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Über dieses Buch:

Wir bestellen im Internet, wir kommentieren Social-Media-Fotos, wir gehen leichtsinnig mit scheinbar harmlosen Daten um – und bringen uns damit in tödliche Gefahr … Am Ufer des Rheins wird die Leiche eines jungen Mannes gefunden, dem mit chirurgischer Präzision alle lebenswichtigen Organe geraubt wurden. Obwohl die Kommissarin Lia Willach noch schwer mitgenommen ist von einem früheren Fall, stürzt sie sich in die Ermittlungen. Schnell findet sie Spuren, die zu einer internationalen Organisation führen, die im Auftrag reicher Kunden vor nichts zurückschreckt … und übersieht dabei, dass sie so selbst ins Visier einer geheimen Polizeieinheit geraten ist, die alles tut, um die Organmafia zu stoppen – wirklich alles.

Eine eiskalte Verbrechensserie mit erschreckend realistischen Hintergründen – ein deutscher Thriller, wie es ihn lange nicht gegeben hat.

Über die Autorin:

Stefanie Koch, geboren 1966 in Wuppertal, studierte in Frankreich, arbeitete in Italien, Thailand und Bangkok und lebt heute in Düsseldorf, wo sie unter anderem als Datenschutzbeauftragte in einem Stromkonzern tätig ist. Seit 2003 veröffentlicht sie erfolgreich Thriller und Kriminalromane, sowohl unter ihrem echten Namen als auch unter dem Pseudonym Mia Winter.

Die Autorin im Internet: www.stefanie-koch.com

Bei dotbooks erschienen bereits Stefanie Kochs Kriminalroman »Hurenpoker«, der rabenschwarze Kurzroman »TRULLA – Mord ist immer eine Lösung« sowie die erfolgreiche Krimiserie rund um den Düsseldorfer Kommissar Lavalle:

»KOMMISSAR LAVALLE – Der erste Fall: Im Haus des Hutmachers«

»KOMMISSAR LAVALLE – Der zweite Fall: Die Karte des Todes«

»KOMMISSAR LAVALLE – Der dritte Fall: Die Stunde der Artisten«

»KOMMISSAR LAVALLE – Der vierte Fall: Der Kopf der Schlange«

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Originalausgabe Dezember 2012, September 2021

Copyright © der Originalausgabe 2012, 2021 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Dr. Annika Krummacher

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, Memmingen, unter Verwendung verschiedener Motive von shutterstock/Naffarts, Sergey Niven und kristun

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)

ISBN 978-3-95520-048-0

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Stefanie Koch

CROSSMATCH
Das Todesmerkmal

Thriller

dotbooks.

Für Burkhart Simon

Prolog

Die fahrbare Liege wurde neben den OP-Tisch gerollt und arretiert. Das leise Klicken drang in sein Bewusstsein und weckte ihn. Instinktiv begriff er, dass das helle, gleißende Licht über ihm nichts mit dem Licht zu tun hatte, von dem Nahtoderfahrene manchmal zu berichten wussten. Er spürte keine Angst, trotz der seltsamen Gewissheit, dass er das, was in diesem Augenblick mit ihm passierte, nie jemandem würde erzählen können.

»Valium und Succhi?«, hörte er links neben sich.

»Laufen ein.« Eine Frauenstimme von rechts.

»Gut, dann intubieren wir in fünf Minuten. Die Parameter?«

»187 Zentimeter groß, 78 Kilo schwer, 24 Jahre, keine Narben, keine bekannten Vorerkrankungen, keine familiär gehäuften Erkrankungen, Sportler. Blutgruppe 0. Tumormarker: alle negativ, HIV und Hepatitis: negativ, Entzündungsparameter im Normbereich. Gewebemerkmale wie gewünscht. Computertomographie und Angiographie zeigen alle Organe regelrecht.«

Einen kurzen Moment wehrte er sich gegen die Benebelung durch die sedierenden Medikamente und suchte vergeblich nach einer Erklärung, warum er hier lag. Sein Leben war harmonisch, er hatte gerade geheiratet, sie erwarteten ihr erstes Kind. Seine Freunde mochten ihn. Niemand wollte ihm Böses.

Dann wurde sein Mund geöffnet und mit einer Spange versehen. Er spürte einen kurzen Würgereiz. Plötzlich empfand er eine angenehme Schwerelosigkeit.

»Weiter bebeuteln, Gesicht abdecken!«, waren die letzten Worte, die er hörte. Die folgenden Kontraktionen und Zuckungen nahm er schon nicht mehr wahr. Es folgte die komplette Erschlaffung und Lähmung seiner gesamten Skelettmuskulatur. Der Hautschnitt von der Symphyse bis zum rechten Rippenbogen erregte seine peripheren Nervenzellen, doch der elektrische Impuls drang nicht mehr in sein Gehirn vor, das gerade für immer ausgelöscht wurde.

Montag, 12. Dezember

Lia streckte ihren Rücken durch und stöhnte. Das Zifferblatt neben Julians Bett zeigte 01:34. Das grüne Licht der Notbeleuchtung ließ sein schlafendes Gesicht fremd aussehen. Langsam zog sie ihre Hand von seinem warmen Unterarm. Julians aufgesprungene Lippen und Augenlider zuckten, dann lag er wieder still.

Seit Monaten lag er hier. Still. Sie schloss die Augen und ballte ihre Fäuste – zu groß war der immer wiederkehrende Wunsch, ihn zu schütteln.

»Er wird nie mehr wie früher«, hatte der Professor ihr in den vergangenen sechs Monaten versucht, begreiflich zu machen. So lange, bis sie anfing, seine medizinischen Erklärungen abzulehnen, weil sie letztlich nur ihren Glauben zersetzten. Ihren Glauben daran, dass er doch eines Tages wieder der alte Julian sein würde – lachend, frei, lebenslustig.

Sie nahm ihren Fellmantel vom Stuhl, wickelte den Wollschal um ihren Hals, prüfte, ob die Pistole im Halfter unter dem Arm und der Autoschlüssel in der vorderen Hosentasche waren.

»Bis nächste Woche, oder wenn ich es schaffe, auch früher.« Das Wort Liebster schluckte sie hinunter. Als sie ihn auf die Stirn küsste, spürte sie ihre Erleichterung darüber, gehen zu können, und zugleich das Gefühl, ihn zu verraten. Vorsichtig streichelte Lia über die verheilte Wunde an seinem Hals.

Unendlich oft hatte sie diesen Sommertag vor ihrem geistigen Auge wiederholt. Julian hatte geheimnisvoll getan, wollte ihr etwas ganz Außergewöhnliches zeigen. Die Rheinuferstraße auf der Oberkasseler Seite, alle Rheinauen von Düsseldorf übersät mit Menschen in Badekleidung – wer konnte, suchte Abkühlung vor der drückenden Hitze. Sie fuhren mit geöffneten Fenstern, und Lias Haare flatterten im Fahrtwind. »Ich werde dir gleich jemand ganz Besonderen vorstellen«, hatte Julian gegen den Lärm der Musik gerufen. Plötzlich dieses unverkennbare zischende Geräusch einer Kugel, die an Lia vorbei Julians Halsschlagader traf. Einen Moment war die Welt völlig lautlos geblieben, dann kam der Aufprall auf ein geparktes Auto. Julian verlor das Bewusstsein und hatte ihr nicht mehr sagen können, wo er mit ihr hinfahren und wen er ihr hatte vorstellen wollen.

