraus und sie schwieg beklommen. Wie groß er war – ihr Scheitel reichte nur bis zu seinem Kinn. Um seine breiten Schultern zu erahnen, brauchte sie kein Tageslicht. Voller Unbehagen betrachtete sie den Hund an seiner Seite. Nie zuvor hatte sie eine so hässliche Promenadenmischung gesehen, mit riesigem Schädel, langem, muskulösem Körper und schwarzem Fell. Aufmerksam spitzte er die Ohren.

Ihr Retter bemerkte, wohin ihr Blick geschweift war. »Das ist Lucifer.«

»Lucifer! Der Name des Teufels!«

Anscheinend fand er ihr Entsetzen amüsant, denn er warf lachend den Kopf in den Nacken. »Keine Bange, Lucifer ist so sanftmütig wie ein Kätzchen.«

»Ein grausiges Biest«, entgegnete sie und musterte den Hund misstrauisch. Obwohl er nicht die geringste Angriffslust zeigte und fügsam neben seinem Herrn stand, jagte er ihr kalte Angst ein. »Katzen sind mir lieber.«

»Aber Katzen haben Krallen.«

»Manche Frauen angeblich auch.«

»Oh …« Der Mond glitt hinter eine Wolke und Olivia konnte das Gesicht des Earls kaum noch sehen. Trotzdem spürte sie, dass er lächelte. »Und Sie, Miss …?«

Seltsamerweise zögerte sie, ihren Namen zu nennen. Spielte es eine Rolle? Sicher nicht. »Sherwood«, stellte sie sich schließlich vor. »Olivia Sherwood.«

Zu ihrer Verblüffung zog er einen Handschuh aus, klemmte ihn unter seinen Arm und ergriff ihre Finger. In diesem Augenblick gingen ihr zwei Gedanken durch den Sinn. Aus unerfindlichen Gründen hatte sie erwartet, seine Haut müsse sich kalt wie der Tod anfühlen. Doch sie war erstaunlich warm. Und zweitens – in seiner großen Hand schien ihre eigene zu verschwinden.

»Erlauben Sie mir, Sie nach Hause zu begleiten, Miss Sherwood.«

Als sie ihm ihre Finger zu entziehen suchte, verstärkte sich sein Griff.

»Sie … Sie halten meine Hand fest, Sir.« Großer Gott, warum stotterte sie – und warum stockte ihr der Atem?

»Gewiss, Miss Sherwood.« Er betrachtete ihre Hand in seiner, dann ihr Gesicht. Jetzt sah sie sein Lächeln ganz deutlich. Das Lächeln eines Teufels. Zweifellos machte er sich über sie lustig. »Um meine Frage zu wiederholen – darf ich Sie nach Hause begleiten?«

»Nein, Sir, das ist nicht nötig. Ich wohne ganz in der Nähe, hinter dem Hügel.«

»Im Dorf?«

»Ja …« Das stimmte nicht ganz, denn ihr Haus lag fast eine Meile vom anderen Ende des Dorfs entfernt.

»Vielleicht haben Sie sich verletzt, ohne es zu bemerken.«

»Wohl kaum«, erwiderte sie und hoffte, ihre Stimme klinge einigermaßen entschieden. »Das wüsste ich.«

Als sie seinen eindringlichen Blick spürte, fragte sie sich, ob er die Lüge durchschaute. Ein paar blaue Flecken hatte sie sicher abbekommen. Endlich ließ er ihre Hand los. Sie hatte schon befürchtet, das würde niemals geschehen. »Also gut, Miss Sherwood«, antwortete er kühl. Hatte sie ihn beleidigt?

Plötzlich regte sich ihr Gewissen. »Danke, dass Sie meinetwegen angehalten haben, Sir. Und – sagen Sie bitte Ihrem Kutscher, er sei nicht schuld an meinem kleinen Unfall.«

Der Earl nickte ihr zu. »Glücklicherweise haben Sie keinen ernsthaften Schaden erlitten, Miss Sherwood.«

Nach drei Schritten verschluckte ihn die Finsternis. Olivia kniff die Augen zusammen. Doch sie konnte ihn nicht mehr sehen. Wenig später hörte sie erneut das Pferdegeschirr klirren und der Wagen fuhr davon.

