Buchcover

Paul Oskar Höcker

Ein Liller Roman

Saga

Der telephonische Verkehr von Lille mit Paris war seit dem frühen Morgen unterbrochen. Helene Martin hoffte umsonst auf ein Ferngespräch mit ihrem Gatten. Sie wusste nicht, ob er’s trotz der Kriegsgerüchte gewagt hatte, seine Geschäftsreise fortzusetzen, oder ob er zu ihr nach Lille unterwegs war.

Ein Glück, dass Manon Dedonker diesen Nachmittag aus dem Bad zurückkehrte. Helene suchte die Freundin in der Liller Stadtwohnung ihres Vaters, des Herrn Léon Ducat, am Boulevard Vauban zu erreichen. Sie waren jetzt beide Strohwitwen. Vor der Sommerreise hatten sie für diese paar Augusttage noch so übermütige Pläne geschmiedet, um ihre Männer eifersüchtig zu machen. Dem Rennen in Lambersart würden sie beiwohnen, und vielleicht gab es auch eine Autofahrt mit Offizieren des Regiments in Armentières. Nun jedoch war bei der Männerwelt für nichts mehr Sinn als für diese abenteuerlichen Mobilisationsgeschichten.

Endlich bekam Helene Verbindung mit dem Boulevard Vauban. Der alte Herr Ducat war am Fernsprecher, ernst, sorgenvoll wie immer. Natürlich sing auch er gleich von den Alarmnachrichten an. Er hielt die Lage für bedenklich. Auf der Durchfahrt durch Paris hatte er Poincarés Empfang auf dem Nordbahnhof miterlebt, seinen Triumphzug bis zum Elysée. Die Stimmung gegen die Deutschen sei sehr gereizt ... Wenn es wirklich zum Krieg zwischen Frankreich und Deutschland käme, was dann aus Helene und ihrem Gatten werden solle? Dass die Naturalisation immer noch nicht ausgesprochen sei! Ob ihr Mann denn nicht schleunigst hier auf der Präfektur alles ins Gleis bringen wolle?

Manons drollige Lachtonleitern unterbrachen Herrn Ducat immer wieder, schliesslich musste er seiner Tochter das Hörrohr ausliefern, und die beiden Freundinnen kamen endlich zur Aussprache. Nein, was hatten sie einander alles zu erzählen. Es war noch dieselbe übermütige Offenheit zwischen ihnen wie damals in der Pension; die Heirat, die Zeit, die Trennung hatten gar nichts daran geändert. Manon Ducat hatte mit siebzehn Jahren den Belgier Henri Dedonker geheiratet, dessen Zuckerfabrik nahe bei Lille lag, in Tirlemont, Helene ein Fahr später Henris Freund George Martin, der in die Maschinenfabrik ihres Vaters als Teilhaber eingetreten war und vor drei Jahren den Vertrieb landwirtschaftlicher Maschinen hier in Lille eröffnet hatte. Beide Ehen waren bis jetzt kinderlos. Helene zählte dreiundzwanzig, Manon schon fünfundzwanzig Jahre. Aber Manon wirkte viel jünger. Soviel Laune und Liebenswürdigkeit und Lebenskraft steckten in ihr. Sie wickelte ihren Mann ebenso um den Finger wie ihren Vater, sie bezauberte und beherrschte alle Welt. In Dinant, in ihrer wundervollen Pensionszeit, hatten sich sogar die frommen Schwestern von ihr gängeln lassen.

„Also, liebste Helene, Paris war diesmal eine Enttäuschung. Niederziehend, sage ich dir. Auf den Strassen ein wüstes Geschiebe — kein Taxameter zu haben — elegante Welt gar nicht zu sehen. Und nichts zu hören als Politik, Politik. Was gibt’s hier Neues?“

„Drüben beim Museum steht so ein infamer Bengel, der schreit die neuesten Depeschen aus. Ich kann sein greuliches Liller Patois noch immer nicht verstehen. Soll ich hinüberschicken?“

