Tom Buhro / Sabine Stamer

Mein Amerika - Dein Amerika

 

Unseren Töchtern

 

Ankommen «It’s great, it’s wonderful!»

Einführung in die amerikanische Freundlichkeit und ihre Hintergründe

«How do you like America?» – «Wie gefällt dir Amerika?» Völlig unbefangen und erwartungsvoll kommt die Frage aus dem Mund von Toms Gastmutter, als er das erste Mal amerikanischen Boden betritt. Er ist erst wenige Stunden vorher in Chicago aus dem Flugzeug gestiegen und hat nicht mehr als vier Stunden Autofahrt in nördlicher Richtung hinter sich gebracht. Sein Eindruck von den USA beschränkt sich auf den Flughafen und die am Autofenster vorbeirauschende Landschaft. Für ein Urteil also noch etwas zu früh, vor allem für einen Fünfzehnjährigen. «Great!», antwortet er dennoch instinktiv, und seine Gastmutter strahlt zufrieden. Das war 1974.

Und immer noch wird die Frage «Wie gefällt Ihnen Amerika?» jeden Tag Tausenden Neuankömmlingen gestellt, die gerade erst vom Schiff oder aus dem Flugzeug gestiegen sind. Als Antwort wird keine ausgewogene Analyse erwartet. Es ist einfach eine Einladung, etwas Freundliches zu sagen.

Wer die Frage zu ernst nimmt, ist schon auf dem falschen Gleis, denn vieles in Amerika dreht sich darum, Gelegenheiten zu schaffen, nett zueinander zu sein.

«Wenn du nichts Nettes zu sagen hast, dann sag besser gar nichts!» So lautet ein Standardsatz amerikanischer Mütter, wenn Geschwister sich streiten. Das erklärt später Cutter John im ARD-Studio am Schneidetisch: «Wir alle – und zwar wirklich alle – bekommen das als Kinder eingetrichtert.»

Und so beginnt auch unsere gemeinsame Amerika-Zeit gleich bei der Passkontrolle mit dem Austausch von Nettigkeiten. Das ist im Frühjahr 1994, lange vor den Terroranschlägen des 11. September 2001, lange bevor Amerika anfing, jedem Ausländer Fingerabdrücke und Fotos an der Grenze abzuverlangen. «Was ist der Zweck Ihres Aufenthaltes?», fragt die Dame von der Einwanderungsbehörde und ist mindestens ebenso begeistert wie wir, dass Tom als Korrespondent für einen deutschen Fernsehsender nach Washington versetzt wurde: «That is wonderful!» Der Beamtin steht das Entzücken ins Gesicht geschrieben. In Amerika zu leben – das muss ja wohl das Größte sein, das einem passieren kann.

 

Wie oft haben wir in den kommenden Jahren Besuch von Freunden, die mit der alltäglichen Begrüßungsformel «How are you?» hadern. Was sollen sie antworten? Wollen die Leute wirklich wissen, wie es ihnen heute geht? Man kennt sich doch gar nicht 

Natürlich erwartet niemand als Antwort einen detaillierten Befindlichkeitsbericht über den neuesten Stand des Scheidungsverfahrens, des Streits mit dem Boss oder die nicht abklingen wollende Erkältung, jedenfalls nicht von einer Zufallsbekanntschaft auf der Straße oder in der Schlange an der Supermarktkasse.

«How are you?» bietet eine der vielen Möglichkeiten, etwas Freundliches zu sagen. Ob man nun ein überschwängliches «Great! Wonderful! Couldn’t be better!» parat hat, ein verhaltenes «Just doing fine» oder gar mit einem «Hangin’ in there …» andeutet, dass die Stimmung nicht auf dem Höhepunkt ist – auf das Lächeln kommt es an und darauf, dass man überhaupt etwas sagt. Dass man signalisiert: Ich sehe dich, ich bin dir freundlich gesinnt. Es mag nicht mein bester Tag sein, aber mit dir hat das schließlich nichts zu tun. Natürlich darf man einer Freundin oder einem guten Bekannten auch durchaus mal von Sorgen und Ärger berichten und wird dabei sicherlich auf Mitgefühl stoßen: «Oooh, that’s too bad!» Doch wird das amerikanische Gegenüber eher früher als später eine Wende zum Positiven finden, den Blick nach vorne richten oder einfach zu einem anderen Thema übergehen, wodurch sich die von bodenloser Tiefe angezogene deutsche Seele mit Sicherheit unverstanden und zurückgewiesen fühlt.

Also handelt es sich doch nur um eine Floskel, eine Nachfrage, die nicht ernst gemeint ist und damit oberflächlich, schlussfolgern viele deutsche Besucher. Und schon steht die deutsch-amerikanische Freundschaft nicht nur aus politischen, sondern auch aus persönlichen Gründen auf dem Prüfstand.

 

Ein Techniker des Studios siedelte kurz vor uns in die Staaten über und hatte gerade ein Reihenhaus in Hillendale, einer bewachten Wohnanlage, gemietet. Er muss mit seiner Maklerin noch ein paar Details besprechen und bietet uns an mitzukommen. Der Sicherheitsbeamte am Eingang sucht umständlich in einer Liste, bis er uns schließlich passieren lässt. Die Maklerin wartet schon an der Haustür. Sie heißt Cathy, trägt ein knallrotes Kostüm, dazu ebenso knalligen Lippenstift. Als wir alle aus dem Auto steigen, begrüßt sie nicht etwa unseren Kollegen, dem sie gerade das Haus vermittelt hat, nein, sie stürzt sich auf uns. «Wie nett, Sie kennen zu lernen! Nennen Sie mich Cathy. Sie sind genau in die richtige Gegend gekommen. Das hier sind die besten Häuser, die Sie finden können», begrüßt sie uns, die potenziellen Kunden. Der Kollege ist augenblicklich abgemeldet, er hat seinen Vertrag schließlich schon unterschrieben.

Cathy ist entzückt, dass Tom nach Washington versetzt wurde – «That’s great!», hingerissen, dass wir ein Baby erwarten – «That’s exciting!», und Sabines Frisur findet sie ganz phantastisch – «So beautiful!» Sie schmeichelt in höchsten Tonlagen (buchstäblich), sie verspricht, einen exzellenten Gynäkologen und einen noch besseren Kinderarzt zu besorgen. Sie preist die Vorzüge der Anlage. «Wir wollten eigentlich etwas im Kern Georgetowns suchen», protestieren wir zaghaft. Keine Chance. Entschlossen führt sie uns zu ihrem Vorzeigeobjekt.