Erleichtert seufzte sie auf. Ravenwood – ein passender Name, dachte sie zitternd. Diesen Mann umgibt eine düstere, geheimnisvolle Aura …

Oder wurde ihre Fantasie von der mitternächtlichen Stunde und seiner Zigeunerseele beflügelt?

Als sie das kleine Cottage betrat, das sie jetzt zusammen mit Emily bewohnte, pochte ihr Herz immer noch viel zu schnell.

Sollte sie ihrer Schwester von der gespenstischen Begegnung erzählen? Nein, Emily würde sich nur aufregen. Zum ersten Mal war Olivia dankbar für die Blindheit des Mädchens, denn es konnte den Kratzer auf ihrer Wange nicht sehen.

Mit fröhlicher Stimme überspielte sie den Aufruhr ihrer Gefühle. »Da bin ich, Emily. Wo steckst du, Liebes?«

»Hier.« Emilys Stimme erklang im Salon.

Hastig durchquerte Olivia die Küche. Graue Schatten füllten das Wohnzimmer. Aber sie sah die Umrisse der Gestalt, die im Schaukelstuhl am Fenster saß, und begann die Kerzen zu entzünden. »Es ist so dunk …« Schuldbewusst unterbrach sie sich. Seit einiger Zeit lebte Emily in einer dunklen Welt. »Für eine Sommernacht ist es furchtbar kalt. Auf dem Heimweg glaubte ich beinahe, ich würde erfrieren.«

»Anfang Juni sind die Nächte immer noch kühl.« Emilys bebende Finger zupften an ihrem Rock. Besorgt runzelte sie die schöne Stirn. »Warum kommst du so spät nach Hause?«

»Tut mir Leid, meine Liebe, heute musste ich länger arbeiten. Sicher fühlst du dich vernachlässigt. Hast du schon gegessen?«

»Vor ein paar Stunden – ein Stück Brot und Käse.« Emily wandte den Kopf in die Richtung, aus der die Frage ihrer Schwester zu ihr gedrungen war. »Olivia, deine Stimme klingt irgendwie – anders.«

»Das bildest du dir ein. Ich bin nur traurig, weil ich dich so lange allein gelassen habe.«

»Deshalb darfst du dir keine Vorwürfe machen. Am frühen Abend ging Esther mit mir spazieren.« Nach ihrem Dienstantritt auf Ravenwood hatte Olivia eine Dorfbewohnerin eingestellt, die Emilys Mahlzeiten zubereitete und sie jeden Tag an die frische Luft führte. »Wahrscheinlich ist der neue Earl schuld an deiner Verspätung«, meinte Emily missbilligend, »dieser Zigeuner.«

Olivia seufzte. Je weniger über den neuen Herrn von Ravenwood gesprochen wurde, desto besser. Ihre Schwester war lange Zeit von Albträumen heimgesucht worden. Immer wieder, viele Wochen lang, hatte sie Bilder von der Ermordung des Vaters gesehen, und Olivia wollte die bösen Erinnerungen nicht von neuem wecken. »Nein, Liebes, heute habe ich ein bisschen getrödelt. Zur Strafe zwang mich Mrs. Templeton, die ganze Haupttreppe zu polieren. Also muss ich mir die Überstunden selbst zuschreiben.«

»Dass du für einen Zigeuner arbeitest, gefällt mir ganz und gar nicht, Olivia. Wenn du eine Gouvernante wärst – oder eine Schneiderin …«

Wenn doch … Bedauerlicherweise gab es in Stonebridge keine reiche Familie mit kleinen Kindern, die eine Gouvernante brauchte, und es wäre nicht richtig, der tüchtigen Dorfschneiderin Konkurrenz zu machen. Sie hätten nach Cornwall übersiedeln können, in Onkel Ambroses Haus. Aber Mamas jüngerer Bruder lebte nicht mehr, und seine Witwe Paulina, die vier Kinder großzog, musste jeden Penny umdrehen. Natürlich wollte Olivia ihr keine zusätzliche Last aufbürden. Und um Almosen anzunehmen, war sie zu stolz.

