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Christine Wunnicke

DER FUCHS
UND DR. SHIMAMURA

Roman

B E R E N B E R G

Bei Professor Charcots vorgestriger Dienstagsvorlesung wurde das wie immer dicht gedrängte Auditorium der Salpêtrière Zeuge eines interessanten Auftritts. Ein junger Japaner, der womöglich mit einer volkskundlichen Truppe nach Paris gekommen war, assistierte der Ärzteschaft bei einem Experiment zur induzierten Neurose. Sobald die Patientin in den hypnotischen Zustand versetzt war, wurde er von Charcots Gehilfen hinter einem Wandschirm hervorgeholt, und wirklich bedurfte es nicht mehr als seines Erscheinens, um der Somnambulen eine Szene vorzugaukeln, in welcher sie sich selbst als Orientalin träumte. Sie fabulierte, sang und schrie in einer fremden Sprache – Charcot erklärte, es sei Japanisch und das Phänomen bedürfe weiterer Studien – und umtanzte den Fremden weinend, bittend, lockend, wehklagend und mit einem großen Aufgebot pantomimischer Aktion, bei der sie Fächer, Dolche und allerlei sonstige exotische Requisiten zu gebrauchen schien, und brach schließlich zu seinen Füßen zusammen. Ebenso anrührend wie erschreckend war dieser Effekt. Der asiatische Gast ließ kaum eine Reaktion erkennen. Da ihn Charcots Gehilfe wie eine Gliederpuppe hinter dem Paravent hervorzog und nach vollendetem Experiment wieder zurückschob, wurde die Vermutung laut, er sei ebenfalls hypnotisiert. Aufgrund seiner orientalischen Züge, die uns ja stets recht leer und unbeseelt erscheinen, konnten wir diese Frage indes nicht entscheiden. Wir hoffen, in Zukunft mehr von diesem interessanten Gast zu sehen.

G. Demachy, Le Temps, 24. März 1892

Dr. Shimamuras Leben war von Tragödien geprägt. Nach seiner Heimkehr aus Europa 1894 war er wissenschaftlich kaum noch aktiv, weder im medizinischen Verein von Tokyo noch bei den Treffen der neurologischen Gesellschaft. Seine Studien zur Fuchsbesessenheit, die ersten ihrer Art, wurden von der Forschung ignoriert. Hinzu kam seine Krankheit. Was war diese Krankheit? Ich habe nachgeforscht, doch eine Antwort fand ich nicht.

Yasuo Okada, »Kurze Geschichte des Psychiaters Shimamura Shunichi und seiner Missgeschicke«, Nihon Ishigaku Zasshi (Zeitschrift für japanische Medizingeschichte), Dezember 1992

Gepriesen seien die Hysterie und ihr Gefolge junger nackter Frauen, die über die Dächer gleiten!

André Breton, »Zweites Manifest des Surrealismus«, 1930

EINS

Der Winter ging zu Ende, und pünktlich stieg das Fieber. Deshalb begann Shimamura Shunichi, Professor emeritus für Nervenheilkunde an der präfekturalen medizinischen Hochschule zu Kyoto, wieder einmal über die Wege des Lebens nachzudenken. Die deutsche Sprache, die er zu diesem Zweck bevorzugte, verwob sich in seinem Kopf zu komplizierten, zunehmend überhitzten Gespinsten.

Dr. Shimamura litt an der Schwindsucht. Vielleicht litt er auch noch an etwas anderem, für das er seit vielen Jahren weder im Deutschen noch im Japanischen oder Chinesischen und nicht einmal im Kauderwelsch der Medizin ein passendes Wort fand. In seinem Haus in Kameoka, Ende Februar 1922, saß er in einem Rattansessel zwischen seinem Schreibtisch und einer Farnpflanze, die in einer künstlich patinierten kleinen Metallurne steckte, und blickte gerade, reglos und ohne Brille aufs Fenster. Spätes Winterlicht, frühes Frühlingslicht färbte das Fensterpapier gelblich. Vielleicht würde das Fieber bald so sehr steigen, dass sich sein Denken vollends verwirrte. Davor wolle er zu Bett gegangen sein, dachte Shimamura, doch erst knapp davor, denn man könne ja schlecht immer vorsorglich zu Bett gehen.