Wie lebendig hatte Lia sich bis zu diesem Tag gefühlt: berührt, beschützt, geliebt von dem Mann, der ihr alles bedeutete. Sie hatte um die Aufklärung des Mordanschlags gekämpft und verloren, sie hatte um ihre Liebe gekämpft und spürte, dass sie auch diesen Kampf verlieren würde.

Der Flur des luxuriösen Pflegeheims, das Julians Eltern finanzierten, war dunkel und leer. Im Schwesternzimmer brannte eine kleine Lampe neben der Kaffeemaschine. Schwester Renate war offenbar auf einer anderen Station unterwegs. Lia schrieb ihr eine kurze Notiz, dass sie jetzt weg sei.

Die kalte Nachtluft schmerzte beim Einatmen. Wie kann eine Welt so leer sein, dachte sie, als sie über das endlose Weiß des Parks blickte. Der Schnee knirschte unter ihren schweren Polizeistiefeln, und als sie den Schlüssel mit klammen Fingern aus der Jeanstasche zog, flatterte der letzte Zettel von Julian lautlos zu Boden.

Lia zögerte einen Moment.

»Sie müssen lernen loszulassen«, hatte ihr der Polizeipsychologe dringend geraten. »Es ist auch für ihn besser, entlassen Sie Julian in seine Welt.«

Ihre Knie knackten, als sie in die Hocke ging, um den Zettel aufzuheben. Es war das Einzige, was Julian manchmal tat: Zettel mit Kreisen, Kästchen oder Linien versehen. Sie war noch nicht bereit, die Zettel einfach liegen zu lassen, aber sie hatte aufgegeben, in ihnen eine Kommunikationsform zu finden.

Als Lia die Südbrücke erreichte, war ihre Haut spröde von den lautlos geweinten Tränen. Sie galt als Optimistin, willensstark und mutig, aber in letzter Zeit verselbständigte sich manchmal die Idee in ihrem Kopf, sich in den Rhein zu stürzen. In Nächten wie diesen wurde die Sehnsucht jedes Mal ein winziges bisschen stärker. Sich einfach in das eiskalte Wasser sinken lassen, wie in ein frisch gemachtes Bett, und willenlos von einem Strudel in die Tiefe gezogen werden, um ewig zu schlafen. Nie wieder aufzuwachen, hieße auch, nie wieder denken zu müssen: Er kommt nicht zurück.

Ihr Bordcomputer meldete sich, dann erschien »Schüttler ruft an« auf dem Display. Als Julian noch Julian war, hatte sie ihre Bereitschaftstage mehr und mehr gehasst. Jetzt übernahm sie jeden Dienst bereitwillig, denn die Arbeit rettete sie auch.

Sie drückte auf den Knopf: »Ja?«

»Wo steckst du?«

»Südbrücke.«

»Gutes Timing. Wir haben eine Leiche an der Kniebrücke, linksrheinisch.«

»Bin unterwegs. Schon jemand da?«

»Fred und die Gerichtsmedizin in Gestalt von Bauer und wer sonst noch so alles an einen gedeckten Tisch gehört. Wir treffen uns da.«

Es klickte.

Lia hielt einen Moment auf der Rheinkniebrücke und blickte zu der unwirklichen Szene hinunter. Das Ufer war bis zur Oberkasseler Brücke hell erleuchtet. Riesige Scheinwerfer verwandelten mit ihrem grellen Licht die zugeschneite Wiese am Fluss in eine Mondlandschaft. Auf der Straße standen mehrere Polizeiwagen hintereinander. Vermummte Gestalten rannten am Ufer umher und beugten sich dabei nach vorn, als könnten sie sich damit vor der Kälte schützen. In regelmäßigen Abständen stießen sie kleine Atemwölkchen aus.

Gegenüber, auf der anderen Rheinseite, lag die Altstadt, ihr Kinderspielplatz und Zuhause bis heute, links durch die Oberkasseler, rechts durch die Rheinkniebrücke umrahmt. Beide Brücken waren gesperrt, was um vier Uhr morgens noch nicht für Verkehrschaos sorgte, sondern für Grabesstille rund um den Fundort.

Vorsichtig glitt sie durch die vereiste Kurve hinunter zur Rheinuferstraße, parkte hinter den anderen Autos, zeigte mechanisch ihren Ausweis und passierte die Absperrung. Ein Kollege aus dem Streifendienst reichte Lia Gummistiefel, die sie mit auf die Wiese nahm und dort einfach fallen ließ, denn irgendwas an diesem Tatort war völlig anders und irritierte sie. Der Gerichtsmediziner kam ihr entgegen und sagte: »Das Kerlchen liegt da schon ʼne Weile, er ist übers Wasser gekommen, kein Selbstmord.«

»Woher weißt du das so schnell?«

Bauer grinste. »Der Narbe nach wurde der Mann explantiert, Selbstmord war da nicht mehr nötig.« Er stelzte zurück Richtung Leiche.

»Ich bin der Praktikant, kann ich was tun?«, hörte Lia hinter sich und seufzte. Den hatte sie total vergessen.

»Wer hat dich denn geweckt? Dein Praktikum beginnt doch erst um acht.«

»Der Herr Schüttler.«

»Ah ja, na dann. Du hast ja schon die richtigen Stiefel an, geh nach vorn zu Bauer, das ist der Dünne da am Wasser. Ich kann dich im Moment nicht brauchen.« Es klang barscher als beabsichtigt. Sie wollte ihn zurückrufen, tat es aber nicht, sondern folgte ihm mit dem Blick, sah ihn kurz mit Bauer sprechen, der auf das Wasser zeigte. Während Lia überlegte, was »explantiert« bedeuten mochte, sah sie, wie der Praktikant nach rechts weglief und seinen Magen in den frisch gefallenen Schnee entleerte. Instinktiv ging sie zwei Schritte zurück und rempelte gegen einen Scheinwerfer, der leicht schwankte.

»Schätzchen«, sagte der kleine, kompakte Fred von der Spurensicherung, »du kommst nicht umhin, dir die Schweinerei da vorn anzusehen.« Er machte eine bedeutungsvolle Pause, seufzte und zog die Fellmütze über die Ohren. »Es ist zwar nur der Fundort, und die Leiche ist uns über den Rhein zugetragen worden, aber ansehen musst du es dir.«

»Wie wahnsinnig klug du bist.« Sie grinste ihn an.

»Mylady, darf ich bitten?« Nur Fred war in der Lage, unter solchen Umständen seinen Humor zu behalten, trotzdem spürte sie, dass es dieses Mal etwas ganz anderes war. Lia band ihre langen schwarzen Haare zu einem Zopf und griff dankbar nach Freds Hand.

