Claus Hipp

Agenda Mensch

Warum wir einen neuen Generationenvertrag brauchen

Inhaltsverzeichnis

Wer sich im Alter wärmen will, muss sich in der Jugend einen Ofen bauen

I. Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht

II. Kurze Verteidigung der sozialen Marktwirtschaft – auch gegen ihre falschen Propheten

Man muss nicht mehr schlachten, als man salzen kann

Warum Gier und blinder Egoismus die soziale Marktwirtschaft ruinieren

Fehlt es am Wind, so greife zum Ruder

Leistung, Eigenverantwortung und Solidarität – richtig verstanden

III. Eine Charta für die junge Generation: Chancengerechtigkeit durch umfassende Bildung

Was Hänschen nicht lernt ...

Schluss mit den Lippenbekenntnissen in der Bildungspolitik!

Wenn du schnell ans Ziel willst, gehe langsam

Der junge Mensch braucht Zeit zum Reifen

Gefährlich wird es, wenn die Dummen fleißig werden

Warum Ausbildung allein keine Bildung ist

IV. Eine Charta für die aktive Generation: Leistungsgerechtigkeit und Förderung der Familie

Eigener Herd ist Goldes wert

Über die Renaissance der Familie als gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Leistungsträger

Je mehr Gesetz, je weniger Recht

Wir brauchen weniger Regulierung – und mehr Menschen, die sich an die Regeln halten

Im Steueralmanach ist keine rote Schrift

Bemerkungen über den Unterschied von Steuersenkung und Steuervereinfachung

V. Eine Charta für die ältere Generation: Anerkennung der Lebensleistung und Wertschätzung der Lebensweisheit

Neue Besen kehren gut – aber die alten kennen die Winkel

Lebenserfahrung als Sozialkapital, mit dem sich wuchern lässt

Das beste Altersheim ist die Familie

Die traditionelle Mehrgenerationen-Gemeinschaft als Lebensmodell

Es ist unmöglich, dass ein Mensch gut sei,

außer er stehe im rechten Bezug zum Gemeinwohl.

Thomas von Aquin

Wer sich im Alter wärmen will, muss sich in der Jugend einen Ofen bauen

Lernen, Leisten, Helfen – Der Dreiklang der Vita activa

Nach einem Jahrhundert schwerer innerer Krisen, die seinem Aufstieg zur beherrschenden Macht des Mittelmeerraums vorausgegangen waren, erlebte Rom unter Augustus eine lange Phase des Friedens. Vor und während der Zeit der Römischen Bürgerkriege zwischen 130 und 30 vor Christus war eine kleine Schicht von Landbesitzern durch Eroberungen, Sklaverei und Geldgeschäfte sehr reich geworden, wogegen große Teile der kleinbäuerlichen Landbevölkerung verarmten. Während der Pax Romana genossen die Bürger Roms, Italiens sowie der meisten Provinzen des Reiches dagegen Stabilität und allgemeinen Wohlstand. Wirtschaft, Kunst und Kultur blühten auf. Allerdings kam es zu einem starken Geburtenrückgang – ein Phänomen, das in der Geschichte sonst nur in Verbindung mit Naturkatastrophen, Seuchen oder Kriegen auftrat. Bis im Zeitalter der Industrialisierung erneut der Wohlstand zu- und die Zahl der Kinder zugleich abnahm.

Augustus versuchte den Bevölkerungsrückgang seinerzeit mit drastischen Maßnahmen zu stoppen. Männer zwischen dem 25. und dem 60. Lebensjahr, Frauen zwischen 20 und 50 Jahren wurden gesetzlich zur Eheschließung verpflichtet. Wer nicht verheiratet war, musste eine Geldstrafe zahlen. Frauen mit drei oder mehr Kindern genossen dafür Privilegien: So durften sie etwa besondere Kleider tragen, und sie waren nicht länger der Autorität ihres Gatten, des pater familias, unterworfen. Die stramm konservative Familienpolitik des Kaisers zeitigte freilich wenig Erfolg. Kurzfristig konnte er den Rückgang der Bevölkerung ebenso wenig verhindern wie deren relative Überalterung. Erst in den Jahrzehnten, die seiner Herrschaft folgten, stieg die Zahl der Geburten wieder.

