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Eine Geschichte für wenn ihr älter seid, falls die Zeit euch die Erinnerungen nimmt. Damit ihr nicht vergesst, dass ihr immer schon die nötige Weisheit besaßt, um zu wissen, was wichtig ist, und die nötige Hoffnung, die Träume zum Leben erweckt.

Für Amélie und Beatrix, in Liebe

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Berlin Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2013

ISBN 978-3-8270-7614-4

Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel

The Night Rainbow bei Bloomsbury Publishing Plc, London

© 2013 Claire King

Für die deutsche Ausgabe © Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin 2013

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: HAUPTMANN & KOMPANIE Werbeagentur,

Zürich, unter Verwendung eines Fotos von © Ildiko Neer/Trevillion Images und © Pamela Martin/Getty Images/Photodisc

Datenkonvertierung: Greiner & Reichel, Köln

Kapitel 1

Mamans Bauch ist am Herd und ihr Hintern stößt gegen den Tisch, wo wir sitzen und malen. Ihr ausgestreckter Arm rührt Tomatengerüche aus der Pfanne in unsere Strümpfe. Sie singt nicht.

In der Küche ist es kühl, zumindest fast überall, nur einer Hälfte von mir ist warm, weil ich in einem schmalen Sonnenlichtstreifen sitze, der von draußen hereinfällt. Der Rest von mir sitzt in dem Schattengitter, den die Socken und Unterhosen auf dem Holzgestell über unseren Köpfen werfen. Sie hängen schon seit fünfmal schlafen dort, seit dem verregneten Nachmittag, als wir Maman die ganze Zeit in die Quere kamen, sogar als wir gar nicht im selben Zimmer waren.

Eine Fliege landet auf dem Rand der Butterdose, eine andere auf meinem leeren Teller. Dann hüpft mir eine auf den Arm, sodass die Härchen sich aufstellen. Margot schaut ihnen zu. Ihre Augen rollen herum, dass man fast nur das Weiße sieht, und ihre Augenbrauen zappeln. Zwei andere Fliegen landen schlitternd auf der Wachstischdecke.

Die Fliegen denken, unser Haus ist ein Flughafen, Pea, sagt sie.

Margot ist wie ich, aber sie ist auch nicht wie ich. Ich bin fünfeinhalb und Margot ist erst vier, aber sie ist groß für ihr Alter. Wir mögen beide Insekten und Knuddeln und Insekten knuddeln und wir haben beide Sommersprossen und grüne Augen, die blau und braun schimmern, wie die von Maman. Im Sonnenlicht sind Mamans Augen Kaleidoskope.

Wir sind aber nicht gleich, Margot und ich, das sieht man schon an unseren Träumen. Ich träume immer von Hexen, die mich jagen, oder von Picknicktagen am Strand, bevor das ganze Sterben passiert ist – das sind die besten Träume. Margot träumt von winzig kleinen Menschen, die in unseren Schränken wohnen und donnerstags immer Feste feiern, und von Puzzlespielen, die sich von selbst zusammenbauen.

Frauen sind wie Autos und Männer sind wie Motorräder, sagt Margot. Man muss Margot zuhören, denn sie erklärt einem immer Sachen.

Motorräder haben keine Türen, aber Autos schon, damit sich Leute reinsetzen können, erklärt sie mir. In Frauen passen auch Leute rein. Und sie haben Türen zum Rein- und Rausgehen.

Ich schaue auf Mamans großen dicken Bauch und stelle mir die Tür vor. Die Tür habe ich noch nie gesehen, was komisch ist. Aber den Türknauf, als er einmal zwischen den Kleidern hervorgeschaut hat, dort, wo früher ihr Bauchnabel war.

Klopf doch mal an, Pea, vielleicht macht das Baby dir auf, sagt Margot.

In meinem Kopf sehe ich, wie das Baby Mamans Bauch aufschließt, um Hallo zu sagen oder ein Paket anzunehmen. Bevor ich es aufhalten kann, blubbert mein Lachen zwischen meinen Lippen hervor wie eine Himbeere. Mamans Kopf dreht sich in meine Richtung.

Peony, sagt sie (denn das ist einer meiner Namen) und ihr Gesicht sind lauter graue Wolken. Dann dreht sie sich wieder weg und rührt schneller.

Maman, sage ich.

Sie dreht sich noch mal um. Aber ich habe nicht daran gedacht, mir was Wichtiges zu überlegen, was ich ihr sagen könnte, also sage ich schnell das Erstbeste, was mir einfällt.

Du hast eine Fliege am Fuß.

Das stimmt auch. Maman ist barfuß und unter einer Ferse sehe ich ein kleines Fliegenbein hervorschauen. Und einen kleinen Fliegenpopo.

Maman sieht mich einen Moment lang mit Augen an, die sagen: Das ist alles deine Schuld, und dann lehnt sie sich an den Tisch, um ihre Füße genauer zu untersuchen. Sie nimmt einen Fuß von den Fliesen hoch, verrenkt den Hals und mustert ihn über die Schulter hinweg; dabei fallen ihre Haare wie ein roter Vorhang an ihrem Rücken hinunter. Die Unterseite ihres Fußes ist schwarz. Mamans Füße werden schmutziger als meine, obwohl wir beide barfuß sind und über denselben Boden laufen.

Der andere, flüstere ich.

Sie wechselt den Fuß. Da ist sie: die zerdrückte Fliege. Sie pult sie mit den Fingerspitzen ab und setzt langsam den Fuß wieder auf den Boden. Ihr Mund wabbelt, als könnte er sich nicht für eine bestimmte Form entscheiden. Sie betrachtet den Fußboden; ihre Augen wandern über die Krümel, die kleinen Zwiebelstückchen und Knoblauchhäute, die Katzenhaare und den Schmutz von draußen. Auch der Tisch ist nicht besonders sauber. Wir versuchen eigentlich immer, nicht so viel Dreck zu machen, aber wenn es doch passiert, komme ich nicht ans Waschbecken, um ihn aufzuwischen.

