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Inhalt

Für das Gras-Schlamm-Pferd

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Dass man die amerikanische Buchausgabe eines chinesischen Blogs aus den Jahren 2006 bis 2009 im Jahre 2011 ins Deutsche übersetzt, könnte unter normalen Umständen berechtigtes Stirnrunzeln oder verwundertes Nachfragen hervorrufen. Wenn man allerdings weiß, dass es sich um den Blog von Ai Weiwei handelt, und spätestens nachdem man ihn gelesen hat, wird man keine Fragen mehr stellen.

Den Blog selbst gibt es nicht mehr – nach der in diesem Buch nachzuerlebenden Eskalation mit der Staatsmacht wurde der Blog am 28. Mai 2009 von der chinesischen Regierung geschlossen und sein Inhalt gelöscht.

Im Jahre 2008, also lange vor der Schließung und dem Verbot des Blogs, hatte Ai Weiwei allerdings gemeinsam mit der Kunstwissenschaftlerin und Übersetzerin Lee Ambrozy die Arbeit an einer Buchausgabe und der Übersetzung ins amerikanische Englisch begonnen. Als diese Ausgabe dann im Frühjahr 2011 – angereichert mit für den westlichen Leser unschätzbaren Hintergrunderläuterungen, Kommentaren und Lesehilfen von Lee Ambrozys Hand – in Amerika erschien, gab keine Website mehr, auf der man das chinesische Original hätte nachlesen können. Damals war Ai Weiwei noch ein freier Mensch – am 3. April allerdings wurde er auf dem Pekinger Flughafen verhaftet und an einen unbekannten Ort verschleppt, wo er zweieinhalb Monate ohne offizielle Anklage gefangen gehalten wurde, – ohne dass er einen Anwalt kontaktieren durfte oder die Öffentlichkeit etwas über seinen Verbleib erfuhr. Seine Frau durfte ihn ein einziges Mal besuchen.

Ai Weiwei ist kein Einzelfall. In China ergeht es vielen anderen kritischen Geistern genau wie ihm. Am 23.6. ließ die Polizei ihn ziehen – nachdem er angebliche Steuerhinterziehung gestanden hatte. Seither steht er unter Hausarrest und darf Peking nicht verlassen, nicht twittern und sich weder über die Umstände seiner Verschleppung noch über die Zustände in seinem Heimatland äußern. Ihn erwartet ein Prozess, dessen Rechtsstaatlichkeit im Lichte des bisher Vorgefallenen (und auch der im Blog beschriebenen Vorgängerfälle) stark angezweifelt werden darf.

Unmittelbar nach Ai Weiweis Gefangennahme wurde mit der Übersetzung des amerikanischen Buchs ins Deutsche begonnen. Ais Büro war durchsucht und geschlossen worden, seine Mitarbeiter wurden teilweise ebenfalls verhaftet, sind abgetaucht oder nach Hongkong bzw. ins Ausland geflohen. Die chinesischen Originale der meisten von Ai Weiweis Texten waren nicht greifbar. Aber auf keinen Fall sollte Ai Weiwei das Schicksal anderer Regimekritiker teilen, das er selbst schon im Dezember 2008 in seinem Blog »Schwachsinn ist gratis« vorausgesagt hatte:

»Sobald ein Einzelkämpfer festgenommen wird, endet sein Kampf auf den Ehrenlisten diverser ausländischer Menschenrechtsorganisationen, und früher oder später wird man ihn in seinem eigenen Land vollständig vergessen.«

Schnelligkeit war ein Gebot der Stunde, und es wurde beschlossen, aus der amerikanischen Ausgabe ins Deutsche zu übersetzen. Glücklicherweise konnte nach längerer Suche in China doch noch ein Inhaber einer chinesischen Manuskriptversion gefunden werden, die er uns zur Verfügung stellte. Uneindeutige oder missverständliche Stellen (insbesondere die Texte am Anfang des Blogs, die ästhetische und philosophische Positionen beschreiben) konnten so anhand des Chinesischen verifiziert, präzisiert bzw. geändert werden.

Sucht man in Ai Weiweis Blog lediglich eine regierungskritische Kampfschrift, greift man erheblich zu kurz. Der Blog begann als eine Art modernes Notizheft, eine Mischung aus geistigem Tagebuch und Autobiografie, in der einer der spannendsten Künstler der Gegenwart seine künstlerischen, ästhetischen, philosophischen und gesellschaftspolitischen Positionen darstellte und entwickelte. Dabei bediente er sich verschiedenster literarischer Formen.

Spätestens aber seit dem Erdbeben von Wenchuan, am 12. Mai 2008, gewinnen seine Einträge an Direktheit und Schärfe, man trifft dort auf einen immer lauter werdender Zorn auf unhaltbare politische Zustände. Als der Künstler beginnt, die Bevölkerung gegen korrupte Politiker aufzuwiegeln, reagiert der Staat. Ai Weiwei wird überwacht, schikaniert, bedroht. Die Konfrontation mit der Obrigkeit wird immer direkter und die politische Brisanz seines Blogs nimmt zu, – bis dessen Schließung vorerst eine noch weitere Eskalation verhindert. Aber Ai Weiwei gibt nicht auf, jetzt twittert er – bis man ihn schließlich im April 2011 verhaftet. In diesem Buch sieht man gewissermaßen der Revolution beim Wachsen zu.

Wie durch seine Kunstwerke macht sich Ai auch durch dieses Buch unvergesslich, es ist ein Teil seines Gesamtwerkes. Wir hoffen, dass er möglichst bald seine Arbeit unbehelligt fortsetzen kann.

Vorwort zur englischen Ausgabe

Dieses Buch ist eine Sammlung von Texten, welche die Online-Präsenz des Künstlers / Architekten / Aktivisten Ai Weiwei dokumentieren. Ai wollte nie, dass man ihn als Dissidenten bezeichnet, und deshalb wurde auf diesen Begriff hier verzichtet. Die Texte sind ein Auszug aus seinem Blog (gehostet auf sina.com.cn) aus dem Zeitraum von 2006 bis zum 28. Mai 2009. An diesem Tag wurde der Blog der Zensur unterworfen und der gesamte Inhalt aus dem Cyberspace getilgt. Die letzten fünf hier abgedruckten Texte stammen deshalb von anderen Blogging-Plattformen, und der Beitrag »140 Zeichen« ist eine Sammlung von Microblogs, von Tweets, die im Juli 2009 verfasst wurden, nachdem die Nachrichten über die Unruhen in der Provinz Xinjiang an die Öffentlichkeit gelangten.

