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Renate Schmidt

Lasst unsere Kinder wählen!

Kösel

Copyright © 2013 Kösel-Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlag: Weiss Werkstatt, München

ISBN 978-3-641-10905-9

www.koesel.de

Dieses Buch ist Johanna, Mona, Hannah, Eva, Gabriel und Emilian gewidmet.

Inhalt

Statt eines Vorwortes

Der demografische Wandel ist gegenwärtig und konkret

Unterschiedliche Interessenlagen der Generationen

Vom Objekt zum Subjekt – Kinder haben Rechte

Der Zukunft eine Stimme geben

Was ist, wenn …?

Ein Zwischenresumee

Von der Theorie zur gesetzgeberischen Praxis

Alle Generationen profitieren von einem Wahlrecht von Geburt an

Zum guten Schluss

Danksagung

Literatur

Statt eines Vorwortes

Im Jahr 2012 habe ich für eine Essay-Reihe der Frankfurter Rundschau und des Nordwestradio einen Beitrag verfasst, einen fiktiven Brief an meine jüngste Enkelin, datiert auf Neujahr 2042.

Liebe Enkelin,

dieses Jahr wirst Du 30 und ich kurz danach 99. In meinem Alter weiß man nicht so genau, ob man den nächsten Tag noch erlebt, deshalb dieser Brief. Obwohl: Es gibt in der Zwischenzeit so viele, die noch älter sind, sodass die Bundespräsidentin längst nicht mehr zum 100. gratuliert, weil sie dann tagelang unterschreiben müsste. Ich schreibe Dir diesen Brief aber auch, weil ich mir einiges von der Seele reden will, und auch, damit Du manches besser verstehst.

Als ich so alt war wie Du, war es normal, Kinder zu haben. Als Du ein Kind warst, kamen schon auf ein Kind unter 18 Jahren sechs Erwachsene – heute sind es neun. Wir hatten uns eingerichtet in einer Gesellschaft ohne Kinder. Aber um welchen Preis? Wir sind eine Altenrepublik geworden, in der das, was früher Wohlstand genannt wurde, rapide abgenommen hat. Wirtschaftswachstum in der Definition des Jahres 2011 gibt es heute nicht mehr – weil die Jungen fehlen.

Dass dennoch die Armut nicht zugenommen hat, ist ein Wunder – das Wirtschaftswunder Eurer Generation. Ihr habt anders als wir gelernt, nachhaltig zu wirtschaften und einen neuen ganz anderen Wohlstandsbegriff gefunden, der nicht immer nur mehr, größer, schneller bedeutet.

Der demografische Wandel, den Du in unserer Familie leibhaftig erlebst (Urgroßmutter Schmidt mit ihren drei Kindern hat nur noch eine Urenkelin, Deine Nichte), war seit 1980 ein – vernachlässigtes – Thema. Die Berechnungen von Bevölkerungswissenschaftlern wurden belächelt, die notwendige Konsequenz nicht gezogen: die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Jahrzehntelange ideologische Streitereien haben lange verhindert, dass es mehr und bessere Kitas gab, und die Unternehmen sahen es noch bis ins Jahr 2015 meistenteils nicht als ihre Aufgabe an, ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern das Elternsein zu erleichtern. Auch wenn sich das zu meiner Amtszeit – Du weißt, dass ich mal Politikerin war – zu ändern begann, ging das alles viel zu langsam.

Deutschland war weltweit Schlusslicht bei der Geburtenrate und gleichzeitig Schlusslicht bei der Frauenerwerbsquote. Letzteres gehört Gott sei Dank der Vergangenheit an. Heute brauchen Mütter und Väter nicht um ihren Arbeitsplatz fürchten, wenn sie sich um ihr Kind kümmern. Ich schreibe ausdrücklich Kind, denn nur die wenigsten können sich mehrere leisten. Obwohl das Renteneinstiegsalter jetzt 75 Jahre ist, sind Steuern und Sozialabgaben so hoch, dass für diejenigen, die sich doch für ein Kind entscheiden, kein finanzieller Spielraum für weitere Kinder besteht.

Etwas für Kinder durchzusetzen, das wurde zu meiner Zeit immer schwieriger. Heute ist es eine Selbstverständlichkeit, die Interessen der Minderheit der Kinder gleichwertig zu denen der Mehrheit der Alten zu sehen. Ich glaube, das liegt auch daran, dass Ihr vor 25 Jahren endlich die Grundrechte von Kindern in die Verfassung geschrieben habt und das Wahlrecht von Geburt an seit mehr als 20 Jahren Realität ist.