Jetzt bin ich still und warte darauf, was als Nächstes passiert. Maman wirft die Fliege in den Mülleimer und hält sich dann mit beiden Händen am Tisch fest und wiegt sich vor und zurück, als ob in der Küche traurige Musik wäre, die nur sie hören kann.

Hinter ihr brutzelt die Tomatensoße in der Pfanne. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, richtet Maman sich auf und nimmt ihre Tränen mit nach oben.

Die Dunkelheit ist in meinem Bauch. Davor habe ich am meisten Angst.

Ich hätte Maman nichts von der Fliege sagen sollen, sage ich.

Ja, sagt Margot. Du hättest ihr sagen sollen, dass sie heute wunderschön aussieht.

Das wäre besser gewesen, sage ich.

Macht nichts, sagt Margot. Tomatensoße mag ich sowieso nicht. Sollen wir picknicken gehen?

Ich höre, wie oben die Dusche angeht. Auf dem Herd spuckt die Pfanne Tomatensoße in die Luft und auf den Boden. Manche Spritzer fliegen so hoch, dass sie Flecken auf unsere Kleider auf dem Wäschegestell machen. Unsere Kleider, Töpfe und Pfannen, Knoblauch- und Zwiebelzöpfe, aufgefädelte Chilischoten und getrocknete Würste, alle hängen an s-förmigen Haken mit spitzen Enden, aber so hoch, dass ich nicht herankomme. Alle kriegen Tomatenspritzer ab. Ich stehe vom Tisch auf und drehe das Gas ab.

Komm, Pea, sagt Margot. Ich hab Hunger.

Draußen müssen wir die Augen zusammenkneifen, so hell ist die Sonne. Ich habe meinen Hut vergessen und spüre schon, wie meine Haare warm werden. Manchmal wünsche ich mir, es würde nicht so heiß werden hier, aber Maman hat gesagt, dass französische Sommer viel schöner seien als die Sommer in England, wo sie herkommt. Zumindest kann man sich hier immer auf die Sonne verlassen, hat sie gesagt.

Wir stehen im Hof und überlegen, wo wir heute hingehen sollen, obwohl die Antwort seit zwei Sommern, einem Winter und einem Geburtstag immer die gleiche ist. Das mit dem Überlegen ging los, als Maman letztes Jahr aus dem Krankenhaus wiederkam. Sie war nicht mehr dick, sondern ganz dünn, aber sie hatte kein Baby dabei, obwohl sie es versprochen hatte. Sie hat es im Krankenhaus gelassen, zusammen mit ihrer Fröhlichkeit.

Wenn Papa zu Hause war, war trotzdem alles gut. Er umarmte Maman die ganze Zeit und zwischen ihren Ellbogen und Bäuchen gab es immer mädchenförmige Lücken, in die ich mich reinquetschen konnte, um mitzuknuddeln. Aber wenn er draußen bei der Arbeit war, mussten wir auch immer raus zum Spielen, wir durften nie drinnen bleiben. Meistens spielen wir auf der unteren Wiese und manchmal auch auf dem Windigen Hügel; die beiden Orte, zu denen Maman immer Spaziergänge mit uns gemacht hat, bevor das mit dem toten Baby passierte. An manchen Tagen frage ich sie immer noch, ob sie nicht mitkommen will, aber sie bleibt lieber drinnen. Obwohl gleich ein neues Baby in ihr gewachsen ist, ist die Fröhlichkeit nicht wiedergekommen.

Dann ist Papa gestorben. Eines Tages im Frühling ist er mit seinem Traktor über einen Hügel gefahren und heruntergefallen und wurde zerquetscht. Das war tragisch, hat der Pfarrer in der Kirche gesagt, aber danach war es eine Katastrophe. Jetzt, wo Papa nicht mehr hier ist, ist es nie besonders angenehm, zu Hause zu sein, also müssen wir uns jeden Tag überlegen, wo wir hingehen sollen.

***

Sonnige Seite oder schattige Seite?, will Margot wissen, womit sie die gleiche Frage stellt, nur auf andere Weise.

Wenn wir auf der sonnigen Seite um das Haus herumgehen, kommen wir auf den Weg, der durch die Pfirsichgärten und über die Dorfstraße bis zur unteren Wiese führt. Wenn wir an der schattigen Seite entlang und hinten um die Scheune herumgehen, können wir die obere Weide überqueren und uns auf den Windigen Hügel setzen.

Schattige Seite, sage ich. Ich möchte zu den Winkturbinen.

Die Turbinen sind höher als Häuser. Sie stehen weiter drüben auf einem anderen Hügel, in zwei Reihen; wie Engel mit drei Flügeln. Sie stehen mit dem Rücken zum Meer und winken und wachen über die Dörfer und Wiesen. Sie machen den Strom, der in unsere Lichtschalter fließt, und deswegen weiß ich, dass es nachts, wenn ich im Bett liege, hinter meiner Tür immer noch ein bisschen Licht gibt, selbst wenn es sonst überall dunkel ist. Ich brauche also keine Angst zu haben. Die Dunkelheit ist einsam, die Turbinen winken sie weg. Wenn ich beobachte, wie sie sich bewegen, wenn ich sehe, dass sie immer noch da sind, wird alles um mich herum langsamer, bis es nur noch das gleichmäßige Im-Kreis-Drehen gibt, und ich vergesse, dass ich traurig bin.

Pea, schimpft Margot, du meine Güte, es ist Mittag. Auf dem Windigen Hügel gibt es kein bisschen Schatten. Wenn wir da jetzt hingehen, verbrennen wir wie Toast und bekommen einen Sonnenstich und schmelzen.

Ich will ihr gerade widersprechen, aber Margot unterbricht mich, was sie oft tut.

Heute bin ich die Maman, sagt sie, also musst du tun, was ich dir sage.