Die mehr als einhundert kurzen Essays, die in dieses Buch aufgenommen wurden, sind nur ein kleiner Teil der geposteten Texte. Einige davon wurden bereits früher in Katalogen oder Pressebeiträgen abgedruckt, doch der größte Teil lag bisher weder auf Deutsch noch auf Englisch vor. Ai Weiwei hat vier Jahre lang jeden Tag Texte auf seinem Blog gepostet. Aus der großen Menge von Texten, die sich hier angesammelt hatte, eine Auswahl zu treffen, war ein gewaltiges Unterfangen. Und es war eine ebenso unglaubliche Herausforderung, das Ganze zu übersetzen. Sehr lange waren zahlreiche Hände und Augen im Büro von Ais Firma FAKE Design in Caochangdi mit der mühsamen und zeitraubenden Aufgabe beschäftigt, Hunderte von Dateien – sowohl Texte als auch Bilder – herunterzuladen, zu organisieren, redaktionell zu bearbeiten und zu archivieren.

Wir haben es Philip Tinari und Jeff Kelly, die den Anstoß zu diesem Buch gaben, zu verdanken, dass bereits Ende 2008 mit der Übersetzung ins Englische begonnen wurde, während der Blog noch jeden Tag weiterwuchs. Das Projekt hatte bereits gute Fortschritte gemacht, als ein Verlag vom chinesischen Festland Interesse an einer Buchausgabe auf Chinesisch bekundete. Daraufhin wurden alle ursprünglichen Texte einem Redaktionsprozess in Hinblick auf die chinesische Ausgabe unterzogen. Ein ganzes Redaktionsteam, darunter auch Ai Weiweis Bruder Ai Dan, entfernte Druckfehler und andere Unstimmigkeiten, überarbeitete die Texte sprachlich und fügte an etlichen Stellen längere Passagen hinzu oder strich Passagen, um die Lesbarkeit und Verständlichkeit zu verbessern. Alle der bereits vorliegenden englischen Übersetzungen wurden in Hinblick auf die vorgenommenen Veränderungen noch einmal überarbeitet. Doch diese chinesische Ausgabe sollte leider nicht erscheinen. Ais »politisch unkorrekter« Standpunkt und die heikle Thematik, der er sich annimmt, erwiesen sich schließlich doch als abschreckend und als zu riskant für einen Verlag oder eine sonstige Vertriebsgesellschaft auf dem chinesischen Festland.Hinweis Mit diesem Buch liegt nun die bislang umfangreichste Dokumentation von Ais Blog vor.

Alle in diesem Buch artikulierten Standpunkte sind die Meinung des Autors. Häufig stellen sie eine direkte Reaktion auf tagesaktuelle Ereignisse dar und enthalten zahlreiche soziokulturelle Anspielungen, die kommentierungsbedürftig sind. Das Internet stellt heute die wichtigste Quelle für diese Anmerkungen dar, und weil dieses Buch in China ediert wurde, war es zur Prüfung von Hintergründen und Fakten notwendig, immer wieder die »Große Firewall zu überschreiten«. Diese virtuelle Mauer wurde in den Jahren 2008 und 2009 in puncto Softwaretechnik und bei den Methoden zur Überwachung des Internets stetig weiterentwickelt. Doch die Verwendung eines Virtual Private Network (VPN) ermöglichte es schließlich, auf die meisten der für einen gewöhnlichen Browser vom chinesischen Festland sonst unerreichbaren Websites zuzugreifen (darunter auch Twitter, YouTube, Facebook, Vimeo und gelegentlich Flickr). Doch hatte man die Firewall einmal überwunden, stand man vor einer noch größeren Herausforderung: Die nicht selten enorm differierenden westlichen und chinesischen Quellen mussten miteinander abgeglichen werden. Diese Diskrepanzen mögen wohl die letzten noch verbleibenden Spuren des Kalten Krieges sein. Hoffentlich wird es unseren beiden Kulturen eines Tages gelingen, ihre jeweiligen »Fakten« miteinander in Übereinstimmung zu bringen. Dazu müssen freilich in Zukunft noch erheblich mehr Übersetzungen wie die vorliegende gemacht werden. Die Tatsache, dass es einem Künstler gelungen ist, so große Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, weckt Begeisterung. Endlich wird nun einem westlichen Publikum die Chance geboten, in Übersetzung zu lesen, was die Chinesen untereinander erörtern, anstatt bloß zu erfahren, was westliche China-»Experten« über sie berichten.

Die Texte des vorliegenden Buchs kommentieren Ereignisse von ebenso heikler wie politischer Natur, und sind damit für viele Fachgebiete relevant. Die in den Anmerkungen enthaltenen Informationen wurden deshalb anhand von zahlreichen Quellen überprüft. Folgenden Online-Medien und unermüdlichen Beobachtern Chinas gebührt besonderer Dank: Asianews.it, China Elections and Governance online, China Digital Times, danwei.com, dem Blog EastSouthWestNorth, Global Voices online, dem Guardian online, dem »China Real Time Report« des Wall Street Journal ebenso wie der chinesischen und englischen Wikipedia. Auch die chinesische Suchmaschine Baidu zusammen mit ihrer Enzyklopädie Baidu Baike sowie die Seite Hudong, Chinas größtes Wiki, waren unschätzbar wichtige chinesische Quellen. Zuletzt müssen – wegen der unbestreitbaren »Korrektheit« ihrer Sichtweise – auch Xinhuanet.com sowie diverse andere Online-Sprachrohre der Kommunistischen Partei Chinas erwähnt werden.

