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Nicole C. Vosseler

Südwinde

Roman

Edel:eBooks

Copyright dieser Ausgabe © 2013 by Edel:eBooks,
einem Verlag der Edel Germany GmbH, Hamburg.

Copyright © 2012 by Nicole C. Vosseler

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Montasser Medienagentur, München.

Covergestaltung: Agentur bürosüd°, München

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-95530-212-2

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1764 geht in einem Orkan in der Südsee das britische Handelsschiff Seagull unter. Einzige Überlebende ist Brittany Addison, die junge Tochter des Kapitäns. Sie kann sich auf einer Seemannskiste an die Gestade Tahitis retten. Dort wächst sie unter der Obhut der Medizinfrau Ratanea auf und wird deren Nachfolgerin. Bis sie nach sechs Jahren Inseldasein zum ersten Mal wieder Landsleute sieht: James Cooks Endeavour legt auf der Insel an. Auch wenn der berühmte Forscher Cook noch nie eine Frau auf seinem Schiff zugelassen hat, muss er Brittany an Bord nehmen. Sie wird Mitglied seiner abenteuerlichen Expedition. Dabei muss sie nicht nur beweisen, dass sie als Frau allen Gefahren der Südsee gewachsen ist. Sie muss auch lernen, auf die Stimme ihres Herzens zu hören, als sich zwei ganz unterschiedliche Männer um ihre Gunst bewerben ...

 

ZEIT

Unergründliche See! deren Wellen Jahre bedeuten,

Ozean der Zeit, dessen Wasser des tiefen Leids

brackig sind vom Salz menschlicher Tränen!

Du uferlose Flut, die du in deinen Gezeiten

die Grenzen der Sterblichkeit umklammerst

und, deiner Beute überdrüssig, immer noch heulst nach mehr,

speist deine Trümmer auf die unwirtliche Küste;

verräterisch in der Ruhe, und schrecklich im Sturm,

wer kann es mit dir aufnehmen,

unergründliche See?

Percy Bysshe Shelley

Prolog

Pazifischer Ozean, September 1764

Silberblau glitzerte die Meeresoberfläche, brach hell und hundertfach die Strahlen der wärmenden Tropensonne. Ein milder und dennoch kräftiger Luftstrom spielte mit den Wellen, ließ sie immer wieder milchweiß aufschäumen und fing sich in den großflächigen Segeln des Dreimasters, die ihn laut knatternd begrüßten.

Die Hände auf dem Rücken seines dunkelblauen, langschößigen Uniformrocks verschränkt, machte Captain Howard James Addison die erste Runde dieses Tages über das Deck. Kritisch begutachtete er jede Leine, jede Planke, die seinen Weg über das Schiff kreuzte, ob auch Wochen nach der stürmischen Umschiffung Kap Hoorns keine Anzeichen von Verschleiß oder gar Fäulnis zu entdecken waren. Sein schmales, wettergegerbtes Gesicht drückte verhalten Zufriedenheit aus, während er mit festen Schritten an den Matrosen vorüberging, die auf Taurollen oder den nackten Planken saßen und ohne große Eile den kleinen alltäglichen Arbeiten wie dem Ausbessern schadhaften Segeltuchs oder dem Polieren von Messingteilen nachgingen. Ihr respektvolles «Morgen, Sir» erwiderte er mit einem knappen, aber durchaus wohlwollenden Kopfnicken.

Mittschiffs, auf der Höhe des Großmastes, blieb er stehen und legte den Kopf in den Nacken.

Von jeher war für ihn nichts so sehr ein Sinnbild für das Handwerk des Seefahrers gewesen wie diese mächtigen Masten, sich gen Himmel verjüngend, die straff gespannten Leinen, in der Brise vibrierend, die aufgeblähten Segel, wie sie blendend weiß die Sonne reflektierten.

Unwillkürlich wanderten seine Gedanken in seine Lehrzeit zurück, an diese – auch für ihn als Sohn eines Vizeadmirals – harten Jahre, voller Mühsal und schmerzender Muskeln, aber auch mit dem prickelnden Geschmack des Abenteuers. Er erinnerte sich an seine ersten Reisen, die ihn als grünen Jungen bereits bis weit in die südliche Hemisphäre geführt hatten, auf wilde Inseln und an abenteuerliche Küsten, bis er als aufstrebender Offizier für die East India Company regelmäßig die ostindische Kolonie Madras anzusteuern begann. Er hatte Stürme von der Gewalt eines Hurrikans überstanden, tückische Sandbänke und Klippen umschifft und manch einen Kameraden auf See gelassen, in all diesen Jahren, die in einem gleichmäßigen, ununterbrochenen Strom an ihm vorübergeflossen zu sein schienen, kaum dass er es bemerkt hätte.

Lange blieb er so in seine Erinnerungen versunken stehen, bis er plötzlich den Kopf über sich selbst schüttelte. Diese Art von Nostalgie, die ihm sonst so völlig fremd war, ließ ihn sich müde und alt fühlen, obwohl er eben erst sein viertes Lebensjahrzehnt vollendet hatte. Energisch wandte er sich ab und begann seinen Rundgang fortzusetzen, um damit seinen Gedanken eine neue, weniger schwermütige Richtung zu geben, als ihn etwas innehalten ließ.

«Brittany! Komm sofort da herunter!»

Mit gerunzelter Stirn starrte er nach oben, wo unterhalb der schwankenden, steil in das Blau des Himmels hineinragenden Mastspitze seine Tochter zusammen mit zwei Matrosen die Leinen des Toppsegels festzurrte. Vergeblich wartete Captain Addison auf ein Innehalten in ihrer Bewegung, ein Drehen des Kopfes, irgendein Zeichen dafür, dass seine donnernden Worte ihr Ziel erreicht hatten.