Wir bestaunen das helle, geräumige Haus. Wie viele amerikanische Häuser, sofern sie nicht in engen Metropolen wie New York sind, hat auch dieses einen so genannten family room. Das ist ein zweites Wohnzimmer, in dem Fernsehen geschaut wird und die Kinder spielen. Es ist die eigentliche Herzkammer des amerikanischen Familienlebens. Hier legt man die Beine hoch und entspannt sich. Alles geht ein bisschen drunter und drüber, oft liegen noch Pappkartons der letzten Pizzalieferung und leere Coladosen zwischen Kinderspielzeug auf dem Boden herum. Das eigentliche Wohnzimmer dagegen zeichnet sich dadurch aus, dass es gar nicht bewohnt wird. Es dient der Repräsentation und bleibt immer aufgeräumt, falls unangemeldeter Besuch erscheint.

Fast alle amerikanischen Wohnungen und Häuser haben begehbare Einbauschränke, Geschirrspüler, Waschmaschine, Trockner, Einbauküche. Denn eine amerikanische Großstadtfamilie zieht durchschnittlich alle drei Jahre um und will dabei möglichst wenig Ballast über den Kontinent schleppen. Die Instandhaltung dieser Haushaltsgeräte obliegt dem Vermieter. Dass man sich eine Küche bei jedem Wohnungswechsel selbst einbaut, ist undenkbar. Der Wert einer Immobilie bemisst sich für Amerikaner ganz entscheidend nach der Zahl der Badezimmer. Im Idealfall kommt auf jedes Schlafzimmer ein eigenes Bad, ergänzt durch einen powder room im Erdgeschoss, was nichts anderes meint als eine Gästetoilette und seinen Namen noch aus kolonialen Zeiten trägt, wo der Gast ab und an ein intimes Plätzchen brauchte, um seine Perücke zu pudern.

Tom erklärt Cathy höflich, dass wir uns nicht gleich für das erste Haus entscheiden wollen und außerdem mit einer anderen Maklerin befreundet sind, der wir uns verpflichtet fühlen. Cathy lächelt ungerührt: «Wenn Sie dieses Haus mieten möchten, werde ich Ihre beste Freundin sein!» Sie macht uns noch eindringlich darauf aufmerksam, dass die Häuser in Hillendale weggehen wie warme Semmeln. Wir dürfen uns also nicht so viel Zeit lassen mit unserer Entscheidung.

Am Tag darauf, Sonntagmorgen um neun, klingelt das Telefon. Unsere neue Freundin Cathy löst ihr Versprechen ein und nennt uns einen Frauen- sowie einen Kinderarzt. Dazu noch Tipps zum Einkaufen. Sie bekniet Tom, er möge sich schnell entscheiden, sonst sei das Haus weg. Der übt sich verlegen in Abwehr-Manövern. Cathy lässt nicht locker. Sie will wenigstens noch wissen, wer denn die andere Maklerin sei. Tom ergibt sich schließlich und verrät ihr den Namen. Oh, das sei eine Freundin von ihr, jubelt Cathy und entlässt uns schweren Herzens aus ihren Klauen.

 

Am Nachmittag treffen wir Terry, unsere Maklerin und Cathys angebliche Freundin. Cathy sei eine Hexe, klärt uns Terry über ihre Sicht der Dinge auf. Sie müsse sehr verzweifelt sein, dass sie uns so hinterherlaufe. Terry glüht immer an allen Enden gleichzeitig. Wir steigen in ihren Mercedes – alle erfolgreichen Maklerinnen scheinen Mercedes zu bevorzugen – und kurven durch die Straßen.

In Georgetown, dem ältesten Stadtteil Washingtons, befindet sich das ARD-Studio. Mit seinen hübsch restaurierten, pastellfarben gestrichenen Backsteinhäusern, die zum großen Teil noch aus dem vorletzten Jahrhundert stammen, hat Georgetown etwas Europäisches. Die Häuser wurden auffallend schmal und hoch gebaut. Der Grund liegt darin, dass in der Kolonialzeit die Grundsteuer nach der Breite der Häuser bemessen wurde. Das attraktive Wohnviertel war einst wohlhabendes Hafenstädtchen. Von hier aus wurde der Tabak aus dem Bundesstaat Maryland verschifft. «Come to Marlborough Country!», lockt die Zigarettenwerbung und zeigt irreführenderweise die raue Landschaft des amerikanischen Südwestens. Dabei liegt das Tabak-Anbaugebiet mit dem berühmten Namen nicht weit entfernt von Washington im äußersten Osten der USA. Man rollte die Tabakballen aus dem Marlborough-Landkreis einfach die Straße hinunter – die Wisconsin Avenue, heute bekannt für ihre Restaurants und Boutiquen – bis in den Hafen am Ufer des Potomac. Heute ist Washington Harbor in Georgetown nur noch ein Vergnügungshafen, wo Einwohner und Touristen bei einem Drink den Blick auf den Fluss genießen.

Während Terry uns in Geschichte und Gegenwart Georgetowns einweiht, greift sie alle zwei, drei Minuten zum Autotelefon. Zum Glück hat sie call waiting, kann also Anrufe empfangen, während sie selbst gerade spricht. «Hold on, honey», sagt sie, um das Gespräch auf der einen Leitung zu unterbrechen. «I call you right back, my dear», besänftigt sie dann den weniger wichtigen Gesprächspartner. Ruft mal zwei Minuten lang keiner an und fällt ihr obendrein niemand ein, den sie anrufen könnte, wählt sie nacheinander die Nummern ihrer eigenen Anrufbeantworter zu Hause und im Büro. Während am anderen Ende der Leitung die Nachrichten ihrer Anrufer laufen, macht sie uns darauf aufmerksam, welcher prominente Anwalt, Arzt, Journalist, Künstler oder Politiker in diesem oder jenem Haus wohnt bzw. wohnte: Jacqueline Kennedy und ihre Kinder im Jahr nach der Ermordung John F. Kennedys; der damalige Außenminister Warren Christopher; Teresa Heinz Kerry aus dem Ketchup-Imperium, Ehefrau des späteren Präsidentschaftskandidaten John Kerry; der (verstorbene) Regisseur Charles Guggenheim, die Musikerin Mary Chapin Carpenter und nicht zuletzt Reporter Bob Woodward, der die Hintergründe des Watergate-Skandals aufdeckte.

Tom hatte Terry zwei Jahre vorher kennen gelernt auf der verzweifelten Suche nach einem Interviewpartner für eine Reportage. Er war als Sonderreporter für zwei Wochen zur Verstärkung nach Washington geschickt worden. Das war in den letzten Wochen vor der amerikanischen Präsidentschaftswahl 1992, die den Wechsel zwischen Bush senior und Bill Clinton bringen sollte. Der Chefredakteur erwartete mehrere Geschichten, und Tom stand unter großem Druck, wohl wissend: Wenn das hier gut liefe, hatte er vielleicht in den nächsten Jahren die Chance, Amerika-Korrespondent zu werden.

