Kapitel 1
Mamans Bauch ist am Herd und ihr Hintern stößt gegen den Tisch, wo wir sitzen und malen. Ihr ausgestreckter Arm rührt Tomatengerüche aus der Pfanne in unsere Strümpfe. Sie singt nicht.
In der Küche ist es kühl, zumindest fast überall, nur einer Hälfte von mir ist warm, weil ich in einem schmalen Sonnenlichtstreifen sitze, der von draußen hereinfällt. Der Rest von mir sitzt in dem Schattengitter, den die Socken und Unterhosen auf dem Holzgestell über unseren Köpfen werfen. Sie hängen schon seit fünfmal schlafen dort, seit dem verregneten Nachmittag, als wir Maman die ganze Zeit in die Quere kamen, sogar als wir gar nicht im selben Zimmer waren.
Eine Fliege landet auf dem Rand der Butterdose, eine andere auf meinem leeren Teller. Dann hüpft mir eine auf den Arm, sodass die Härchen sich aufstellen. Margot schaut ihnen zu. Ihre Augen rollen herum, dass man fast nur das Weiße sieht, und ihre Augenbrauen zappeln. Zwei andere Fliegen landen schlitternd auf der Wachstischdecke.
Die Fliegen denken, unser Haus ist ein Flughafen, Pea, sagt sie.
Margot ist wie ich, aber sie ist auch nicht wie ich. Ich bin fünfeinhalb und Margot ist erst vier, aber sie ist groß für ihr Alter. Wir mögen beide Insekten und Knuddeln und Insekten knuddeln und wir haben beide Sommersprossen und grüne Augen, die blau und braun schimmern, wie die von Maman. Im Sonnenlicht sind Mamans Augen Kaleidoskope.
Wir sind aber nicht gleich, Margot und ich, das sieht man schon an unseren Träumen. Ich träume immer von Hexen, die mich jagen, oder von Picknicktagen am Strand, bevor das ganze Sterben passiert ist – das sind die besten Träume. Margot träumt von winzig kleinen Menschen, die in unseren Schränken wohnen und donnerstags immer Feste feiern, und von Puzzlespielen, die sich von selbst zusammenbauen.
Frauen sind wie Autos und Männer sind wie Motorräder, sagt Margot. Man muss Margot zuhören, denn sie erklärt einem immer Sachen.
Motorräder haben keine Türen, aber Autos schon, damit sich Leute reinsetzen können, erklärt sie mir. In Frauen passen auch Leute rein. Und sie haben Türen zum Rein- und Rausgehen.
Ich schaue auf Mamans großen dicken Bauch und stelle mir die Tür vor. Die Tür habe ich noch nie gesehen, was komisch ist. Aber den Türknauf, als er einmal zwischen den Kleidern hervorgeschaut hat, dort, wo früher ihr Bauchnabel war.
Klopf doch mal an, Pea, vielleicht macht das Baby dir auf, sagt Margot.
In meinem Kopf sehe ich, wie das Baby Mamans Bauch aufschließt, um Hallo zu sagen oder ein Paket anzunehmen. Bevor ich es aufhalten kann, blubbert mein Lachen zwischen meinen Lippen hervor wie eine Himbeere. Mamans Kopf dreht sich in meine Richtung.
Peony, sagt sie (denn das ist einer meiner Namen) und ihr Gesicht sind lauter graue Wolken. Dann dreht sie sich wieder weg und rührt schneller.
Maman, sage ich.
Sie dreht sich noch mal um. Aber ich habe nicht daran gedacht, mir was Wichtiges zu überlegen, was ich ihr sagen könnte, also sage ich schnell das Erstbeste, was mir einfällt.
Du hast eine Fliege am Fuß.
Das stimmt auch. Maman ist barfuß und unter einer Ferse sehe ich ein kleines Fliegenbein hervorschauen. Und einen kleinen Fliegenpopo.