Aber wir sind schon so lange nicht mehr auf dem Windigen Hügel gewesen, sage ich.

Mensch, Pea, du hast doch noch nicht mal einen Hut auf. Wir gehen zur unteren Wiese, und keine Widerrede. Margot verschränkt die Arme. Außerdem können wir dort planschen, fügt sie hinzu und blickt nach unten auf meine gelben Sandalen.

Der Bach ist bestimmt kalt und ich habe ganz warme Füße. Bestimmt fühlt sich der Bach gut an. Margot weiß das. Margot weiß viele Dinge, noch bevor sie mir überhaupt einfallen.

Warum sind Mamans Füße so schmutzig und meine nicht?, frage ich sie.

Weil sie zu viel Zeit im Haus verbringt und es da schmutzig ist, sagt Margot.

Früher ist es nie so schmutzig gewesen.

Stimmt.

Früher war sie auch nie so viel drinnen.

Papa hätte das nicht gemocht.

Ich mag es auch nicht, sage ich.

Kannst du dich dran erinnern, ob Maman schon mal mitgekommen ist zum Planschen?

Ja, ist sie, sage ich. Ich kann mich genau erinnern. Ihre Füße haben in den Wellen ausgesehen wie große weiße Fische. Ihre Nägel waren rosa lackiert und sie hat mit ihren Zehen unter Wasser gewackelt.

Ja, sagt Margot. Und jetzt sind ihre Füße schmutzig, weil sie nämlich nicht genug planscht. Außerdem knurrt schon mein Bauch, komm, lass uns losgehen, Pea.

Ich habe Durst, sage ich.

Na, dann komm, sagt Margot.

Um aus dem Wasserhahn im Hof zu trinken, muss man sich darunterknien. Dann läuft einem das Wasser den Hals runter und die Kleider werden nass, aber sie trocknen ja schnell wieder in der Sonne.

Wir brauchen auch Brot, sagt Margot.

Sylvie, die Brotfrau, hat unsere Baguettes wie immer auf den Briefkasten gelegt. Es sind zwei Baguettes, warm, als wären sie gerade erst aus dem Ofen gekommen, und jedes ist in der Mitte mit etwas Papier umwickelt. Seit Papa gestorben ist, essen wir nur ein Baguette pro Tag, aber Sylvie bringt immer noch zwei. Die hart gewordenen lege ich in eine Kiste vor der Haustür und der Pfirsichmann nimmt sie später mit für seine Schweine.

Ich breche die knusprigen Enden des Brots ab, eins für Margot, eins für mich, und im Laufen pulen wir das weiche Innere heraus. Auf dem Weg durch den Obstgarten suchen wir unter den Bäumen nach heruntergefallenen Pfirsichen. Es gibt ganz viele, mehr als wir tragen können. Wir essen beide einen, reif und süß, dann mache ich aus meinem noch nassen Kleid eine Schürze, um die restlichen mitnehmen zu können.

Auf der unteren Wiese ist der Boden weicher und es gibt überall Schatten. Auf dem Weg, der von der Straße abgeht und nach unten führt, hüpfen wir zwischen den Brombeersträuchern herum und sehen nach, ob die Brombeeren schon reif sind, aber sie sind alle noch grün und rot. Am Ende des Wegs begegnen wir Josettes Eseln und wir schenken ihnen die knusprigen Reste unseres Brots. Dann setzen wir uns an eine Stelle nah am Bach, unter den Erlen und Eichen, wo lauter Löwenzahn wächst. Irgendwo hoch oben in den Bäumen bohrt ein Vogel Löcher.

Specht!, ruft Margot.

Das ist ja einfach, lache ich und am Kinn läuft mir Pfirsichsaft herunter.

Gurr, gurr, macht ein anderer Vogel und ich rufe: Taube!

Normalerweise gewinne ich bei diesem Spiel. Maman kennt alle Vogelstimmen und früher hat sie immer versucht, sie mir beizubringen: Kuckuck, Krähe, Amsel, Möwe, Singdrossel … Auch die Federn hat sie mir beigebracht. Vögel lassen die ganze Zeit ihre Federn herumliegen, wie Geschenke. Früher, als Maman noch gesungen und Kuchen gebacken hat, sind wir immer zusammen auf Schatzsuche gegangen und haben Federn und Blumen gesammelt. Zu Hause haben wir sie dann auf Papier geklebt und Maman hat sie mit Magneten am Kühlschrank befestigt oder mit Reißzwecken an die Wand geheftet.

Margot und ich strecken unsere Ohren in den Himmel, lauschen nach noch mehr Vögeln und versuchen, ihre Stimmen auseinanderzuhalten. Es ist ziemlich schwierig und wir sind lange Zeit beschäftigt, bis eine große, dicke Hornisse angeflogen kommt und um mein Gesicht herumschwirrt und herumsummt. Ich springe auf. Sofort fängt Margot wieder an, mich herumzukommandieren.

Komm, schnell, sagt sie, wir müssen unsere Hände und unser Gesicht waschen. Sie nimmt meine klebrige Hand und führt mich nach unten zum Bach. Wir kauern uns an den Rand des bräunlichen Wassers, waschen uns in den Spiegelungen der Bäume die Hände und wirbeln dabei halb fertige Kaulquappenfrösche unter den Steinen auf.

Die Steine sehen anders aus, sagt Margot. Irgendwas stimmt nicht mit ihnen.

Sie gucken aus dem Wasser raus, sage ich. Das ist, weil es Sommer ist.

Ich weiß, was im Sommer passiert, sagt Margot, ich kenne mich aus mit Regen und Schnee und Bergen, aber sie gucken nicht nur aus dem Wasser raus. Sie haben sich bewegt. Sieh doch mal.