»Tu mir nur einen Gefallen: Wenn du kotzen musst, dann nicht auf meinen Mantel.«

Lia grinste, sie hatte sich tatsächlich einmal auf seinen Mantel übergeben, es war ganz zu Anfang ihrer Laufbahn gewesen, die erste Kinderleiche. Unter den Sohlen ihrer Stiefel knackte hier und da das Eis einer Pfütze. Lia zog ihren Schal vor die Nase.

»Keine Angst, der ist gefroren, der riecht nicht.«

»Mir ist einfach nur kalt«, gab sie zurück.

»Wer hat eigentlich diesen Lausbuben hierhergeschickt?«, fuhr Bauer sie an. Lia hob ratlos die Schultern und kniff die Augen zusammen, als müsste sie ihre Pupillen auf scharf stellen, denn das, was da seltsam verrenkt im Uferschlamm festgefroren und teilweise von Schnee zugedeckt war, gab ein so fremdes Bild ab, dass ihr Gehirn es nur ganz langsam, wie in Zeitlupe, zuließ.

In den leeren Augenhöhlen war Rheinwasser gefroren. Den nicht vom Schnee zugedeckten Teil der Leiche überzog eine Eisschicht, auf der kleine Kristalle zu tanzen schienen. Die Narbe vom Schambein bis zum Hals war schwarz und erinnerte Lia an ihren alten Stoffbären, den ihre Mutter nach einem Missgeschick wieder zugenäht hatte. Die linke Hand des Toten krallte sich in den Uferschlamm, die rechte lag wie ein Kissen unter seinem Kopf. Lia atmete flach.

»Das war Schüttler«, beantwortete sie Bauers Frage. Dann trat sie vorsichtig näher und löste sich von Freds Hand. Trotz der Grausamkeit des Gesamtbildes verspürte Lia den Wunsch, diesen verletzten Toten zu umarmen. Der Anblick berührte sie im Innersten, und für einen kurzen Moment lag wieder Julian vor ihr mit der Halswunde, aus der rhythmisch das Blut spritzte.

Ihr Vorgesetzter, Alexander Schüttler, trat neben sie. »Was denkst du?«

Lia schob ihre kalten Hände in die mit Fell gefütterten Manteltaschen.

»Ich habe so eine Leiche noch nie gesehen. Du?«

Schüttler nickte bedeutungsvoll. »Südamerika, Indien, Ägypten, nur sind sie da nicht wieder zugenäht. Stimmt’s?« Er sah den Gerichtsmediziner an.

Bauer arbeitete seit über 30 Jahren in der Gerichtsmedizin. Sein Rücken war krumm von der Zeit, als die Sektionstische noch eine Standardhöhe gehabt hatten. Lia ging so nah wie möglich an den Leichnam heran. Hinter ihr gab Bauer seinen Mitarbeitern präzise Anweisungen, zeigte hierhin und dorthin. Ein paar vermummte Polizisten stocherten vorsichtig im Schnee.

»Um zehn ist Besprechung«, sagte Schüttler zu ihr, »dann kann Bauer uns mehr sagen.« Die Stimme klang wie ein Bellen in der klirrenden Kälte dieses Morgens.

»Wo fährst du hin?«

»Ins Präsidium.«

»Dann nimm den Jungen mit, ich kann ihn jetzt nicht gebrauchen.«

»Mach ich.« Schüttler winkte dem Praktikanten zu und zeigte Richtung Straße.

»Bauer, dann sieh zu, dass du ihn aufgetaut bekommst.« Lia drehte sich zu Fred um und zeigte auf einen Mann mit Hund, der oben an der Straße stand und zu ihnen blickte. »Wer ist das?«

»Josef Waldmann, ein Bäcker. Er war mit seinem Hund Gassi, bevor er in die Backstube wollte, und hat die Leiche gefunden, oder besser gesagt sein Hund.«

»Haben wir alles von ihm, was wir brauchen?«

Fred nickte. Lia ging zurück Richtung Straße, wo Waldmann zitternd stand, stellte sich kurz vor und bat einen Kollegen, den Mann nach Hause zu bringen.

Dann trat sie in die Mondlandschaft hinaus. Oft kamen ihr in solchen Momenten die ersten Ideen, wonach sie suchen sollte. Aber dieser Tatort war seltsam lautlos. Bauers Mitarbeiter trugen die Leiche an ihr vorbei zur Straße, es folgten mehrere Wannen mit Schnee und Eis.

»Wie viele Meter rund um den Fundort lässt du abtragen?«

»Zwei«, antwortete Bauer.

»Mehr nicht?«

»Er ist übers Wasser gekommen, und den Rhein können wir schlecht anhalten.«

»Schon gut.«

Lia folgte ihm zurück ans Ufer.

»Der Rhein hat im Moment viel Wasser, die Strömung hier im Rheinknie ist extrem stark. Die Boote wirbeln ziemlich durch die Kurve, und ich schätze, das hat unsere Leiche auch getan. Entweder ist er von dort oben gefallen«, er zeigte zur Kniebrücke hoch, »oder von der Südbrücke. Soweit ich sehen konnte, hat er keine postmortalen Brüche, außerdem keine Anzeichen einer Wasserleiche. Der ist ins Wasser geplumpst und war kurz drauf hier am Ufer. Vielleicht noch von dort.« Er zeigte auf die Hafeneinfahrt auf der anderen Rheinseite. »Weiter nicht.«

Sie starrten schweigend auf das dunkle Wasser.

»Was bedeutet explantiert?«, fragte Lia.

Bauer zog den Schal enger um seinen mageren Hals.

»Er hat unfreiwillig irgendjemandem seine Organe gespendet. Und anschließend hat ihn jemand entsorgt.«

»Unfreiwillig?«

»Eine explantierte Leiche auf dem Weg zu ihrer letzten Ruhestätte sieht anders aus. Und reist normalerweise in einem Sarg. Wir sehen uns um zehn im Präsidium.« Er stakste Richtung Straße davon.

Lia wippte hin und her, sah aus dem Augenwinkel, wie eine junge Polizistin eine Chipstüte aus dem Schnee zog und sorgsam verpackte. Wenig später folgten zwei Zigarettenkippen und ein zertretenes Päckchen Streichhölzer.

Ihre Augen tränten durch den kalten Wind, der immer wieder in Böen über den Rhein fegte. Lia drehte sich einmal um sich selbst und lief dann zurück zu ihrem Auto. Irgendwas an diesem Morgen war besonders bedrohlich, sie konnte es spüren, es war wie eine kalte Hand, die sich in ihren Nacken legte.

Der Parkplatz vor dem Polizeipräsidium war noch fast leer, nur hinter wenigen Fenstern des Gebäudes brannte Licht. Als Lia den Schlüssel abzog, schloss sie einen Moment die Augen und versuchte, dieses Gefühl der Bedrohung loszuwerden. Würden sie jetzt mit der bei Mordfällen üblichen Routine beginnen? Sie ahnte bereits, dass ihre Erfahrungen und ihre normale Vorgehensweise ihnen dieses Mal nicht weiterhelfen würden. Sie hatte noch nie in ihrer Laufbahn von einem Mordfall mit solch einer Leiche gehört. Zerstückelt, zersägt, malträtiert, ja – aber explantiert?