Er arbeitete seit langem an einer Studie oder Monografie oder einem Aufsatz oder Artikel über die Neurologie oder Psychologie oder experimentelle Psychologie des Gedächtnisses. Seit Jahren ordnete er in Gedanken, und selten auch in einem Notizbuch, Kapitel oder Abschnitte, die darin vorkommen würden, und konnte sich weder über Art noch Umfang des Textes schlüssig werden. Er hatte ihn das Oder-Projekt getauft. Auch über die Methodologie war er sich nicht im Klaren. Am liebsten hätte er die Hirnströme, welche wohl Erinnerung herstellten, galvanometrisch erfasst, und zwar die eigenen. Oder zumindest deren Systematik bestimmt. Nur besaß Shimamura keinen Galvanometer, ein Galvanometer maß auch Erinnerung nicht, und Erinnerung war nicht systematisch, zumindest nicht die von Shimamura Shunichi. Er wollte schließlich keine sinnlosen Silben memorieren und wieder hervorspucken und sich dann damit wichtig tun wie der selige Dr. Ebbinghaus in Halle. Shimamura strebte einen großen, tiefen Text über ein großes, tiefes Problem an. Er war sich sicher, er würde sterben, lange bevor daraus etwas werden könnte, was ihn gewissermaßen täglich tröstete. Auch schien ihm das Oder-Projekt eine Rechtfertigung, sich tagaus, tagein zu erinnern, an dieses und jenes, und oft auch an dessen jeweiliges Gegenteil.

Shimamura fröstelte. Geübt richtete er seinen kranken Körper in dem Rattansessel so ein, dass er, wenn er zu zittern anfinge, ihn nicht knarzen machte. Er hatte einen verschlissenen braunroten Morgenmantel mit Fleur-de-Lis-Muster über den Kimono gezogen, ein warmes, schweres Kleidungsstück, dessen dicke Ärmel die Kimonoärmel um Shimamuras magere Arme herum verdrehten und knautschten. Immer nahm er sich vor, den Kimono über statt unter den Morgenmantel zu ziehen, was diese Lästigkeit behoben hätte, und nie tat er es.

Der Morgenmantel war ein hassenswertes Objekt, von dem sich Shimamura nicht trennen konnte. Er stammte aus einem feinen Geschäft am Pariser Platz in Berlin. Vor bald vierzig Jahren hatte er ihn dort gekauft, im Hochsommer kurz nach einem Gewitter, als es schwül und heiß war und gar kein Wetter für ein solch plüschiges Kleidungsstück; aus Eitelkeit hatte er ihn gekauft, weil er sich in seinen jungen Jahren schon reif und weise fand und würdig eines altväterlichen Morgenrocks, vielleicht aber auch als Ansporn, in diesen Rock noch geistig hineinzuwachsen, und vor allem aus Trotz: weil er ihn sich als kaiserlicher Stipendiat wirklich nicht leisten konnte. Schon in seinen Berliner Tagen, wenn er sich dorthin zurückversetzte, erinnerte Shimamura Fieber.

Er zupfte den linken Kimonoärmel aus dem zerschlissenen Morgenrockärmel, einen Zipfel beiges Hanfleinen. Die Farbe ähnelte dem Fensterpapier. Shimamura erinnerte sich an ein Kostümfest in Wien, bei dem er den damals noch taufrischen Fleur-de-Lis-Morgenrock getragen hatte und dazu eine Schlafmütze, die sich nachher als Damenschlafmütze herausgestellt hatte; als Molières Eingebildeter Kranker. Die ganze Nacht lang, während er sich allmählich immer mehr betrank, hatte er ein Requisit mit sich herumgetragen, das aus der Irrenanstalt am Bründlfeld entliehen war, ein Messgerät für Tremorschläge in einer Schatulle aus Schlangenlederimitat. Mädchen, bei denen schlechterdings jeder Hinweis fehlte, ob sie anständig waren oder von der Straße hereingeholt, hatten diese Schatulle befingert und dann auch den Morgenmantel und die Schlafmütze und Shimamura selbst. So hatte er eine ganze lange Wiener Faschingsnacht vergeudet, in einem Saal voller Unrat und buntem Papier. Vielleicht war er ärztlich tätig geworden, wenn jemandes Magen oder Nervenkostüm von all dem Gewalze zu revoltieren begann; aber vielleicht auch nicht. Wer hatte ihn wohl eingeladen? Sicherlich hatte er diese Person bitter enttäuscht. Schon als kaiserlicher Auslandsstipendiat war Dr. Shimamura kein sehr lustiger Mensch gewesen.