«Wart du nur», knurrte er leise und drohend vor sich hin. Seine Männer stießen sich verstohlen gegenseitig an und warfen sich feixend viel sagende Blicke zu – seit die Seagull aus dem schützenden Hafenbecken Plymouths heraus Kurs auf das offene Meer genommen hatte, war dies nicht das erste Mal, dass die temperamentvolle kleine Tochter des Captains ganz keck und wie selbstverständlich an Bord mit Hand anlegte, obwohl sie nur zu genau wusste, dass der Captain dies nicht duldete, und es war sicher nicht das letzte Mal, dass er sie dabei ertappte und sich ein heftiges Donnerwetter zusammenzubrauen begann.

«Guten Morgen, Sir.»

Addison musterte kurz, aber nicht unfreundlich den jungen Mann von kräftiger Statur, der zu ihm getreten war, und ließ sich für den Augenblick von seinem Ärger ablenken.

«Guten Morgen, Mr. Johnson. Wie ist unsere momentane Position genau?»

«Achtzehn Grad, dreiundzwanzig Minuten Süd; einhundertneunundvierzig Grad, zwölf Minuten West, Sir.»

Der Captain nickte befriedigt. «Ausgezeichnet. Wir legen ein gutes Tempo vor.»

Eine steile Falte tauchte an der Nasenwurzel von Johnsons noch jungenhaftem Gesicht auf, verlieh diesem etwas vorsichtig Abwägendes.

«Sir, was schätzen Sie – wann werden wir wieder Land sehen? Die Mannschaft wird allmählich ungeduldig, jetzt wo es keine größeren Arbeiten am Schiff mehr auszuführen gibt.»

Addison stützte sich auf die Reling und ließ seine hellen, harten Augen über die bewegte Oberfläche des Meeres schweifen.

«Nicht nur die Mannschaft, Johnson», sagte er stirnrunzelnd, «auch ich sähe lieber heute als morgen einen Küstenstreifen am Horizont. Wir müssen zwar immer davon ausgehen, dass die alten Karten nicht exakt ausgemessen und gezeichnet sind, aber ich bin ganz zuversichtlich, dass es nicht mehr allzu lange dauert. Zwei, drei Tage vielleicht, nicht mehr, bis die erste Insel in Sicht sein wird.»

In seiner Erinnerung sah er sie wieder vor sich liegen, die vergilbten, ausgeblichenen Karten, ausgebreitet auf dem rußbefleckten Holztisch einer der unzähligen heruntergekommenen Hafenkaschemmen auf Barbados, beleuchtet vom flackernden Lichtschein einer übel riechenden Talgkerze. Einer seiner damaligen Matrosen, ein hinterlistiger, schmieriger Kerl mit weniger Zähnen im Mund als Fingern an den Händen, hatte ihm zugeflüstert, ein Saufkumpan von ihm, Seemann auf einer spanischen Galeone, sei im Besitz von alten Karten, die die Südsee zeigten. Gegen eine Hand voll Goldmünzen könnte er den Captain mit ihm bekannt machen, wenn er daran Interesse hätte. Addison war mehr als nur interessiert, er brannte vor Neugier, wenn er auch aus taktischen Gründen Gleichgültigkeit vortäuschte: Der Pazifische Ozean galt noch immer als ein weißer Fleck auf den Seekarten, nahezu unerforscht und Gegenstand zahlloser Legenden und Abenteuergeschichten. Karten von diesem Teil der Welt zu besitzen, hieße das Monopol auf noch unbekannte Handelswege in den Händen zu halten und die Macht über den größten Ozean dieses Planeten.

«Verblüffend, wie weit die Spanier damals schon gesegelt sind – vor mehr als einhundertfünfzig Jahren bis in die Weiten dieses Ozeans», gab Johnson, als hätte er die Gedanken seines Captains lesen können, seiner Bewunderung für das Können der Seefahrer vergangener Zeiten Ausdruck.

Addison nickte zustimmend. Selbst nach all den Jahren, die er an Deck so vieler Segelschiffe verbracht hatte, hatten für ihn das unbezähmbare Meer und der Mut jener Männer, die es mit ihm aufnahmen, nichts von ihrer Faszination eingebüßt.

«... ein Meer so unermesslich, dass der menschliche Verstand es kaum fassen kann», murmelte er unwillkürlich und fugte auf einen fragenden Blick Johnsons hinzu: «So nannte ein Chronist Magellans die Südsee.»

Die beiden Männer wechselten einen Blick des gegenseitigen Verstehens. Nichts hätte treffender ausdrücken können, was sie Tag für Tag aufs Neue empfanden, seit sie die wilden, sturmgepeitschten Felsen Feuerlands hinter sich gelassen hatten.

Fernão de Magalhães, Magellan genannt, der große Ahn aller Seefahrer, war der Erste, über zweihundert Jahre zuvor, der eine Reise in dieses unermessliche Meer unternommen hatte. Besessen davon, westwärts einen Weg zu den reichen Gewürzinseln zu finden, durchquerte er auf weit nördlichem Kurs, abgetrieben von den scharfen Westwinden, das völlig leer scheinende Meer, ohne auf nur eine Insel oder Klippe zu treffen, die die Gewalt der Wellen und die Kraft der Strömung hätten brechen können. Mit für seine Zeit unglaublicher Präzision fand er seinen Weg anhand der Sterne und geleitet von glücklicher Vorsehung auf die Philippinen, seinem gewalttätigen Ende dort entgegen. Er hatte das Glück der Mutigen gehabt und die Wasserwelt dieses Ozeans in einer ihrer heiteren Launen angetroffen, was ihn dazu verleitete, ihr den Namen Mar Pacifico, friedliches Meer, zu verleihen – ein trügerischer, beinahe zynisch zu nennender Name, wie alle seine Nachfolger an ihrem eigenen Leib erfahren sollten.