Eine der Storys sollte zeigen, wie sich ganz Washington schon auf einen Sieg Clintons einstellte. Die Umfragen deuteten darauf hin, und Tom hatte gelesen, dass manche Parteifreunde Clintons schon diskret nach Wohnraum suchten. In diesem Zusammenhang war er auf Terrys Namen gestoßen. Sie war sein Strohhalm. Etwa hundert Telefonate später hatte er sie ausfindig gemacht, und was folgte, war viel mehr als ein Interview: Es war der Beginn einer langen Freundschaft, die sich anbahnte mit einer ungeheuren Hilfsbereitschaft, die Amerikanern angeboren zu sein scheint und uns Deutsche immer wieder überrascht.

«Kommt rüber», hauchte Terry mit ihrer tiefen, leicht erotischen Stimme beim ersten Gespräch ins Telefon. Was Tom nicht durchschaute: Sie wollte das Team erst mal begutachten und sich von der Seriosität überzeugen, bevor sie weiterhalf. Nach bestandener «Prüfung» nahm sie ihn und die Kamera-Crew wie eine Mutter unter ihre Fittiche. Sie führte ihnen Wohnungen vor, die sie schon an die Demokraten vermietet hatte. Sie telefonierte kreuz und quer durch Washington, um weitere Kontakte zu vermitteln. «Ich kenne Teddy gut. Du weißt schon: Teddy Kennedy. Willst du ein Interview mit Teddy Kennedy?» «Nein, eigentlich passt das gar nicht in diese Story.» «Warte einen Moment, ich rufe Teddy an.» Sie war nicht zu stoppen. Wir durften drehen, wie ihre Tochter Christa, frisch aus dem College, sich im Kapitol um ihren ersten Job bemühte. Inzwischen macht Christa Karriere auf der Chefetage von CNN.

 

Einige Tage vor der Wahl hatte Tom seine Storys im Kasten, der Rest war noch Fleißarbeit, aber der Druck fiel schon von ihm ab. Erleichterung mischte sich mit Melancholie: In einigen Tagen würde er zurück nach Deutschland fliegen, die anderen – die festen Korrespondenten – konnten hier bleiben und in diesem großartigen Land arbeiten. Es war Samstag und Halloween – amerikanischer Mummenschanz. Alle verkleiden sich möglichst Furcht erregend, und die Kinder gehen von Haus zu Haus, ein Täschchen oder Eimerchen in der Hand, um Süßigkeiten einzusammeln. Korrespondenten und Chefredakteur waren zu einem Abendessen beim Studioleiter eingeladen. Als Aushilfsreporter war Tom nicht dabei und wusste nicht, wie er diesen Abend überstehen sollte.

Dann tat er etwas, was auch als peinliche Belästigung hätte aufgefasst werden können. Er rief Terry an. Das war alles andere als selbstverständlich. Sie war einige Tage lang extrem hilfreich gewesen, aber danach hatten beide anderes zu tun. Sie war eine Interviewpartnerin gewesen, eine Quelle für eine Story, mehr eigentlich nicht. «Terry, es ist Halloween, ich bin melancholisch, ich bin allein. Ich möchte dich zum Essen einladen.»

An diesem Abend erfuhr er viel von ihr: Terry ist zwar Maklerin, aber tief innen ist sie politische Aktivistin. Sie ist seit jeher in der Demokratischen Partei, und die Aussicht, wieder einen demokratischen Präsidenten zu haben, elektrisierte sie. Sie ist gut verdrahtet im liberalen Washington, und das hilft auch im Hauptberuf. Zum Abschied schwor Tom: «Wenn ich jemals den Job als Korrespondent bekomme, dann kriegst du den Job, uns eine Wohnung zu suchen.»

Und so kam es dann. Keine knallrote Cathy hätte jemals eine Chance gehabt. Was wir damals noch nicht wussten: Wir taten Terry gar keinen Gefallen damit, es war wieder einmal umgekehrt. Denn Vermietungen – das sind für Terry längst kleine Fische. Sie vermittelt hauptsächlich Immobilien zum Verkauf, das wirft natürlich wesentlich mehr Provision ab. Das hat sie uns erst Jahre später erzählt. Aber sie muss Spaß daran gehabt haben, uns einen Gefallen zu tun. Wir hatten auf jeden Fall Spaß – und am Ende eine Bleibe.

Während wir mit ihr im Schritttempo durch die Straßen fahren, blockiert sie immer wieder reuelos den Verkehr, weil das Erzählen sie ablenkt oder weil sie gerade ein interessantes Objekt entdeckt hat. Wir achten auf die Schilder in den Vorgärten, die darauf hinweisen, dass ein Haus oder eine Wohnung zu vermieten oder zu verkaufen ist. Darunter steht immer die Telefonnummer des Maklerbüros. Inzwischen werden diese galgenartigen Vorrichtungen auch in Deutschland benutzt. Wenn uns etwas von außen gefällt, greift Terry zum Autotelefon, um nähere Informationen einzuholen. Manchmal muss man einen Termin mit dem Makler machen, der das Objekt unter Vertrag hat. Meistens ist das gar nicht nötig. Die meisten Angebote sind on lock box. Dann hängt an der Tür oder am Treppengeländer ein kleines metallenes Kästchen mit dem Hausschlüssel. Die lock box lässt sich öffnen durch einen Zahlen-Code, den jedes Maklerbüro kennt und der regelmäßig geändert wird, um Missbrauch auszuschließen.

Keine Maklerin (es sind überwiegend Frauen) kann die Vermittlung eines bestimmten Hauses dauerhaft für sich allein beanspruchen. Nach einigen Tagen kommen alle Immobilien auf den allgemeinen Markt. Dann hat sie jedes Maklerbüro im Computer. Vermittelt Terry uns eine Wohnung, die in der Obhut einer anderen Maklerin ist, so teilen sich beide die Provision. Resultat: Alle strengen sich an, während der Alleinvertretungszeit eine Vermietung oder einen Verkauf einzufädeln, um die Provision allein zu kassieren. Danach ist es ein offenes Spiel. Die angenehme Folge: Ein Mieter muss nicht bei unzähligen Maklern anklopfen, um einen Überblick über das Angebot zu bekommen. 90 Prozent der Objekte sind allen bekannt. Konkurrenz – das amerikanische Urprinzip in Aktion. Noch eine Besonderheit: Die Provision zahlt in Amerika nicht etwa der Mieter oder der Käufer, sondern der Eigentümer. Schließlich arbeitet eine Maklerin in dessen Interesse, sie will einen möglichst hohen Preis erzielen.