Sie stieg aus, schlug den Kragen ihres Mantels hoch und stapfte durch den gefrorenen Schnee auf das kasernenartige Gebäude zu.

Im Büro schälte sie sich mit langsamen Bewegungen aus ihren schützenden Schichten. Erst als Fred mit drei Pappbechern dampfendem Kaffee kam, nahm sie den Praktikanten wahr, der sich am gegenüberstehenden Schreibtisch hinter dem Computerbildschirm verschanzt hatte. Vor den Fensterscheiben des Polizeipräsidiums setzte ein Schneesturm ein. Seit Wochen ging das so, klirrende Kälte und Stürme wechselten sich ab. Es war der längste und härteste Winter seit über 30 Jahren im Rheinland.

»Wer hat dir erlaubt, an diesen PC zu gehen?«

»Lia«, meinte Fred leise, »es ist nur ein PC.«

Es ist sein PC, dachte sie bitter. Seit drei Monaten galt es als sicher, dass Julian nie wieder hier arbeiten würde, und genauso lange fürchtete sie, dass jemand ihr gegenüber seinen Platz einnehmen würde, und jetzt sollte es dieser schlaksige Praktikant sein?

»Also, ich schlage vor, ihr sucht …«

»Ihr?« Lias Stimme war so schrill, dass Fred sie bat, mit ihm auf den Flur zu kommen. Ihre Augen funkelten, ihr Mund war ein dünner Strich.

»Er kann nichts dafür. Du weißt, wie sehr er sich um das Praktikum hier bemüht hat, und du hast das damals unterstützt. Pet will hier was lernen, also reiß dich zusammen. Lass ihn leben! Klar?«

Lia sackte in sich zusammen. Sie wusste, dass Fred recht hatte. Trotzdem war sie wütend. Sie zog das Zopfgummi aus ihren Haaren, um die Kopfhaut zu entspannen. Bereits einen Tag nach dem Unfall hatte die Computerabteilung Julians PC abholen wollen. Lia hatte gelogen und behauptet, die interne Ermittlung habe den schon an sich genommen, und dieser da sei für einen neuen Mitarbeiter. Niemand wusste davon, warum sie jetzt ihr Verhalten auch nicht erklären konnte.

»Können wir?«, holte Fred sie aus ihren Gedanken.

Gehorsam folgte sie ihm zurück ins Büro und sagte so freundlich wie möglich: »Gut, dann kümmern wir uns als Erstes um Vermisste und Unfälle der letzten Tage rund um den Rhein. Das mache ich, und sollte ich was haben, informiere ich Bauer, damit er hinfährt und sich ansieht, ob da noch Spuren sind. Rheinkniebrücke, Südbrücke und Hafen werden schon überprüft.«

Fred öffnete zwei kleine Milchdöschen, schüttete den Inhalt in seinen und in Lias Becher und nickte ihr wohlwollend zu.

»Und du, Pet, rufst alle Düsseldorfer Krankenhäuser an und fragst, wann die zuletzt eine Leiche explantiert haben«, fuhr Lia fort. »Wenn du es schaffst, auch die in der Umgebung. Sobald ich mit den Unfällen durch bin, helfe ich dir dabei.«

Sie zog ihren Stuhl zu sich heran, nahm Platz und schaltete den PC ein.

»Was ist das eigentlich genau, eine Explantation?«, erkundigte sich der junge Mann hinter Julians Bildschirm.

»Organspende nach dem Hirntod«, sagte Fred knapp.

»Ich habe noch nie eine Leiche gesehen«, flüsterte er.

»Du hast dir für deinen Einstieg auch die ungewöhnlichste Leiche ausgesucht, die wir in den letzten Monaten zu bieten hatten. Ich muss los. Bis später.«

Lia spürte eine seltsame Nervosität bei Fred und fragte sich, woher sie rührte.

»Okay, Pet.« Sie ging zu ihm hinüber und hielt ihm ihre Hand hin. »Ich bin Lia Willach und für die Zeit deines Praktikums deine Chefin. Ich bin eigentlich ganz nett, nur manchmal etwas aufbrausend, und wenn ich einen Kater habe, sprich mich nicht vor elf Uhr an. Kannst du dir das merken?«

Pet sah schüchtern zu ihr hoch und nickte ergeben.

»Während ich in der Datenbank suche, wer als vermisst gemeldet ist, und prüfe, ob die Person in Frage kommt, trägst du deine Ergebnisse in dieses Formular ein.« Sie beugte sich über seine Schulter, klickte ein Icon auf dem Desktop an und wartete, bis die notwendige Datei aufgerufen war. »Alles klar?«

Lia ging zurück an ihren Schreibtisch und begann, die Vermisstendatenbank abzuarbeiten. Sie strichen Krankenhaus um Krankenhaus und Beerdigungsunternehmen um Beerdigungsunternehmen von ihrer endlosen Liste. Um kurz vor zehn Uhr knallte Lia den Hörer auf die Gabel.

»Wieder nichts?«, fragte Pet von der anderen Seite des Schreibtisches. Lia schüttelte den Kopf und strich das Marienhospital von der Liste.

»Ich bin mit den Düsseldorfer Krankenhäusern durch«, sagte sie. »Was macht die Umgebung?«

Pet zeigte mit dem Daumen nach unten, murmelte: »Ja, ich warte noch«, in den Telefonhörer, den er zwischen Ohr und Schulter geklemmt hatte, und kritzelte mit der linken Hand auf einem Zettel herum.

»Wen hast du dran?«

»Wuppertal.«

»Leg auf, wir versuchen es später noch einmal. Jetzt holen wir uns Kaffee und gehen zur Besprechung.«

Im grell erleuchteten Flur war kaum Betrieb. Nur die schwarzen Schlieren auf dem grünen Boden zeugten davon, dass hier schon einige Kollegen mit Winterschuhen durchgestapft waren. Irgendwo zog es durch ein offenes Fenster, dann knallte eine Tür. Vor dem Kaffeeautomaten stand Heinrich Bauer und schob mit seinen langen Fingern Zehn-Cent-Stücke in den Schlitz. Zwei fielen zu Boden. Lia hob sie auf und warf sie ein.

»Danke. Schon was gefunden?«

Lia schüttelte den Kopf und wartete schweigend, bis Bauer den hellbraunen Becher nahm und Richtung Besprechungsraum ging. Lia warf eine Münze ein, wartete kurz und schlug so plötzlich mit der flachen Hand gegen den Automaten, dass Pet zusammenzuckte. Es klickte, der Euro fiel durch, und Lia tätschelte den Automaten. Dann griff sie nach ihrem Becher und zog Pet am Ärmel mit sich.

Gerichtsmediziner Bauer und seine schöne Mitarbeiterin Karla, Fred von der Spurensicherung und ihr Chef Alexander Schüttler befanden sich bereits in dem stark überheizten Raum. Schüttler saß abwartend am Tisch, den Kopf zwischen den Schultern eingezogen, wie er es immer tat, wenn er unter Druck stand. Seine gegelten schwarzen Haare klebten am Kopf, und er biss auf seiner Unterlippe herum. Die Luft war schon jetzt verbraucht und schwer. Lia nickte Karla zu, ließ sich auf den ersten Stuhl fallen, streckte ihre langen Beine aus und nahm erst jetzt die dicken Schneeränder an ihren Stiefeln wahr.