Maman sieht mich einen Moment lang mit Augen an, die sagen: Das ist alles deine Schuld, und dann lehnt sie sich an den Tisch, um ihre Füße genauer zu untersuchen. Sie nimmt einen Fuß von den Fliesen hoch, verrenkt den Hals und mustert ihn über die Schulter hinweg; dabei fallen ihre Haare wie ein roter Vorhang an ihrem Rücken hinunter. Die Unterseite ihres Fußes ist schwarz. Mamans Füße werden schmutziger als meine, obwohl wir beide barfuß sind und über denselben Boden laufen.
Der andere, flüstere ich.
Sie wechselt den Fuß. Da ist sie: die zerdrückte Fliege. Sie pult sie mit den Fingerspitzen ab und setzt langsam den Fuß wieder auf den Boden. Ihr Mund wabbelt, als könnte er sich nicht für eine bestimmte Form entscheiden. Sie betrachtet den Fußboden; ihre Augen wandern über die Krümel, die kleinen Zwiebelstückchen und Knoblauchhäute, die Katzenhaare und den Schmutz von draußen. Auch der Tisch ist nicht besonders sauber. Wir versuchen eigentlich immer, nicht so viel Dreck zu machen, aber wenn es doch passiert, komme ich nicht ans Waschbecken, um ihn aufzuwischen.
Jetzt bin ich still und warte darauf, was als Nächstes passiert. Maman wirft die Fliege in den Mülleimer und hält sich dann mit beiden Händen am Tisch fest und wiegt sich vor und zurück, als ob in der Küche traurige Musik wäre, die nur sie hören kann.
Hinter ihr brutzelt die Tomatensoße in der Pfanne. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, richtet Maman sich auf und nimmt ihre Tränen mit nach oben.
Die Dunkelheit ist in meinem Bauch. Davor habe ich am meisten Angst.
Ich hätte Maman nichts von der Fliege sagen sollen, sage ich.
Ja, sagt Margot. Du hättest ihr sagen sollen, dass sie heute wunderschön aussieht.
Das wäre besser gewesen, sage ich.
Macht nichts, sagt Margot. Tomatensoße mag ich sowieso nicht. Sollen wir picknicken gehen?
Ich höre, wie oben die Dusche angeht. Auf dem Herd spuckt die Pfanne Tomatensoße in die Luft und auf den Boden. Manche Spritzer fliegen so hoch, dass sie Flecken auf unsere Kleider auf dem Wäschegestell machen. Unsere Kleider, Töpfe und Pfannen, Knoblauch- und Zwiebelzöpfe, aufgefädelte Chilischoten und getrocknete Würste, alle hängen an s-förmigen Haken mit spitzen Enden, aber so hoch, dass ich nicht herankomme. Alle kriegen Tomatenspritzer ab. Ich stehe vom Tisch auf und drehe das Gas ab.
Komm, Pea, sagt Margot. Ich hab Hunger.
Draußen müssen wir die Augen zusammenkneifen, so hell ist die Sonne. Ich habe meinen Hut vergessen und spüre schon, wie meine Haare warm werden. Manchmal wünsche ich mir, es würde nicht so heiß werden hier, aber Maman hat gesagt, dass französische Sommer viel schöner seien als die Sommer in England, wo sie herkommt. Zumindest kann man sich hier immer auf die Sonne verlassen, hat sie gesagt.
Wir stehen im Hof und überlegen, wo wir heute hingehen sollen, obwohl die Antwort seit zwei Sommern, einem Winter und einem Geburtstag immer die gleiche ist. Das mit dem Überlegen ging los, als Maman letztes Jahr aus dem Krankenhaus wiederkam. Sie war nicht mehr dick, sondern ganz dünn, aber sie hatte kein Baby dabei, obwohl sie es versprochen hatte. Sie hat es im Krankenhaus gelassen, zusammen mit ihrer Fröhlichkeit.