Für Wohnungssuchende ein äußerst praktisches System im ansonsten eher Eigentümer-freundlichen Amerika. Allerdings kann sich die lock box für den Mieter zu einem Albtraum entwickeln, nämlich dann, wenn sie angebracht wird, bevor er ausgezogen ist. Drei Monate vor Beendigung des Mietverhältnisses, so verlangen heute viele Standardverträge, soll der Mieter das Schlüsselkästchen vor der Haustür erlauben und damit Zugang ermöglichen, ob er selbst nun anwesend ist oder nicht. Haustiere, die Makler und Interessenten stören könnten, sind für diese Zeit zu entfernen oder einzusperren.

 

Als wir 2002 zum zweiten Mal nach Washington ziehen, hat eine Spekulationsblase den Wohnraum in der amerikanischen Hauptstadt so knapp gemacht wie in vielen europäischen Großstädten. Aber bei der ersten Ankunft Mitte der 1990er Jahre hat der Immobilienmarkt noch einiges zu bieten, und schon nach wenigen Tagen haben wir ein Haus in Georgetown gefunden.

Terry reicht uns nun weiter an den Hausverwalter, Arthur, einen um die 80 Jahre alten, nicht allzu freundlichen Herrn mit knarrender Stimme. Wie die Mehrheit der amerikanischen Senioren geht auch er noch nach der Pensionierung einer Tätigkeit nach. «Dies ist meine zweite Berufslaufbahn», stellt er sich vor. Drei Tage lang streiten wir mit ihm über die Farbe des neuen Teppichbodens. Arthur mag kein Grün. Sabine gibt nicht auf, und am Ende resigniert er. «The Germans are tough!» – «Die Deutschen sind zäh!», resümiert Arthur seine Erfahrungen mit deutschen Mietern. Trotzdem ist er ganz zufrieden mit uns, denn wir Deutsche gelten auch als ordentlich. Mögen andere sich mokieren, dass wir so penibel sind, die Hausverwalter in Washington lieben deutsche Mieter, weil sie die Häuser meist in gepflegtem Zustand hinterlassen.

Hatte es nur wenige Tage gedauert, ein Haus zu finden, so dauert es nun zwei Wochen, bis wir unterschreiben können. Denn unkompliziert und informell ist Amerika nicht in jeder Hinsicht: Geschäftsbeziehungen, Rechte und Pflichten – all das wird in langen Vertragswerken kodifiziert. Wir müssen unterschreiben, dass wir 200 Dollar Strafe zahlen, sollten wir mit der Mietzahlung in Verzug geraten. Keine Haustiere, keine Untervermietung, keine illegale oder unmoralische Nutzung des Wohnraums. Wir unterschreiben auch, uns immer so zu benehmen, dass wir unseres Nachbarn «friedliche Freude an seinem Eigentum nicht stören». «Die Büsche im Garten hinterlassen Sie beim Auszug genauso adrett beschnitten, wie sie jetzt aussehen», ermahnt Arthur bei der Begehung und macht eine Notiz im Protokoll.

Nach vier Wochen kommt das Schiff mit unserem Möbelcontainer in Baltimore an und passiert ein paar Tage später den Zoll. Wir können einziehen. Ende April – bei 30 Grad Celsius im Schatten. Ob es im Hochsommer noch heißer wird? «Klar», sagen die Nachbarn. «Aber hier haben doch alle eine Klimaanlage.» Willkommen in Amerika.

Das Auto lebt

Wahre Liebe, ganz ohne Bedenken

«Autos sind Mädchen», ließ der amerikanische Horror-Autor Stephen King 1983 eine seiner Romanfiguren sagen. Folgerichtig gibt der junge Mann seinem liebevoll wiederhergestellten rot-weißen 1958er Plymouth einen Mädchennamen: Christine. Christine macht sich schnell selbständig. Zu Rock-’n’-Roll-Musik aus dem Autoradio rast sie fahrerlos durch die Gegend und bringt Leute um. Eine Femme fatale aus Blech und Chrom. Ganz am Ende liegt sie, besiegt und abgemeldet, auf dem Schrottplatz. Da springt auf einmal das Autoradio an. Christine ist nicht kleinzukriegen.

Autos leben. Dieses Grundgefühl ist Teil der amerikanischen Populärkultur. In unzähligen Romanen und Songs wird das Auto beschrieben und besungen wie ein mystisches Wesen. Europäer sind meist fassungslos, wie sehr Amerikanern ihre Mobilität am Herzen liegt, egal, wie sehr das die Umwelt belastet, egal, wie viel günstiger ein gutes öffentliches Verkehrsnetz wäre. Es geht eben um mehr als um Fortbewegung. Diese Liebesaffäre beginnt nicht erst im Erwachsenenalter, sondern viel früher.

«Wir müssen noch am Grab meiner Großmutter vorbei», teilt Gastbruder John während Toms Schüleraustauschzeit in Wisconsin mit. Nach dem sonntäglichen Kirchgang schwingt er sich hinters Steuer. John ist 16 Jahre alt. Eigentlich ist der Friedhof nicht weit von der Kirche entfernt; sie hätten zu Fuß gehen können. Aber Tom hatte schon in den ersten Tagen bemerkt, dass man überall hinfährt, und ist deshalb nicht überrascht. Allerdings erwartet er, dass John das Auto vor dem Friedhof parken und dass sie beide aussteigen würden, um die letzten Meter zum Grab zu gehen. Aber John fährt geradewegs durch das Eingangstor, und Tom bemerkt, dass die Wege zwischen den Kreuzen asphaltiert sind. Er sieht noch ein anderes Auto, und es dämmert ihm: Das machen hier alle so! Am Grab angekommen, verlangsamt John die Geschwindigkeit, bekreuzigt sich im Vorbeirollen und tritt gleich wieder aufs Gas. Das also hatte er gemeint, als er sagte: «Wir müssen am Grab vorbei.» Nachdem sie der guten Oma so ihren motorisierten Respekt bezeugt haben, bleibt John völlig ungerührt. Er ahnt nicht, dass Tom gerade seinen ersten Kulturschock verdaut.

Von Sherwood, dem Dorf, wo Tom wohnt, bis zur High School sind es rund 20 Kilometer. Nie sieht er einen Linienbus oder irgendein anderes öffentliches Transportmittel auf der Strecke. Einige Jungs, die ein Auto haben, sammeln jeden Morgen ihre Mitschüler ohne fahrbaren Untersatz ein und nehmen sie mit zur Schule, nachmittags geht es zusammen zurück. Wie alle Eltern sind auch Amerikaner besorgt, wenn ihre Sprösslinge die Fahrprüfung machen. Aber es überwiegt doch die Erleichterung. Denn nicht nur auf dem Land, selbst in fast allen größeren Städten müssen die Kinder zu ihren Aktivitäten in der Gegend herumgefahren werden – zu allen Verabredungen mit Freunden, Sportveranstaltungen oder sonstigen Hobbys. Im Nebenberuf sind die Eltern jahrelang Chauffeur. Kein Wunder, dass sie den Nachwuchs recht gerne in die automobile Unabhängigkeit entlassen.