Schüttler stand auf und schaltete die Neonröhren an der Decke aus. Der Beamer surrte, die Leiche erschien auf der Leinwand. Einen Moment sagte niemand etwas. Lia hörte sich selbst atmen und widerstand dem Bedürfnis, sich zu bekreuzigen. Ein leerer Mensch, einer, dem man mit den Organen die Seele geraubt hatte, dachte sie und schloss die Augen, um dieses Bild dort auf der Leinwand einen Moment loszuwerden.

Schließlich räusperte sich Bauer. »Wir haben, und das ist es, was Sie hier sehen, die Narbe wieder geöffnet, und drin war, wie erwartet, nicht mehr viel los. Der Mann war zwischen 24 und 28 Jahren alt. Keinerlei besondere Kennzeichen, nur, dass die linke Schulter ausgeprägt muskulös ist. Der Körper ist durchtrainiert, und wir können annehmen, er ist Hobbysportler gewesen. Vielleicht Boxer.«

Bauer ging nach vorn, griff nach dem Laserpointer und führte den Lichtpunkt einmal um den Leichnam herum. »Die weiße Hautfarbe rührt daher, dass der Tote kaum noch Blut in den Adern hat. Deshalb sind auch die Totenflecke so minimal ausgeprägt. Herz, Leber, Nieren, Milz, Bauchspeicheldrüse, Lunge, Bronchien und Augen wurden fachmännisch entnommen. Für die Knochen, Knorpelmasse, Hirnhäute, Bänder, Knochenmark und Haut hatte offenbar niemand Verwendung. Was eher ungewöhnlich ist, denn normalerweise nimmt man alles, was transplantierbar ist. Zumindest soweit es im Ausweis steht oder was die Verwandten entscheiden. Nur bei Haut und Augen tut man sich manchmal schwer. Wie dem auch sei, der junge Mann war höchstens ein paar Stunden im Wasser und vielleicht zwei oder drei Tage im Uferschlamm eingefroren und vom Schnee zugedeckt.«

Wieder breitete sich Schweigen aus. Die leeren Augenhöhlen klagten die Betrachter stumm an. Für Lia drückte dieses Gesicht eine maßlose Empörung aus.

»Ausgeschlachtet«, sagte Karla mit rauchiger Stimme, »und sicher ist, dass hier kein Stümper am Werk war. Der Kerl hat eine Narkose bekommen, ein Muskelrelaxans, und er wurde intubiert. Es sieht nach einer normalen Explantation eines hirntoten Patienten aus. Allerdings war er schlecht vernäht. Er hat keine Papiere. Es gibt keine Anzeichen eines Unfalls, der vielleicht zum Hirntod geführt hätte.« Sie schaute Bauer von der Seite an, dann Alexander Schüttler.

»Wir haben es sehr wahrscheinlich mit illegalem Organhandel zu tun.« Schüttler schluckte.

»Das heißt?«, fragte Lia.

»Jemand mit Geld, sehr, sehr viel Geld, brauchte genau die Organe dieses Mannes hier.«

»Alle?«

Gegen ihren Willen musste Karla über Lias Frage lachen. »Nein, aber wenn einer nur das Herz gebraucht hat, wäre es doch schade und wahrscheinlich weniger lukrativ, den Rest bis zum Verfallsdatum liegen zu lassen«, bemerkte sie trocken.

Lia rieb sich die Augen und schaute auf die Leinwand. »Seid ihr sicher?«

Fred schaltete den Projektor aus und das Deckenlicht wieder an.

»Was ist so ein Mann, in Einzelteile zerlegt, denn wert?«, fragte Lia.

»Mindestens mehrere Hunderttausend, je nach Auftraggeber auch mehr. Dieser Markt funktioniert wie alle freien Märkte, Angebot und Nachfrage«, antwortete Schüttler und stand auf. »Wir arbeiten heute weiter die Routine ab. Habt ihr schon was?«

Lia schüttelte den Kopf.

Schüttler fuhr fort: »Dieser Fall riecht nach BKA. Ich rufe gleich an, und wir sehen uns um 17 Uhr wieder.«

Pet vergrub sich in alle einschlägigen Datenbanken, die Lia ihm genannt hatte, und wählte anschließend beharrlich eine Telefonnummer nach der anderen. Er wollte gern seinen peinlichen Einstieg wieder wettmachen, durch ein Ergebnis, das sich sehen lassen konnte. Im Norden war er am Nachmittag bereits bis Bremen gekommen, im Westen bis an die Grenzen nach Belgien und Holland, im Süden bis Nürnberg und im Osten bis Dresden. Einerseits überkamen ihn gewisse Zweifel am Sinn der weiteren Suche, andererseits traute Pet sich nicht, Lias Anweisungen nicht zu folgen.

Er fuhr sich durch die Haare und starrte auf seine Tabelle: keine Vermissten, auf die die Beschreibung passte, keine Beerdigung ohne Leiche, laut Datenbank keine Unfälle mit Leichenwagen oder Krankenwagen. Vielleicht hatte der Tote im Kofferraum eines normalen Autos gelegen?

Pet holte sich auf dem menschenleeren Flur einen neuen Kaffee, rief noch einmal bei der Verkehrspolizei an und lauschte dem Text der Warteschleife.

Lia kam aus der Gerichtsmedizin zurück. Karla hatte ihr Bilder gezeigt, wie eine explantierte Leiche, die zur Bestattung freigegeben ist, normalerweise aussieht. Lia gruselte es beim Gedanken, dass ein gesunder Mensch ermordet worden war, weil irgendwo ein kranker Mensch genug Geld hatte, um das zu bezahlen.

Im Polizeipräsidium wurde sie auf ihrem Flur von Fred aufgehalten, der sie mit unmissverständlicher Geste in Schüttlers Büro bat. Der aufgeräumte schwarze Schreibtisch ihres Chefs war frisch poliert, das Zimmer roch nach seinen Zigarren und dem schweren Leder der Stühle, die er sich selbst mitgebracht hatte. Lauernd blickte er sie an. Er hatte die Hände auf die Knie gelegt, sein linker Arm endete in einer Prothese. Lia wusste, dass ihn bis heute manchmal der Phantomschmerz plagte. Sie setzte sich unaufgefordert ihm und Fred gegenüber.

Schüttler räusperte sich. »Das BKA prüft den Fall. Die Ermittlungen bleiben zumindest bis dahin in deinen Händen.«

Fred sah ihr fest in die Augen. »Wir wollen dich nicht ins offene Messer laufen lassen. Alexander und ich haben solche Leichen schon einmal gesehen, allerdings nicht in Deutschland, sondern in der Türkei, im Kosovo, in Brasilien, China. Alles Länder, in denen der illegale Organhandel blüht.«

Schüttler legte mit der rechten die linke Hand umständlich auf den Schreibtisch.