Die Mädchen indes in ihren kurzen bunten Clownspuppenkleidchen hatte er gewiss glücklich gemacht. Mädchen und Frauen machte er immer glücklich. Sie hatten ein Faible für Shimamura Shunichi. Das war ein eigenes Kapitel in seiner Erinnerung. Und ›Faible‹ war nicht das richtige Wort und ›glücklich‹ wohl auch nicht.

Shimamura holte eines seiner fast leeren Notizbücher aus der Schreibtischschublade und steckte es in die Tasche des Morgenrocks zu den Schnupftüchern und dem Fläschchen mit Kampfer.

Dr. Shimamura hatte vier Pflegerinnen: Sachiko, seine Frau, Yukiko, deren Mutter, Hanako, seine eigene Mutter, sowie eine Dienstmagd, die er manchmal Anna, öfters allerdings Luise rief. Letztere hatte er anlässlich seiner Emeritierung aus der Kyotoer Irrenanstalt mitgenommen, als Souvenir, und auch weil dort niemand recht wusste, ob sie Patientin oder Krankenschwester war, und auch niemand ihren Namen erinnerte. Das hatte Shimamura leidgetan. Er war als weichherziger Klinikdirektor bekannt gewesen, immer darauf bedacht, dass sich niemand verletzte oder ungetröstet quälen musste und dass niemand über Gebühr gekränkt wurde, wenn man ihn untersuchte. Shimamura hatte für den Einsatz von Krankenschwestern auf der Männerstation plädiert, weil sie beruhigend wirkten, und auch mit Hypnotika war er nie kleinlich gewesen. Dann hatte er von einem Mattenmacher dicke Wandmatten anfertigen lassen, um Krankenzimmer erregter Patienten damit auszupolstern. Diese speziellen Matten, die Shimamura erfunden hatte, waren in seiner Verabschiedungsrede am umfänglichsten besprochen worden, was nach einem Leben für die Medizin dann doch eher enttäuschend war.

Eingeigelt in Kameoka, wo er ›nicht störte‹, wie er es ausdrückte, und wo er nun schon seit Jahren auf seinen Tod wartete, hatte er aus ähnlichen Matten, aus Gips, Holz und ein wenig Stein zwei solide Wände machen lassen, die sein Zimmer vom Rest des Hauses abschirmten. In einer dieser Wände gab es eine europäische Tür mit einer Messingklinke. Laut den Handwerkern, die all dies nach Shimamuras Entwurf ausgeführt hatten, gefährdete die Konstruktion die Statik des gesamten Gebäudes. Auch hielt sie die vier Frauen nicht von Dr. Shimamura fern. Sie rumorten, während er neben seinem Schreibtisch im Rattansessel saß und auf das Fenster blickte, an vier verschiedenen Stellen im Haus, und bald würden drei von ihnen durch die Tür hereinkommen, um nach ihm zu sehen.

Hanako und Yukiko waren beide schon weit über achtzig. Hanako war, wie ihr Sohn, asthenisch und lang. Yukiko, eine weiche Kugel, kam gelassener durch den Tag. In den Jahren, da sie gemeinsam den Doktor umsorgten, hatten sich ihre Stimmen so sehr aneinander angeglichen, dass Shimamura manchmal nicht sagen konnte, welche von beiden hinter der Tür wisperte. In seinen Träumen verschmolzen sie oft zu einer einzigen Muttergestalt, die sich abwechselnd dehnte und ballte wie das Rauchgespenst aus dem Ammenmärchen. Yukiko ging manchmal zum Tempel, gab dort Geld aus und kehrte dann in aufgeräumter Stimmung zurück. Hanako las moderne Romane, die alle von Frauen geschrieben waren und auf dezente Weise Familienprobleme behandelten. Beide waren seit vielen Jahren verwitwet. Was Yukiko und Hanako füreinander empfanden, Hass, Liebe, Solidarität, Konkurrenz oder nichts als jene fade, bequeme Missgunst, die aus jedem zu lange währenden Beisammensein von Menschen resultiert, das konnte Shimamura nicht sagen. Seine Krankheit war die Sonne, um die Hanako und Yukiko kreisten, an der sie sich wärmten. So etwas Ähnliches hatte eine von ihnen einmal gesagt, und dafür hasste Shimamura alle beide.