In der Regel beginnt der amerikanische Teenager seine Fahrübungen mit 15. Er erhält ein Learner’s Permit, das heißt, er darf hinters Steuer, aber nur, wenn Papa oder Mama quasi als Privatfahrlehrer daneben sitzen. Die Fahrprüfung und den ersten – inzwischen oft eingeschränkten – Führerschein gibt es mit 16. An vielen Schulen kann man Fahrunterricht als zusätzliches Unterrichtsfach nehmen. Teure Fahrschulen, wie in Deutschland, würden Amerikaner als Zwangsmonopol und Geldschneiderei ansehen. Allerdings verlangt die Straßenverkehrsbehörde auch viel weniger Fertigkeiten von den Prüflingen: Einmal links um die Ecke, einmal rechts um die Ecke, Blinker richtig bedienen, anfahren, stoppen, hier und da noch parallel einparken – schon ist die praktische Prüfung bestanden. Die theoretische Prüfung ist auch keine unüberwindbare Hürde. Das stellten wir gemeinsam in Washington fest.

 

Die größte Herausforderung besteht in der Geduld, die man aufbringen muss. Die Atmosphäre in Amtsstuben ist offenbar überall auf der Welt ähnlich.

Zwei Stunden stehen wir im Straßenverkehrsamt Washingtons in einer sich träge bewegenden Schlange, bis schließlich eine ausgesucht unfreundliche Dame die notwendigen Formalitäten erledigt und uns an zwei Computer verweist. Nach Vorlage unseres deutschen Führerscheins wird eine praktische Prüfung nicht gefordert, wir müssen nur einen theoretischen Multiple-Choice-Test machen.

«Hallo, Sabine Stamer, hallo, Tom Buhrow», begrüßen uns die Computer. Wir haben 30 Minuten Zeit für 20 Fragen. Schon mit Sabines zweiter Antwort ist der Computer unzufrieden: «Tut mir Leid, die Antwort war falsch!» Aber am Ende gratuliert er dann doch zur bestandenen Prüfung, leitet das Ergebnis automatisch weiter zur nächsten muffeligen Person, die uns einen Sehtest absolvieren lässt und noch unfreundlicher wird, als Tom erfolglos versucht, seine Kurzsichtigkeit zu verheimlichen. Im nächsten Raum werden wir zum Lächeln aufgefordert, dann endlich halten wir unsere amerikanischen Führerscheine mit eingeschweißtem Foto in der Hand.

Das kleine Stückchen Plastik ist viel mehr als eine Fahrerlaubnis: Will man in eine Kneipe und sieht etwas jung aus, fordert der Türsteher den Altersbeweis in Form des Führerscheins. Stellt man im Supermarkt einen Scheck aus, verlangt ihn die Kassiererin. Nach den Terroranschlägen des 11. September haben die USA zwar etliche Sicherheitsmaßnahmen eingeführt, die früher undenkbar waren, aber einen Personalausweis gibt es immer noch nicht. Es gab zwar eine kurze und heftige Diskussion darüber, aber sie machte zweierlei deutlich: Die Einzelstaaten bestehen auf ihrer Eigenständigkeit und wollen sich diesem Zentralismus nicht unterwerfen. Und die Bürger empfinden einen einheitlichen Personalausweis als Ausdruck eines Obrigkeitsstaates. Praktisch spielen diese Bedenken eigentlich keine große Rolle. Bundesweit ist die Sozialversicherungsnummer, die jeder Amerikaner hat, die entscheidende Zahlenkombination, mit der notfalls alle Transaktionen nachvollzogen werden können. Und der Führerschein fungiert im Alltag als Ersatzausweis, er gilt grenzenlos, auch wenn er von jedem Staat souverän ausgestellt wird und deshalb unterschiedlich aussieht. Er dient der Identifizierung, in Amerika abgekürzt ID. Selbst in Amerika gibt es ein paar wenige Menschen, die nicht Auto fahren. Die dürfen sich beim Kraftfahrzeugamt ein Nicht-Fahrer-ID ausstellen lassen.

«Can I see your ID?», bedeutet im Alltag: «Kann ich Ihren Führerschein sehen?» Deutsche Neuankömmlinge zücken manchmal ihren richtigen Ausweis, den Reisepass etwa. Schließlich ist das doch ein ganz offizielles Dokument, mit dem Adler der Bundesrepublik versehen. Aber eine amerikanische Verkäuferin kann mit ausländischen Pässen nichts anfangen. Nein, es muss der Führerschein eines US-Staates sein, sonst nimmt sie den Scheck nicht an. «Kann bitte ein Manager zu Kasse 4 kommen», holt sie dann per Lautsprecher Hilfe. Es kann dauern, bis ein Manager nach dem anderen den deutschen Reisepass begutachtet und endlich entschieden hat, dass dieses Dokument nicht glaubwürdig genug die Identität des Kunden beweist.

 

Nun bedeutet die driver’s license allein noch keine Mobilität. Dafür braucht es den fahrbaren Untersatz. Autokauf ist die amerikanische Transaktion schlechthin. Alle naselang gibt es Sonderaktionen der Händler mit Rabatten: Labour Day Sale, End of the Year Sale, Summer Sale – kaum eine Jahreszeit, kaum ein Feiertag ohne Sonderangebote. Dass Amerikaner Autos lieben, ist bekannt; sie lieben aber vor allem neue Autos. Kaum jemand bezahlt das Auto direkt; ein Händler ohne Finanzierungsangebote hätte keine Chance. In den Anzeigenblättern der Zeitungen sind manchmal nur die monatlichen Raten erwähnt. «Honda Accord, 4-türig – nur $ 199» steht dann etwa neben dem Foto eines Prachtexemplars. Vom richtigen Kaufpreis keine Spur.

Da sich in Deutschland hartnäckig das Gerücht hält, Gebrauchtwagen seien in den Vereinigten Staaten gut und billig zu kaufen, hat sich Tom in den Kopf gesetzt, nicht mehr als 3000 bis 4000 Dollar zu investieren. Wir fahren durch einige Gewerbegebiete in Virginia und Maryland, im unmittelbaren Umfeld der Stadt. Kilometerlang reiht sich hier entlang vier- bis sechsspuriger Straßen ein Einkaufszentrum ans andere mit Geschäften aller Art, Imbissen und Restaurants, dazwischen unzählige Autohändler, die mit bunten Wimpeln, Ballons und glitzernden Reklameschildern auf sich aufmerksam machen.