Ai Weiwei möchte an dieser Stelle einen besonderen Dank gegenüber Lu Qing aussprechen, weil sie es erträgt, dass er so viel Zeit am Computer verbringt. Ebenso dankt er den Redakteuren für ihre exzellente Arbeit an den chinesischen Originaltexten: Ai Dan, Luo Li und Xiao Xi. Und auf Wunsch und im Namen von Ai Weiwei dankt Lee Ambrozy sich selbst. Ai Weiwei dankt auch dem Büro von FAKE, insbesondere Zhang Yiyan für die Hilfe bei der Vorbereitung der chinesischen Texte für die Hinweise zur Zitation; besondere Anerkennung gilt auch Nadine Stenke und Ragna van Doorn für ihre Arbeit in Archiven, Gao Yuan, dem Fotografen Zhao Zhao sowie Xu Ye, dem Meister der Technik, bei allem, was den Blog angeht. Roger Conover hat immer fest daran geglaubt, dass aus diesem Blog ein Buch wird, und hat diesen Prozess geduldig begleitet. Abschließend sei noch den Bürgerinnen und Bürgern gedankt, die beim Sammeln von Informationen in Sichuan mitgeholfen haben. Ihre Beharrlichkeit verdient hohe Anerkennung. Erwähnen müssen wir aber auch die Cyber-Aktivisten und Untergrundkämpfer, die weiter für die Redefreiheit und für die Freiheit der Kommunikation kämpfen. Viele von ihnen sind standhafte Online-Unterstützer von Ai Weiwei. Alle, die den Mut hatten, ihre Stimme zu erheben, und nun hinter Gitter sitzen, werden wir niemals vergessen. Ein allgemeiner Dank gilt auch der schier unerschöpflichen Begeisterung von Ais Lesern, Abonnenten und seinen Twitter-Partnern. Last, and least, als Letzten und als Geringsten (jedenfalls was die Größe angeht), möchte Ai Weiwei noch ganz besonders seinen Sohn, Ai Lao, herausheben: Er gibt ihm jeden Tag neuen Mut.

Einleitung

Für manche Menschen ist das Internet eine Quelle der Zerstreuung, für Ai Weiwei ist es ein leistungsfähiges Medium der gesellschaftlichen Veränderung. In einer Art täglichem Ritual sitzt er stundenlang vor dem Computer, sichtet Nachrichten, formuliert Tweets und sendet seine Gedanken in den Cyberspace. »Ich verbrauche neunzig Prozent meiner Kraft für das Bloggen«, sagte er in einem Interview, kurz bevor sein Blog geschlossen wurde. Mit der Schließung des Blogs durch die Behörden verschwanden über 2700 Einträge, darunter Tausende Fotos und Millionen Leserkommentare. Die Adresse blog.sina.com.cn/aiweiwei, unter der Ai Weiwei beißende Gesellschaftskritik, heftige Vorwürfe an die Politiker Chinas und zuletzt eine Namensliste von bei dem Erdbeben in Wenchuan vermissten oder getöteten Schülern veröffentlicht hatte, wurde auf unbestimmte Zeit gesperrt. Stattdessen war folgende Mitteilung lange zu lesen: »Dieser Blog ist bereits geschlossen. Bei Fragen wählen Sie bitte 95105670. Wenn Sie andere hervorragende Blogs kennenlernen wollen, klicken Sie auf das Symbol ›Auge‹ in der linken Seitenleiste.«

Die ungewöhnliche Tatsache, dass ein chinesischer Blog ins Englische und Deutsche übersetzt und als Buch veröffentlicht wird, verdankt sich der weitgefassten Definition zeitgenössischer Kunst. Walter Benjamin schrieb 1921 im Vorwort seiner Baudelaire-Übersetzung: »Übersetzungen, die mehr als Vermittlungen sind, entstehen, wenn im Fortleben ein Werk das Zeitalter seines Ruhmes erreicht hat.«Hinweis Ais Blog ist schon heute eine legendäre Fundgrube der Gedanken und Ideen des Künstlers und aufgrund der digitalen Revolution berühmter und häufiger reproduziert, als Benjamin sich das je hätte träumen lassen. Für chinesische Leser war er provozierend und umstritten. Nichtchinesische Leser können die inhaltliche Tiefe dieser Texte bis heute nur teilweise ermessen. Trotzdem nannte Hans Ulrich Obrist den Blog »eine der größten gesellschaftlichen Skulpturen unserer Zeit«.Hinweis

In Gesprächen über Ai Weiwei fällt immer häufiger der Begriff »Künstleraktivist« und zu seinem Unbehagen auch »Dissident«. Sein Aktivismus ist nicht neu. Ai steht am Rand der politischen Avantgarde Chinas, seit es Ende der Siebzigerjahre möglich wurde, für Redefreiheit und Demokratie einzutreten. Das Internet hat ihn nicht zu einem Aktivisten gemacht, seinem Aktivismus aber eine ins Riesenhafte gesteigerte Plattform gegeben. Er hat Vasen aus der Zeit der Han-Dynastie zerschlagen, prähistorische Steinäxte mit Farbe bemalt, antike Tische und Tempel zerlegt, einen Urinstrahl in feinem Porzellan verewigt und 1001 Menschen aus entlegenen Gegenden Chinas nach Kassel gebracht. Man hat ihn einen Taoisten und einen Anarchisten genannt und könnte seinen Eifer sogar als Erbe des revolutionär-zerstörerischen Geistes der Roten Garden beschreiben. In welchen Zusammenhang man ihn auch stellt, er gefällt sich stets in der Rolle des subversiven, furchtlosen Rebellen gegen kulturelle und politische Autoritäten.