Manon lachte. „Du Süsse, nein, die Depeschen liest mir ja schon Papa vor. Ich soll durchaus zuhören ... Pa, du bist garstig, so lass mich doch ... Hast du das „Echo“ von heut Morgen gesehen, Helene, den Liller Spielplan für die Wintersaison? Nicht? O, es wird fabelhaft. Zur Einweihung der Oper komme ich natürlich von Tirlemont herüber. Papa hat Loge links genommen. Ihr auch? Dein Mann hat mir heilig gelobt, mir sehr die Kur zu machen.“

„Sieht ihm ähnlich. Aber ich werde nicht so leicht eifersüchtig. So wenig wie dein Mann.“

„Pa ist schrecklich philiströs und zankt uns beide aus. Leichtfertig seien wir.“

„Ach, Manon, es ist mir gleich wieder wohl, wenn ich nur deine Stimme höre, dein Lachen. Die letzten vierundzwanzig Stunden waren grässlich. So ganz allein hier. Und immer das Geschrei mit den Depeschen. Kannst du zum Tee zu mir kommen, Manon?“

„Nein, Süsse, ich hab’ Hausarrest. Mein Mann hat mittags von Tirlemont aus hier angerufen und sagen lassen: wenn er ein Auto austreibt, kommt er noch heute nach Lille.“

„Und nimmt dich dann gleich wieder mit? Nach Tirlemont? Aber das wäre ja ein Jammer. Dann hätt’ ich ja gar nichts von dir.“

„Ach, Süsse, und dabei graut mir diesmal vor Tirlemont wie noch nie. Was ich gegen Tirlemont habe? fragt Papa. Es ist eben belgisch. Pa wird böse, Helene, wir schwatzen ihm zu viel dummes Zeug. Ich darf dich doch erwarten? Wann?“

„Wenn hernach noch Zeit bleibt, gern. Schneider hat sich angesagt.“

„Schneider? Euer Sauerkraut-Ideal? Du Ärmste. Du wirst dir von ihm doch nicht die Kur schneiden lassen, aus Verzweiflung?“

„O du —! Aber nein, denke, nur ein Drittel der Arbeiter ist heute früh in der Fabrik angetreten. Der Betrieb müsse wahrscheinlich ganz schliessen. In Madeleine auf unserem Neubau wird auch nicht mehr gearbeitet. Alles, was Militär ist, wird eingezogen. Es ist grässlich.“

„Du hast mir versprochen, dass eure Villa im Herbst fertig wird. Das gibt doch wieder einen Vorwand, von Tirlemont herüberzuflüchten ... Ja, ja, ich schliesse schon, Pa! ... Auf Wiedersehen, Süsse!“

Helene legte die Hände an die Schläfen und schritt nachdenklich über das spiegelglatte Parkett der schmalen, saalähnlichen, lichtdurchfluteten Räume. Ab und zu blieb sie an einem der ungemütlich hohen Fenster stehen und blickte auf den im weissen Sonnenglast liegenden Platz zwischen Museum, Präfektur und Faidherbedenkmal. Noch immer schrie der Junge seine Depeschen aus, neue Trupps von Zeitungsausträgern stürmten lärmend über den Platz und teilten sich dann in die fächerartig auseinanderstrebenden Strassen. Das Haus war fast leer. Die Familien, die das Erdgeschoss und das obere Stockwerk bewohnten, weilten noch im Bade. Der Diener war wegen seiner Militärpapiere unterwegs, die Köchin machte Einkäufe, das Hausmädchen nähte in der Anrichte, war aber neu zugezogen und der Herrin noch fremd.