Wenn Papa zu Hause war, war trotzdem alles gut. Er umarmte Maman die ganze Zeit und zwischen ihren Ellbogen und Bäuchen gab es immer mädchenförmige Lücken, in die ich mich reinquetschen konnte, um mitzuknuddeln. Aber wenn er draußen bei der Arbeit war, mussten wir auch immer raus zum Spielen, wir durften nie drinnen bleiben. Meistens spielen wir auf der unteren Wiese und manchmal auch auf dem Windigen Hügel; die beiden Orte, zu denen Maman immer Spaziergänge mit uns gemacht hat, bevor das mit dem toten Baby passierte. An manchen Tagen frage ich sie immer noch, ob sie nicht mitkommen will, aber sie bleibt lieber drinnen. Obwohl gleich ein neues Baby in ihr gewachsen ist, ist die Fröhlichkeit nicht wiedergekommen.
Dann ist Papa gestorben. Eines Tages im Frühling ist er mit seinem Traktor über einen Hügel gefahren und heruntergefallen und wurde zerquetscht. Das war tragisch, hat der Pfarrer in der Kirche gesagt, aber danach war es eine Katastrophe. Jetzt, wo Papa nicht mehr hier ist, ist es nie besonders angenehm, zu Hause zu sein, also müssen wir uns jeden Tag überlegen, wo wir hingehen sollen.
***
Sonnige Seite oder schattige Seite?, will Margot wissen, womit sie die gleiche Frage stellt, nur auf andere Weise.
Wenn wir auf der sonnigen Seite um das Haus herumgehen, kommen wir auf den Weg, der durch die Pfirsichgärten und über die Dorfstraße bis zur unteren Wiese führt. Wenn wir an der schattigen Seite entlang und hinten um die Scheune herumgehen, können wir die obere Weide überqueren und uns auf den Windigen Hügel setzen.
Schattige Seite, sage ich. Ich möchte zu den Winkturbinen.
Die Turbinen sind höher als Häuser. Sie stehen weiter drüben auf einem anderen Hügel, in zwei Reihen; wie Engel mit drei Flügeln. Sie stehen mit dem Rücken zum Meer und winken und wachen über die Dörfer und Wiesen. Sie machen den Strom, der in unsere Lichtschalter fließt, und deswegen weiß ich, dass es nachts, wenn ich im Bett liege, hinter meiner Tür immer noch ein bisschen Licht gibt, selbst wenn es sonst überall dunkel ist. Ich brauche also keine Angst zu haben. Die Dunkelheit ist einsam, die Turbinen winken sie weg. Wenn ich beobachte, wie sie sich bewegen, wenn ich sehe, dass sie immer noch da sind, wird alles um mich herum langsamer, bis es nur noch das gleichmäßige Im-Kreis-Drehen gibt, und ich vergesse, dass ich traurig bin.
Pea, schimpft Margot, du meine Güte, es ist Mittag. Auf dem Windigen Hügel gibt es kein bisschen Schatten. Wenn wir da jetzt hingehen, verbrennen wir wie Toast und bekommen einen Sonnenstich und schmelzen.
Ich will ihr gerade widersprechen, aber Margot unterbricht mich, was sie oft tut.
Heute bin ich die Maman, sagt sie, also musst du tun, was ich dir sage.
Aber wir sind schon so lange nicht mehr auf dem Windigen Hügel gewesen, sage ich.
Mensch, Pea, du hast doch noch nicht mal einen Hut auf. Wir gehen zur unteren Wiese, und keine Widerrede. Margot verschränkt die Arme. Außerdem können wir dort planschen, fügt sie hinzu und blickt nach unten auf meine gelben Sandalen.
Der Bach ist bestimmt kalt und ich habe ganz warme Füße. Bestimmt fühlt sich der Bach gut an. Margot weiß das. Margot weiß viele Dinge, noch bevor sie mir überhaupt einfallen.
Warum sind Mamans Füße so schmutzig und meine nicht?, frage ich sie.
Weil sie zu viel Zeit im Haus verbringt und es da schmutzig ist, sagt Margot.
Früher ist es nie so schmutzig gewesen.
Stimmt.