Stark beeinflusst durch das Erbe seines Vaters, liegt der Mut ihm gleichsam im Blut. Die Geschichte seines von den Medien bereits zum Mythos erhobenen Lebens sei hier kurz wiedergegeben. Sein Vater, der Dichter und Intellektuelle Ai Qing, hatte sich kritisch gegenüber dem Regime geäußert. Kurz nach Ai Weiweis Geburt 1957 wurde er im Verlauf der ersten Kampagne gegen Rechtsabweichler als einer der ersten Intellektuellen politisch diskreditiert und als »Volksfeind« verurteilt. Die fünfköpfige Familie mit dem kleinen Weiwei wurde zu Zwangsarbeit und Umerziehung in die Provinz verbannt. Zuerst arbeitete der Vater in einem holzverarbeitenden Betrieb in den eisigen Wäldern von Beidahuang in der Provinz Heilongjiang. Zwei Jahre später musste er mit Eltern und Geschwistern in den Westen der Provinz Xinjiang umziehen, Chinas »Kleinsibirien«, wo sie ihr Dasein ganz buchstäblich in einem Erdloch fristeten. Wie im Maßnahmenkatalog für »Rechtsabweichler« im politischen Exil vorgesehen, wurde Ai Qing mit täglicher politischer Demütigung, körperlicher Arbeit und zwangsweiser Umerziehung bestraft. Wegen seiner Bekanntheit und seines Einflusses wurden ihm besonders erniedrigende Arbeiten zugewiesen. Ai Weiwei war noch zu klein, um zu helfen, er erinnert sich aber lebhaft daran, seinem Vater dabei zugesehen zu haben, wie dieser öffentliche Toiletten putzte, bis diese vor Sauberkeit glänzten.

Seine bereits von Politik gesättigte Kindheit wurde weiter beeinflusst durch die Auswüchse der Kulturrevolution, genauer der, wie sie damals genannt wurde, Großen Proletarischen Kulturrevolution. Statt Chinesisch, Mathematik oder Naturwissenschaften zu studieren, teilten die Schüler ihre Zeit auf zwischen Feldarbeit und der Lektüre von Mao Zedongs »kleinem roten Buch«. Die »Diktatur des Proletariats« mochte ihnen unverständlich bleiben, aber sie empfanden eine tiefe Sympathie für das Volk und für soziale Utopien, wie sie in Ai Weiweis künstlerischer Praxis bis heute spürbar ist. Nach dem Ende der Kulturrevolution und der Verhaftung der in höchsten Parteirängen verantwortlichen »Viererbande« (Jiang Qing, Zhang Chunqiao, Yao Wenyuan und Wang Hongwen) wurde Ai Qing rehabilitiert, und die Familie kehrte 1976 nach Peking zurück. Dort hatte sich inzwischen eine liberalere Stimmung ausgebreitet. Man bezeichnet diese Zeit manchmal als Frühling von Peking. Freunde von Ai Qing brachten Ai Weiwei Grundkenntnisse im Malen und Zeichnen bei, und er erwies sich als gelehriger Schüler. 1978 wurde er von der Filmakademie Peking aufgenommen. Er sagte später dazu, ausschlaggebend sei weniger sein Interesse am Film gewesen als vielmehr die Möglichkeit der »Flucht vor der Gesellschaft«.Hinweis

Mit der im Dezember 1978 errichteten Mauer der Demokratie in der Xidan Street in Peking, vom neuen Regime anfangs unterstützt als Plattform der Kritik an der Viererbande, nimmt der politische Aktivismus in China seinen Anfang. Bürger und Studenten konnten auf von Hand geschriebenen Wandzeitungen öffentlich ihre Meinung kundtun. Am 5. Dezember veröffentlichte das frühere Mitglied der Roten Garden Wei Jingsheng seinen berühmt gewordenen Aufsatz »Die fünfte Modernisierung«. Darin bezeichnete er die Demokratie als einzige »Modernisierung«, die China wirklich brauche. Seine verdeckte Kritik an Deng Xiaopings »Vier Modernisierungen« (in den Bereichen Landwirtschaft, Industrie, Verteidigung und zusammengefasst zu einem Bereich in Wissenschaft und Technik) und die öffentliche Forderung nach politischer Veränderung stellten für das noch ungefestigte Regime Dengs eine zu große Bedrohung dar. Im Frühjahr 1979 wurde Wei Jingsheng verhaftet und zu fünfzehn Jahren Gefängnis verurteilt. Weitere Anhänger und Aktivisten aus dem Umkreis der Mauer der Demokratie wurden gleichfalls hart bestraft. Ai Weiwei, der ebenfalls mitgemacht hatte, war daraufhin »von der Politik sehr enttäuscht«.Hinweis

Zur selben Zeit wurde Ai Mitglied der »Sterne«, einer losen Künstlergruppe in Peking. Die »Sterne« forderten nach über zehn Jahren des staatlich verordneten Realismus, der »Kunst für das Volk«, der kollektiven Gemälde und Propagandaposter endlich das Recht auf einen eigenständigen künstlerischen Ausdruck. Am 27. September 1979 hängten die Rebellen in einer ersten Ausstellung Bilder an den Zaun vor dem Nationalen Kunstmuseum. Die Zuschauer strömten in Scharen herbei, um die frischen, neuartigen Kunststile zu bewundern, zwei Tage später wurde die Ausstellung dann geschlossen. Ai Weiwei stellte unter dem Einfluss des damals bei chinesischen Künstlern beliebten Postimpressionismus ein Landschaftsaquarell mit dem Titel Landscape IV auf. Ungefähr um dieselbe Zeit, in der es noch kaum Gedrucktes über die Kunst außerhalb Chinas zu lesen gab, bekam Ai von einem Freund der Familie drei Kunstbände geschenkt: einen über den Impressionismus und zwei Monografien über van Gogh und Jasper Johns. Über die Johns-Monografie sagte er: »Ich habe nicht verstanden, was daran Kunst sein sollte.«Hinweis Das Buch landete auf dem Müll.

Jahre später äußerte Ai sich enttäuscht darüber, dass damals nicht genug Menschen die traumatischen Ereignisse der unmittelbaren Vergangenheit kritisch hinterfragt hätten. Auch die Verurteilung der an der Mauer der Demokratie mitwirkenden Studenten erschütterte ihn tief. Im Jahr 1981, bei der ersten sich bietenden Gelegenheit, verließ er das Land in Richtung Vereinigte Staaten. Er wusste, dass er ein berühmter Künstler werden wollte. Zu Freunden sagte er im Scherz, er werde als neuer Picasso zurückkehren. Er hatte allerdings seiner eigenen Aussage nach gar nicht die Absicht, zurückzukehren.