Männer der damals die Weltmeere beherrschenden Mächte Spanien und Portugal folgten ihm eine Spur weiter südlich und trafen endlich auf die heiß ersehnten Felsen in der Einöde des Meeres. Doch ihre Entdeckungen enttäuschten alle Erwartungen: unwirtliche, winzige und von der Brandung bestürmte Klippen, deren wenige Bewohner keinerlei Zivilisation kannten, sich nicht einmal für den Sklavenhandel zu eignen schienen, und vor allem gab es nicht das geringste Indiz für das verheißene Gold und Silber, für schimmernde Perlen und funkelnde Edelsteine, für Ingwer, Pfeffer, Zimt und Safran – keine Spur der sagenumwobenen Inseln Salomos, die von den Weltmächten als Schatzkammern ihres Ruhms begehrt wurden. Der immense weiße Fleck auf den Weltkarten bekam ein paar Farbtupfer, nicht größer als Stecknadelköpfe; und wie in einer Laune des Schicksals waren sich die beiden erbittertsten Rivalen der Weltmeere stillschweigend darin einig, ihren königlichen Börsen noch größere Verluste zu ersparen, und stellten in der Folge ihre Entdeckungsreisen in dieses unfreundliche Meer ein, zugunsten anderer, jünger und eben erst aufstrebender Seefahrtsnationen.

«Was ist mit den Holländern, Sir? Ich hatte immer geglaubt, die Südsee sei auch für sie von Interesse, doch soviel ich gehört habe, hat sich da seit über vier Jahrzehnten nichts mehr getan.»

Captain Addison nickte. «Diese Gewässer waren ihnen zu unbequem und zu gefährlich. Es lohnte sich einfach nicht für die sparsamen Holländer: hohes Risiko, wenig Gewinn. Dafür haben sie nun Java und die Molukken und machen ein Heidengeld mit ihrem Gewürzhandel.»

«Was glauben Sie, was uns dort draußen erwartet, Captain?»

Addison kniff leicht die Augen zusammen, als wollte er die Zukunft abschätzen, die hinter dem Horizont auf sie wartete.

«Sicher auch keine phantastischen Goldschätze – das ist alles gesponnenes Seemannsgarn. Aber ich denke, dass weder die Spanier noch die Holländer alles entdeckt haben, was es hier zu entdecken gibt. Dazu ist dieses Meer einfach zu riesig.»

«Sie meinen einen noch unentdeckten Kontinent?»

Neugier und brennende Abenteuerlust standen in den Augen des jungen Offiziers. Terra australis incognita, der große, noch unbekannte südliche Kontinent, wo Gold, Silber, Perlen, Muskat, Ingwer und Zuckerrohr von außerordentlicher Größe zu finden seien, der als Gegengewicht zu Europa, Asien und Amerika die Weltkugel ausbalancierte, heizte seit mehreren Jahrzehnten die Phantasien der Seeleute und der Gelehrten gleichermaßen an – und nicht minder deren Gemüter: Für die einen war es eine absolute, nicht zu bezweifelnde Wahrheit, der nur noch die endgültigen, unumstößlichen Beweise fehlten, für die anderen eine reine Chimäre, die lediglich ein Kopfschütteln wert war, so wie Addison nun Johnson ein wenig amüsiert anblickte, bevor er genau dies tat.

«Ich glaube all diesen Gelehrten nicht, Mr. Johnson. Läge dort unten» – er deutete in Richtung Süden – «wirklich ein solch großer Erdteil, hätte man ihn längst entdeckt. Nein, was ich meine, ist die Öffnung eines neuen Handelsweges, weswegen wir auch hier sind. Das lohnt diese Reise allemal – und wenn wir nur beweisen können, dass zwischen Neu-Holland und Neu-Guinea ein Seeweg existiert, wie er auf diesen spanischen Karten eingezeichnet ist.»

«Das könnte für Sie die Aufnahme in die Royal Society bedeuten, Sir.» Wenn Johnson enttäuscht war von der ernüchternden Antwort seines Captains, so ließ er es sich nicht anmerken.

«Abwarten», wiegelte der Captain ab, ohne eine Miene zu verziehen, und deutete auf das offene Meer vor ihnen. «Zunächst einmal interessiert uns nur, was in den nächsten Tagen und Wochen dort draußen auf uns zukommen wird. Wenn wir das wissen und heil zurück in England sind, sehen wir weiter und hören uns an, was Mr. Pringle und seine ehrenwerten Freunde von der Society dazu meinen.»

Er senkte seine Stimme und verlieh ihr einen beschwörerischen Unterton: «Nur vergessen Sie bitte eines nicht, Johnson: Offiziell besitzen wir keine Abschriften der Karten, haben solche auch nie gesehen, weder Sie noch Williams noch ich. Wir segeln allein nach dem Wind und den Sternen, immer in der vagen Hoffnung, Land in dieser blauen Wüste zu finden. Ein falsches Wort zur unrechten Zeit, und wir und die East India Company stecken in Schwierigkeiten, und England erlebt eine Staatsaffäre, wie sie das Königreich noch nicht gesehen hat. Mit den Spaniern ist nicht gut Kirschen essen, wenn es um Seewege und fremde Territorien geht.»