Mindestens so wichtig wie ein Kindergartenplatz ist für Deine Generation heute ein »Altengartenplatz«, also ein Platz in einem Alten-Tagesheim. Die Alzheimer-Krankheit ist zwar besiegt worden, die Horrorvision des Jahres 2010 von drei Millionen Pflegeheimplätzen für Demente hat sich nicht bewahrheitet. Wir Alten werden heute in unserer Selbstständigkeit technisch hervorragend unterstützt. Ich trage ein Armband, das jede kritische medizinische Veränderung automatisch an eine Zentrale meldet, von der Hilfe kommt. Und ohne meinen kleinen Haushaltsroboter wäre ich schon längst nicht mehr selbstständig. Aber in der Generation 90+ können sich dennoch nicht mehr alle ganztags alleine versorgen.

Nachdem Du vielleicht für Deine Mutter und Deinen Vater und Deine Großmutter sorgen müsstest und gleichzeitig berufstätig sein musst, sind solche Tagesheimplätze trotz bezahlter Pflegezeit ein Muss. Eigentlich hätten wir sie schon früher gebraucht, aber meine Generation hat lange Zeit den Gedanken an die eigene Pflegebedürftigkeit, Behinderung und den eigenen Tod zu sehr verdrängt.

Es ist schon erstaunlich, wie Ihr das alles schafft, Ihr kümmert Euch um Eure Alten und um – soweit vorhanden – Eure Kinder, geht Vollzeit Euren Berufen nach, engagiert Euch auch noch freiwillig.

Ihr lebt bescheiden und dabei glücklich, Verteilungskämpfe gehören der Vergangenheit an, das von Euch eingeführte bedingungslose Grundeinkommen hat Kinderarmut beseitigt und eine neue Altersarmut nicht entstehen lassen.

Dir wünsche ich zu Deinem Geburtstag, dass Du den netten jungen Mann, mit dem Du mich in letzter Zeit immer besuchst, heiratest, und dass Ihr Euch für Kinder entscheidet, denn Kinder sind ein großes Glück – auch für Urgroßmütter.

Sei umarmt von

Deiner Großmutter Renate

Warum dieser Brief als Vorspann für ein Buch mit dem Titel »Lasst unsere Kinder wählen«?

Weil mich in meinem politischen und privaten Leben eigentlich immer nur die Frage bewegt hat, was muss ich tun, was kann ich tun, damit unsere Gesellschaft die Welt ein kleines bisschen besser hinterlässt, als ich sie vorgefunden habe. Im privaten Bereich mag mir das einigermaßen gelungen sein, im politischen viel zu wenig, nicht zuletzt auch deshalb, weil die Interessen von Kindern eine immer geringere Rolle spielen.

Nun gibt es dafür keinen »Königsweg«. Aber ein Wahlrecht von Geburt an, ein Wahlrecht für Kinder könnte ein Baustein für solch einen Weg sein. Ich habe den Vorschlag für ein solches Wahlrecht bereits in meinem Buch »S. O.S. Familie – ohne Kinder sehen wir alt aus« im Jahr 2002 gemacht. Es sind nun elf Jahre vergangen und seither mehrere Versuche gestartet worden, ein Kinderwahlrecht einzuführen, Generationengerechtigkeit und Kindergrundrechte in die Verfassung aufzunehmen – leider blieben alle erfolglos. Deshalb ist dieses Buch ein einseitiges, parteiisches Plädoyer für ein Wahlrecht von Geburt an:

Einseitig, weil mich die Gegenseite mit ihren Argumenten nicht zu überzeugen vermochte, parteiisch, weil ich für die heutigen und zukünftigen Kinder Partei nehme.

Mein Parteifreund, der ehemalige Präsident des Oberlandesgerichts Braunschweig, Rudolf Wassermann (1925–2008), der in der Frage des Kinderwahlrechts nicht Freund sondern Gegner war, sagte in einem Vortrag:

»Das Kinderwahlrecht ist eine Utopie: ein unausführbarer Plan ohne reale Grundlage. Es tut mir leid, dies und nichts anderes sagen zu können – leid, wenn ich an die engagierten Frauen und Männer denke, die sich diesem Projekt verschrieben haben – und dies keineswegs – ich weiß es wohl – um ihrer Profilierung willen.

Das wird für viele eine bittere, sie schmerzende Feststellung sein. Aber Sie haben mich eingeladen, um meine Meinung zu hören und keine Laudatio zu halten. Trösten mag das Dichterwort: ›Den lieb ich, der Unmögliches begehrt‹ – ein Diktum, dem ich mich gerne anschließe.«

Ich habe in meinem Leben selten oder nie »Unmögliches begehrt« und für mich ist das Wahlrecht von Geburt an keine Utopie im Wassermann’schen Sinne, sondern ein realistisches und umsetzbares Konzept.