Schließlich hatte sie die Stelle auf Ravenwood angetreten. Dort verdiente sie genug, sodass sie Emily und sich selbst ernähren und die Miete für das Cottage bezahlen konnte. Die schwere körperliche Arbeit störte sie nicht. Und eines Tages würde sie das nötige Geld aufbringen und mit ihrer Schwester nach London fahren, zu einem guten Arzt. Seltsam, auf welche Weise das arme Mädchen sein Augenlicht verloren hatte – so plötzlich, nur einen Tag nach Papas Ermordung …

Olivias Herz krampfte sich zusammen. Niemals würde sie jenen Morgen vergessen, den Schrei, nachdem Emily erwacht war. »Ich sehe nichts! Ich sehe nichts!«, hatte sie immer wieder geklagt. Hilflos hatte der Doktor mit den Achseln gezuckt und sich die blitzartige Erblindung nicht zu erklären gewusst. Dafür hatte es keine Anzeichen gegeben. Allerdings war Emily von Papas Pferd gefallen und hatte sich den Kopf angeschlagen …

Bleischwer lastete die Erinnerung auf Olivias Seele. Emily, ein Jahr jünger als sie, war ein lebhaftes, heiteres, hoffnungsvolles Mädchen gewesen – wenn auch ein bisschen schüchtern. Das hatte Papa auf den Tod der Mutter zurückgeführt. Zu jenem Zeitpunkt hatte sich Emily in einem schwierigen Alter befunden – kein Kind mehr und noch keine Frau. Und nach dem Tod des Vaters war sie erblindet – so als hätte eine mysteriöse Hand ein Licht in ihrem Innern gelöscht. Seither wirkte sie noch scheuer und ängstlicher. Still saß sie in ihrem Schaukelstuhl und beobachtete blicklos das Leben, an dem sie nicht mehr teilnahm …

Der Gedanke, die Ärmste müsste dieses Schicksal bis zu ihrem Lebensende ertragen, drohte das Herz ihrer Schwester zu brechen. Sie kniete vor Emily nieder und ergriff die schmalen Hände, die im Schoß lagen. »Sorg dich nicht, Liebes. Bisher sind wir recht gut zurechtgekommen, nicht wahr? Außerdem konntest du viel besser nähen als ich.«

Mühsam schluckte sie den Schmerz in ihrer Kehle hinunter. »Bald werden wir ein angenehmeres Leben führen. Das verspreche ich dir.«

»Aber ich fühle mich schuldig, weil du für diesen … Zigeuner arbeitest. Damit dürftest du deine Zeit nicht verschwenden. Könnte ich bloß sehen und dir helfen …«

»So schlimm ist es nicht«, versuchte Olivia sie zu trösten. »Früher habe ich in unserem Garten viel härter gearbeitet.« Olivia bemühte sich um einen fröhlichen Ton, doch sie zweifelte an ihrem Erfolg. Wenige Sekunden später sah sie ihre Befürchtung bestätigt, als Tränen in Emilys schönen blauen Augen glänzten.

»Erst starb Mama – dann Papa … Warum werden wir so grausam bestraft, Olivia?«

Plötzlich entsann sich Olivia, wie sehr ihre Mutter die Tiere und besonders die Pferde geliebt hatte. Mamas Vater war Stallmeister auf dem Landgut eines Dukes gewesen. In ihrer Jugend hatte sie ihm oft bei der Arbeit geholfen. Eines Tages hatte ihr Papa ihr zum Geburtstag eine scheckige graue Stute namens Bonnie geschenkt, die er einem benachbarten Farmer abgekauft hatte. Mama hatte sich unbändig gefreut. Beinahe hätte man den Eindruck gewinnen können, das Pferd mit dem durchhängenden Rücken wäre der edelste Vollblüter in ganz England.

Olivia hatte den Pferden stets misstraut. Vergeblich hatte der Vater versucht, ihr das Reiten beizubringen. Um ihr die Angst vor den Tieren zu nehmen, hatte Mama sie eines Tages hinter sich in den Sattel gesetzt. Nur zu gut erinnerte sich Olivia daran. Mama hatte Bonnie in langsamem Trab um ein Feld in der Nähe des Hauses gelenkt. Allmählich hatte Olivia geglaubt, alles wäre in bester Ordnung und das Reiten würde ihr vielleicht doch noch Spaß machen. Sie hatte sogar genug Mut aufgebracht, ihre Knie in die Pferdeflanken zu pressen und die Arme auszustrecken. Während ihr der Wind ins Gesicht geblasen und an ihrem Haar gezerrt hatte, hatte sie geglaubt, zu fliegen. Und plötzlich war Bonnie gestrauchelt. Abrupt war sie stehen geblieben und Olivia war zu Boden gefallen. Aber Mama … Kopfüber war sie durch die Luft geflogen und auf einem Felsblock gelandet. Als Olivia zu ihr gekrochen war, hatten ihr alle Knochen wehgetan. »Mama!«, hatte sie gerufen. »Mama! Steh auf!« Doch die Mutter hatte sich nicht mehr gerührt. Sie war tot.