Addison war sich von Anfang an bewusst gewesen, dass er sich auf höchst gefährlichem Terrain bewegte. Er hatte mit einem Blick gesehen, dass diese Karten ohne den leisesten Zweifel echt waren, von spanischen Seefahrern vor langer Zeit gezeichnet, und dass der einfache Seemann, der sie ihm anbot, unter seiner verdreckten, zerlumpten Kleidung Aussehen und Manieren eines hochrangigen Offiziers zu verbergen suchte. Es hatte immer wieder Gerüchte gegeben, dass die Spanier noch lange Zeit nach ihrem offiziellen Entschluss, keine Expeditionen mehr in dieses unfreundliche Meer zu senden, heimlich Schiffe ausrüsteten, um durch Glück und die Hilfe des Herrn doch noch diese eine Entdeckung zu machen, die ihnen einen Vorsprung über den Erzrivalen Portugal und die neuen Seemächte Holland, Frankreich und England verschaffen würde. Die meisten davon waren untergegangen, so hieß es, von messerscharfen Korallenriffen aufgeschlitzt oder von Wellenbergen verschlungen; Einzelnen jedoch soll der Weg zurück in spanische Kolonien gelungen sein, nur noch mit einem Zehntel der Mannschaft, aber detaillierten Karten des inzwischen so berüchtigten Ozeans an Bord, die von den spanischen Machthabern eilig konfisziert und unter Schloss und Riegel gehalten wurden, um wenigstens den Hauch eines Vorteils zu behalten. Doch kein Geheimnis kann auf ewig ein solches bleiben, und auf dunklen und verschlungenen Pfaden, an Bestechung, Diebstahl, Mord und Verrat vorbei, fanden diese Karten ihren Weg zu dem Spanier und zu Captain Addison.

Er hatte es abgelehnt, die Originale zu erwerben, das Risiko schien ihm unkalkulierbar; stattdessen einigten er und der Fremde sich auf eine gewisse Summe, und Addison machte sich daran, mit Feder und Tinte Kopien dieser Dokumente anzufertigen. Kein Wort zuviel wurde zwischen ihnen gewechselt, kein Name genannt. Die karibischen Inseln, die Addison auf jeder seiner Reisen in die ostindischen Kolonien ansteuerte, um Proviant und frisches Wasser an Bord zu nehmen, waren ein gefährliches Pflaster, verdorben von der Gier nach Gold und Macht. Als ihm dann auf der Rückfahrt von Madras das Gerücht zugetragen wurde, der Spanier sei in einer dunklen Ecke des Hafens aufgefunden worden, mit durchschnittener Kehle und übel zugerichtet, empfand Captain Addison zwar eine Spur von Bedauern für diesen armen Teufel, doch das war der Preis, der für den Verrat von Staatsgeheimnissen zu zahlen war. Ihm gelang es, seine Abschriften sicher und unbemerkt nach England zu bringen und die East India Company von dem Gewinn zu überzeugen, den eine Expedition in die Südsee bedeuten könnte. Die Lagerräume der schnittigen, soeben vom Stapel gelaufenen Seagull wurden mit Proviant, Trinkwasser und Tauschgütern – bunte Glasperlen, Spiegel, Bänder und farbenfrohe Baumwollstoffe – gefüllt und die Segel gehisst.

Johnson, der zusammen mit dem Zweiten Offizier Daniel Williams in die Bedeutung dieser Reise eingeweiht war, nickte. «Verstanden, Captain. Wenn ich noch eine Bemerkung machen dürfte ...», versuchte Johnson, die gute Stimmung seines Captains ausnutzend, loszuwerden, was ihm auf dem Herzen lag.

Addison machte eine großzügige Geste. «Bitte.»

Harold Johnson wies mit seinem kantigen Kinn in die Takelage. «Sie sollten sie machen lassen, Sir. Sie stellt sich nicht ungeschickt an, und sie lernt sehr schnell hinzu.»

Der Captain betrachtete eine scheinbar weit entfernte Stelle hinter Johnsons Dreispitz, ehe er seinen Blick auf den jungen Mann richtete. «Das ist nicht der Punkt, Mr. Johnson», gab er scharf zur Antwort, fuhr dann aber etwas milder gestimmt fort: «Wenn ich meiner Tochter erlaube, auf dieser Reise mitanzupacken wie einer unserer Schiffsjungen, dann wird sie sich bis zu unserer Rückkehr auch wie ein solcher benehmen. Und wenn ich sie so meiner Schwester zurückbringe, dann möge Gott mir beistehen! Außerdem kann ich es nicht angehen lassen, dass sie alle meine Anordnungen missachtet, das schadet der Disziplin an Bord.»

«Es ist Mistress Burton sicher sehr schwer gefallen, sie mit Ihnen segeln zu lassen», bemerkte Johnson.

«Schwer gefallen? Guter Gott – ich glaube, sie hätte mich am liebsten noch am Kai eigenhändig gefesselt und geknebelt, um zu verhindern, dass ich Brittany mitnehme und hier an Bord verwildern lasse, wie sie es nennt!»

Der junge Offizier grinste bis über beide Ohren. «Ich kann mir Ihre Tochter nicht so recht in einem Salon vorstellen, über eine Handarbeit gebeugt und schamhaft errötend, wenn das Wort an sie gerichtet wird.»

Um Captain Addisons Mundwinkel spielte ein leises Zucken. «Ich mir, ehrlich gesagt, ebenso wenig, und genau das bringt meine Schwester so gegen mich auf.»