Wir halten zuerst bei einem relativ kleinen Geschäft. Der Verkäufer ist mittleren Alters und stammt aus dem Mittleren Westen. Er hat Cowboystiefel und einen Anzug aus Polyester an. Mit Auftritt und Rede betont er, dass er aus der Provinz kommt. Dort gehe es noch weitgehend ehrlich zu, seufzt er, hier sollten wir uns in Acht nehmen vor gerissenen Geschäftemachern, gerade in der Autobranche. Er selbst komme immer nur während der Sommersaison nach Washington, um Geld für die Universitätsausbildung seines Sohnes zu verdienen. Charles ist sein Name, er wirkt sehr vertrauenswürdig. Wir gestehen ihm, dass wir keine Ahnung haben, wie der amerikanische Automarkt aussieht, und dementsprechend nicht genau wissen, was wir wollen. Charles lenkt unsere Aufmerksamkeit auf einen weißen Chrysler, versteht aber, dass wir uns nicht sofort entscheiden können, und wünscht uns Glück. Wir streiten uns später, ob seine Ehrlichkeit echt war oder eine besondere Verkaufsmasche.

Der nächste Verkäufer gibt in dieser Beziehung keine Rätsel auf. Anfang dreißig, pomadige Haare, dunkle Sonnenbrille. Er bleckt die Zähne zu einem breiten Grinsen. «Ich habe ein supertolles Auto für Sie!» Der schwarze Buick, Baujahr 1989, für 5998 Dollar, sei einfach «wonderful, wonderful, wonderful». Genauere Informationen habe er leider gerade nicht präsent. Nur eins sei klar: Der Wagen würde noch heute weggehen, wir müssten schnell zugreifen.

Wir fahren von Händler zu Händler auf der Suche nach dem perfekten Deal. Doch anders als erwartet ist das Gebrauchtwagenangebot nicht sehr reizvoll. Exemplare, die einen etwas vertrauenswürdigen Eindruck machen, kosten um die 7000 Dollar. Für etwas mehr bekommt man schon neue Kleinwagen aus Japan oder Korea. Wir probieren es schließlich bei einem der marktführenden großen Geschäfte.

Fast ein Dutzend cooler junger Männer bewegt sich im Schauraum wie Haie im Karpfenteich. Wortlos, kaum merkbar verständigen sie sich, wessen Beute wir werden. Einer in blank geputzten schwarzen Schuhen wippt auf uns zu, sein blütenweißes Hemd zieren breite, rot gemusterte Hosenträger: «My name is Sam.» Wir erwarten, dass Sam uns zu den glänzenden Autos steuert und die verschiedenen Modelle vorführt, aber Sam hat eine andere Masche: Er bittet uns zunächst an seinen Schreibtisch, blickt uns über den Rand seiner Ray-Ban-Sonnenbrille hinweg tief in die Augen und sagt: «Ich weiß, was die anderen euch über ihre Preise erzählen. Das ist nicht ehrlich. Am Ende zahlt ihr doch mehr, als man euch vorgerechnet hat.» Sam malt unverständliche Zahlen und Kringel auf ein Blatt Papier. «Ich mache das anders. Ich sage euch gleich, was am Ende wirklich dabei herauskommt!» Auf dem Papier erscheint eine Acht mit drei Nullen. Erst etliche Verkaufsgespräche später dämmert uns, was es mit dieser Vorstellung auf sich hatte: Sam wollte sich absetzen von den anderen Verkäufern.

Normalerweise blüht Kunden nach der grundsätzlichen Entscheidung für ein Modell ein gestaffelter Verhandlungsprozess um den Preis. Es ist eine Art Spießrutenlauf auf die sanfte Tour. Der Verkäufer läuft ständig raus zum Vorgesetzten, kommt mit irgendwelchen Angeboten zurück, dann kommt der Vorgesetzte selbst, dann dessen Vorgesetzter und danach noch viele andere. Man verliert den Überblick, während verschiedene Ausstattungen des Autos, Zuschläge und Abschläge auf den Preis durchgerechnet, angeboten oder abgelehnt werden. Derweil vergehen Stunden, und der Kunde ist am Ende zermürbt.

«Die Leute hassen diesen Ablauf», sagt Sam überzeugt. Seine Technik: den Ablauf umdrehen. Erst zum Schreibtisch, dann zum Auto. Scheinbar ehrlich jeden finanziellen Spielraum des Händlers auf den Tisch legen, grundsätzliche Einigung über den Preis erzielen und dann erst die unwichtige Nebensache der Modellauswahl betreiben. Für kauferprobte Amerikaner hat Sams Masche sicher einen überraschenden Charme, aber wir sind verwirrt. Sam ebenso, als er merkt, dass wir seine Abkürzung durch den Verhandlungsmarathon gar nicht zu würdigen wissen. Wir wollen Autos sehen. Nach seiner langen theoretischen Einführung führt er uns endlich nach draußen zu den praktischen Modellen, wo er – mit Hilfe einer Teleskopstange – die Ausmaße und Extras diverser Wagentypen erklärt. Wir entscheiden uns für einen japanischen Neuwagen, einen viertürigen kleinen Nissan, doch den Vertrag wollen wir zu Sams Bedauern heute noch nicht unterschreiben. Er entlässt uns cool bleibend und gefasst, natürlich nicht, ohne uns seine Visitenkarte in die Hand zu drücken.

Am nächsten Tag fachsimpelt Tom mit zwei jungen Vätern. Deren Urteil: «Du glaubst gar nicht, wie viel Kram du mit einem Baby unterbringen musst.» Danach steht fest: Wir kaufen auf keinen Fall den kleinen Nissan, sondern einen Kombi. Und alles fängt von vorne an.

Bevor wir uns erneut auf den Weg machen, studieren wir Annoncen und telefonieren. «Das ist entschieden zu teuer!», versucht Sabine einen besonders hartnäckigen Verkäufer loszuwerden, doch der gibt nicht auf und flüstert in die Muschel: «Vielleicht kann ich ja die Preisschilder vertauschen.» Solche Erlebnisse bestätigen die schlimmsten Gerüchte, die uns über die Autobranche zu Ohren gekommen sind. Alle warnen uns vor bösen Tricks. In der amerikanischen Wertschätzungsskala konkurrieren Autoverkäufer und Rechtsanwälte um die letzten Plätze.