Nun musste sie an ihre Kindheit und an die Eltern denken. Ihr ganzer Lebenszuschnitt und das Zeitmass ihres Daseins gaben ihr sonst nur selten Gelegenheit dazu. Nicht erst durch ihre Heirat war sie dem Vaterhaus entfremdet; der frühe Tod ihrer Mutter trug mit Schuld daran. Ihr Vater, der Vielbeschäftigte, konnte sich ihr nicht widmen; so hatte er sie erst in Lausanne, dann in Dinant in Pension gegeben. Über ein Jahr währte auch ihre englische Pensionatserziehung. „Sprachen lernen, den Horizont erweitern!“ Kommerzienrat Kampff pflegte im Interesse seines Geschäfts weitreichende internationale Verbindungen. Als kleiner Maschinenbauer hatte er in Brandenburg angefangen, heute besass die Firma Weltruf. Nach Japan und Holländisch-Indien ging die Hauptausfuhr der landwirtschaftlichen Maschinen. Sehr willkommen war dem Kommerzienrat da als Schwiegersohn der weltkundige, sprachgewandte George Martin gewesen. An seinem Alter hätte der Kommerzienrat sich vielleicht gestossen — George war achtzehn Jahre älter als Helene —, aber Helene selbst hatte ihn damals herzlich ausgelacht. So frisch und anregend und wohlgepflegt und weltgewandt, so smart wie George war keiner der jungen Herren, die ihr sonst den Hof machten. Und sie waren ja auch beide sehr glücklich miteinander geworden. Beides ganz moderne Leute von Lebenskunst und Geschmack. Dass kein Familienzuwachs kam, war des Kommerzienrats Kummer. Helene hatte Kinder bis jetzt nicht vermisst. Ihr buntes, bewegtes, abwechselungsreiches Leben führte sie in dem ersten Frühling ihrer Ehe nach Südamerika und nach Japan. Mit dem darauffolgenden glänzenden Jahr in Brüssel, wo George die erste selbständige Filiale der zur Aktiengesellschaft erweiterten Kampffschen Fabrik eingerichtet hatte, war der Aufenthalt in Lille ja freilich nicht zu vergleichen. Die Trauer um den plötzlich erfolgten Tod des Vaters hinderte Helene zuerst daran, sich hier heimisch zu fühlen. Festen Boden in den sonst so schwer zugänglichen Liller Kreisen gewann ihr dann aber die herzliche Freundschaft mit Manon. Nun baute ihr George die prächtige Villa an dem neuen Boulevard, der nach Roubaix führte. Sein Unternehmen wuchs von Monat zu Monat. Millionen waren hier zu verdienen. Da sie beide den internationalen Schliff von Kindheit an besassen, nicht nur die Landessprache, sondern auch Englisch tadellos beherrschten und die guten Brüsseler Beziehungen geschäftlich wie gesellschaftlich den Weg ebnen halfen, kam es nie zu Reibungen wegen ihrer deutschen Abstammung. Die meisten hielten sie für Belgier, natürlich wurden ihre Namen nie anders als französisch ausgesprochen — sie nannten sich teils aus Vorsicht, teils aus Bequemlichkeit selbst so — und George Martin war jetzt schon im Begriff, von Lille aus weite Gebiete Frankreichs mit den in Brandenburg, Düsseldorf und Mainz entstandenen landwirtschaftlichen Maschinen zu versorgen, die hier nur zusammengesetzt und mit der französischen Firma versehen wurden. Unbedingt war das deutsche Haus jedem Wettbewerb Frankreichs überlegen. Georges fabelhafte Geschmeidigkeit und Beweglichkeit, sein fein abgeschliffenes Weltbürgertum und seine in allen Erdteilen gesammelten Menschen- und Geschäftskenntnisse bewunderte Helene immer wieder. Als George es für ratsam hielt, sich in Frankreich naturalisieren zu lassen, erschienen ihr die eigenen Einwände schliesslich selbst kleinlich und philisterhaft. George hatte seiner Auslandstätigkeit halber nur wenig militärische Übungen in Deutschland machen können. Da er sich im deutschen Drill nie so recht wohl gefühlt, durch sein so ganz anders gerichtetes Leben auch gar keinen rechten Anschluss an Offizierskreise gesucht oder gefunden hatte, so nahm er an der Grenze des Schwabenalters als Leutnant vom Landwehrtrain zweiten Aufgebots seinen Abschied, unter Verzicht auf die Uniform. Schwierigkeiten konnte seine Naturalisation hier nicht verursacht haben. Es wäre Helene jetzt aber doch eine grosse Beruhigung gewesen, wenn die Formalitäten schon ihre Erledigung gefunden hätten. Die schwarzseherischen Bemerkungen von Manons Vater gingen ihr nicht aus dem Sinn.