Der demografische Wandel ist gegenwärtig und konkret

Eine nicht sehr lang zurückliegende Umfrage ergab, dass sich 50 Prozent der Bevölkerung unter dem »demografischen Wandel« nichts vorstellen können. Viele der übrigen meinen zudem, dass man nicht in die Zukunft schauen könne und dass es vielleicht nicht so schlimm werden wird.

Und nicht zuletzt wird auch von denen, die wissen, was der demografische Wandel bedeutet und ihn ernst nehmen gesagt »es ist fünf vor zwölf«. Nein, es ist nicht fünf vor, es ist mindestens zehn nach zwölf. Wir stecken mitten im demografischen Wandel. Dieser kommt schleichend daher und viele Indizien sprechen für ihn.

Hier eine Auswahl:

Wenn die BILD-Zeitung den Aufmacher: »Skandal: Rentenerhöhung nur 0,2 Prozent« wählen würde, könnte sie sich einer hohen Auflage ziemlich sicher sein. Der Aufmacher: »1,7 Millionen Kinder in Armut« ist eher ein Ladenhüter und Berichte darüber findet man daher – wenn überhaupt – eher im Inneren dieser und anderer Zeitungen.

Die Diskussion über Altersarmut beherrscht die öffentliche Diskussion jetzt schon über viele Monate (obwohl nur zwei Prozent der über 65-Jährigen als arm gelten), die über Kinderarmut findet nicht statt, obwohl sie 10 bis 15 Prozent der Kinder betrifft und aktueller ist, als je zuvor.

In den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts lebten 125.000 Kinder von Sozialhilfe, derzeit sind es, je nach Wirtschafts- und Arbeitsmarktsituation, zwischen 1.700.000 und 2.200.000, die von Arbeitslosengeld II (Hartz IV) leben. Dieser Zustand hält sich nun schon seit zwei Jahrzehnten.

Unsere kinderentwöhnte Gesellschaft stört sich jedoch nicht daran. Das ist zwar bedauerlich, aber nicht verwunderlich. Denn nahezu jede und jeder Erwachsene im aktiven Erwerbsalter hat alte Eltern, aber nur in rund zwanzig Prozent – mit abnehmender Tendenz – der Haushalte leben Kinder unter 18 Jahren.

Damit sind wir mitten drin in der Demografie und der damit einhergehenden Veränderung von Interessen: Eine nachvollziehbare Veränderung, denn alle haben als Perspektive ein hohes Alter vor sich, die Geburtenrate sinkt und wir selbst können auch nie mehr Kinder werden.

Der demografische Wandel betrifft alle

Heute gibt es in Deutschland rund 41 Millionen Erwerbstätige. Bei gleichem Renteneintrittsalter von derzeit knapp 64 Jahren, bei gleicher Geburtenrate von rund 1,4 Geburten pro Frau (und Mann, denn Männer haben auch nicht mehr Kinder als Frauen), bei gleicher Erwerbsbeteiligung von Frauen von rund 70 Prozent und gleicher Art und gleichem Umfang der Einwanderung nach und Abwanderung von Deutschland, hätten wir, nach Berechnungen von Bevölkerungswissenschaftlern, im Jahr 2040 gerade mal noch 24 Millionen Erwerbstätige mit einem Durchschnittsalter von über 45 Jahren.

Was das für Forschung und Innovation bedeutet, was das über den Arbeitsmarkt und die sozialen Sicherungssysteme aussagt, haben wir uns bisher genauso wenig konkret vorgestellt, wie das, was es für uns selbst bedeutet.

Ich möchte im Jahr 2040 noch leben. Ich wäre dann 97 Jahre alt, meine drei Kinder 79, 77 und 70. Sollen mich dann diese drei Kinder pflegen?

Es muss uns irgendwann klar werden, dass unsere eventuell vorhandenen Aktiendepots absolut ungeeignet sind, uns bei Bedarf zu pflegen, unser Immobilienbesitz uns nicht zum Arzt und zum Einkaufen fahren kann. Und auch unsere Sparguthaben sind nicht in der Lage, uns die Dienstleistungen zu bieten, die wir dann brauchen, angefangen vom Brötchen backen bis hin zur medizinischen Versorgung.

tätigkeit, höheres faktisches Renteneintrittsalter, künftig stei