Er erinnerte sich daran, wie ihn Patty jedesmal, wenn er sein Schiff sicher in den Heimathafen gebracht hatte, ungeduldig in Greenhill erwartete und ihm – kaum dass er richtig aus der Kutsche gestiegen war, müde und staubig von der langen Reise über schlechte Straßen an die sanfte Küstenlandschaft Kents – alle Schandtaten berichtete, die Brittany in seiner Abwesenheit begangen hatte: wie oft sie wieder ans Meer ausgerissen war, sich mit Kindern aus dem Dorf gebalgt oder ihre Kleider beim Klettern auf Bäume zerrissen hatte. Für Patty, die es sich, verwitwet und kinderlos, zur Lebensaufgabe gemacht hatte, ihre Nichte zu einer fügsamen jungen Lady zu erziehen, waren das alles Akte der Rebellion; Captain Addison hingegen hatte es eher gelassen gesehen, es als Ausdruck des ungezügelten Temperaments betrachtet, das sie von ihrer französischstämmigen Mutter geerbt hatte, wenn Brittany wieder einmal über die Stränge schlug. Doch hier auf dem Schiff war Disziplin lebenswichtig – jede Nachgiebigkeit, mochte sie auch noch so gering sein, konnte sich bitter rächen, unter Umständen sogar tödlich sein.

Machte es jedoch wirklich Sinn, Brittany die Arbeit an Bord zu verbieten? Hatte er tatsächlich geglaubt, sie nach zwei Jahren auf See nach Hause zurückbringen zu können, als sei nichts von alledem, was sie in dieser Zeit erlebt haben würde, geschehen – als hätte sie nicht den halben Erdball umsegelt, nie enge Bekanntschaft mit einfachen, ungeschliffenen Seeleuten gemacht, nicht das raue Leben an Bord geteilt? Fast verfluchte er den Tag, als er Brittanys Drängen und Betteln nachgegeben und sich einverstanden erklärt hatte, sie auf seine nächste Reise mitzunehmen, um seine ständigen Gewissensbisse, sie über all die Jahre hinweg, die er auf See gewesen war, sträflich vernachlässigt zu haben, zu beruhigen.

Johnson sah es ihm an, wie es in ihm arbeitete, und schwieg.

Unvermittelt wandte sich Addison wieder an ihn. «Sie haben Recht. Wenn wir erst zurück in England sind, wird sie zu alt sein, um noch so unbeschwert herumtollen zu können. Ihre Kindheit neigt sich ohnehin dem Ende zu – warum sollte ich dem unbedingt vorgreifen?»

«Danke, Sir. Sie werden es nicht bereuen, da bin ich sicher.»

Der Captain zog erstaunt die Augenbrauen hoch. «Man könnte fast auf den Gedanken kommen, Sie hätten einen Narren an meiner Tochter gefressen, so wie Sie sich bei mir für sie verwenden!»

Eine tiefe Röte überzog Harold Johnsons eckiges Gesicht, das seine ländliche Herkunft verriet. «Wir alle hier an Bord, Sir», erwiderte er etwas hilflos, dann, mit festerer Stimme: «Es gibt unter der Mannschaft wohl niemanden, der nicht für sie durchs Feuer gehen würde. Sie ist etwas ganz Besonderes, Sir.»

Ein warmer Glanz schimmerte in Captain Addisons sonst so eisig wirkenden Augen auf, und einen Augenblick lang sah es aus, als wollte er zu einer Erwiderung ansetzen. Doch dann straffte er sich wieder und wandte sich der Seeseite zu. Prüfend sah er zum Himmel.

«Da liegt etwas in der Luft – könnte sein, dass wir heute noch Sturm bekommen. Sehen Sie nach, wie weit die Arbeit am vorderen Stagsegel ist, und geben Sie dem Bootsmann Bescheid.»

Groß für ihre knapp zwölf Jahre, schlank und sehnig, in einem einfachen weißen Hemd und weiten, wadenlangen Seemannshosen, in der Taille von einer Kordel zusammengehalten, kletterte Brittany geschmeidig die Webleinen zwischen den Wanten hinunter. Einzelne Strähnen hatten sich aus ihrem dicken, kastanienbraunen Zopf gelöst und kitzelten die erhitzten und geröteten Wangen.

Wenn Tante Patty mich so sähe, dachte Brittany und musste lachen bei dieser Vorstellung, in Hemd und Hosen, wie ein Junge, und die Haare zerzaust! Hier gab es niemanden, der ihr sagte, was sich schickte und was nicht; endlich musste sie nicht mehr darauf Acht geben, dass sie sich nicht schmutzig machte, sich nicht mit den Röcken irgendwo verfing und sie dann zerriss – hier war sie frei.

«Brittany!» Der strenge Ruf ihres Vaters holte sie aus ihren Träumereien in die Wirklichkeit zurück.

«Papa! Warten Sie, ich komme herunter!»

Kunstfertig hangelte sie sich von den dünnen Tauen der Webleinen zu der Jakobsleiter hinüber, die direkt am Mast befestigt war, kletterte die letzten Sprossen dort hinab und landete mit einem gezielten Sprung vor ihrem Vater auf Deck.

«Stellen Sie sich vor», sprudelte es aus ihr heraus, «Rollins und Wilkes sagen, ich mache das schon richtig gut, bestimmt nicht schlechter als Roddie auch, und der ist nun schon bald fünf Jahre auf See, und wenn ich nun auch noch —» Ihr überschäumender Redestrom erstarb, als sie die finstere Miene ihres Vaters sah.

«Brittany Anne Addison», begann er ernst, «offenbar hast du bereits vergessen, dass ich dir ein für alle Mal untersagt habe, hier den Schiffsjungen zu spielen. Oder täusche ich mich da vielleicht?»