Früher war sie auch nie so viel drinnen.
Papa hätte das nicht gemocht.
Ich mag es auch nicht, sage ich.
Kannst du dich dran erinnern, ob Maman schon mal mitgekommen ist zum Planschen?
Ja, ist sie, sage ich. Ich kann mich genau erinnern. Ihre Füße haben in den Wellen ausgesehen wie große weiße Fische. Ihre Nägel waren rosa lackiert und sie hat mit ihren Zehen unter Wasser gewackelt.
Ja, sagt Margot. Und jetzt sind ihre Füße schmutzig, weil sie nämlich nicht genug planscht. Außerdem knurrt schon mein Bauch, komm, lass uns losgehen, Pea.
Ich habe Durst, sage ich.
Na, dann komm, sagt Margot.
Um aus dem Wasserhahn im Hof zu trinken, muss man sich darunterknien. Dann läuft einem das Wasser den Hals runter und die Kleider werden nass, aber sie trocknen ja schnell wieder in der Sonne.
Wir brauchen auch Brot, sagt Margot.
Sylvie, die Brotfrau, hat unsere Baguettes wie immer auf den Briefkasten gelegt. Es sind zwei Baguettes, warm, als wären sie gerade erst aus dem Ofen gekommen, und jedes ist in der Mitte mit etwas Papier umwickelt. Seit Papa gestorben ist, essen wir nur ein Baguette pro Tag, aber Sylvie bringt immer noch zwei. Die hart gewordenen lege ich in eine Kiste vor der Haustür und der Pfirsichmann nimmt sie später mit für seine Schweine.
Ich breche die knusprigen Enden des Brots ab, eins für Margot, eins für mich, und im Laufen pulen wir das weiche Innere heraus. Auf dem Weg durch den Obstgarten suchen wir unter den Bäumen nach heruntergefallenen Pfirsichen. Es gibt ganz viele, mehr als wir tragen können. Wir essen beide einen, reif und süß, dann mache ich aus meinem noch nassen Kleid eine Schürze, um die restlichen mitnehmen zu können.
Auf der unteren Wiese ist der Boden weicher und es gibt überall Schatten. Auf dem Weg, der von der Straße abgeht und nach unten führt, hüpfen wir zwischen den Brombeersträuchern herum und sehen nach, ob die Brombeeren schon reif sind, aber sie sind alle noch grün und rot. Am Ende des Wegs begegnen wir Josettes Eseln und wir schenken ihnen die knusprigen Reste unseres Brots. Dann setzen wir uns an eine Stelle nah am Bach, unter den Erlen und Eichen, wo lauter Löwenzahn wächst. Irgendwo hoch oben in den Bäumen bohrt ein Vogel Löcher.
Specht!, ruft Margot.
Das ist ja einfach, lache ich und am Kinn läuft mir Pfirsichsaft herunter.
Gurr, gurr, macht ein anderer Vogel und ich rufe: Taube!
Normalerweise gewinne ich bei diesem Spiel. Maman kennt alle Vogelstimmen und früher hat sie immer versucht, sie mir beizubringen: Kuckuck, Krähe, Amsel, Möwe, Singdrossel … Auch die Federn hat sie mir beigebracht. Vögel lassen die ganze Zeit ihre Federn herumliegen, wie Geschenke. Früher, als Maman noch gesungen und Kuchen gebacken hat, sind wir immer zusammen auf Schatzsuche gegangen und haben Federn und Blumen gesammelt. Zu Hause haben wir sie dann auf Papier geklebt und Maman hat sie mit Magneten am Kühlschrank befestigt oder mit Reißzwecken an die Wand geheftet.
Margot und ich strecken unsere Ohren in den Himmel, lauschen nach noch mehr Vögeln und versuchen, ihre Stimmen auseinanderzuhalten. Es ist ziemlich schwierig und wir sind lange Zeit beschäftigt, bis eine große, dicke Hornisse angeflogen kommt und um mein Gesicht herumschwirrt und herumsummt. Ich springe auf. Sofort fängt Margot wieder an, mich herumzukommandieren.