Da war denn auch der Besuch des Herrn Schneider nicht dazu angetan, ihre Stimmung aufzuhellen. Schneider war ein gründlich gescheiter, fleissiger und zuverlässiger Mensch, aber in allem der verkörperte Gegensatz seines Chefs. So ernst, so schwer nahm er das Leben. Zu dem leichten Tändelton, den Helene auch ihm gegenüber zuweilen anschlug, konnte er sich schon gar nicht finden. Helene ahnte, dass Schneider heute sehr trübe gestimmt sein würde. Wenn der grosse, starke, blonde Mann sie mit seinen ernsten, blauen Augen so eindringlich ansah, dann verging ihr die Spottlust. Sie wollte seinen Pessimismus erst gar nicht zu Worte kommen lassen, und fiel ihm gleich in die Rede: „Sie sollen doch Französisch sprechen. Immer üben, üben. Seien Sie froh, dass ich so für Ihre Aussprache besorgt bin. Die anderen lachen Sie nur aus.“

„Das tun Sie, Madame, nebenher ja auch. Aber heute ...“ Er zog das Taschentuch und fuhr sich über den Kopf. „Es geht nicht gut aus, gnädige Frau, ich hab’ es so in den Knochen. Die zweite Sekretärin aus Lemonniers Bureau ist vorhin von ihrem Urlaub zurückgekommen. In Cambrai, sagt sie, sind schon gestern die vierten Kürassiere verladen worden. Und überall Bahnschutzmannschaften. Haben Sie die Proklamation vom Maire Don Lille gelesen? Danach ist es doch so ziemlich ausgeschlossen ... Dass Herr Martin so gar nichts von sich hören lässt. Er wird doch hoffentlich sofort von Paris abgereist sein?“

„Ich hoffe es auch. Aber ziehen Sie doch, bitte, keine so fürchterliche Grimasse, Verehrtester. Sie sollten ja nicht gleich an die Laterne.“

Er zuckte die Achsel. „Ich warte jetzt noch die Abendblätter ab. Wenn sich’s da noch kritischer zuspitzt, muss ich leider fort, ohne Ihren Herrn Gemahl gesprochen zu haben.“

„Sie müssen fort?“

„Jede Stunde kann doch die Mobilisation bringen. Und dann —“

„Sie fürchten Fatalitäten? Im Ernst? Aber ich begreife nicht — Sie, ein grosser, starker Mann —“

„Fatalitäten — wohl auch. Aber zu allermeist fürchte ich den Anschluss zu verpassen. Denn ich bin doch Soldat.“

„Herr Schneider! Sie — Soldat?“ Es reizte sie nun doch, ihn aufzuziehen. „Kanonier? Füsilier? Schwere Reiterei?“

Er ging auf ihren Ton nicht ein. „Infanterist. Landwehrmann. Ich bin Vizefeldwebel. Offizier werden konnte ich nicht, so immer im Ausland. Aber wenn es jetzt losgeht —“

„Losgeht. Losgeht. Unken Sie doch nicht so ... Ich bin nur froh, dass mein Mann nichts mehr damit zu tun hat. Wenigstens in der Hinsicht könnte man ruhig sein.“ Aber sie stand jetzt doch hastig auf und trat ans Fenster. „Natürlich ist es aufregend, dieses ewige Geschrei da draussen. Aber kennen Sie Lille anders? Hier schreit man immer.“

„Da drüben scheint’s irgendeine Rauferei zu geben ... Ja, gnädige Frau, die Belgier sind heute früh auch schon aufgerufen worden. Und Herr Martin wird doch wohl kaum hierbleiben wollen, wenn ...“ Er zog das „Echo“ aus der Tasche und wies erregt auf den Leitaufsatz, aus dem er, brockenweise, das Fettgedruckte vorlas: „Donnerstag früh Bombardement von Belgrad wieder angefangen — Deutschland hat noch kein Sterbenswort zugunsten des Friedens gesprochen, wünscht anscheinend den Krieg — Russland setzt Mobilisierung fort — Frankreich tat alles, um einen Konflikt zu vermeiden, ist aber gerüstet, seine nationale Ehre ...“