Heiß schoss Brittany das Blut ins Gesicht. Trotzdem zwang sie sich, dem Blick ihres Vaters standzuhalten; nur ein leichtes Flackern in ihren tiefblauen Augen verriet, dass sie sich unter ihrer hellen, von der Sonne golden angehauchten Haut nicht wohl fühlte.

«Nein, Papa, ich habe es nicht vergessen.»

«Und weshalb hältst du dich nicht daran, wenn ich dich fragen darf?»

«Ich – ich hatte es für nicht so wichtig gehalten», gab sie kleinlaut zur Antwort, aber mit einem Zug der Entschlossenheit und Unnachgiebigkeit um ihren Kindermund.

«So – nicht für wichtig gehalten?» Addisons Tonfall war mehr als beißend. «Eines möchte ich hier klarstellen, und das für den Rest der Fahrt: ich habe hier das Kommando, und wenn ich dir eine Anweisung erteile oder dir etwas verbiete, so hast du dich daran zu halten!»

Brittany biss sich auf die Unterlippe; ihr Stolz und ihr Widerspruchsgeist würgten sie im Hals, doch tapfer behielt sie den Kopf oben.

«Ja, Papa», gab sie mit dünner Stimme zur Antwort, heftig an der Demut dieser Antwort schluckend.

«Mach, dass du nach vorne kommst – White kann am Bugspriet jede Hand gebrauchen.»

Verblüfft blickte Brittany in das unbewegte Gesicht ihres Vaters, der sie mit einer ungeduldigen Handbewegung förmlich davonscheuchte.

«Na los – das ist ein Befehl!»

«Aye, aye, Sir! – Danke, Papa!»

Captain Addison sah ihr nach, wie sie strahlend in Richtung des Vordecks davonstürmte, langbeinig und flink, vibrierend vor Freude und Energie. Ein Lächeln stahl sich auf sein sonst so strenges Gesicht. Seine Tochter!

Es ließ sich nicht leugnen: sie war eine echte Addison, von denen sein Vater immer behauptet hatte, sie hätten soviel Schneid wie ein Dutzend Husaren und dazu mehr Salzwasser als Blut in den Adern. Erst im letzten halben Jahr, seit er Brittany tagtäglich auf dem Schiff um sich gehabt hatte, war ihm bewusst geworden, wieviel ihm von ihrer Entwicklung von dem schreienden, immer hungrigen Säugling, den er damals in Pattys Obhut zurückgelassen hatte, zu dem aufgeweckten Wildfang heute entgangen war.

Wann immer er nach England zurückgekehrt war, war er nach Greenhill hinausgefahren, immer in der Hoffnung, dass der Schmerz nachgelassen hätte und ihn leichter atmen ließe. Doch kaum hatte die Kutsche die letzte Wegbiegung erreicht, hinter der sich das massive Steinhaus erhob, sah er Anne vor sich, wie sie auf ihrem geliebten Braunen über die Wiesen preschte, dass ihre Röcke flogen, sah sie aus der hohen Eichentür stürzen, ihm entgegen, wenn er bei seiner Heimkehr aus der Kutsche stieg; er hörte ihre Stimme durch den Korridor schallen und seinen Namen rufen, hörte ihre leichten, schnellen Schritte in der Halle. Hirngespinste, Schattenbilder, Irrlichter seiner Phantasie – nie wieder würde Anne die Zimmer des Hauses durchstreifen, nie wieder die salzige Luft einatmen, die an kühlen Tagen Greenhill einhüllte, oder ihr Gesicht in den duftenden Rosenbüschen vergraben, die auf der windgeschützten Seite des Gartens wuchsen und so schnell verblühten. Seit jener stürmischen Frühlingsnacht, in der Anne Brittany das Leben schenkte und ihr eigenes aushauchte, atmete jeder Winkel des Gebäudes die Erinnerung an sie, und der Schmerz, der zu Howards ständigem Begleiter geworden war, schien in Greenhill unerträglich. Nur auf der hohen See fühlte er sich sicher und getröstet.

Krampfhaft zog sich sein Herz zusammen. An Brittany hatte er nie gedacht, sich nie gefragt, wie dieses Kind, seines und Annes, dabei empfinden mochte, das Einzige, das ihnen nach dem frühen Tod der beiden kleinen Söhne geblieben war – nie hatte er darüber nachgedacht, wie schmerzhaft sie wohl jeden seiner eiligen Abschiede erlebt haben mochte. Patty hatte nicht Unrecht gehabt, als sie ihm in ihrem Zorn vor der Abreise vorgeworfen hatte, das Kind sei ihm immer nur gleichgültig gewesen, und mehr als ein Jahrzehnt musste vergehen, bis ihm diese gemeinsame Reise sein Versagen und seine Feigheit vor Augen führte.

«Verdammt will ich sein, wenn ich nicht alles tun werde, was in meiner Macht steht, um das wieder gutzumachen», murmelte Howard vor sich hin, den Blick fest auf den Horizont geheftet. Er atmete tief durch, als wollte er damit seine drückenden Gedanken abschütteln und seinen Schwur bekräftigen. Mit entschlossenen Schritten setzte er seinen Rundgang über das Deck fort.