Auch der demographische Wandel in Europa, Nordamerika und Japan ist eine Folge wachsenden Wohlstands. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert sorgten vor allem Fortschritte in der Hygiene, der Medizin und der Bildung dafür, dass nahezu jedes Kind die Chance hatte, erwachsen zu werden. Danach sank in allen industrialisierten Ländern die Zahl der Geburten pro Frau zunächst von etwa sechs bis sieben auf zwei bis drei, ab Mitte des 20. Jahrhunderts dann auf 1,4 bis 1,9. Zudem übersteigt seit Anfang der siebziger Jahre die Zahl der jährlichen Sterbefälle jene der Geburten. Folge: In nahezu allen Industrieländern schrumpft die Bevölkerung und wird im Schnitt älter. Und ähnlich wie zu Augustus’ Zeiten ist die Politik gegen diese Entwicklung machtlos.

Wir müssen damit rechnen, dass jede künftige Generation um ein Drittel weniger Kinder haben wird. Der vielbeschworene «Generationenvertrag» gilt deshalb nicht mehr. Weil unsere Gesellschaft zunehmend überaltert, müssen künftig immer mehr Ruheständler von immer weniger Berufstätigen versorgt werden. Ebenso werden der Wirtschaft in absehbarer Zeit junge, gut ausgebildete Arbeitskräfte fehlen. Damit droht auch ein Mangel an neuen Impulsen und Ideen. Innovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft könnten erlahmen. Zugleich drängen wir immer noch viel zu viele Menschen jenseits der Lebensmitte aus dem Arbeitsleben. Damit verzichten wir wider alle Vernunft auf ein riesiges Potenzial an Wissen und Schaffenskraft.

Schlimmer noch: Weil wir zur selben Zeit international den Anschluss in der Bildung verloren haben, hindern wir auch noch die jungen Menschen am Vorwärtskommen. Statt ihre Leistungsfähigkeit und ihre Talente zu fördern und zu fordern, machen wir allzu viele zu gefühlten «Verlierern», die kaum noch eine Chance sehen, zum Wohlstand unserer Gesellschaft etwas Sinnvolles beizutragen. Immer mehr junge Menschen verlassen die Schule ohne Abschluss oder mit einer mangelhaften Grundbildung. Es sind diese schon oftmals am Beginn ihres Erwachsenenlebens schlecht vorbereiteten Menschen, die als Erste in die Arbeitslosigkeit geraten. Statt in ihre Bildung zu investieren, muss die Bürgergemeinschaft dann phasenweise oder sogar auf Dauer für ihren Unterhalt aufkommen. Schon wirtschaftlich können wir uns das nicht leisten. Menschlich ist es ein unverzeihliches Versagen, weil diesen Menschen mit ihrem dringend notwendigen Leistungsbeitrag zugleich Lebenssinn und soziale Anerkennung versagt bleiben.

Hier sehe ich eine Schieflage in den aktuellen Debatten um die Reform unserer Sozialversicherungen, um Deregulierung, Steuerpolitik und andere ordnungspolitische Rahmenbedingungen von Wirtschaft und Arbeitsmarkt. Wir sprechen viel von System- und Finanzierungsfragen, aber sehr wenig von den Menschen. So wichtig Erstere sind – Wohlstand und Zukunft einer Gesellschaft hängen im Wesentlichen davon ab, dass jeder Mensch den für ihn besten Platz im Gesamtgefüge finden kann, dass jeder das Gefühl hat, sein Bestmögliches für die anderen geben und dafür ein Höchstmaß an Wohlstand und Anerkennung erhalten zu können.

So, wie wir viel von abstrakten «Lösungen», «Maßnahmen» oder «Strukturen» statt von den Menschen und ihren konkreten Lebensumständen sprechen, so pflegen wir auch eine seltsame Vorliebe für die Sollseite eine ganzen Reihe anderer Begriffspaare. Wir gewichten das Eigeninteresse stärker als das Allgemeininteresse. Wenn wir etwas Neues anfangen oder etwas Gewohntes verändern wollen oder müssen, dann betonen wir vorzugsweise die Risiken, statt auf die Chancen zu sehen. Egal ob im persönlichen Alltag oder bei der Beurteilung des Weltgeschehens, wir hegen oft genug mehr Sorgen als Hoffnungen. Oder wir fürchten mehr die Krankheit, als dass wir aktiv etwas für unsere Gesundheit täten. Wir beklagen den Mangel an dem, was wir gerade nicht haben, statt uns lieber an dem zu freuen, was wir haben. Schließlich und endlich legen wir übermäßigen Wert auf das Materielle und vergessen darüber die wesentlichen geistigen Dimensionen des Daseins.