Mit dreißig Dollar in der Tasche kam er in den Staaten an und ließ sich schließlich dort nieder, wo er, wie er wusste, hingehörte – in New York City. 1982 schrieb er sich an der Parsons School of Design ein, an der er inmitten einer ganz anderen Kunst mit seinen perfekten handwerklichen Fertigkeiten auffiel wie ein bunter Hund. Er lernte die Werke Marcel Duchamps und Andy Warhols kennen, der beiden Künstler, die ihn am meisten beeinflussen sollten. Er machte allerdings keinen Abschluss, sondern schlug sich mit Gelegenheitsarbeiten als Zimmermann und Anstreicher durch. Seine Wohnung im East Village wurde in dieser Zeit zu einem Wallfahrtsort bedeutender Kulturschaffender aus der Volksrepublik, die sich im New Yorker Raum aufhielten. Ai sagt über sich selbst, er habe in der Kunstszene verkehrt, ihr jedoch nicht angehört. Er habe aber in den Achtzigern jede Ausstellung in New York gesehen. Im Stock über ihm wohnte Allen Ginsberg. Beherrscht wurde die Kunstszene damals vom deutschen Expressionismus und von Jeff Koons und Basquiat, doch Ai war besonders vom Dadaismus fasziniert. In seiner ersten Einzelausstellung 1988 mit dem Titel »Old Shoes, Safe Sex« zeigte er seine frühen Objektmanipulationen: einen Kleiderbügel aus Draht, den er zum Profil Duchamps verbogen hatte, einen Regenmantel mit an passender Stelle angeklebtem Kondom und ein an den Fersen zusammengenähtes Paar Schuhe. Ein vorausblickender Kritiker lobte ihn als »respektloses Talent« und »Kraft, mit der in der internationalen Avantgarde noch gerechnet werden muss«.Hinweis

Doch nicht einmal New York gab Ai so viel Distanz zu seiner Heimat, dass ihn die traumatischen Ereignisse auf dem Tiananmen-Platz am 4. Juni 1989 nicht zutiefst erschüttert hätten. Kurz danach trat er mit einer Gruppe, die sich »Solidarität für China« nannte, in einen achttägigen Hungerstreik. Die New York Times zitierte ihn damals mit Gedanken, die vorwegnehmen, was er Jahre später in seinem Blog entwickelte: »Wir wollen Zeugnis ablegen für das, was geschehen ist, und wir wollen, dass die chinesische Regierung weniger brutal vorgeht.«Hinweis Trotzdem behauptet Ai heute, er habe in New York »seine Zeit verschwendet«. (Er schloss die Designschule nicht ab und hatte weder Haus noch Staatsbürgerschaft noch Frau.) Doch er begann damals mit seiner an Warhol erinnernden Neigung zur Dokumentation. Nachdem er das Zeichnen zugunsten der Fotografie aufgegeben hatte, hielt er sein Leben im selbst gewählten Exil auf Hunderten von Filmrollen fest, die erst in jüngerer Zeit entwickelt und archiviert wurden.Hinweis Als dann 1993 sein Vater erkrankte, musste Ai eine Entscheidung treffen. Nie ein Freund langen Zögerns, packte er und zog nach Peking zurück. Es war nach zwölf Jahren sein erster Besuch. Er hatte keinen einzigen Brief geschrieben.

Bei seiner Ankunft fand er am Rand der Hauptstadt eine im Entstehen begriffene Kunstszene vor. Experimentelle Künstler versammelten sich an einem Ort, den sie das East Village von Peking nannten. Zusammen mit Feng Boyi, einem unabhängigen Kurator und Kunstkritiker, nahm er die Arbeit an einer Reihe von Untergrundpublikationen auf, den ab 1994 erscheinenden sogenannten »Red Flag Books«. Unter den Titeln Black Cover Book, Grey Cover Book und White Cover Book hatten sie einen ungeheuren Einfluss auf die Künstler in China. Die in diese Bücher aufgenommenen Künstler hatten die Aufgabe, ihre künstlerische Arbeitsweise zu erklären. Dabei entstand ein für die zeitgenössische chinesische Kunst neuer Ton der kritischen Selbstanalyse. Die Serie stellt auch Verfahren der internationalen Kunst vor, darunter die von Duchamp, Warhol und Koons. Die »Cover Books« erreichten regelrechten Kultstatus und kommen einem Manifest der entstehenden chinesischen Avantgarde vielleicht am nächsten.

In der ansteckenden künstlerischen Atmosphäre des Künstlerviertels von Peking bildete sich Ais experimentelle Konzeptkunst heraus, und einige für ihn bezeichnende Werke entstanden: die Coca-Cola-Urne, die Bilderfolge Dropping a Han Dynasty Vase und das Foto von Lu Qing, wie sie vor dem Tiananmen-Platz den Rock lüpft. Bereits 1997 beschäftigte Ai sich damit, Möbel auseinanderzunehmen und neu zusammenzusetzen. 1998 intensivierte er seine avantgardistischen Aktivitäten. Er begründete das China Art Archives and Warehouse (CAAW) mit, Chinas erstes Archiv für zeitgenössische Kunst und zugleich Experimentalgalerie. In den Neunzigerjahren und zu Anfang des neuen Jahrtausends führte Ai zahlreiche Projekte als Kurator und Künstler durch. Durch seine vielen Verbindungen und die Bereitschaft, sich an neuen Projekten zu beteiligen, erwarb er sich den Ruf eines Wegbereiters der neuen Kunst.

Den aus seiner künstlerischen Praxis erwachsenen architektonischen Formen verlieh er 1999 mit der Fertigstellung des inzwischen berühmten »Studio House« Ausdruck, seines Wohnateliers in Peking. Angeregt durch Fotos von Haus Wittgenstein in Wien, beschloss er, sich selbst ein Atelierhaus zu bauen. Die Pläne dazu entwarf er an einem einzigen Nachmittag. Der Bau dauerte nur hundert Tage und begründete Ai Weiweis Karriere als Architekt. Sein zweites Architekturprojekt war im Jahr 2000 ein Erweiterungsbau für das CAAW. Begrenzte Budgets und die einfache Bauweise seiner Häuser steigerten die Nachfrage nach den preiswerten und eleganten grauen Ziegelgebäuden, und 2003 gründete er die FAKE Design (die chinesische Aussprache erinnert absichtlich an das englische »fuck«). Vor ihrer drastischen Verkleinerung 2006 verwirklichte FAKE über siebzig Bau- und Landschaftsprojekte in ganz China, darunter ORDOS 100, eine in der Inneren Mongolei in den Wüstensand gesetzte Wohnsiedlung. Ais revolutionärer Beitrag zur chinesischen Architektur besteht in der schlichten Eleganz seiner Häuser, die sachlich-nüchtern mit dem von den Stadtplanern von Peking bevorzugten überladenen chinesischen Barock kontrastieren. Einziger Schmuck der unverputzten Gebäude sind die Materialien. Dadurch entsteht eine geradezu dramatische Kargheit, und der Raum bekommt eine, wie Ai es beschreibt, »Freiheit«, innerhalb der alles Mögliche entstehen kann.