Endlich entscheiden wir uns für einen günstigen Ford-Kombi. Als wir uns entschließen, den Vertrag zu unterschreiben, sind wir uns nahezu sicher, nun übers Ohr gehauen zu werden. «Passt auf, die Schlitzohren schicken euch von einem zum anderen, und jeder bietet euch einen anderen Zusatzdeal an. Am Ende zahlt ihr viel mehr, als ihr ursprünglich wolltet.» Tatsächlich werden wir von einem Zimmer ins andere geschickt, fünf verschiedene Damen und Herren tippen geheimnisvolle Dinge über uns und unser neues Auto in ihre Computer, wir unterschreiben unzählige Formulare, die wir alle sorgfältigst studieren – in paranoider Angst vor dem großen Coup, auf den wir gleich hereinfallen. Man bietet uns erweiterte Garantien, die neueste Sitzimprägnierung und ein ganz spezielles Hochglanzwachs an, aber wir lehnen alles tapfer und entschieden ab. Am Ende haben wir den Eindruck, einen guten Deal gemacht zu haben, wagen nach all den Warnungen aber kaum noch, diesem Gefühl zu trauen.

 

Einmal voll tanken für zwölf Dollar – das war 1994 – und auf geht’s. Was wir beim Tanken sparen, geben wir für Strafzettel wieder aus. Bußgelder werden dringend gebraucht, um die leeren Kassen der amerikanischen Hauptstadt aufzufüllen, also arbeiten die Politessen fix und streng. Die Schilder sind, so scheint es, absichtlich missverständlich formuliert. Da werfen wir Geld in eine Parkuhr und haben zehn Minuten später ein Knöllchen unter dem Scheibenwischer stecken: 50 Dollar Bußgeld. Auch ein Abschleppwagen ist schon unterwegs. Wir sind fassungslos. «2 Stunden Parken von 7  16 Uhr montags bis freitags» steht auf dem Schild. Das heißt beileibe nicht, dass nach 16 Uhr das Parken frei ist, sondern dass man an dieser Parkuhr nach 16 Uhr überhaupt nicht mehr parken darf. Zu Stoßzeiten wird jede Spur für den Verkehr gebraucht. Wer seine Strafzettel nicht zahlt, der findet sein Auto unter Umständen mit einer orangefarbenen Kralle am Vorderrad vor.

Unzählige Male verfahren wir uns auf den verwobenen Highways. Verkehrsschilder wirken oft wie klein geschriebene Bedienungsanweisungen – im Vorbeifahren kaum zu entziffern: «Restricted lanes. HOV 3 only Monday through Friday 3.30  6.00 pm», liest Sabine schließlich, als sie zum vierten Mal am gleichen Schild vorbeifährt. Später findet sie heraus, dass HOV «High Occupancy Vehicles Only» heißt, und HOV 3 bedeutet: Mindestens drei Leute müssen im Auto sitzen, um die Mittelstreifen des Highways zu benutzen. Aber nur werktags von 15.30 bis 18 Uhr. Morgens ist es genau umgekehrt, da kommt einem auf dieser Spur der Verkehr entgegengebraust. Manche Straßen werden zu Stoßzeiten komplett in Einbahnstraßen umgewandelt. Morgens in die eine, abends in die andere Richtung. Mit den High-Occupancy-Fahrspuren wollen die Behörden zu Fahrgemeinschaften ermutigen, denn die Ballungsgebiete drohen im Verkehr zu ersticken.

Einsame Landstraßen, auf denen man stundenlang fährt, ohne einem anderen Auto zu begegnen, gibt es – außer in Kinofilmen und der Werbung – nur im wenig besiedelten Westen, vor allem in den Wüstenstaaten. An den dicht besiedelten Küsten kann man davon nur träumen. Gridlock, wie der Dauerstau genannt wird, ist ein echtes Problem geworden. Die Stadt Washington etwa hat zwar streng genommen nur rund 600 000 Einwohner, aber der Großraum Washington umfasst mehrere Landkreise der angrenzenden Staaten Maryland und Virginia. Immer weiter fressen sich die Wohngebiete in die Provinz hinein. Urban sprawl nennt man das hier. Inzwischen entstehen schon neue Siedlungen in Pennsylvania. Pendler fahren von dort über zwei Staatsgrenzen hinweg zur Arbeit. Natürlich mit dem Auto, denn Alternativen gibt es so gut wie gar nicht.

Solche Zersiedelung schafft nicht nur am Rande von Ballungsgebieten Probleme, sondern auch auf dem platten Land. In Montana und Wyoming zum Beispiel kämpfen Rancher und die Bewohner kleiner Dörfer gegen den Ansturm von Neubürgern. Anfangs waren es nur einige reiche Schauspieler aus Hollywood, die ihre Kinder dort großziehen wollten, wo Luft und Wasser noch sauber sind. Während des Aktienbooms der 1990er Jahre kamen dann auch viele Neureiche dazu. Manche teilen ihr Leben zwischen Großstadt an der Küste und der Provinz, manche arbeiten ohnehin mit dem Computer und müssen nicht täglich in ein Büro. Nur eins haben alle gemeinsam: Sie haben nie vor, das Land, das sie kaufen, zu bearbeiten. Sie wollen wie auf einer Ranch wohnen, aber nicht wirklich Rancher sein. Die Folge: Die großen Weiten im Westen werden unterteilt in Parzellen. Sie sind so groß, dass man darauf ein paar Pferde halten kann, aber sie sind kleiner als eine richtige Ranch.

Ranchette nennen Makler und Bauunternehmer dieses Phänomen. Die Städter wollen dahin, wo das Leben angeblich noch in Ordnung ist, und bringen dabei manches in Unordnung. Finanzielle Engpässe nach Scheidungen, Drogenprobleme der Kinder – die negativen Erscheinungsformen der Metropolen halten Einzug in der Provinz. Nach ein paar Jahren wird der Besitz zu mühsam, die Instandhaltung wird vernachlässigt, dann gammeln schnell die ersten Autowracks neben dem Haus vor sich hin. Alteingesessene klagen mancherorts über die Entstehung von ländlichen Slums. Auch ohne solche Auswüchse hat die Zersiedelung ihren Preis: Natürlich gibt es mehrere Autos pro Haushalt. Inzwischen lernen auch solche Gegenden die Bedeutung des Wortes gridlock. Jeder fährt am liebsten allein im eigenen Auto von Tür zu Tür, zumal das Nahverkehrssystem in den Vororten äußerst dürftig ist. Wie kommt man von der Endstation zum eigenen Heim?