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Auch nicht von anderen Konsumgütern und käuflichen Freizeitvergnügungen. Gewiss, echter materieller Mangel beschneidet die Entfaltungschancen des Einzelnen. Vieles von dem, was wir uns leisten können oder wollen ist sicher auch schön und gut. Manch anderes mag eher verzichtbar sein. Wichtig sind dagegen Kunst, Musik, Literatur und all jene «Dinge», die unsere geistige Neugier und unsere spirituelle Sehnsucht anregen und befriedigen.

Lebensqualität ist natürlich etwas ganz Individuelles. Dem einen macht dies Freude, dem anderen das. Deshalb sollten wir jedem zunächst einmal von Herzen gönnen, was er sich leistet. Aber es ist eben ein Unterschied, ob einer all das hat, was er braucht, oder ob jemand versucht, all das zu bekommen, was er will. Der menschliche Wille ist immer grenzenlos, das wusste schon der Philosoph Aristoteles. Er erkannte auch als Erster, dass die an sich völlig abstrakte Geldgier quasi der perfekte, weil durch äußere Umstände kaum zu bremsende Ausdruck der Maßlosigkeit unsere Wünsche und Begierden ist. Dass sie deshalb umso mehr durch Vernunft und Sitte gezügelt werden muss.

Doch zugleich ist unsere beständige Unzufriedenheit mit dem, was ist, ein Motor des Fortschritts. So gesehen gehört der Wille, mehr zu haben, der Wunsch, dass es mir und den Meinen künftig bessergeht, zu unserer Wirtschaft wie das Amen zur Kirche. Sie lebt von diesem Willen. Gerade deshalb braucht jeder Einzelne aber umso mehr die Fähigkeit, ja die Tugend des Maßhaltens. Wir müssen eben manchmal auch mit dem auskommen, was uns tatsächlich im Moment zur Verfügung steht. Wir sollten immer überlegen: Brauche ich das jetzt oder brauche ich es nicht? Wofür ist diese oder jene Sache gut? Was nützt sie mir – und was nützt sie anderen? Wem schade ich unter Umständen damit? Wer dagegen Dinge nur um ihrer selbst willen, gar nur wegen ihres Prestigewertes erstrebt, der begibt sich in ein totes Rennen, ein Rennen zudem, das in einer ziellosen Abhängigkeit endet und nicht in der erhofften Freiheit.

Im Übrigen hat die übermäßige Neigung zum materiellen Konsum und zum Verdienen im Hier und Jetzt auch ganz praktisch eine lähmende Folge: Wir denken zu wenig an Investition und Innovation – und zu wenig ans Dienen, an das Leisten für andere. Nicht zuletzt deshalb hat in den letzten zwanzig Jahren oftmals das schnelle Geld eine größere Rolle gespielt als das Bemühen um langfristige Prosperität – sei es nun die der eigenen Lebensumstände, die eines Unternehmens oder die der Wirtschaft insgesamt. Dass der Finanzsektor, dessen Aufgabe es eigentlich ist, Investitionen, Innovationen und Produktion zu ermöglichen, eine derart dominierende Stellung gegenüber der Realwirtschaft erlangen konnte, ist nur die volkswirtschaftlich sichtbarste und zugleich dramatischste Folgewirkung dieser falschen, kurzsichtigen Perspektive.

In allen genannten Punkten stehen Umkehr und Neuorientierung auf der Tagesordnung. Die großen Themen der Zukunft lauten Leistungsgerechtigkeit, Generationengerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Wir dürfen nicht länger nur den Moment sehen. In einer Gesellschaft des langen Lebens müssen wir vielmehr langfristig denken und stets unsere ganze Lebensspanne im Auge haben. Wir müssen Vorsorge betreiben und Kapital bilden. Dabei ist wirtschaftliche beziehungsweise finanzielle Vorsorge ein sicher notwendiger, aber wohl nicht einmal der entscheidende Aspekt. Viel wichtiger sind Vorsorge und Kapitalbildung in einem erweiterten, menschlichen und sozialen Sinne:

  • Wir müssen soziales Vertrauenskapital bilden. Das geht nicht ohne Ehrlichkeit und Fairness im gesellschaftlichen, also auch im wirtschaftlichen Miteinander. Und es geht nicht ohne klare Werteorientierung.