Steine bewegen sich nicht, sage ich. Aber zur Sicherheit gehe ich ein paar Schritte rückwärts. Von weiter hinten kann ich das Muster erkennen. Die Felssteine, die vorher überall im Bach verteilt waren, verlaufen jetzt im Zickzack von einer Seite auf die andere, von der unteren Wiese auf die untere Weide. Sie machen, dass das Wasser langsamer fließt, sich um sie herum ansammelt und an den Seiten herunterläuft. In dem ruhigen Wasser in der Mitte drehen sich Wasserläufer im Kreis, darunter glitzern silbrige Rückenschwimmer und winzige Fischchen.

Brückensteine!, rufe ich. Komm, wir probieren sie aus! Und ich stürme zum Rand des Wassers, strecke meine Arme aus und will schon fast losgehen und drüberbalancieren.

Steine, die sich bewegen, sagt Margot leise.

Stimmt, sage ich. Ich weiche ein paar Schritte zurück.

Margot hat recht. Irgendwas stimmt nicht mit Steinen, die sich bewegen. Ich sehe mir die Brückensteine noch mal an. Sieben große Steine, die sehr schwer aussehen. Zu schwer für Kinder.

Das war bestimmt eine Hexe, sage ich.

Hexen gibt es nicht, sagt Margot.

Auf der anderen Seite des Bachs stehen Nachtkerzen. Ich will hinübergehen und sie pflücken.

Es war doch eine Hexe, sage ich. Siehst du die Blumen?

Was ist mit den Blumen?

Das machen Hexen extra, sie tun Sachen, die man haben will, an Stellen, wo man nicht hingehen soll. Oder sie bauen Häuser aus Kuchen, um dich anzulocken, und dann stecken sie dich in einen Käfig und mästen dich.

Blumen sind aber keine Kuchen. Was willst du überhaupt mit den Blumen?, fragt Margot.

Ich will Maman damit glücklich machen.

Glaubst du, dass die Blumen sie glücklich machen?

Na ja, immerhin sind sie gelb, sage ich. Ich weiß nicht. Vielleicht gibt es ja gar nichts, das sie glücklich macht.

Ach Quatsch, sagt Margot. Es gibt mehr als tausend Sachen auf der Welt, irgendwas muss Maman doch glücklich machen.

Aber woher sollen wir wissen, was?

Ich hab’s!, sagt Margot. Das ist unsere neue Aufgabe. Wir benutzen unsere Schlauigkeit, um Maman wieder glücklich zu machen. Wir können es ja erst mal mit gelben Blumen probieren.

Okay, dann geh ich jetzt ein paar pflücken, sage ich. Doch dann zögere ich. Nein, lieber doch nicht. Ich habe mich umentschieden.

Es war gar keine Hexe!, sagt Margot.

Ich gehe nicht! Wenn es keine Hexe war, wer war es denn dann?, sage ich. Das kann nur ein Erwachsener gemacht haben, aber von denen kommt doch nie einer hier runter. Nicht mal Josette. Sie ruft ihre Esel bloß her, wenn Fütterungszeit ist, und dann kommen sie hoch zu ihr an den Zaun.

Kein einziger Erwachsener?

Ich überlege. Der einzige Erwachsene, den ich je hier unten gesehen habe, war der Mann, der die schlurfenden Fußspuren im Schnee gemacht hat.

Als wir ihn zum ersten Mal gesehen haben, war ich vier Jahre alt. Maman war gerade aus dem Krankenhaus zurückgekommen und lag im Bett. Papa besprühte die Pfirsichbäume, weil er nicht wusste, was er sonst tun sollte. Das hat er zumindest gesagt. Wir konnten nicht bei Papa bleiben und Maman hatte eine schreckliche Laune, also gingen wir nachsehen, ob vielleicht die Esel bessere Laune hatten, und das hatten sie auch. Wir blieben den ganzen Tag auf der unteren Wiese und spät am Nachmittag kam er dann. Wir saßen gerade unter dem weißen Maulbeerbaum und spielten Arzt und Krankenschwester. Der Baum hat große Blätter und außerdem war er voller weißer Beeren. Er eignete sich also gut als Krankenhaus, aber man konnte sich auch prima darunter verstecken. Die Äste hingen sehr tief, fast bis zum Boden, und wir fühlten uns ziemlich sicher.

Wir spähten vorsichtig nach draußen und beobachteten den Fremden wie Spione. Der Mann hüpfte so halb, als hätte er einen Stein im Schuh, und neben ihm lief ein roter Hund. Den Mann fand ich blöd, aber seinen Hund mochte ich. Man konnte sehen, dass es ein netter Hund war, so wie er bei seinem Herrchen blieb, obwohl er wahrscheinlich viel lieber herumgetobt wäre und Gerüche gejagt hätte.

Genau in dem Moment, als ich dachte, sie würden umdrehen und wieder gehen, bellte der Hund dreimal, was mich zusammenzucken ließ, und dann rannte er auf den Maulbeerbaum zu. Er kroch schnurstracks drunter und beschnupperte uns mit seinem nassen Gesicht. Der Hund war ziemlich dünn und flink und sah freundlich aus. Sein Schwanz war ein wedelnder Wuschelpinsel. Ich wollte ihn streicheln, aber ich dachte, dass dann bestimmt auch der Mann kommen würde, wenn der Hund nicht wegging.

Schsch, geh weg!, flüsterte ich und versuchte, ihn zu verscheuchen.

Hau ab!, sagte Margot und machte ein böses Gesicht.

Der Hund wich ein paar Schritte zurück, schnüffelte, aber haute nicht ab. Stattdessen naschte er ein paar von den Maulbeeren, die am niedrigsten hingen; er aß sie direkt vom Baum. Die Füße des Mannes hatten sich die ganze Zeit nicht bewegt, sie standen einfach nur da und zeigten in unsere Richtung. Dann beugte sich der Mann herunter zu seinem Schuh, vielleicht auf der Suche nach dem Stein, und einen Moment lang sah es so aus, als würde er genau in unsere Richtung schauen. Ich blieb ganz still sitzen wie eine Statue und kniff die Augen zusammen, bis ich fast nichts mehr sah. Der Mann kniff auch die Augen zusammen. Sein Gesicht war voller Haare, bis auf eine Stelle über dem Ohr, wo ein ganzes Büschel fehlte und die Haut rotbraun war wie eine Kastanie. Ich hielt den Atem an, mein Herz klopfte gegen die Rippen.