Selbst wenn es ausnahmsweise einen erreichbaren Bus geben sollte, tauchen neue Probleme auf. Es gibt keine Bürgersteige. In vielen Vororten ist inzwischen der Kampf um Fußwege entbrannt, meist ausgehend von Eltern, die um die Sicherheit ihrer Kinder fürchten. Doch wohin nun mit dem nicht eingeplanten Betonstreifen? Eine zweispurige Straße verengen? Das gibt Verkehrschaos. Den Anwohnern die Vorgärten beschneiden? Zu schade um die schönen Blumenrabatten. Wer ganz selbstverständlich mit Fußwegen aufgewachsen ist, der kann sich nicht vorstellen, wie viele Gründe dagegen sprechen. Noch immer werden neue Siedlungen ohne Gehwege geplant und gebaut. Dafür haben die Häuser mindestens zwei, nicht selten sogar drei Garagen. Wen wundert es, wenn da selbst die kurze Strecke zum Einkaufszentrum oder zur Schule mit dem Auto zurückgelegt wird? Fußwege über 200 Meter gelten in Amerika gemeinhin als Wanderungen.

An vielen Stränden kann man mit dem Auto direkt bis zum Wasser fahren und dann auf der Ladeklappe sein Handtuch ausbreiten. Selten muss man die Kühltasche zum Picknicktisch länger als 20 Meter schleppen, der Parkplatz ist dicht dabei. Man braucht auch nicht etwa aus dem Auto auszusteigen, um bei der Bank Geld zu ziehen. Am Drive-through-Schalter lassen sich fast alle Finanzgeschäfte erledigen. Und selbstverständlich wird auch der Hamburger oder der Kaffee bequem durchs Autofenster gereicht.

In Las Vegas gibt es sogar drive-thru- oder drive-up-Hochzeiten, entstanden aus einem fürsorglichen Gedanken. Nachdem eine Hochzeitsunternehmerin 1991 bemerkt hatte, welche Schwierigkeiten ein behindertes Paar hatte, aus dem Auto heraus- und in die Kapelle hineinzukommen, richtete sie ein Fenster ein, an dem die Verliebten nur noch vorbeifahren müssen, um sich trauen zu lassen. Die Idee stieß schnell auf Begeisterung. In Limousinen, Oldtimern, Cabrios oder auf dem Motorrad defilieren Braut und Bräutigam vorbei, um sich das Ja-Wort zu geben. Ein paar Minuten aussteigen für einen Fototermin, das ist oft noch drin, zwei Songs von einem Elvis-Imitator – schon ist man einige hundert Dollar los und fürs Leben aneinander gebunden. Das einfache Fensterchen hat inzwischen einen Vorbau bekommen: den Tunnel of Love mit herzigen Cherubinen und himmelblauer Decke.

 

Die Faszination des Autos ist nicht mit Faulheit zu erklären – sie hat viel tiefere Wurzeln. Wenn Teenager ihre ersten Fahrten mit Papas Auto machen, ist dies nicht nur einschneidend für die Eltern – es ist auch prägend für den pubertierenden Nachwuchs. Als Tom und sein Gastbruder John mit 16 durch die Weiten Wisconsins brausten, ging es nicht nur darum, von A nach B zu kommen.

Hier ist zur Erläuterung ein kleiner kultureller Abstecher nötig. Teenager haben in Amerika zwar Zugang zu vielen Errungenschaften der westlichen Welt, die ihren Altersgenossen anderswo nicht zur Verfügung stehen. Aber der jugendlichen Experimentierlust sind Grenzen gesetzt. Der Besuch von Kneipen oder Discos, zum Teil sogar Restaurants, also den meisten Einrichtungen, in denen Alkohol ausgeschenkt wird, ist Minderjährigen verwehrt. Und minderjährig ist man in praktisch allen Bundesstaaten bis zum 21. Geburtstag. Bis dahin ist jeglicher Genuss von Alkohol illegal, auch wenn die eigenen Eltern nichts dagegen haben. Kein halbes Glas Wein zur Konfirmation, kein Glas Sekt zum 18. Geburtstag. Das strikte Verbot kann bisweilen bizarre Formen annehmen.

Als wir von einem Urlaub innerhalb der USA nach Washington zurückfliegen, macht der Pilot eine Durchsage: «Achtung, Achtung, in Reihe 23 sitzt ein Liebespaar. Nancy und Paul. Nancy, Ihr Freund Paul hat mich gebeten, Sie zu fragen, ob Sie ihn heiraten wollen.» Alle Passagiere verdrehen die Hälse und schauen, was sich in Reihe 23 tut. Ein sehr junges Pärchen liegt sich in den Armen. Die Frau hat vor Rührung Tränen in den Augen. «Falls es Sie interessiert, sie hat JA gesagt», klärt der Pilot die Passagiere wenig später auf. Alle klatschen begeistert – Amerika von seiner spontanen und warmherzigen Seite. Dann kündigt der Pilot an, man werde den beiden Glücklichen einen Sekt spendieren. Kurz darauf erneut ein Knacken im Lautsprecher – und die Korrektur: «Wir haben gerade gesehen, dass die beiden erst 20 sind. Wir geben ihnen statt des Sektes Apfelsaft zum Anstoßen.»

Für Victor Palencia war das Verhältnis zum Alkohol bis vor kurzem noch absurder: Victor arbeitet als Kellermeister eines Weinerzeugers, der Willow Crest Winery, im Bundesstaat Washington. Er hat Verantwortung für alle Aspekte der Weine seines Arbeitgebers, nur selbst trinken durfte er ihn nicht. Victor ist eines von acht Kindern einer mexikanischen Familie, die irgendwann in dieses Tal an der Westküste kam. Sein Vater wurde Vorarbeiter bei der Willow Crest WineryWillow Crest Winery 

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Auch in anderer Hinsicht ist Amerika für Teenager ein Land der beschränkten Möglichkeiten: Das gilt zum Beispiel für das Verhältnis der Geschlechter. Das Zimmer eines Schülers ist zum Schlafen und Hausaufgaben-Machen da. Was Besuch angeht, dürfen sich Angehörige des gleichen Geschlechts dort versammeln. Wenn John eine Freundin mitbrachte, saß sie mit im Wohnzimmer; man schaute fern, redete, hörte Musik. Dass John und seine Flamme in seinem Zimmer die ersten zarten Ausdrucksformen ihrer Zuneigung ausprobiert hätten – undenkbar. Wollen sich junge Verliebte zurückziehen, tun sie das – im Auto.

The passion pit!

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«Aber ich kenne sie doch gar nicht.»

«Okay.» Tom will es jetzt genau wissen: «Heißt das: NUR küssen oder mehr?»

Etliche Küsse, Bierdosen und Grenzüberschreitungen später ist das Auto ein mystischer Gegenstand geworden. Es ist das Gefährt, in dem man von der Pubertät ins Erwachsensein gleitet. Für Amerikaner ist ein Auto keine Blechkiste, sondern Schatztruhe intensiver Jugenderinnerungen.

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