»Deutschland ist ein sehr ungewöhnlicher Schauplatz«, setzte Fred nach, »und absolut neu. Wir hoffen, dass der Mord einen anderen Hintergrund hat. Aber wenn es Organhandel ist, werden wir es mit vielen unbekannten Größen und Organisationen zu tun bekommen, die nicht wollen, dass die Sache aufgeklärt wird.«

»Nämlich welche?« Lia sah Fred fest in die Augen.

»Angefangen bei der Organmafia, möglicherweise die Krankenkassen, möglicherweise die Pharmaindustrie. Aus anderen Ländern wissen wir, dass genau die am meisten von dem illegalen Handel profitieren.«

»Gibt es schon eine Idee, warum plötzlich in Deutschland so eine Leiche auftaucht?«

Unisono schüttelten Fred und Schüttler die Köpfe.

»Warum ziert sich das BKA? Die sind doch sonst nicht zu bremsen, wenn es um außergewöhnliche Fälle geht!«

Die Stille im Raum war so kompakt, dass sie das Aufklatschen der Schneeflocken an den Fensterscheiben hörten.

»Gegen die Mafia zu ermitteln, ist wie Selbstmord auf Bestellung, nur dass man nicht weiß, wann und wie schnell der Tod kommt. Da drückt sich jeder gern.« Schüttlers Augenlider flatterten, was Lia irritierte. Sie starrte auf das Relief aus Schnee und Eis, atmete so gleichmäßig wie möglich und wartete ab, ob sich bei ihr ein ungutes Gefühl einstellen würde, das sie warnte.

»Ich mach’s trotzdem«, sagte sie schließlich.

Fred lächelte.

»Gut. Dann sehen wir uns um 17 Uhr zur Besprechung«, meinte Alexander Schüttler. »Du wirst das Team leiten, dich aber immer, und ich betone wirklich immer, mit mir abstimmen. Offiziell ermitteln wir in einem Todesfall, und je seltener das Wort Organhandel fällt, desto besser.« Er zögerte. »Besser für dich, für mich, für uns alle. Und jetzt raus, ich muss telefonieren.«

Fred und Lia verließen gemeinsam sein Büro.

»Du hast Mut«, sagte Fred draußen auf dem Gang und legte ihr freundlich die Hand auf die knochige Schulter. Viele männliche Kollegen hatten zu Anfang Witze über Lia gemacht: Wer mit ihr ins Bett wolle, müsse sich gut polstern. Das hatte sie ihnen schnell abgewöhnt, denn sie dachte, ermittelte und überführte schneller als jeder andere.

Lia blickte ihn an. »Was macht euch am Organhandel so nervös?«

»Es ist nicht nur das organisierte Verbrechen, das im Zweifelsfall keine Hemmungen hat, auch Polizisten zu erledigen. Es ist ein ganzer Wirtschaftszweig. Du hast nicht nur eine Person als Gegenspieler, sondern Geld und Macht, und kaum jemand hat ein Interesse daran, dass das Ganze aufgedeckt wird.«

Lia runzelte die Stirn.

Fred fuhr fort: »Der Organspender im illegalen Handel hat entweder Geld bekommen, handfeste Drohungen oder ist ohnehin tot. Der Empfänger hat viel Geld bezahlt und mit seinem neuen Organ ein neues Leben begonnen. Die Operateure, von der Mafia erpresst und gefügig gemacht, haben nichts mehr zu verlieren. Ein System ohne Schwachstellen, wenn du so willst.«

Sie standen bereits vor Lias Bürotür. »Es gibt immer eine Sollbruchstelle«, meinte sie.

»Wenn du sie findest, kann sie dein Ende bedeuten. Manchmal ist es besser, nichts herauszufinden.«

Lia wusste, dass Fred einer der wenigen war, der zu ihr hielt und sie förderte. Deshalb verunsicherte sie seine Warnung.

»Ich werde den Fall lösen«, sagte Lia und öffnete die Tür zum Büro.

Pet arbeitete mit rotem Kopf und tat ihr augenblicklich leid.

»Wie alt bist du eigentlich?«

»19.«

»Macht man ein Praktikum nicht früher?«

»Auf meiner Schule macht man insgesamt drei, das hier ist mein letztes, im Frühjahr mache ich Abi. Und die Mordkommission hat meine Volljährigkeit zur Bedingung gemacht.«

»Aha, na gut. Hast du was herausgefunden?«

Er nickte. In diesem Moment klingelte ihr Telefon. Es war Karla. Lia erfuhr, dass die Besprechung von 17 Uhr auf morgen verschoben war, weil dann mehr Ergebnisse vorlägen. Jetzt parkte sie gerade im Hof, um Lia abzuholen und mit ihr in die Altstadt zu laufen. Es war Karlas Art, sich bei ihrer Lieblingsfamilie zum Essen einzuladen.

»Also! Was hast du herausgefunden?«, fragte Lia den Praktikanten, nachdem sie aufgelegt hatte.

»Ein Unfall.« Sie hörte den Stolz in seiner Stimme. »Der war noch gar nicht in die Datenbank eingepflegt. Freitagnacht auf der Hafenmole mit einem holländischen Auto. Der Typ ist abgehauen, Passanten haben aber die Nummer notiert.«

Die Bürotür flog auf, und Karla brachte die winterliche Kälte herein.

»Weiß Fred schon davon?«, fragte Lia und begrüßte Karla mit einem Nicken.

Pet nickte eifrig. »Ja, und in Holland habe ich auch schon angerufen. Die wollen es uns morgen sagen. Irgendwie hatten die Stress mit dem Computer.«

 »Das haben die Holländer immer, wenn sie keinen Bock mehr haben«, meinte Lia grinsend.

»Können wir?«, wollte Karla wissen.

Lia fuhr ihren und den Computer von Julian herunter, denn sie wollte nicht, dass Pet längere Zeit alleine in ihrem, in ihrem und Julians Büro blieb. Sie konnte sich nicht dagegen wehren: Der junge, bemühte Schüler fühlte sich wie ein Eindringling an.

Schweigend lief sie neben Karla zur Rheinuferpromenade. Vor dem unter die Rheinkniebrücke gebauten Apollo-Varieté standen die Menschen frierend Schlange. In der Vorweihnachtszeit war das Theater jeden Abend ausverkauft. Vorsichtig gingen sie die Stufen zur unteren Promenade hinunter, die seit dem Neuschnee am Nachmittag noch niemand betreten hatte. Sie blieben einen Moment stehen und starrten zum Fundort hinüber. Es war immer noch alles abgesperrt.

»Der Tote war heute schon in den Radionachrichten. Ich hoffe, es ist Schüttler gelungen, aus den Medien herauszuhalten, dass der Mann keine Organe mehr hatte«, meinte Karla.

»Hast du mal eine Leiche explantiert?«

»Machst du Witze? Es gehört zur Ausbildung und ist eine ziemliche Sauerei. Mich hat das Bild damals wochenlang verfolgt.«

»Ich fürchte, das steht mir auch bevor.« Lia schloss einen Moment die Augen.