„Wenn Sie nur hergekommen sind, um mir das „Echo“ vorzulesen, lieber Herr Schneider —“

„Krieg und Frieden — es hängt nur noch an einem Faden. Ich hatte ja — offengestanden — nie daran gedacht, dass es einen mal so unterwegs erwischen könnte. Meine drei Brüder — die werden sich natürlich freuen. Einer ist bei der Marine, die beiden anderen stehen in Königsberg. Im Osten wird’s wohl zuerst losgehen. Es sind meine Zwillingsbrüder.“

„Offiziere? Aktiv?“ fragte Helene erstaunt. Ihn wunderte es nicht weiter, dass sie es ihm nicht zutraute. Er war ihr dafür nicht elegant genug. Sie hatte ihn zu ihren Empfängen ja auch niemals eingeladen.

„Jawohl, gnädige Frau, der eine Infanterist, der andere Pionier.“ Nun sprach er Deutsch. Und es war ihm wie eine Erlösung. Seine erregten Blicke strichen über den Platz hin. Bei der Hauptpost hatte sich eine grosse Menschenmenge angesammelt. Und von allen Seiten schoss es herzu — aus dem Boulevard, aus den anderen drei Strassen — und der Lärm wuchs.

Helene hatte das Fenster geöffnet. Nun hörte man einzelne Rufe. „Ein Spion — ein Spion!“ Sie zerrten da irgendein Wesen wie ein Bündel hin und her. Männer, Weiber, Halbwüchsige, Mairiebeamte drängten sich dazwischen. Es war aufregend.

„Sicher ein Deutscher,“ sagte Schneider und atmete tief auf. „Sie waren schon gestern in der Fabrik wie elektrisch geladen ... Drei Jahre habe ich doch jetzt gute Freundschaft gehabt mit Challier ...“

„Aber das ist ja schauderhaft, das da draussen!“ Helene stampfte leicht auf und schloss das Fenster. „Wenn erst die Plebs die Herrschaft bekommt ... Ich mag gar nicht hinsehen.“

Schneider griff nach seinem schwarzen Melonenhut. „Vielleicht sehe ich Ihren Gatten nicht mehr. Bitte um meine ergebenste Empfehlung, gnädige Frau. Challier ist ja da und wird alles übergeben. Lemonnier hat die Hausangelegenheiten. Ich gehe jetzt noch rasch nach der Grand’ Place, um die neuesten Depeschen abzupassen.“

„Und ich fahre nach Madeleine. Meine Freundin wird mich gewiss begleiten. Lassen Sie mir doch noch rasch das Auto kommen, lieber Herr Schneider.“

„Die beiden Autos waren schon mittags beschlagnahmt, übrigens musste auch Jean gleich früh zur Zitadelle, sich stellen.“

„Da bin ich ja wunderschön versorgt. Wie allerliebst. Gut, marschieren wir also ...“

Sie klingelte dem Hausmädchen vergeblich. Die Jungfer stand unten in der geöffneten Haustür und liess sich von der Frau des Concierge die Ursache des Auflaufs da drüben erklären. Unschlüssig, ob er die junge Frau erwarten sollte, da sie sich von ihm noch nicht verabschiedet hatte, stieg Schneider die Treppe hinab.

Helene musste sich Hut, Seidenjacke und Sonnenschirm selbst besorgen. Als sie in den Marmorflur trat, kam es aber nicht mehr dazu, dass sie die Bedienstete zur Rede stellte. Eine schlanke junge Dame, mit grossen, grauen Augen und seltsam hellblondem Haar, das wie gefärbt wirkte, stürmte herein, atemlos, ohne Hut ... Als sie Helene sah, erfasste sie ihre beiden Hände ... „Solche Angst hatt’ ich um dich! Ich bin herübergelaufen, wie ich war! An der Post haben sie einen Deutschen halb totgeschlagen!“

„Ach, Geneviève, du liebe, gute, kleine Fee!“

Die Pförtnersfrau und das Hausmädchen mischten sich ein. Vor dem Hause waren Leute stehengeblieben. Der Lärm drüben wuchs, er kam näher.