Doch dann stand er wieder auf, sein Gesicht verschwand und er pfiff nach dem Hund, der mich ein letztes Mal mit seiner Nase stupste und dann zurück zu dem Mann lief und bei Fuß machte.

Letzten Winter, als der Schnee kam, war er auch hier. Ich folgte gerade meinen Fußstapfen vom Tag davor und versuchte, den Fuß immer genau in die Abdrücke zu setzen, ohne neue zu machen. Margot ging mit langsamen und vorsichtigen Schritten hinter mir her und probierte, keine Abdrücke auf dem neuen Schnee zu machen. Das kann sie richtig gut, besser als ich.

Ich entdeckte sie zuerst: große, frische Fußabdrücke mit einem Zickzackmuster, die eine Hälfte normal und die andere Hälfte lang gezogen und verwischt. Daneben ein Getrappel von Pfotenabdrücken, die alle hinunter zum Bach führten. Ich war gerade dabei, sie genauer zu untersuchen, als ich hörte, wie vor mir der Schnee knirschte, und als ich hochsah, war er ganz nah und machte immer noch dasselbe Muster, aber diesmal kam er den Hügel wieder hinauf. Bei jedem Schritt seines schlurfigen Gangs formte sich ein kleiner Schneehaufen. Der rote Hund lief genau wie damals neben ihm her, aber jetzt war er mit einer Frostschicht bedeckt, wie Zuckerguss auf einem Kuchen.

Ich blieb ruhig stehen und beobachtete, wie sie auf mich zukamen. Der Mann hinkte, sein Hund trottete neben ihm her, und ich überlegte, ob ich weglaufen sollte.

Keine Sorge, sagte Margot. Er sieht nicht besonders schlau aus. Wenn er versucht, uns zu entführen, können wir ihn bestimmt leicht austricksen. Mach ein grimmiges Gesicht, sagte sie.

Sie sagte es ziemlich laut und ich war sicher, dass der Mann höhnisch lachen und sagen würde, täuscht euch da mal nicht! Doch das tat er nicht. Wahrscheinlich hatte er uns nicht gehört.

Er kam genau auf uns zu und lächelte die ganze Zeit, sein Gesicht sah ganz stoppelig und grau aus, seine Augen waren innen dunkel und glänzend, aber außen faltig, und er hatte zwei Augendeckel auf jedem Auge, einen oben und einen unten.

In dem Moment fing mein Knochen ganz schrecklich an zu jucken; das weiß ich noch, weil ich zwei T-Shirts und meinen Pulli und meinen Mantel drüber anhatte und mich deswegen nicht kratzen konnte. An meinem Arm gibt es nämlich eine Stelle, wo er gebrochen war, als ich noch ein Baby war. Das hat Maman mir erzählt, obwohl man außen auf der Haut nichts sehen kann. Immer wenn ich Angst habe, juckt der Knochen innen wie verrückt. Als der Mann schlurfend näher kam, dachte ich, ich muss mich ausziehen, jetzt sofort, mitten im Schnee, nur um an die juckende Stelle zu kommen. Ich wollte gerade den Reißverschluss meines Mantels aufmachen, als er genau an mir vorüberging.

Er blieb nicht stehen, sondern nickte uns bloß zu und lief weiter, er folgte seinen eigenen Fußstapfen, den Weg hoch, weg von der Wiese, und sein roter Hund warf uns einen letzten Blick zu, als sie sich der Straße näherten.

Siehst du, sagte Margot, er hat schreckliche Angst vor uns.

Ich grinste seinem schlurfenden Rücken zu, stolz und erleichtert.

An dem Abend erzählte ich Papa von dem Mann. Dass seine Fußabdrücke ungleichmäßig waren und dass sein Hund immer neben ihm herlief, wie durch Zauberei. Ich erzählte ihm, wie wir ihn mit unserem besten grimmigen Gesicht verjagt hatten.

Papa runzelte die Stirn.

Pivoine, sagte er (denn das ist mein anderer Name), Kinder sollten nicht allein über die Felder wandern.

Ich lachte ihn aus, aber er hob mich hoch auf seinen Schoß, machte ein ernstes Gesicht und sah mir genau in die Augen.

Das meine ich ernst, Pea. Bitte versprich mir, dass du nicht mehr alleine dorthin gehst.

Versprochen, sagte ich und kuschelte mich in seine Arme.

Ich erzählte Papa nicht, dass der Mann mit seinem schwarzen Handschuh meine rosane Mütze berührt hatte, als er an mir vorbeiging.

Kapitel 2

Das sind die Regeln beim Versteckspielen: Erstens muss man am richtigen Ort spielen. Es ist Quatsch, mitten auf der Wiese zu spielen oder beim Eselstall. Denn dann ist es zu einfach und man muss sich bald ein neues Spiel überlegen. Nein, man braucht verschiedene Orte zum Verstecken. Die andere Regel ist, dass der, der zählt, nicht heimlich schauen darf. Nicht mal ein bisschen.

Ich und Margot suchen nach einer guten Stelle zum Zählen. Es ist früh am Morgen und noch nicht zu heiß, und während wir gehen, knacken Grillen um unsere Füße herum wie Popcorn. Als wir an die Kreuzung von zwei Feldwegen kommen, bleiben wir stehen und suchen nach der Stelle, wo die große Spinne ihr Netz quer über den Weg gewebt hat. Wir wollen es nicht kaputtmachen.

Da ist es auch schon, wie Wäsche zwischen hohen Grashalmen ausgespannt. Die Grillen knallern überall herum und manche landen sogar auf meinen Armen und meinen Kleidern. Ich schaffe es aber nie, sie zu berühren, weil sie gleich wieder weghüpfen.