»Das kann ich gut verstehen. Es ist halt was anderes, vor einer kalten Leiche zu stehen oder in einen offenen Körper zu schauen, in dem das Herz noch pulsiert, die Nieren arbeiten …«

»Julian hat einen Organspendeausweis. Ich habe ihm den aufgeschwatzt.«

»Und jetzt, wo du gesehen hast, wie so eine Leiche aussieht, zweifelst du, ob das gut ist?«

»Genau.« Lia rieb sich ihre kalten Hände. »Hast du einen Ausweis?«

»Selbstverständlich«, meinte Karla.

Lia sah sie von der Seite an. Sie kannten sich seit über zehn Jahren. Anfangs hatten sie gegeneinander gekämpft, weil sie sich so ähnlich und so unterschiedlich zugleich waren. Das Wort Contenance schien eigens für Karla erfunden worden zu sein, denn sie verlor nie die Beherrschung und bewahrte zu wirklich allem eine kühle Distanz. Darum beneidete Lia sie manchmal, denn sie selbst war oft sehr emotional. »Los, es ist saukalt, meine Schwester wartet sicher schon!«

Wenig später erreichten sie Lias Haus am Rheinufer, um das sie oft beneidet wurde. Das dunkelrote Haus war schmal und verfügte über mehrere Stockwerke. Im Erdgeschoss lebte ihre Mutter, die erste und zweite Etage gehörte Susi, ihrer Schwester, die dort mit ihren drei Jungs wohnte, und das Dachgeschoss war Lias Reich. Karla, die als Einzelkind reicher Eltern aufgewachsen war, mochte das bunte und chaotische Durcheinander dieser Familie. Lias Mutter war Fleischereifachverkäuferin, die Schwester Susi hatte drei Jungen von drei verschiedenen Männern und nie eine Schule oder Ausbildung zu Ende gemacht, und die ehrgeizige Lia hatte die Polizeilaufbahn eingeschlagen, nebenher Kriminologie studiert, alles mit Auszeichnung abgeschlossen und war mittlerweile leitende Kriminalhauptkommissarin, was die Familie nicht im Geringsten beeindruckte. Trotzdem herrschte meistens eine wohlige Herzlichkeit in diesem Haus.

»Mama!«, brüllte Dennis. »Tante Lia hat die schöne Karla mitgebracht!« Er rannte auf seinen kurzen, strammen Beinen zurück in die Küche. Karla lachte über den Fünfjährigen, der zu Recht den Spitznamen »Ringer« hatte.

Im Wohnzimmer lief der Fernseher ohne Ton. Sie entledigten sich ihrer Mäntel, halfen beim Tischdecken und entkorkten den Wein. Als es wieder klingelte, erschien Lias Mutter, klein, rund und rosig, mit einer Tüte Aufschnitt aus ihrer Metzgerei und frischem Brot.

Lia nahm mit den Fingern ein Salatblatt aus der Schüssel, die bereits auf dem Esstisch stand, und füllte ihr Weinglas.

Der Trubel in ihrer Familie war ein unschätzbarer Ausgleich zu Mord und Totschlag, und sie vermutete, dass deshalb auch Karla so gern mitkam, außer es gab etwas wie Ente oder Gans, was am Tisch zerteilt werden musste. Lia hörte, wie ihre Mutter Karla aus der Küche scheuchte. Ihre Kollegin setzte sich neben sie auf den Boden vor das Sofa.

Im Fernsehen lief die Wiederholung der alljährlich in der Vorweihnachtszeit stattfindenden Carsten-Schlüter-Gala vom vergangenen Samstag. Gerade wurde ein Beitrag über einen zwölfjährigen Jungen eingespielt, der dieses Jahr gestorben war. Die starke Chemotherapie hatte seine Organe so geschädigt, dass sie die Arbeit aufgegeben hatten. Lia stellte den Ton an. Sie erfuhr, dass es nicht möglich gewesen war, rechtzeitig ein passendes Spenderorgan zu finden.

Susi stellte hinter ihnen die Teller auf den Tisch. Dennis, der Ringer, und seine beiden Brüder, der dunkelhäutige Patrick, acht Jahre alt, und der 13-jährige Tobias, stürmten ins Zimmer und nahmen geräuschvoll Platz. Mit Lias Mutter kam der Duft nach frisch geschnittenem Schinken und Brot.

»Machst du aus, Häschen? Ich kann beim Essen so was nicht sehen!«, bat sie, und Lia folgte ihrer Aufforderung.

Schulthemen dominierten die Gespräche bei Tisch. Lia beteiligte sich heute kaum. Ihr ging die entleerte Leiche nicht aus dem Kopf, und plötzlich überkam sie das diffuse Gefühl der Panik, dass die Mafia einfach ein paar Nummern zu groß für sie war.

Karla blickte sie mitfühlend an, sie wusste als Einzige, dass Lia fast zerbrochen war, weil sie den Mordanschlag auf Julian nicht verhindern und nicht aufklären konnte. Das erste Mal in ihrer überaus erfolgreichen Laufbahn.

Nach dem Essen ging Susi mit den Kindern aus dem Zimmer, um sie bettfertig zu machen. Sofort schaltete Lia den Fernseher wieder ein. Karla kam zu ihr, reichte ihr das Weinglas und setzte sich wieder neben sie auf den Boden. »Ich bin mir ganz sicher, dass du diesen Fall hier klären wirst«, sagte sie.

»Die Mafia«, meinte Lia mit gedämpfter Stimme, »ich kenne mich damit überhaupt nicht aus.«

»Jeder fängt mal an, egal mit was. Vielleicht wirst du Deutschlands neue Mafiaexpertin.«

Lia betrachtete Karla von der Seite und war sich nicht sicher, wie ernst sie diese Worte meinte. Doch dann wurde sie abgelenkt, weil im Fernsehen ein zehnjähriges Mädchen an der Hand eines Supermodels die große Bühne betrat.

Lias Magen krampfte sich zusammen. Sie kam ihr bekannt vor, aber ihr Gedächtnis gab es nicht preis. Die kleine Solana erzählte Carsten Schlüter, dass sie gerade erst vor einer Woche ihre Diagnose erhalten habe. Nächste Woche würde die Chemotherapie beginnen, und sie hoffe, nie eine Knochenmarkspende zu benötigen. Dennoch bat sie alle Menschen auf der Welt, sich typisieren zu lassen. Lia schossen die Tränen in die Augen.

»Wie kann so ein kleines Mädchen so gefasst über diese schrecklichen Sachen reden?«

Es gelang ihr nicht, sich vom Fernsehbildschirm zu lösen. Bilder erschienen auf der Großleinwand, von Mädchen in Solanas Alter, die schon die erste und zweite Chemotherapie hinter sich hatten. Kahle Köpfe, aus denen fragende Kinderaugen blickten. Und immer wieder Carsten Schlüter, der es überlebt, der es besiegt hatte. Sinnbild für die Kranken und Hoffenden. Ich gebe für die anderen! Das war seine klare Botschaft.