Schneider hatte vor Fräulein Geneviève Laroche höflich den Hut gezogen. Sie beachtete ihn nicht, sondern nahm Helene sofort mit sich zum Treppenaufgang zurück. „Komm’, Liebe, ich muss mit dir sprechen, komm’ rasch.“

„Aber ich wollte noch eben mit Herrn Schneider ...“

Geneviève Laroche warf ihr einen blitzenden, verweisenden Blick zu.

„Um Gottes willen!“ flüsterte sie dabei und riss sie mit sich.

So war es also doch zu keinem Abschied mehr gekommen. Schneider setzte den Hut wieder auf, knöpfte seine marineblaue Jacke zu und verliess das Haus. Er hatte aber noch nicht die Anlagen am Faidherbedenkmal erreicht, als ein halbwüchsiger Bursche sich aus der Schar löste, die unter Geschrei die Polizisten und ihr Opfer zur Mairie begleiteten, und auf ihn mit dem Ausruf zurannte: „Da ist noch einer, da ist noch einer! Ein Alboche! Ein Alboche!“

Vom Eckfenster aus wurden die beiden Freundinnen Zeuge des wüsten Auftritts. Helene war ratlos. Sie wollte die Balkontür öffnen, hinaustreten, aber Geneviève hielt sie zurück.

„Und du wärst imstande gewesen, Helene, dich an seiner Seite auf der Strasse zu zeigen. Unverantwortlich. Ich wollte dir schon immer sagen, dein Mann hätte ihn längst wegschicken sollen.“

„Aber sieh nur, sieh nur — o, sie schlagen ihn —!“

„Irgend jemand muss ihn erkannt haben. Komm’ jetzt doch bloss vom Fenster weg, Helene.“

Es war nur ein Knäuel von Menschen zu sehen mit erhobenen Fäusten, drohend geschwungenen Spazierstöcken. Aber da — der grosse, helle, glattgeschorene Schädel des Deutschen tauchte soeben wieder auf — der Hut fehlte, und es rann ihm etwas Rotes, Glänzendes über das Ohr und den Nacken. Helene überlief es eiskalt. Waren das noch Menschen? In der Überzahl einen Wehrlosen überfallen und misshandeln!

„Geneviève — er blutet — aber das ist ja fürchterlich!“

„Es reizt die Leute jetzt schon eine Kleinigkeit. Er sieht auch gar zu teutonisch aus. Sie schieben ihn wohl nach der Mairie ab ... Das ist wie ein Fieber über die Leute gekommen, überall wittern sie Spione.... Also Mama lässt dir sagen, du sollst sogleich zu uns hinüberkommen und heute auf alle Fälle bei uns schlafen. Sie macht sich solche Sorge um dich.“

„Wie denkt dein Vater über die Lage?“

„Ach, Vater ist ganz erschüttert. Ich hätte nicht geglaubt, dass so viel Weichheit in ihm ist. Er hat keine Hoffnung mehr, dass Frieden bleibt. Aber wie wundervoll ist die Proklamation von Delasalle. Hast du sie gelesen? Vater hatte ganz nasse Augen, als er sie las.“

Helene hatte sich gesetzt. „Mir sind die Beine schwach geworden. Und im Magen ist mir — so seltsam wie vor einer Seereise.“

„Arme Helene, wäre doch dein Mann erst da!“ Geneviève setzte sich zu ihr auf die Lehne des Fauteuils und umfasste sie zärtlich. „Da sind sie mit ihrem schrecklichen Herrn Schneider endlich abgezogen,“ sagte sie, noch einen Blick durchs Fenster werfend, und atmete auf. „Manon hat mich vorhin angerufen. Wir sprachen gerade von dir, und da kam noch eben Berthe mit Benjamin, ganz aufgelöst, sie hatten gesehen, wie der Spion in die Post flüchten wollte.... Manon weiss nun auch nicht, was werden soll. Ihr Mann gehört zur Bürgergarde, müsste also eigentlich in Tirlemont bleiben. Vielleicht lassen sie ihn gar nicht mehr fort.“