Es dauert nicht lange, bis eine im Netz landet. Da hängt sie nun, eine pummelige kleine grüne, sie strampelt mit ihren langen Hinterbeinen und bringt das Netz zum Schwingen wie eine Hängematte. Wir beobachten, wie die Spinne angerast kommt. Sie ist groß und dick und gelb wie eine Aprikose mit Streifen. Sie flitzt um die Grille herum und spinnt sie in Seide ein. Dann repariert sie ihr Netz. Das geht sehr schnell. Wir beobachten, wie sie ihre ganzen Aufgaben erledigt und sich dann wieder in die Mitte ihres Netzes setzt. Später wird sie noch jede Menge Grillen fangen und sie dann alle einwickeln. Das weiß ich, weil wir sie jetzt schon seit drei Tagen beobachten. Morgens hat sie nie Hunger. Erst wenn die Sonne hinter den Bäumen am Ufer des Bachs versinkt und die Bäume ihre Schatten über die ganze untere Wiese ausrollen, kommen wir auf unserem Nachhauseweg wieder an ihr vorbei und dann isst sie gerade zu Abend.

Wenn wir Glück haben, hat Maman sich ein bisschen ausgeruht, bis wir nach Hause kommen, und dann kriegen auch wir unser Abendessen. Denn meistens schläft das Baby in Mamans Bauch nachts nicht, sondern schlägt stattdessen Purzelbäume. Das bedeutet, dass auch Maman wach ist, denn wie soll man schlafen, wenn jemand in einem drin Turnübungen macht? Morgens ist Maman dann normalerweise wegen allem böse. Heute Morgen war sie in so einer Stimmung. Zur Frühstückszeit kam sie nach unten und machte sich, ohne ein Wort zu sagen, einen Kaffee. Dann nahm sie den Kaffee und ein Stück Toast mit nach oben ins Schlafzimmer. Das isst sie dann im Bett, mit vier Kissen im Rücken, während sie darauf wartet, dass das Baby müde wird, damit auch sie endlich einschlafen kann.

Weiter unten auf der Wiese finden wir die perfekte Stelle zum Spielen. Es gibt verschiedene Wege zur Auswahl und Bäume und Heuballen, hinter denen man sich verstecken kann.

Okay, sagt Margot. Ich verstecke mich als Erste.

Das bedeutet, ich muss zählen. Ich kann schon bis über hundert zählen, aber für dieses Spiel zähle ich nur bis elf. Nachdem ich fertig gezählt habe – und zwar ohne heimlich zu schauen, nicht mal ein bisschen –, sehe ich mich um. Ich kann Margot zwar nirgendwo entdecken, aber ich kann sie ganz leicht hören. Sie versteckt sich hinter dem Kirschbaum am Rand der Wiese. Mittlerweile hängen keine Kirschen mehr dran, aber darunter liegen überall die verfaulten und ganz viele Steine herum. Margot ist viel zu laut, weil der graue Esel ihr gefolgt ist und jetzt an ihr schnuppert, um zu sehen, ob sie etwas zu essen dabeihat. Das kitzelt immer so. Ich renne lachend zu ihr rüber.

Hab dich!, singe ich, doch sie sieht mich mit ihrem ernsten Gesicht an, als hätte sie sich sowieso nie versteckt.

Herzlich willkommen in der Bücherei, sagt Margot mit wichtiger Stimme. Jeder darf sich nur ein Buch aussuchen und heute war ich dran. Ich habe mir dieses Buch ausgesucht. Es ist über Skelette.

Sie hält das Buch hoch. Natürlich ist es nur gespielt.

Mit Skeletten kenne ich mich aus. Einmal war ich im Museum und habe Skelette von Dinosauriern gesehen. Skelette sind wie Puzzlespiele für Wissenschafter. Wissenschafter sind Leute, die den ganzen Tag Experimente machen und Puzzles aus Knochen.

Sind das Dinosaurierskelette in dem Buch?, frage ich Margot.

Die Dinosaurier sind tot, antwortet sie. Früher gab es sie mal, aber jetzt sind alle tot. Nicht wie Hexen, die gibt es nämlich gar nicht.

Warum sind sie tot?, frage ich.

Lass mich doch bitte ausreden, sagt Margot. Alle sind irgendwann tot, aber jetzt sind erst mal nur die Dinosaurier und Papa dran.

Und das Baby, ergänze ich.

Ja, stimmt, und das Baby, nickt sie.

Hatten sie auch Skelette?

Na klar, jeder hat ein Skelett, sagt Margot. Bitte hör jetzt gut zu.

Also, sagt sie, so entsteht ein Skelett. Wenn man alt wird, verwandelt man sich in eine Maman und dann wird man noch älter und kriegt Falten und dann stirbt man. Margot hält inne.

Und dann?, frage ich.

Dann kann man nicht mehr reden und ist ein Skelett und dann wird ein großes Fest gefeiert mit belegten Broten, aber mit weniger Kuchen als an Weihnachten. Und dann wird man wieder geboren wie ein Baby und dann kommt ein Polizist und pumpt einen auf, bis man Erwachsenengröße hat.

Das stimmt, glaube ich, nicht so ganz, aber bevor ich nachfragen kann, sagt Margot schon: Keine weiteren Fragen, danke sehr. Und sie klappt das Buch wieder zu. Ich muss das Buch in die Bücherei zurückbringen, bevor sie zumachen, sagt sie und sieht auf die Uhr.

Bin ich jetzt dran mit Verstecken?, frage ich.

Ah, stimmt, das wollte ich auch gerade vorschlagen, sagt sie, aber ich glaube, sie hat überhaupt nicht mehr an das Versteckspielen gedacht.