»Ich glaube, ich lasse mich auch typisieren. Weißt du, wo ich da hinmuss?«

Karla lachte und stand auf. »Wenn du willst, bestelle ich uns morgen bei der Deutschen Knochenmarkspenderzentrale die Typisierungssets. Ich muss jetzt los.«

Während Karla sich anzog, kam Lias Mutter mit einem Teller Weintrauben ins Zimmer und stellte sie auf den Tisch. Gerade verließ Solana, die mit ihrer Lockenpracht noch so ganz gesund aussah, an der Hand des Supermodels die Bühne, und Hanna meinte plötzlich: »Die sieht aus wie die Kleine von Petra Müller, stimmt’s, Häschen?«

Lia richtete sich ruckartig auf: »Stimmt. O Gott, wie schrecklich. Ich habe Petra ewig nicht gesehen. Du hast recht, die heißt Solana und müsste jetzt neun Jahre alt sein.«

Karla steckte noch mal den Kopf ins Wohnzimmer: »Danke für das leckere Abendessen. Wir sehen uns morgen bei der Besprechung?«

Lia nickte, brachte Karla zur Tür und gesellte sich noch ein wenig zu ihrer Mutter. Als der Spätfilm anfing, wünschte sie ihr eine gute Nacht und entledigte sich schon auf dem Weg in ihre Wohnung ihrer Strickjacke und Socken. Oben ließ sie sich ein Bad ein.

Immer wieder tauchte der Tote vor ihr auf. Karla hatte gesagt, am Körper seien keine verwertbaren Spuren, nicht einmal ein Baumwollfädchen zu finden gewesen. Lia fragte sich, ob die Leiche im Rhein ihre letzte Ruhestätte hatte finden sollen? Ihre einzige winzige Spur war das Auto auf der Hafenmole mit dem holländischen Kennzeichen.

Lia angelte nach ihrem Telefon und rief Fred an. »Hm«, brummte es aus dem Hörer.

»Hallo, hier ist Lia, bist du wach?«

»Jetzt ja.«

»Wir müssen unbedingt …«

»Gute Nacht.«

Lia ließ den Telefonhörer auf die Badematte sinken. Es war ihr Dilemma, dass sie mit sehr wenig Schlaf auskam. Lia trocknete sich ab, zog Julians bodenlangen Bademantel an und ging in ihr Schlafzimmer. Sie zerrte eine der vielen Kisten, die unter ihrem riesigen Bett standen, heraus und wühlte, bis sie fand, was sie suchte. Den alten Stoffbären mit der Stopfnaht vom Kopf bis zu den Beinen. Sie nahm ihn mit in ihre Wohnküche, füllte ein Weinglas, stellte sich an das große Fenster und starrte hinunter auf den Rhein. Sie dachte an Solana.

Der Taxifahrer quälte sich durch die verschneiten Straßen von New York, und Isaac versuchte, die Weihnachtslieder aus dem Radio zu ignorieren, während er durch die Glitzerwelt der pulsierenden Stadt fuhr. Zeitungsverkäufer auf den Bürgersteigen brüllten den gelungenen Überraschungsschlag gegen die Cosa Nostra in die vorbeieilenden Menschentrauben. Er hatte gestern als Weihnachtstourist im Grand Hyatt eingecheckt, zwei von ihnen hatten das Grand Astoria gewählt, und die für Südamerika und Südeuropa Zuständigen befanden sich am Pier17 in einer kleinen Pension. Es war ein außerordentliches Treffen der fünf Hauptverantwortlichen der geheimen Organisation, die die Aufgabe hatte, weltweit gegen die Mafia und nur die Mafia zu kämpfen.

Der Verkehr stockte wieder, um ihn herum wurde wild gehupt, dann standen sie ganz. Isaac öffnete sein Seitenfenster, reichte eine Dollarnote hinaus, ließ sich von dem frierenden Boten die Extraausgabe der Times geben und überflog den Sensationsartikel mit der Überschrift »FBI gelingt Coup gegen die Mafia!«.

Eine junge Frau knallte ihre Einkaufstaschen wütend auf die Motorhaube seines Taxis und keifte. Tatsächlich standen die Autos Stoßstange an Stoßstange, so dass es den Fußgängern selbst bei stillstehendem Verkehr kaum möglich war, die Straße zu überqueren. Isaac lächelte der Frau versöhnlich zu und bot ihr mit einer Geste an, den Weg durch seinen Wagen zu nehmen. Ihr Ärger verflog, und sie schüttelte lachend den Kopf.

Er war es gewesen, der den Regierungen Europas und Nordamerikas klargemacht hatte, dass sie die Geschäfte der Mafia nicht einfach bekämpfen durften, sondern sie übernehmen und auf das maximal mögliche legale Level heben müssten. Er hatte ihnen vorgerechnet, was mit der Weltwirtschaft geschehen würde, wenn der Wirtschaftszweig Mafia abstürbe. Über drei Billionen Euro würden weltweit nicht mehr fließen.

Er wusste, diese Summe war für die meisten Menschen so utopisch, dass sie sich die Zahl nicht vorstellen konnten. Jedes Mal rechnete er den Kopfschüttlern dasselbe Beispiel vor: Ein Mittelstandsbetrieb hat aufgrund der guten Auftragseingangslage investiert und seine Räumlichkeiten erheblich vergrößert. Ohne sein Wissen ist einer seiner Hauptauftraggeber die Mafiaorganisation Q21. Gerade als der Betrieb die Rechnungen für die Erweiterungen zahlen will, bleibt das Geld dieses Hauptauftraggebers aus, obwohl er ihm Waren geliefert hat. Von heute auf morgen gerät der Betrieb massiv ins Schleudern, weil er sich dank der Q21 gleich an zwei Seiten verschuldet hat.

Genau das würde Tausenden von kleinen, mittleren und großen Betrieben aller Art passieren, wenn die Q21 die Zahlungen einstellen würde.

Isaac prophezeite mit diesem Szenario die schlimmste vorstellbare Weltwirtschaftskrise. Deshalb arbeitete seine Organisation mit einem weltweiten Team, das in alle Länder verstreut war und in dem man einander nicht kannte und nichts voneinander wusste. Beim großen Coup würden sie dieses Umsatzvolumen bedienen können. Die Organisation war ein weltumspannendes Netz, das sich auch für die Mafia unmerklich zuzog. Ihr besonderes Augenmerk galt der Q21, der mächtigsten Mafia überhaupt.

Isaac seufzte und faltete mit seinen großen Händen die Zeitung wieder zusammen. Dann streckte er seine langen Beine unter den Vordersitz, drückte den Kopf auf die Rückenlehne und schloss die Augen. Sie hatten hart und gut gearbeitet in den vergangenen Jahren, aber nicht gut genug, denn sie hatten den aus Nordamerika abwandernden Medizintourismus erst bemerkt, als einige große Kliniken in den USA plötzlich vor der Insolvenz standen und schließen mussten. Die deutschen Städte Düsseldorf und Baden-Baden sowie das schweizerische Genf hatten besonders davon profitiert, denn die Reichsten der Welt hatten sich, aus welchen Gründen auch immer, diese Städte ausgesucht. 328 Milliarden US-Dollar fehlten der medizinischen Forschung auf dieser Seite der Welt.