„Ja — und George? Ihr macht mir jetzt solche Angst.“

„Dein Mann ist französischer Staatsbürger geworden — ihm kann niemand etwas anhaben. In Paris hat er ja die besten Beziehungen. Und Vater sagt: eine einzige Anfrage hierher an die Präfektur genügt.“

„Man kann aber nicht mehr sprechen — die Verbindung mit Paris ist unterbrochen.“

„Für die Behörden nicht.“

„Ach, Geneviève, wenn sich dein Vater unser annähme! Weisst du, Manons Papa ist nie so recht warm zu mir gewesen. Aber wenn du deinem Vater zusprächst — er hat hier doch so viel Einfluss —“

„Sag’ lieber, er hat ein goldenes Herz.“ Das junge Mädchen strich der Freundin über die kalte, schmale Hand.

Helene fühlte die Wärme, die von Geneviève ausging, belebend und zugleich beruhigend. „Ja, das hat er,“ sagte sie rasch.

„Komm’, Helene, mach’ dich fertig. Du wirst dich gleich wohler fühlen, wenn du drüben bei uns bist.“

„Weisst du, Geneviève, es ist mir ordentlich bange nach deinen Geschwistern.“

Geneviève lachte. „Die Apfelgesichter, hast du früher gesagt ... Weisst du, und dann telephonieren wir Manon, dass sie zu uns kommt.“

„Ihr Papa lässt sie jetzt wohl kaum weg. Aber reizend wäre es. Dann versetzen wir uns im Geist wieder nach Dinant. Gelt?“

„Damals ist mir’s aber immer ziemlich schlecht bei euch ergangen.“

„Nun ja, du warst doch ein Baby gegen uns.“

Genevièves Blicke glitten bewundernd über die schlanke Pariser Gestalt der Pensionsfreundin. Mit ihren braunen Augen, braunen Haaren, tiefdunkeln und langen Wimpern, die wie ein Schleier wirkten, mit der geschwungenen Nase, dem lebhaften Mienenspiel, mit ihrer ganzen überlegenen und doch geschmeidigen Art hatte Helene tatsächlich etwas von einer Pariserin, was in Genevièves Meinung das höchste Lob darstellte. Sie kam sich recht unansehnlich neben ihr vor.

Während sie die Wohnung verliessen, sagte Geneviève: „Und seltsam — nicht? — wie rasch ich gealtert habe. Nein, nein, es ist schon so. Wenn Mutter krank war, lag immer alles auf mir. Und Vater kann gar nicht mehr ohne mich auskommen. Ich sei sein Hausgeistchen, hat er gesagt. Ist das nicht hübsch? Ach, ich liebe Vater.“

Sie gingen hastig über den Republik-Platz. Links, vor dem Museum, in der grellen Sonne, weilte kein Mensch, aber rechts, vor der Präfektur, standen erregt redende Gruppen. In der klaren, weissen Nachmittagsluft zitterten ungewisse Töne wie Musik oder Glockenläuten aus der Ferne; und die Strassenrufe bildeten eine ununterbrochene, aufpeitschende Melodie.

Und immer schärfer und bestimmter hob sich aus dem Gemisch jetzt ein seltsamer Fanfarenruf ab. Helle Trompetensignale waren es.

Sie blieben am Eingang zur Inkermanstrasse stehen. Überall erstarrte jetzt das Leben. Man horchte auf — sah einander an.

Drüben vor der Präfektur rief ein Herr, der den Strohhut schwang: „Das ist die Mobilisation!“

Geneviève wusste von ihrem Vater: nach der gesetzlichen Vorschrift hatte in der ganzen Republik die Polizei unter Trompetenschall das Dekret zu verkünden. Also war es jetzt so weit.

„Hoch die Armee!“ schrie der Herr drüben, den Strohhut schwenkend.

Und da und dort fiel man ein. Aber die meisten setzten sich sofort in Bewegung und stürmten dem Stadtplatz zu, wo sich die Hauptwache und das Hauptblatt der Stadt und des Departements befanden.

Als die beiden jungen Damen im Eilschritt in die Inkermanstrasse einbogen, kam ihnen schon Herr Laroche in höchster Erregung entgegen. Die Fanfaren hatten ihm die Gewissheit gegeben: der Krieg war erklärt!