Die inzwischen berühmt-berüchtigte Ausstellung, die Ai gemeinsam mit Feng Boyi veranstaltete, eine Begleitausstellung zur Biennale von Shanghai 2000, wurde zu einem Meilenstein seiner internationalen Karriere. Gezeigt wurden unter dem Titel »Fuck off« (der chinesische Untertitel lautete »Wege der Verweigerung«) Werke von über vierzig Avantgardekünstlern. Die Behörden wurden provoziert, einige Werke enthielten angeblich Giftgas oder zeigten Akte von Kannibalismus. Die Ausstellung wurde vorzeitig geschlossen, allerdings erst, nachdem alle sie gesehen hatten, für die sie gedacht gewesen war, darunter Scharen von Kuratoren aus Übersee, die zur Biennale nach Shanghai gekommen waren. Einige Betrachter sahen in der Ausstellung nur die Gier nach Aufmerksamkeit, und Ai wurde auch sogleich zu einem gefragten Interviewpartner. Doch hatte sie zugleich unbestritten eine herausragende Bedeutung für die zeitgenössische chinesische Kunst, und Ai Weiwei wurde immer mehr zu einem einflussreichen Ansprechpartner in der sich globalisierenden Kunstwelt von Peking. Aus der Freundschaft mit dem Sammler Uli Sigg, dem früheren Schweizer Botschafter in China, ergab sich die Möglichkeit der Mitwirkung an »Mahjong«, einer wichtigen Ausstellung, die Europa mit der zeitgenössischen Kunst Chinas bekannt machte, und 2003 stand Ai Weiwei Jacques Herzog und Pierre de Meuron als künstlerischer Berater beim Bau des neuen Nationalstadions von Peking (dem sogenannten »Vogelnest«) zur Seite. Er war insgesamt auf umfassende und prägende Weise an der Entwicklung der zeitgenössischen Kunst Chinas beteiligt. Als er 2005 das unspektakulär klingende Angebot bekam, an Sina.com mitzuwirken, konnte trotzdem niemand ahnen, dass seine bereits erfolgreiche Karriere kurz davor stand, in die Blogosphäre abzuheben.

Sina.com hatte zu Werbezwecken für den Start seiner neuen Blog-Plattform verschiedene »Prominenten-Blogger« zur Teilnahme eingeladen, darunter Ai Weiwei. Auf deren Blogs sollte auf der Homepage verwiesen werden. Ai war vor seinem ersten Blog-Eintrag im Oktober 2005 noch kaum mit dem Internet in Berührung gekommen. Er hatte sogar im Scherz gesagt, er könne nicht einmal richtig tippen. Doch reizte ihn daran von Anfang an die Möglichkeit, sein literarisches Talent zu erproben, auf das er wegen des Erfolgs seines Vaters als Dichter immer neugierig gewesen war. Er begann, täglich Stunden mit Bloggen zu verbringen, und entdeckte in der digitalen Plattform auch die Bühne, auf der er sein Leben durch Fotos darstellte. Mit seiner Ricoh R8 dokumentierte er es mit Hunderten von Fotos, von denen er jeden Tag eine Auswahl in seinem Blog postete.

Die über 70 000 Fotos seines Archivs zeigen unter anderem den Fortgang seiner Projekte, Besuche in Jingdezhen und auf Märkten oder in Fabriken für Werkstoffe und Rohmaterialien, Besuche von Sammlern und Reisegruppen, die aufgeschlagenen Notizbücher von Kuratoren und Interviewern, gemeinsame Essen in seinem inzwischen geschlossenen Restaurant »Go Where?«, Reisen nach Europa und nackte Selbstporträts in Hotelbadezimmern. Auch Fotoserien sind darunter: etwa von Frisuren, die er seinen Assistenten geschnitten hatte, oder von den Vorbereitungen für Fairytale. Viele am frühen Morgen aufgenommene Serien zeigen seine ständigen Begleiter und Türhüter im Wohnatelier, das runde Dutzend dort lebende Katzen. Sie sonnen sich im Garten, sitzen auf Bauplänen und Büchern, in Urnen und auf Tempelfragmenten, oder sie zerstören gerade Architekturmodelle – Katzen sind in seinem Atelier zweifellos die kreativen Musen.

Ai beschäftigte sich ausgiebig mit den kommunikativen Möglichkeiten des Internets und experimentierte damit, welche Mengen an digitaler Information er in Umlauf bringen und welche Entfernungen er überbrücken konnte. Er erkannte, wie nahe er in kürzester Zeit Tausenden von anonymen Lesern kommen konnte. Diese Fähigkeit zum Knüpfen von Verbindungen sollte er bald auch für künstlerische Zwecke nützen. Sie regte Fairytale an, ein Kunstwerk von epischen Dimensionen, das durch das Internet erst möglich wurde. Über seinen Blog lud Ai zur Teilnahme an einer »Massen«-Performance ein, die 1001 Chinesen aus allen Gesellschaftsschichten zur documenta 12 nach Kassel bringen sollte. Fairytale sollte die größte je veranstaltete Performance sein, ein gedankliches Labyrinth sozialer und kultureller Wechselbeziehungen, die sich in ihrer Wirkung exponentiell vervielfachten und die ganze Gesellschaft erfassten. Ai Weiwei ließ darin alle herkömmlichen Rahmenbedingungen lokaler und internationaler Kunsthierarchie hinter sich und machte sich sozusagen direkt die Kraft der »Massen« (qunzhong) zunutze, ein Wort, das nach der Kulturrevolution außer Mode gekommen war. Sein Konzept war so einfach, dass es die Menschen über alle geografischen, sprachlichen und soziokulturellen Grenzen hinweg ansprach. Es war in gewisser Hinsicht eine Manifestation der Macht des Internets.