So viel hatte sich danach geändert. Papa war nicht mehr derselbe gewesen, obwohl er sich bemüht hatte, seine tiefe Trauer vor den Töchtern zu verbergen. Nie wieder hatte er so fröhlich gelächelt wie vor jenem tragischen Unfall …

Und jetzt musste Olivia ihren Kummer bekämpfen – der blinden Schwester zuliebe. »Pst, Emily. Weißt du denn nicht mehr, was Papa gesagt hat? Die Wege des Herrn sind unergründlich. Vertrauen wir dem lieben Gott – und hoffen wir auf bessere Zeiten.« Beschwörend drückte sie Emilys Hände. »Bitte, verlier nicht den Mut.«

»Natürlich hast du Recht.« Emily schniefte leise. »Wie immer.«

Olivia strich ihr eine goldblonde Haarsträhne aus der Stirn. »Möchtest du einen Becher warme Milch trinken, bevor du zu Bett gehst?«

»Ja, das wäre wundervoll.« Ein schwaches Lächeln umspielte Emilys Lippen.

»Gut. Zieh dich schon mal aus, dann bringe ich dich ins Bett.« Olivia eilte in die Küche, um die Milch zu erhitzen. Nach ein paar Minuten drang ein dumpfes Geräusch aus dem Schlafzimmer, das sie mit ihrer Schwester teilte, und sie eilte zu ihr. Bereits in einem langen weißen Nachthemd, bückte sich Emily und rieb ihr Schienbein.

Offenbar hörte sie Olivias Röcke rascheln, denn sie blickte auf. »Tut mir Leid, ich bin über irgendwas gestolpert. In letzter Zeit bin ich so ungeschickt.«

»Schon wieder dieser Schemel«, erklärte Olivia mitfühlend. »Das musst du dir merken – er steht links vom Schrank, nicht rechts.«

Nach Papas Tod hatte es eine Weile gedauert, bis ein neuer Vikar ins Dorf gezogen war. Bis dahin hatten sie in dem hübschen kleinen Haus neben der Kirche gewohnt.

Als der neue Geistliche eingetroffen war, hatte Emily eben erst gelernt, sich in ihrer gewohnten Umgebung zurechtzufinden – in ihrem geliebten Elternhaus, das jetzt von Reverend Holden bewohnt wurde. Hätte sie ihr Sehvermögen behalten, wäre ihr der Umzug sicher nicht so schwer gefallen.

Nach der Ankunft im Cottage hatte sie bittere Tränen vergossen und ihr Bett tagelang nicht verlassen. Auch das war ein Grund, warum Olivia beschlossen hatte, in Stonebridge zu bleiben. In London würde sie zweifellos eine bessere Stellung finden. Aber da Emily sich in diesem beklagenswerten Zustand befand, würde sie eine völlig fremde Umgebung nicht verkraften. Vielleicht später …

Olivia fröstelte. Obwohl der Junitag angenehm warm gewesen war, herrschte eisige Kälte im Cottage.

Anscheinend hatte sie geseufzt, denn Emily wandte sich zu ihr. »Was ist los, Olivia?«

»Nichts, ich friere nur ein bisschen. Hier ist’s ziemlich zugig, nicht wahr? Sogar im Sommer. Im Winter müssen wir uns so dick vermummen, dass uns die Leute gar nicht erkennen werden, wenn sie uns besuchen.«

Zu ihrer Erleichterung lächelte Emily. Während die Schwester die Milch trank, kleidete sich Olivia aus und schlüpfte in ihr Nachthemd. Dann krochen die beiden Schwestern ins Bett.

Schon nach wenigen Minuten verrieten tiefe, gleichmäßige Atemzüge, dass Emily eingeschlafen war. Aber Olivia starrte noch lange ins Dunkel und ihre Gedanken wanderten zu dem Zigeuner. Vielleicht war es unvermeidlich …