Das Meer schäumte. Hart traf die Gischt den Bug und schoss an ihm empor; der Wind riss an den Segeln und blähte sie zum Zerreißen. Das Schiff tanzte in der aufgewühlten See auf und ab; seine hölzernen Planken ächzten und stöhnten unter der Wucht der anprallenden Wellen. Innerhalb weniger Stunden waren am Horizont Wolken aufgequollen, dicht und drohend, und hatten sich in Windeseile genähert. Bald hing eine finstere graue Wolkenmasse, die nichts Gutes verhieß, tief über der aufwallenden See und ballte sich weiter zusammen. Vereinzelt zuckten Blitze über den Himmel, doch kein Donner grollte. Ein wilder Wind kam auf, immer wieder die Seiten wechselnd, scharf die Luft durchschneidend, sich in einem wahnsinnigen Crescendo zu einem rasenden Orkan aufpeitschend. Von einem Augenblick zum nächsten öffneten sich die Schleusen des Himmels; ungeheure Wassermassen strömten und stürzten auf das Schiff nieder. Schrill und aufgeregt meldete die Schiffsglocke Alarm und rief alle Mann auf ihre Posten.

Brittany lag zusammengerollt unter ihrer Koje. Sie war mit den Stürmen der englischen Küste aufgewachsen, und selbst die heftigen Unwetter, in die sie bei der Umsegelung des unter Seeleuten berüchtigten Kap Hoorn geraten waren, hatten sie nicht schrecken können. Doch das hier war etwas gänzlich anderes. Das Schiff schlingerte von einer Seite zur anderen, knarzte und knirschte entsetzlich. Dröhnend schlugen die Brecher an die Außenwand. Was Brittany aber am meisten beängstigte, war dieser fauchende, brüllende Sturmwind, tobend wie ein zorniger Dämon. Sie wollte sich die Ohren zuhalten, wollte nichts mehr hören, doch sie konnte keinen Finger rühren, war wie gelähmt vor Furcht.

Die Holztür schwang auf, und Johnson stürzte in die Kajüte. Sein Uniformrock war schwarz vor Nässe, Hemd und Kniehose klebten ihm am Körper; Wasser floss ihm aus den Haaren, tropfte ihm ins Gesicht.

«Da steckst du!» Er ging in die Knie, um dem verängstigten Kind näher zu sein.

Die Vertrautheit, die Johnson selbst in dieser schrecklichen Situation mit sich brachte, brach den Bann, und rasch kroch Brittany unter der Koje hervor. Hilfe suchend klammerte sie sich an ihn, so fest sie nur konnte, und verbarg ihren Kopf an seiner Brust.

«Ich habe solche Angst!»

Leicht wiegte er den schmalen, zitternden Körper. «Ich weiß, Kleine, ich weiß.»

«Gott, wenn der Sturm nur ein Ende nähme, egal wie, ich will nur, dass es endlich vorbei ist!»

Johnson zog schmerzlich die Augenbrauen zusammen. Er wollte nicht daran denken, wie es an Deck aussah oder unten in den bald völlig überfluteten Laderäumen, nicht daran, was sie in den kommenden Stunden erwarten würde – er ertrug den Gedanken einfach nicht, dass er hier wahrscheinlich nicht lebend wieder herauskommen würde, genauso wenig wie alle anderen an Bord.

Seine Stimme klang heiser, als er sich sanft und doch bestimmt aus Brittanys Umklammerung löste. «Wir müssen an Deck. Befehl vom Captain.»

«An Deck?» Brittany riss die Augen auf. «Aber warum? Hier unten ist es doch viel sicherer!»

«Befehl ist Befehl. Der Captain wird schon wissen, was er tut. Komm!»

Im Gang drückte sich von allen Seiten das Wasser durch die Planken, stellenweise stand es schon knöchelhoch. Durch die Luke, die an Deck führte, strömten ganze Sturzbäche die steilen Stufen hinab. Brittany hatte kaum den Kopf zur Luke hinausgesteckt, als sie auch schon bis auf die Haut durchnässt war.

Auf dem Oberdeck herrschte wilder Tumult. Die Männer rannten kopflos durcheinander, schrien und brüllten kreuz und quer, schlitterten über die schlüpfrigen Planken, glitten aus, rappelten sich wieder auf, rempelten einander an. Etliche versuchten, das Schiff zu leichtern, indem sie Fässer über Bord warfen; Holzkisten in allen Größen folgten. Säcke mit Mehl, Erbsen und Bohnen wurden hinausgeschleudert; zu dritt und zu viert hievten die Matrosen die Geschütze an und ließen sie über die Reling hinweg ins Meer plumpsen. Andere waren dabei, das zu retten, was rettenswert zu sein schien: die Offiziere die Messinstrumente – Sextanten, Kompass, Stundenglas, das Astrolabium –, die Seeleute vor allem das kostbare Kleinvieh in seinen Rohrkäfigen, sofern es noch nicht über Bord gegangen und ertrunken war, zeternde und gackernde Gänse und Hühner und vor Schreck starre Kaninchen. Brittany starrte fassungslos auf das Chaos, das um sie herum tobte.

«Brittany!» Howard nahm sie bei den Schultern. «Danke, Johnson. Kümmern Sie sich weiter um die Papiere in der Messe.»

«Aye, Sir!»

Captain Addison schob seine Tochter in Richtung der Reling, abseits des Getümmels. «Hör gut zu –»

Als hätte sie erst in diesem Augenblick die drohende Gefahr erkannt, erwachte Brittany aus ihrer Erstarrung, in der sie bisher alles willenlos über sich hatte ergehen lassen. Aus großen Augen sah sie ihren Vater an und unterbrach ihn ruhig. «Wir sinken, nicht wahr? Wir werden alle mit Mann und Maus untergehen!»

«Brittany, ich –»

«Sagen Sie es mir!», schrie Brittany, plötzlich von Panik erfasst, ihre klammen Finger in die Rockärmel ihres Vaters gekrallt.