Mit Sachiko war er seit einunddreißig Jahren verheiratet. Sie stand wie ein Schemen zwischen den beiden Müttern, unaufdringlich, unauffällig, gebieterisch. Ihre Kleidung war immer hell, auch im Winter, und immer an den richtigen Stellen im perfekten Winkel scharf geknifft. Wenn Shimamura nach Adjektiven suchte, um seine Frau zu beschreiben, kam er immer zuerst auf ›prismatisch‹ und ›kristallin‹. Anorganische Chemie. Sachiko war resistent gegen die besondere Frauenbegabung des Doktor Shimamura. Sie musste über eine große, nicht angenehme Willenskraft verfügen.

Hanako brachte Essen und Yukiko brachte Tee. Sachiko hatte sich schon vor ihnen ins Zimmer geschoben und beobachtete ihr Tun, dann beobachtete sie auch ihren Mann, wie er trank, aß, hustete und eine Scopolamin-Injektion vorbereitete, die er sich nach drei Tagen Enthaltsamkeit heute wieder einmal gönnen wollte. Hanako und Yukiko räumten ab. Sachiko mäanderte lautlos durch den Raum. Anna oder Luise blieb hinter der Tür verborgen und nahm dort in Empfang, was man ihr reichte, Teegeschirr, Essgeschirr, ein Schnupftuch für die Wäsche. Obwohl er Reisklöße und Eingelegtes gegessen hatte, wiederholte Shimamura, dem an Konversation sonst eben nichts einfiel, den alten Scherz der Ärzte über Krankensuppe: Wie ein junges Mädchen solle sie sein – niemals Augen machen. In der japanischen Übersetzung kam das absurd und anzüglich heraus, als fühle sich der Kranke beim Essen plötzlich berufen, von den Augen junger Mädchen zu faseln. Sachiko, so schien es ihm, warf einen besorgten Blick auf die Scopolaminspritze in seiner Hand.

In der Tat beförderte das Scopolamin geschlechtliche Gedanken. In der nervenärztlichen Praxis mochte das ungünstig sein, bei Eigengabe störte es Shimamura nicht. Er traute seinem Gehirn ohnedies nicht. Sollte es ruhig Geschlechtliches denken. Was ihn störte, waren die vier Frauen. Sie kamen ihm vor wie die Plättchen eines Legespiels, großes Dreieck, kleines Dreieck, Quadrat und Raute, die sich ständig zu neuen Figuren vereinten, ein ewiger, sinnloser Zeitvertreib. »Geht, und amüsiert euch«, sagte Shimamura. »Geht schauen, ob schon Frühling ist. Und reißt bitte den Februar vom Kalender ab.«

Dann waren sie fort. Nur das Mädchen Anna oder Luise war noch vor der Tür zugange. Shimamura hörte ihre leisen, flachen Schritte. Sie ging ein wenig auswärts. Eine Fehlstellung der Hüfte. Es gab viele Fehler an Anna oder Luise, aber Shimamura kam nicht darauf, worin der Grundfehler bestand. Sie brachte jeden Morgen Wasser an sein Bett, einen ganzen Bottich voll. Shimamura wusste nicht, wer das angeordnet hatte, was er mit all dem Wasser sollte, ob es vielleicht ein Missverständnis war und Luise eigentlich den Inhalator meinte, wenn sie auf ihren Entenflossen den sinnlosen Wasserbottich herbeischleppte. Er nahm das Wasser mit einem säuerlichen Lächeln entgegen und Anna-Luise verneigte sich zu tief und lief davon. Zuweilen wurde Shimamura den Gedanken nicht los, dass sich das Hausmädchen täglich absentierte und an einem geschützten Ort, in der Retirade vielleicht oder im Freien auf irgendeinem Feld, dem Wahnsinn verfiel, einer spätestens seit Kyoto vorhandenen und nie kurierten heftigen, lauten und womöglich auch in irgendeiner Weise obszönen Verrücktheit unklarer Ätiologie. Dass sie zehn Minuten oder auch eine geschlagene Stunde lang raste und dann artig zurückgewatschelt kam, als sei nichts gewesen, mit jener allerzartesten Spur von Genugtuung in ihrem Bauernmädchengesicht. Hätte er sie nur einmal beim Toben erwischt, dachte Shimamura, hätte er sie womöglich heilen können und sie wäre frei gewesen und hätte fortgehen und ein gesundes weibliches Leben führen können, statt hier zu vegetieren. Ich möchte die törichten Wände wieder einreißen lassen, dachte Shimamura, ich möchte in einem normalen Haus sterben. Dann spritzte er sich das Scopolamin in den Oberschenkel und ging zu Bett.