Im Jahr 2008 bereitete sich die chinesische Hauptstadt auf die 29. Olympischen Sommerspiele vor. Ai gehörte zu den ersten chinesischen Bürgern, welche die Spiele öffentlich boykottierten – obwohl sein Name mit dem neuen Nationalstadion, einem einprägsamen Symbol des olympischen Peking, verbunden war. Genauso gut hätte er sich für seinen Designbeitrag als Nationalheld feiern lassen können, zumal sein Vater inzwischen rehabilitiert war und das dichterische Werk des Vaters als wichtiges Kulturerbe galt. Doch die in seinem Boykott impliziten Widersprüche scheinen Ai nicht im Geringsten anzufechten. Zum Ärger vieler Beobachter der chinesischen Blogosphäre erging er sich im Internet in Schmähungen, bedachte die feierlichen Zeremonien mit äußerster Verachtung und beschimpfte das Regime.

Für Peking schien mit der ehrenvollen Rolle als Gastgeber der Olympischen Spiele der kollektive chinesische Traum der Gleichberechtigung mit dem Rest der Welt in Erfüllung zu gehen. Doch während der Nationalstolz auf einem Höhepunkt angekommen war, drohten soziale Unruhen und Naturkatastophen die Stimmung zu kippen. Die riesige Uhr auf dem Tiananmen-Platz zählte die Tage, Stunden und Sekunden bis zur Eröffnung der Spiele, doch das Jahr des Triumphs begann damit, dass Hunderttausende von Urlaubern auf dem Heimweg zum Frühlingsfest (dem chinesischen Neujahr) auf Bahnhöfen eingeschneit wurden. Die ethnischen Unruhen in Lhasa, das Erdbeben von Wenchuan und der »Amoklauf« Yang Jias in einem Shanghaier Polizeirevier schockierten das ganze Land. Ais kritische Reaktionen auf diese Ereignisse unterschieden sich deutlich von der in Medien und Onlineforen vorherrschenden Mehrheitsmeinung. Er forderte soziale Verantwortung, Rechenschaftspflicht der Behörden und Transparenz. Freilich war er nicht die einzige kritische Stimme im Internet, dafür aber oft die schärfste. »Viele Menschen finden, dass von allen politischen Beiträgen im Internet meine am klarsten formuliert sind«, sagte er. »Und das beeinflusst sie stark.«Hinweis

Ai Weiwei wurde nach und nach zu einem der gefragtesten Kommentatoren Chinas zu gesellschaftlichen Fragen, und seine Bekanntheit ermöglichte es ihm, sich zunehmend offen und kritisch zu äußern. Er gab oft über ein Dutzend Interviews in der Woche. Seine Gesprächspartner waren internationale und nationale Journalisten, Studenten und Kuratoren, die ihn zu Themen aus Kunst, Kultur, Politik, dem Sammeln von Kunst und allen möglichen anderen Bereichen fragten. Seine Online-Präsenz wurde immer stärker, sein Blog begann sich mit seiner künstlerischen Tätigkeit zu vermischen, und sein länger werdender digitaler Schatten nahm zunehmend konkret aktivistische Züge an. In gleichem Maße wuchs die Bedrohung durch die Zensur.

Am 20. März 2009 rief Ai Weiwei im Internet zu einer gemeinsamen Aktion auf, mit der die Regierung der Provinz Sichuan unter Druck gesetzt werden sollte. Die Regierung sollte die Verantwortung für den Pfusch beim Bau der Schulen übernehmen, die im Erdbeben von Wenchuan eingestürzt waren. Tausende von Schulkindern waren getötet worden. Er nannte das Projekt Citizen Investigation und versprach: »Wir werden den Namen jeden einzelnen Kindes, das gestorben ist, herausfinden und in Erinnerung rufen.« An dem Projekt wirkte ein loses Team von rund hundert Freiwilligen mit, die in die Erdbebengebiete reisten, mit Familien, offiziellen Stellen und Arbeitern sprachen und von Ai Weiweis Büro aus telefonierten und von den Behörden die Herausgabe der genauen Zahl der Erdbebenopfer forderten. Sie bekamen zwar immer wieder zu hören, eine solche Zahl und die Namen der Toten seien bereits bekannt, doch niemand wusste, woher die Zahl kam oder wo eine entsprechende Liste veröffentlicht worden war. Die Gesprächsprotokolle wurden im Blog veröffentlicht, vom Betreiber allerdings – höchstwahrscheinlich auf Druck der Behörden – bereits Minuten später wieder gelöscht.

Ergebnis des Projekts war eine Liste von über fünftausend Kindern (im August 2010 waren es 5210) mit Namen, Geburtsdatum, Schule, Klasse und der Kontaktnummer eines Elternteils oder Erziehungsberechtigten. Die Freiwilligen trafen sich mit trauernden Eltern und ließen sich von ihnen erzählen, wie man sie in Haft genommen oder zur Annahme von Geld genötigt hatte, um ihr Schweigen zu erkaufen. Die Befragungen erbrachten eine Fülle heikler Daten und mehrere Stunden Filmmaterial. Daraus entstand später ein Dokumentarfilm, der von Ai Weiweis Büro aus kostenlos und landesweit verteilt wurde. Fast jeder konnte ihn über Twitter anfordern. Infolge des Projekts nahm die Löschung von Blog-Einträgen zu. Die Spannung stieg, als die Polizei Ais Telefon abhörte, Textnachrichten abfing und sein Haus mit zwei auffälligen, auf die Eingangstür gerichteten Kameras und gelegentlich von einem Minivan aus überwachen ließ. In Sichuan nahm die Polizei Freiwillige fest und ließ Ai durch sie Nachrichten zukommen: »Grüßt Ai Weiwei von uns, aber er ist hier nicht willkommen, wir wollen ihn hier nicht sehen.«Hinweis Am 26. Mai belästigten Polizisten in Zivil seine Mutter in ihrem Haus. Bei Ais Eintreffen wollten sie ihn verhören. Unter Berufung auf seine gesetzlichen Rechte verweigerte Ai die Aussage, solange die Männer sich nicht auswiesen. Als sie das nicht konnten, schleppte er sie auf die Wache und erstattete Anzeige. Es folgten weitere Begegnungen mit der Polizei. Weitere Blog-Einträge wurden gelöscht. Der durch das Citizen Investigation Project verursachte steigende Druck und der bevorstehende 20. Jahrestag des Tiananmen-Massakers führten am 28. Mai 2009 schließlich zur Schließung von Ai Weiweis Blog.