Er zögerte einen Augenblick lang, dann glitt ein Schatten über sein nasses, müdes Gesicht. «Ja, Brittany, wir sinken. Langsam, aber nicht mehr aufzuhalten. Ich habe Anweisung gegeben, das Schiff zu leichtern, um den Tiefgang zu verringern, doch mehr als eine Verzögerung um einige Stunden lässt sich nicht herausholen. Das Wasser dringt überall ein, die Pumpen können ihm bald keinen Einhalt mehr gebieten, und die Männer sind am Rande der Erschöpfung.»

In einem jähen Aufbäumen schrie Brittany ihren Vater an. «Sie sind doch der Captain – tun Sie doch etwas! Sie können doch nicht einfach zusehen, wie wir alle ertrinken – Sie müssen doch etwas tun können!» Ihre Atemzüge gingen in zorniges, verzweifeltes Schluchzen über.

Addison schüttelte sie leicht und starrte ihr eindringlich ins Gesicht. «Was soll ich denn tun?! Es sind zwar genug Boote da, aber sie würden diesem Sturm noch weniger standhalten als das Schiff. Glaub mir, wenn es einen Weg gäbe, wenigstens einen Teil der Mannschaft zu retten, würde ich keinen Augenblick lang zögern.»

Heftig machte sie sich los. «So einfach können Sie nicht aufgeben, es muss doch –»

Eine Flutwelle, die über das Deck hereinbrach, ertränkte ihre Worte. Addison riss sie an sich, presste sie beschützend an seinen Körper. Jählings ging ein Ruck durch das Schiff. Aufseufzend neigte es sich auf seine Backbordseite, hinein in die unergründliche Schlucht eines Wellentals. Das Deck sackte ein gutes Stück weit in die Tiefe. Addison ließ seine Tochter unwillkürlich los, um sich abzustützen. Brittany strauchelte, glitt mit ihren bloßen Füßen auf den glatt gehobelten, glitschigen Planken aus, rutschte weiter auf dem nassen Holz, ohne einen Halt zu finden. Sie hörte jemanden ihren Namen rufen, konnte aber nicht orten, wer es war oder woher dieser Ruf kam. Da – die Latte der Reling kam in ihr Gesichtsfeld. Sie streckte ihre Hand aus, um danach zu greifen, doch sie verfehlte sie. Brittany fühlte ihren Körper eine harte Kante entlangschrammen und sah die kochende, aufschäumende See vor sich. Luft pfiff ihr in den Ohren, Gischt sprühte ihr ins Gesicht, turmhohe Wellenberge kamen ihr entgegen.

Dann war das Meer da, eisig und messerscharf auf der Haut, nahm sie in sich auf, drang in sie ein; sie spürte es in ihren Augen, ihrer Nase, ihrer Kehle, es brannte in ihren Lungen. Finsternis umfing sie. Ich werde ertrinken, schoss es ihr durch den Kopf, und sie war erstaunt darüber, dass sie gar nichts dabei empfand, weder Angst noch Bedauern. Es sei ganz einfach, man dürfe sich nur nicht wehren, dann täte es auch nicht weh, hatte sie einmal unten in St. Mary’s Bay zwei alte Fischersfrauen sagen gehört. Einfach fallen lassen, nichts mehr spüren ... Ihre Muskeln begannen zu erschlaffen.

Doch dann zersprang etwas in ihr, laut und hart wie Glas. Ich will noch nicht sterben – ich werde nicht einfach so aufgeben!! Sie begann sich zu wehren, wie sie sich immer gewehrt hatte, wild und mit all ihrer Kraft; sie schlug und trat um sich, wollte das Meer mit aller Macht dazu bringen, sie loszulassen. Und dann gab es sie tatsächlich frei. Brittany keuchte und hustete und spuckte, und gleich darauf atmete sie Luft – feuchte, salzige Luft, aber sie atmete, füllte gierig ihre wunden Lungen.

Eine erneut heranflutende Welle drohte sie wieder unter die Oberfläche zu drücken, doch Brittany passte sich ihr an, ließ sich von ihr tragen und schwamm sich mit kräftigen Stößen der Arme und Beine frei. Die nächsten heranwogenden Wassermassen trieben eine massiv gearbeitete Seekiste auf sie zu. Mit der letzten Kraft ihrer müden Muskeln, die sich nun ständig verkrampften, versuchte Brittany, sie zu erreichen. Doch die See trieb ein höhnisches Spiel mit ihr: Mal ließ sie die Kiste direkt auf Brittany zuhalten, dann wieder schien sie sie in die entgegengesetzte Richtung abtreiben zu wollen.

Schließlich ließ die wogende Flut sie mit der Kiste zusammenprallen. Ihre Finger rutschten immer wieder an der schlüpfrigen Kante ab, bis sie in einem Riss im Holz des Deckels Halt fanden. Mühsam zog sich Brittany aus dem Wasser empor. Ihre Glieder schienen aus Blei zu sein, sie selbst Zentner zu wiegen. Bevor ihr alle Muskeln den Dienst versagten, gelang es ihr, sich bäuchlings auf die heftig schaukelnde Kiste zu hieven. Keuchend lag sie da, schwerfällig und regungslos wie ein gestrandeter Wal, elend frierend, mitsamt der Kiste ein Spielball der Wellen und des Windes und ihnen hilflos ausgeliefert. Ihre Hände, die die Ecken der Kiste umklammert hielten, begannen zu schmerzen. Das Bild der kochenden See begann vor ihren Augen zu verschwimmen, und dann ließ ein gnädiges Schicksal Brittany in der Dämmerung zwischen Leben und Tod versinken.