Kein einziger geschlechtlicher Gedanke unterhielt Shimamura Shunichi an diesem Nachmittag. Lange wiederholte sein Hirn nur die Wörter Kalender, Kalender und Februar, Februar und wieder Kalender, Kalender. Dann stellte es Fragen: Wo mag das Grammophon sein, wo mag der Inhalator stecken, wo ist wohl der Charcot auf Deutsch hingekommen und warum breitet sich der Charcot auf Französisch meterlang in Regal aus, wenn hier doch niemand Französisch versteht? Und wo sind die guten Kleider des Herrn Doktor hin? Die europäischen Kleider? Die japanischen Kleider? Haben die Frauen sie in den Ofen gesteckt, weil er sie ohnehin nicht mehr braucht? Und wo ist Vaters Erbe, etwa die zweitrangigen Kalligrafien eines zweitrangigen Kalligrafen mit ihren großen, einfachen, vollends unerreichbaren Maximen des Lebens? Alles ist weg, sagte Shimamura zu seinem Gehirn, gib Ruhe. Und dann sah er Vaters Kalligrafien vor Augen und konnte sie nicht lesen, weil er erst sieben Jahre alt war.

»Als ich klein war«, sagte Shimamura auf Deutsch. Er stöhnte und stöhnte ein zweites Mal. Luft ging hinein und hinaus. Das war angenehm. Die Spritze tat gut. Für die Beruhigung seiner Bronchien nahm er gerne in Kauf, siebenjährig auf große Schrift zu starren und sich von dieser wehrlos gemaßregelt zu fühlen. Oder fünfjährig von Mutterhänden die Ohren ausgeputzt zu bekommen, in einem jahrhundertelangen goldenen Sommer mit einer goldenen Sonne, die seine Finger rot glühen ließ, wenn er sich die Augen zuhielt. Er nahm die Zikaden in Kauf, die Geister und Windräder, Windrad-Geister und Geister, die im Abort wohnten und hinter Shunichis nacktem Hintern her waren, den er überall öffentlich zeigte, weil sein Land noch in der Steinzeit lebte. Puh, sagte Shimamura, und er ließ zu, dass das Phantom des Ohrenputzlöffelchens die alten Gefühle in ihm weckte: als dringe dort etwas in seinen Kopf ein und räume ihn aus, weil er innen verworren war.

Shimamura blickte zur Decke.

Die Frauen. Die Frauen. Die Frauen?

Kein einziger geschlechtlicher Gedanke kam Shimamura Shunichi zu Hilfe.

Die Frauen und ich. Was ist da passiert?

Fuchsgeist, sagte Shimamura Shunichi. Er sprach das Wort immer im Wiener Tonfall aus, weil er es in Wien zum ersten Mal auf Deutsch gesagt hatte. Fuchsgähst.

Er lachte das kleine Lachen, das für dieses Wort reserviert war. Dann schlief er ein.

ZWEI

»Jedermann hat genau dieselben Erinnerungen aus der Kindheit«, sagte der Student. »Jeder erinnert sich, wie ihm seine Mutter die Ohren ausputzte, Herr Doktor, und an die Windräder, und an die Geräusche in der Nacht.«

Er ging zwei Schritt hinter Dr. Shimamura her, auf einem

kaum sichtbaren Weg zwischen Gestrüpp und Gestein in der sommerheißen Präfektur Shimane. Man schrieb, nach dem neuen Kalender, den Juli des Jahres 1891. Der junge Dr. Shimamura hatte vor kurzem in Tokyo promoviert. Er war der Lieblingsschüler des Neurologieprofessors Sakaki Hajime.

»Finden Sie nicht auch, Herr Doktor, bitte, ja?«, beharrte der Student.

Shimamura gab keine Antwort. Er war längst an das Geschwätz des Studenten gewöhnt, dessen Unhöflichkeit an Geistesverwirrung grenzte. Wie hieß der Student? Gewiss hatte Shimamura das einmal gewusst, aber später vergaß er es, er vergaß den Namen dieses Studenten später so völlig, dass es erstaunlich war. Und schon damals nannte er ihn immer nur ›Herr Student‹.