  • Wir müssen menschliche Beziehungsvorsorge betreiben. In deren Mittelpunkt sollte immer die Familie stehen. Wer dagegen – aus welchen Gründen auch immer – keine eigene Familie (mehr) hat, der muss sich eine suchen. Er muss sich umso mehr um lebenslang tragfähige Freundschaften bemühen. Dazu gehört, rechtzeitig das Dienen zu lernen. Denn wer sich in seinen jungen und erwachsenen Jahren oder in guten Zeiten immer nur nimmt, der darf im Alter, in der Not oder bei Krankheit nicht erwarten, dass andere für ihn da sein werden. Insofern sind die zahlreichen Werke der Barmherzigkeit, die jeder jederzeit vollbringen kann, auch eine Form der Vorsorge. Nicht im Sinne eines kleinlich berechnenden «Wie ich dir, so du mir». Aber in dem Sinne, in dem keine menschliche Gesellschaft auf Dauer bestehen kann, wenn die Menschen nicht bereit sind, füreinander etwas zu leisten, sich gegenseitig zu dienen.

  • Wir müssen schließlich Sinnvorräte anlegen, von denen wir in allen Phasen unseres Lebens zehren können: Wissen, Ideen, geistige Interessen, die uns immer wieder neu beflügeln. Das beginnt damit, dass sich jeder um die für ihn bestmögliche Bildung bemüht und sein Leben lang bereit ist dazuzulernen. Dazu gehört, sich bereits in seinen aktiven Jahren zu überlegen, was man im Alter tun will. Und es endet nicht damit, sich um einen möglichst wenig abrupten, flexiblen Übergang zwischen Beruf und Ruhestand zu kümmern.

 

Wenn ich mit diesem Buch Vorschläge für eine «Agenda Mensch» mache, dann spreche ich gleichzeitig aus drei Perspektiven. Die erste ist die des engagierten Bürgers, der sich um den Zusammenhalt und die gedeihliche Zukunft unserer Gesellschaft sorgt. Meine Meinungen, Vorschläge und vermutlich auch meine Irrtümer aus dieser Perspektive gelten nicht mehr und nicht weniger als die jedes anderen möglichst gut informierten Zeitgenossen.

Meine zweite Perspektive ist die des Unternehmers, der sich sowohl in seiner privatwirtschaftlichen als auch in seiner gesellschaftlichen Verantwortung sieht. Als solcher wünsche ich mir, möglichst viele Leute verstünden erst einmal richtig die Spielregeln der sozialen Marktwirtschaft, bevor sie «das System» oder «die Gier» von Managern und Banken kritisieren – und weitreichende Eingriffe des Staates in die Wirtschaft fordern. Nur wer versteht, wie die soziale Marktwirtschaft wirklich funktioniert, der wird erkennen, warum viele ihrer gegenwärtigen Probleme schlechterdings nichts mit einem Versagen ihrer Grundprinzipien, dafür umso mehr mit deren zeitweiser Nichtbeachtung zu tun haben.

Die dritte Perspektive ist die des gläubigen Christen. Als solcher bin ich überzeugt, dass Gott den Menschen auf eine sehr bestimmte Weise in den Mittelpunkt seiner Schöpfung gestellt hat: um sie weise, umsichtig und nachhaltig zu verwalten, nicht um sie rücksichtslos und eigennützig auszubeuten. Und damit er für seine Mitmenschen wie für seine Nachkommen Sorge trägt – auf dass sie in gleicher Weise wie er selbst an der Schönheit, der Vielfalt und dem Reichtum dieser Welt teilhaben können. Glaube ist gleichzeitig ein Akt des Willens und der Demut: Ich gebe zu, dass mein Wissen begrenzt ist. Ich halte etwas für wahr, das ich nicht weiß, sonst wäre es ja Wissen. Ich bin von etwas überzeugt, das ich nicht sehe. Gerade deshalb kann ich mich immer an Gott orientieren. Er ist der höchste und letzte Maßstab meiner Verantwortung – als Mensch, als Bürger, als Unternehmer, als Christ. Denn ich bin überzeugt, dass wir alle einmal Rechenschaft ablegen müssen. Und da werden wir gewiss nicht danach beurteilt werden, wie viel Geld wir verdient und besessen haben, sondern danach, was wir aus den uns zur Verfügung stehenden Mitteln gemacht haben. Mitnehmen können wir nichts.