Während Freiwillige auf ausländischen Plattformen neue Blogs eröffneten, entdeckte Ai ein neues Forum: das Mikroblogging. Er meinte zwar, zu mehr als den 140 Zeichen von Twitter sei er derzeit ohnehin nicht fähig. Doch kann man mit 140 chinesischen Zeichen wesentlich mehr sagen als mit entsprechend vielen lateinischen Buchstaben, und das macht das Mikroblogging im Chinesischen viel interessanter. Überdies meint Ai, Mikroblogging passe besser zu ihm, weil es schneller und spontaner sei. Er meinte auch einmal, die Zitate Maos seien alle kürzer als 140 Zeichen.

Ai Weiweis künstlerische Arbeitsweise wurde vom Internet nachhaltig beeinflusst. Nach Fairytale, seiner ersten großen Arbeit in Wechselwirkung mit dem Blog, wurden der Einfluss des Citizen Investigation Project und die Auseinandersetzung mit den Folgen des Erdbebens von Wenchuan in seinen Ausstellungen von 2009 sichtbar. In großen Einzelausstellungen im Mori Art Museum von Tokyo und im Münchner Haus der Kunst klang nach, was für Ai das unvergesslichste Bild seines Besuchs im Erdbebengebiet war – zwischen den Trümmern liegende Kinderrucksäcke. Im Mori Art Museum zog sich eine Schlange aus eigens angefertigten schwarzen und weißen Rucksäcken über die Decke. Im Münchner Haus der Kunst waren Rucksäcke in leuchtenden Primärfarben an der Fassade des Museums zu chinesischen Schriftzeichen angeordnet. Zitiert wurde die Mutter eines Erdbebenopfers: »Sieben Jahre lang lebte sie glücklich in dieser Welt.« Die Mutter, deren Tochter der »Tofu-Architektur« der Schulen zum Opfer gefallen war, hatte Ai einen Brief geschrieben, und er hatte ihn in seinem Blog gepostet.Hinweis Die anonymen Rucksäcke waren wie Namen der auf bloße Zahlen reduzierten Kinder. Mithilfe seiner Liste will Ai diese Zahlen durch etwas ersetzen, das den sinnlosen Verlust von Leben symbolisiert und diesen Kindern das Einzige zurückgibt, das ihnen auf dieser Welt gehört hat: ihre Namen.

Das Citizen Investigation Project kam nur schleppend voran, weil immer wieder Freiwillige verhaftet wurden. Die meisten wurden nach einem kurzen Verhör (»Arbeiten Sie für Ai Weiwei?«) freigelassen. Der Intellektuelle und Aktivist Tan Zuoren war eine aufsehenerregende Ausnahme. Er hatte kurz nach dem Erdbeben bereits aus eigener Initiative dazu aufgefordert, die Namen von Opfern zu sammeln. Als er verhaftet und subversiver Machenschaften beschuldigt wurde, war klar, dass die gegen ihn erhobenen Vorwürfe Reaktionen auf dieses Engagement waren. Im August 2009 reiste Ai zusammen mit Assistenten und einigen anderen Aktivisten nach Sichuan, um bei Tan Zuorens erstem Prozess auszusagen. Kurz nach der Ankunft im Hotel in Chengdu am 12. August wurde offensichtlich, dass die örtliche Polizei über die Reise informiert war. Wie immer, wenn Ai und sein Tross unterwegs waren, wurde alles auf Video festgehalten. Ai wurde gegen 3.00 Uhr durch Schläge an die Tür seines Hotelzimmers geweckt. Beim Eintreten der Polizisten kam es zu einem Handgemenge, von dem nur eine Tonaufnahme existiert. Ai bekam einen Schlag auf den Kopf und trug Kopfverletzungen davon, die erst im September bei seinem Eintreffen in München zur Vorbereitung seiner Ausstellung im Haus der Kunst richtig diagnostiziert wurden. Am 14. September stellten Ärzte in München eine Hirnblutung fest und leiteten sofort eine lebensrettende Operation ein. Die Blutung gilt als Folge des Schlages, den Ai in Chengdu abbekommen hatte. Nach der Operation ließen die heftigen Kopfschmerzen nach, die ihn seit der Misshandlung gequält hatten, doch unter Konzentrationsstörungen leidet er weiterhin.

Ai Weiweis Ruf eines Weisen in der chinesischen Kunstwelt und später seine Bekanntheit als Blogger machten ihn nahezu unantastbar für die chinesischen Behörden, die ihn sonst womöglich früher gestoppt hätten. Doch ist er nicht über Kritik erhaben. In China selbst ist die Stimmung geteilt zwischen Bewunderung und Kritik. Auf Reaktionen der Blogosphäre erwidert Ai mit teils gelehrten, teils aber auch geharnischten Formulierungen.Hinweis Als Kritiker ihm vorwarfen, er sei mit seiner Kritik nur deshalb so mutig, weil er einen ausländischen Pass habe, stellte er seinen chinesischen Pass online. Zu den beliebtesten Vorwürfen gehören »Schamlosigkeit«, »mangelnde Vaterlandsliebe« und »Lakai der amerikanischen Imperialisten«. Andere Zeitgenossen halten den Eifer, mit dem er Behörden angreift, und seine auf Konfrontation angelegten Gesprächsgewohnheiten für die Folge eines durch die Kulturelle Revolution verursachten »Stress-Syndroms«. Vielleicht ist seine Persönlichkeit am besten mit seinen eigenen Worten beschrieben: »In mir spiegeln sich alle Fehler meiner Zeit.«Hinweis