Komm, schnell, sagt sie, wir müssen unsere Hände und unser Gesicht waschen. Sie nimmt meine klebrige Hand und führt mich nach unten zum Bach. Wir kauern uns an den Rand des bräunlichen Wassers, waschen uns in den Spiegelungen der Bäume die Hände und wirbeln dabei halb fertige Kaulquappenfrösche unter den Steinen auf.
Die Steine sehen anders aus, sagt Margot. Irgendwas stimmt nicht mit ihnen.
Sie gucken aus dem Wasser raus, sage ich. Das ist, weil es Sommer ist.
Ich weiß, was im Sommer passiert, sagt Margot, ich kenne mich aus mit Regen und Schnee und Bergen, aber sie gucken nicht nur aus dem Wasser raus. Sie haben sich bewegt. Sieh doch mal.
Steine bewegen sich nicht, sage ich. Aber zur Sicherheit gehe ich ein paar Schritte rückwärts. Von weiter hinten kann ich das Muster erkennen. Die Felssteine, die vorher überall im Bach verteilt waren, verlaufen jetzt im Zickzack von einer Seite auf die andere, von der unteren Wiese auf die untere Weide. Sie machen, dass das Wasser langsamer fließt, sich um sie herum ansammelt und an den Seiten herunterläuft. In dem ruhigen Wasser in der Mitte drehen sich Wasserläufer im Kreis, darunter glitzern silbrige Rückenschwimmer und winzige Fischchen.
Brückensteine!, rufe ich. Komm, wir probieren sie aus! Und ich stürme zum Rand des Wassers, strecke meine Arme aus und will schon fast losgehen und drüberbalancieren.
Steine, die sich bewegen, sagt Margot leise.
Stimmt, sage ich. Ich weiche ein paar Schritte zurück.
Margot hat recht. Irgendwas stimmt nicht mit Steinen, die sich bewegen. Ich sehe mir die Brückensteine noch mal an. Sieben große Steine, die sehr schwer aussehen. Zu schwer für Kinder.
Das war bestimmt eine Hexe, sage ich.
Hexen gibt es nicht, sagt Margot.
Auf der anderen Seite des Bachs stehen Nachtkerzen. Ich will hinübergehen und sie pflücken.
Es war doch eine Hexe, sage ich. Siehst du die Blumen?
Was ist mit den Blumen?
Das machen Hexen extra, sie tun Sachen, die man haben will, an Stellen, wo man nicht hingehen soll. Oder sie bauen Häuser aus Kuchen, um dich anzulocken, und dann stecken sie dich in einen Käfig und mästen dich.
Blumen sind aber keine Kuchen. Was willst du überhaupt mit den Blumen?, fragt Margot.
Ich will Maman damit glücklich machen.
Glaubst du, dass die Blumen sie glücklich machen?
Na ja, immerhin sind sie gelb, sage ich. Ich weiß nicht. Vielleicht gibt es ja gar nichts, das sie glücklich macht.
Ach Quatsch, sagt Margot. Es gibt mehr als tausend Sachen auf der Welt, irgendwas muss Maman doch glücklich machen.
Aber woher sollen wir wissen, was?
Ich hab’s!, sagt Margot. Das ist unsere neue Aufgabe. Wir benutzen unsere Schlauigkeit, um Maman wieder glücklich zu machen. Wir können es ja erst mal mit gelben Blumen probieren.
Okay, dann geh ich jetzt ein paar pflücken, sage ich. Doch dann zögere ich. Nein, lieber doch nicht. Ich habe mich umentschieden.
Es war gar keine Hexe!, sagt Margot.
Ich gehe nicht! Wenn es keine Hexe war, wer war es denn dann?, sage ich. Das kann nur ein Erwachsener gemacht haben, aber von denen kommt doch nie einer hier runter. Nicht mal Josette. Sie ruft ihre Esel bloß her, wenn Fütterungszeit ist, und dann kommen sie hoch zu ihr an den Zaun.