Aber ich habe mir ein neues und sehr gutes Versteck überlegt, deswegen konnte ich es schon die ganze Zeit gar nicht erwarten, bis ich endlich dran bin. Margot hält sich die Augen zu und fängt an zu zählen. Heute zählt sie auf Französisch. Un, deux, trois

Ich renne den Weg wieder nach oben, springe über die Spinne und dann, statt dem Weg zurück nach Hause zu folgen, nehme ich die linke Abzweigung, als ob ich hoch ins Dorf gehen würde. Als ich um die Kurve stürme, stoße ich mit einem Mann zusammen und uns beiden entfährt ein Schrei.

Es ist er. Er ist groß wie ein Bär, größer als ein normaler Erwachsener, mit grauschwarzen Haaren und haarigen, verschrammten Beinen. Er hat Schuhe aus Gummi an, so ähnlich wie Gummistiefel, nur keine Stiefel. Seine Schuhe sind nass. Er hat eine große Nase, aus der Haare herausschauen wie Spinnenbeine. Sein roter Hund ist nirgends zu sehen.

Wir stehen da und starren uns mit offenem Mund an, ich sehe zu ihm hoch, er sieht auf mich herunter. Dann nimmt er die kleine graue Zigarette zwischen seinen trockenen Lippen hervor und zertritt sie mit dem Fuß. Weißer Rauch schlängelt sich aus seinen Mundwinkeln, wie Würmer.

Du bist doch Pivoine, sagt er langsam. Ich kenne deinen Papa. Er schüttelt den Kopf, als hätte er Sand im Haar. Entschuldige, ich meine natürlich, ich kannte ihn, sagt er.

Ich bin überrascht, dass er einen von meinen Namen kennt, und noch dazu den, der zu Papa gehörte. Manchmal nennt Maman mich Peony, was mein richtiger Name auf Englisch ist. Papa hat ihn auf Französisch gesagt, Pivoine, weil er hier geboren wurde. Beide Namen bedeuten dasselbe, nämlich Pfingstrose, also war es mir egal; aber wenn jemand, den ich gar nicht kenne, mich so nennt, klingt es komisch. Ich weiß nicht, warum ich überhaupt heiße wie eine Blume, noch dazu wie eine, die ich noch gar nie gesehen habe. Normalerweise heiße ich Pea. Pea ist keine Blume, sondern ein Gemüse. Pea heißt nämlich Erbse auf Englisch.

Meistens heiße ich Pea, sage ich zu dem Mann. Und wer bist du?

Inzwischen hat er sich vor mich hingekauert und sieht mir genau ins Gesicht, als ob er mich gleich ausschimpfen wollte. Ich heiße Claude, sagt er. Von Nahem sieht die Stelle an seinem Kopf ohne Haare sehr hässlich aus und er riecht nach Zigarettenrauch, wovon mir ein bisschen schlecht wird.

Dann wird mein Gesicht abgeschleckt.

Merlin! Lass das!, sagt Claude.

Sein Hund ist zu uns hergerannt, um Hallo zu sagen, aber sein Gesicht riecht noch ekliger als das von Claude.

Merlin ist ein lustiger Name für einen Hund, sage ich. Kann er wirklich zaubern?

Ja, in gewisser Weise schon, sagt Claude und streichelt Merlin dabei übers Fell.

Was machst du denn hier so alleine?, fragt er. Er sieht mir immer noch genau in die Augen und mein Knochen fängt an zu jucken, aber seine Stimme klingt freundlich.

Wir spielen Verstecken, antworte ich.

Versteckst du dich oder musst du suchen?

Ich verstecke mich.

Und wer sucht?, fragt er.

Ich frage mich, wo Margot steckt, aber da kommt sie auch schon durch das hohe Gras gerannt und bleibt direkt neben mir stehen. Ich bin also gefunden worden und das Spiel ist vorbei.

Ich habe eine gute Idee, sage ich zu ihr. Komm, wir führen was vor!

Margot und ich führen die ganze Zeit Sachen vor, das können wir nämlich gut. Margot kann am besten tanzen und ich kann am besten singen.

Au ja!, ruft Margot. Ich tanze einen Flamencotanz und du musst dazu klatschen.

Und ich singe ein Lied über Marienkäfer, erkläre ich Claude.

Und du musst zuschauen, befehlen wir ihm.

Gefallen dir unsere Kleider?, fragt Margot.

Ja, na gut, sagt er, runzelt ein wenig die Stirn und sieht mich an, als würde er erwarten, dass ich einfach so loslege mit dem Singen.

Hier doch nicht!, sage ich. Du musst erst auf deinen Platz und wir müssen auf die Bühne. Dort drüben, komm!

Claude ist ein komischer Erwachsener: Er macht, was man ihm sagt. Merlin läuft den ganzen Weg bis hinunter zum Kirschbaum neben ihm her und als Claude sich brav hinsetzt, nimmt Merlin neben ihm Platz und öffnet ein wenig den Mund, sodass es aussieht, als würde er lächeln.

Ich bin die Ansagerin der Vorstellung und kündige zuerst Margot an. Meine Damen und Herren, ich bitte um Applaus für Margot, die einzigartige spanische Flamencotänzerin!

Sie kommt in Wirklichkeit gar nicht aus Spanien, aber wir tun einfach so. Ich fange an, in die Hände zu klatschen, als würde ich mit Maracas rasseln, und Claude sieht zu.

Du musst auch klatschen!, fordere ich ihn auf. Er versucht es, aber ehrlich gesagt kann er es nicht so gut und außerdem sieht er sich ständig dabei um.

Als Margot fertig ist, macht sie eine tiefe Verbeugung und ich klatsche Beifall und juble. Claude klatscht ebenfalls. Dann kündigt Margot mich an und ich stehe auf der Bühne und bin ein bisschen nervös. Das Marienkäferlied ist ziemlich lang und manchmal verwechsle ich die Wörter und dann muss ich manche Stellen noch mal singen. Während ich noch singe, holt Claude ein glänzendes grünes Päckchen hervor und fängt an, sich eine Zigarette zu drehen.