Sie kletterten durchs Unterholz. Shimamura trug seine Arzttasche mit dem Stethoskop, den gynäkologischen Spekula, dem Helmholtzschen Augenspiegel, dem Perkussionshammer und der dritten Auflage von Wilhelm Griesingers Pathologie der psychischen Krankheiten; der Student schleppte in einem großen englischen Seesack den fotografischen Apparat hinter ihm her. Shimamura trug Norfolk-Blazer und Strohhut und an den Füßen Knöpfstiefel. Um den Studenten flatterte ein kniefreier Bauernkittel, an seinen Füßen patschten Strohpantinen.

»Erinnern Sie sich auch an diese Geschichte, als Sie klein waren, Herr Doktor, dass einzeln stehengelassene Schuhe zu Schuhgeistern werden und einen umherjagen?«, fragte der Student.

Vor drei Tagen hatte ihn Shimamura in seiner Verzweiflung angewiesen, einheimische Kleidung auszuleihen und anzulegen. Dies gewinne das Vertrauen der Landbevölkerung. In Wahrheit hatte er gehofft, dass eine solche unwürdige Tracht dem Studenten vielleicht die Sprache verschlüge, was allerdings nicht eingetreten war. Jetzt verspürte Shimamura Neid auf all die Luft, die den Körper des Studenten erreichte, besonders am Hals. Der enge Hemdkragen scheuerte an Shimamuras Kehle und immer, wenn er den Kopf drehte, wurden die Carotidenpulse fühlbar. In seinem schmalen Schnauzbart reihten sich Schweißperlen.

»Wenn sich jedermann an genau dasselbe aus seiner Kindheit erinnert, ist es doch erstaunlich, dass die Menschen alle so unterschiedlich geraten!«, triumphierte der Student.

Shimamura wusste nicht, warum ihm Professor Sakaki diesen Studenten der Medizin, der wohl gerade einmal fünfzehn oder sechzehn Jahre zählte, als Gehilfen aufgedrängt hatte. Er wusste auch nicht, was Sakaki mit der Shimane-Expedition eigentlich bezweckte. »Reisen Sie nach Shimane«, hatte Sakaki gesagt, »und erforschen Sie die alljährlich dort auftretende Epidemie der Fuchsbesessenheit. Untersuchen Sie jede Fuchspatientin und stellen Sie eine Diagnose. Achten Sie besonders auf neurologische Fälle.« Obwohl er nun schon seit Tagen durch Shimane trabte und in den abgelegensten, elendesten Quartieren die armseligsten Fuchspatientinnen mit den kläglichsten Krankheiten diagnostizierte (Trunksucht, Kretinismus, Ovarialabszess mit Durchbruch ins Rektum), wusste Shimamura noch immer nicht, was sich Sakaki bei dieser Schikane gedacht hatte. »Wenn Sie keine Diagnose finden«, hatte Sakaki gesagt, »schreiben Sie einfach ›Fuchs‹, haha.« Professor Sakaki scherzte gern. Vielleicht war die ganze Expedition nichts als ein Scherz von Professor Sakaki.

Es dauerte fast zwei Wochen von Tokyo bis Shimane. Man ging zu Fuß. Man ließ sich von Sänftenträgern in Sänften tragen. Man fuhr in der Rikscha, wobei einem der Student fast auf dem Knie saß und dauernd mit einem redete. Der Student war der Spross einer uralten Familie mit Verwandtschaftsbeziehungen, über die man nur staunen konnte. Es gab Großväter, Großonkel, Großtanten dieser Familie, die an ausgefallenen, altertümlichen Krankheiten gestorben waren, sobald Japan seine Grenzen geöffnet hatte. Es gab auch einen Fächer, mit dem ein Ahnherr des Studenten vor vierhundert Jahren eine Schlacht verloren hatte, weil er ihn zur falschen Zeit gehoben hatte. Dieser Fächer wurde im Familienschrein verwahrt und gemahnte die Familie seit vierhundert Jahren an den Wert der Bescheidenheit. All das hatte der junge Student in Rikscha und Gasthaus zwei Wochen lang Shimamura Shunichi in allen Einzelheiten anvertraut, während er ununterbrochen sein Pfeifchen rauchte. Anders als Shimamura wusste er auch viel über Füchse. Er hatte wahrscheinlich die Fuchsgöttin Inari persönlich und Unmengen weitere abergläubische Sachverhalte in seinem Familienstammbaum. Der Student wusste vierhundert Jahre alte Fuchsbesessenheitsgeschichten, die sich sämtlich unter den Vasallen seiner hochmögenden Familie zugetragen hatten. Die berichtete er ebenfalls im Detail.