Kein einziger Erwachsener?
Ich überlege. Der einzige Erwachsene, den ich je hier unten gesehen habe, war der Mann, der die schlurfenden Fußspuren im Schnee gemacht hat.
Als wir ihn zum ersten Mal gesehen haben, war ich vier Jahre alt. Maman war gerade aus dem Krankenhaus zurückgekommen und lag im Bett. Papa besprühte die Pfirsichbäume, weil er nicht wusste, was er sonst tun sollte. Das hat er zumindest gesagt. Wir konnten nicht bei Papa bleiben und Maman hatte eine schreckliche Laune, also gingen wir nachsehen, ob vielleicht die Esel bessere Laune hatten, und das hatten sie auch. Wir blieben den ganzen Tag auf der unteren Wiese und spät am Nachmittag kam er dann. Wir saßen gerade unter dem weißen Maulbeerbaum und spielten Arzt und Krankenschwester. Der Baum hat große Blätter und außerdem war er voller weißer Beeren. Er eignete sich also gut als Krankenhaus, aber man konnte sich auch prima darunter verstecken. Die Äste hingen sehr tief, fast bis zum Boden, und wir fühlten uns ziemlich sicher.
Wir spähten vorsichtig nach draußen und beobachteten den Fremden wie Spione. Der Mann hüpfte so halb, als hätte er einen Stein im Schuh, und neben ihm lief ein roter Hund. Den Mann fand ich blöd, aber seinen Hund mochte ich. Man konnte sehen, dass es ein netter Hund war, so wie er bei seinem Herrchen blieb, obwohl er wahrscheinlich viel lieber herumgetobt wäre und Gerüche gejagt hätte.
Genau in dem Moment, als ich dachte, sie würden umdrehen und wieder gehen, bellte der Hund dreimal, was mich zusammenzucken ließ, und dann rannte er auf den Maulbeerbaum zu. Er kroch schnurstracks drunter und beschnupperte uns mit seinem nassen Gesicht. Der Hund war ziemlich dünn und flink und sah freundlich aus. Sein Schwanz war ein wedelnder Wuschelpinsel. Ich wollte ihn streicheln, aber ich dachte, dass dann bestimmt auch der Mann kommen würde, wenn der Hund nicht wegging.
Schsch, geh weg!, flüsterte ich und versuchte, ihn zu verscheuchen.
Hau ab!, sagte Margot und machte ein böses Gesicht.
Der Hund wich ein paar Schritte zurück, schnüffelte, aber haute nicht ab. Stattdessen naschte er ein paar von den Maulbeeren, die am niedrigsten hingen; er aß sie direkt vom Baum. Die Füße des Mannes hatten sich die ganze Zeit nicht bewegt, sie standen einfach nur da und zeigten in unsere Richtung. Dann beugte sich der Mann herunter zu seinem Schuh, vielleicht auf der Suche nach dem Stein, und einen Moment lang sah es so aus, als würde er genau in unsere Richtung schauen. Ich blieb ganz still sitzen wie eine Statue und kniff die Augen zusammen, bis ich fast nichts mehr sah. Der Mann kniff auch die Augen zusammen. Sein Gesicht war voller Haare, bis auf eine Stelle über dem Ohr, wo ein ganzes Büschel fehlte und die Haut rotbraun war wie eine Kastanie. Ich hielt den Atem an, mein Herz klopfte gegen die Rippen.
Doch dann stand er wieder auf, sein Gesicht verschwand und er pfiff nach dem Hund, der mich ein letztes Mal mit seiner Nase stupste und dann zurück zu dem Mann lief und bei Fuß machte.
Letzten Winter, als der Schnee kam, war er auch hier. Ich folgte gerade meinen Fußstapfen vom Tag davor und versuchte, den Fuß immer genau in die Abdrücke zu setzen, ohne neue zu machen. Margot ging mit langsamen und vorsichtigen Schritten hinter mir her und probierte, keine Abdrücke auf dem neuen Schnee zu machen. Das kann sie richtig gut, besser als ich.