Rauchen verboten!, schreit Margot, aber er hört trotzdem nicht damit auf. Also macht er doch nicht immer, was man ihm sagt.

Als wir fertig sind, machen wir Knickse und Verbeugungen und Claude macht einen Applaus. Dann steht er langsam auf und sagt, na gut, ich glaube, ihr müsst los, eure Maman fragt sich sicher schon, wo ihr steckt.

Nein, tut sie nicht, sagt Margot.

Ich bringe euch noch über die Straße, sagt er.

Wir können sehr gut allein über die Straße gehen, erkläre ich ihm. Ich bin schon fünfeinhalb.

Na gut, aber wärt ihr dann vielleicht so freundlich, mir Gesellschaft zu leisten? Claude reibt sich die Schweißtropfen vom Kopf und wischt die Hände an der Hose ab. Merlin leckt seine Hand.

Na klar, sage ich, weil das höflich ist.

Mit Claude kommt man nur langsam voran. Während er den Weg entlanggeht, rennen Margot und ich voraus und wieder zurück. Manchmal bleiben wir stehen und gucken uns Käfer und Blumen an.

Hast du Freundinnen aus dem Dorf, mit denen du spielst?, fragt Claude, als er uns eingeholt hat. Während er darauf wartet, dass ich antworte, beobachtet er mich scharf.

Margot ist meine Freundin, sage ich.

Ja, sagt er, aber was ist mit Kindern aus dem Dorf oder aus der Schule?

Seit Papa tot ist, bin ich nicht so oft in die Schule gegangen, sage ich.

Warum? Ging es dir nicht gut?

Doch, mir ging es gut, sage ich. Ich war damit beschäftigt, Mamans Freundin zu sein.

Claudes rote Haut schlägt Falten auf der Stirn wie Wellen an der Küste. Ich will keinen Ärger bekommen. Im September, sage ich, komme ich auf die große Schule und dann gehe ich jeden Tag.

Das ist schön, sagt Claude. Da wirst du ganz viele Freundinnen finden. Ein kleines Mädchen wie du sollte ganz viele Freundinnen haben.

Die Luft wird langsam kühler und in unseren Bäuchen donnert es, als wir zurück ins Haus rennen. Ich knalle die Tür zu, ich bin so aufgeregt, dass ich gar nicht mehr dran denke, dass Maman ja schlechte Laune hatte. Im Haus riecht es nach Mürbeteig und mir läuft das Wasser im Mund zusammen, und auf dem Tisch entdecke ich eine Quiche unter einer Fliegenhaube. Irgendwie ist eine Fliege darunter geraten, die jetzt wütend in ihrem Gefängnis herumschwirrt. Ich lasse sie raus und ein salzig-süßer Geruch kommt mir entgegen. Bevor ich sie aufhalten kann, bewegen sich meine Finger schnell zu der Kruste und brechen ein Stück ab.

Margot wackelt mit dem Finger. Die Fliege hatte Aa an den Füßen und ist damit über die ganze Quiche gelaufen, sagt sie.

Ich sehe nirgendwo Aa.

Margot zieht die Augenbrauen hoch. Ich kann es auch nicht sehen, aber Fliegen haben eben sehr kleine Füße.

Dann sind es bestimmt auch nur ganz kleine Stückchen Aa.

Ja, aber trotzdem ist es Aa. Vielleicht sind es ganz verschiedene Arten Aa. Hunde-Aa und Kuh-Aa. Und alles auf der Quiche. Iss lieber nichts davon, Pea.

Ich mustere die Kruste in meiner Hand, gold und bröselig. Ich sehe nirgendwo Aa. Die Fliege versucht, sich auf meine Hand zu setzen, und schnell stopfen meine Finger den Mürbeteig in meinen Mund.

Margot sieht mir zu. Und?

Lecker, sage ich.

Schmeckt es nicht nach Aa?

Überhaupt nicht.

Kann ich dann auch ein bisschen abbekommen?

Ich breche ein zweites Stück vom Rand ab, damit jeder gleich viel bekommt, und wir lecken uns die Lippen. Dann sausen wir ins Wohnzimmer, wo wir Maman finden.

Maman sitzt seitlich am Sekretär, um sie herum sind überall Papiere und Ordner. Ihre Füße liegen auf einem Hocker und ihre Wangen sind rosa.

Maman, rufe ich, wir haben einen neuen Freund!

Sie blickt hoch und ihre Schultern seufzen. Ihre Haare sind mit einem grünen Schal zurückgebunden, kleine Schweißperlen laufen seitlich an ihrem Gesicht herunter. Sie riecht nach Zitrone.

Wo bist du gewesen?, fragt sie.

Auf der unteren Wiese, erzähle ich ihr. Wir haben eine riesengroße Spinne gesehen, die lauter Grillen gefangen hat, und die Äpfel sind fast reif zum Essen und wir haben einen neuen Freund gefunden.

Das ist schön, Pea, sagt sie und blättert die Papiere auf dem Schreibtisch durch. Sie seufzt wieder und wischt sich mit dem Arm über die Stirn. Dann betrachtet sie angestrengt irgendwas an einem der Balken an der Decke. Es ist alles so ein Durcheinander, sagt sie leise.

Ich sehe mich im Zimmer um. Ich habe ein paar Kuscheltiere und mein Kartenspiel auf dem Boden liegen lassen.

Entschuldigung, Maman, ich räume es gleich weg.

Nur einen Moment lang tauchen ihre Augen wieder in den Augenwinkeln auf und sie öffnet langsam die verschränkten Arme.

Hast du schon was gegessen?, sagt sie.

Ich glaube, dass wir uns gleich umarmen werden, strecke die Arme aus und komme ein paar Schritte näher. Brot, sage ich, und Pfirsiche. Aber genau in dem Moment, als ich so nahe bin, dass ich sie berühren kann, hüpft ihr Bauch und sie klappt ihren Oberkörper darüber wie den Teigdeckel auf eine Pastete.