Ich entdeckte sie zuerst: große, frische Fußabdrücke mit einem Zickzackmuster, die eine Hälfte normal und die andere Hälfte lang gezogen und verwischt. Daneben ein Getrappel von Pfotenabdrücken, die alle hinunter zum Bach führten. Ich war gerade dabei, sie genauer zu untersuchen, als ich hörte, wie vor mir der Schnee knirschte, und als ich hochsah, war er ganz nah und machte immer noch dasselbe Muster, aber diesmal kam er den Hügel wieder hinauf. Bei jedem Schritt seines schlurfigen Gangs formte sich ein kleiner Schneehaufen. Der rote Hund lief genau wie damals neben ihm her, aber jetzt war er mit einer Frostschicht bedeckt, wie Zuckerguss auf einem Kuchen.
Ich blieb ruhig stehen und beobachtete, wie sie auf mich zukamen. Der Mann hinkte, sein Hund trottete neben ihm her, und ich überlegte, ob ich weglaufen sollte.
Keine Sorge, sagte Margot. Er sieht nicht besonders schlau aus. Wenn er versucht, uns zu entführen, können wir ihn bestimmt leicht austricksen. Mach ein grimmiges Gesicht, sagte sie.
Sie sagte es ziemlich laut und ich war sicher, dass der Mann höhnisch lachen und sagen würde, täuscht euch da mal nicht! Doch das tat er nicht. Wahrscheinlich hatte er uns nicht gehört.
Er kam genau auf uns zu und lächelte die ganze Zeit, sein Gesicht sah ganz stoppelig und grau aus, seine Augen waren innen dunkel und glänzend, aber außen faltig, und er hatte zwei Augendeckel auf jedem Auge, einen oben und einen unten.
In dem Moment fing mein Knochen ganz schrecklich an zu jucken; das weiß ich noch, weil ich zwei T-Shirts und meinen Pulli und meinen Mantel drüber anhatte und mich deswegen nicht kratzen konnte. An meinem Arm gibt es nämlich eine Stelle, wo er gebrochen war, als ich noch ein Baby war. Das hat Maman mir erzählt, obwohl man außen auf der Haut nichts sehen kann. Immer wenn ich Angst habe, juckt der Knochen innen wie verrückt. Als der Mann schlurfend näher kam, dachte ich, ich muss mich ausziehen, jetzt sofort, mitten im Schnee, nur um an die juckende Stelle zu kommen. Ich wollte gerade den Reißverschluss meines Mantels aufmachen, als er genau an mir vorüberging.
Er blieb nicht stehen, sondern nickte uns bloß zu und lief weiter, er folgte seinen eigenen Fußstapfen, den Weg hoch, weg von der Wiese, und sein roter Hund warf uns einen letzten Blick zu, als sie sich der Straße näherten.
Siehst du, sagte Margot, er hat schreckliche Angst vor uns.
Ich grinste seinem schlurfenden Rücken zu, stolz und erleichtert.
An dem Abend erzählte ich Papa von dem Mann. Dass seine Fußabdrücke ungleichmäßig waren und dass sein Hund immer neben ihm herlief, wie durch Zauberei. Ich erzählte ihm, wie wir ihn mit unserem besten grimmigen Gesicht verjagt hatten.
Papa runzelte die Stirn.
Pivoine, sagte er (denn das ist mein anderer Name), Kinder sollten nicht allein über die Felder wandern.
Ich lachte ihn aus, aber er hob mich hoch auf seinen Schoß, machte ein ernstes Gesicht und sah mir genau in die Augen.
Das meine ich ernst, Pea. Bitte versprich mir, dass du nicht mehr alleine dorthin gehst.
Versprochen, sagte ich und kuschelte mich in seine Arme.
Ich erzählte Papa nicht, dass der Mann mit seinem schwarzen Handschuh meine rosane Mütze berührt hatte, als er an mir vorbeiging.