Image Missing

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Von den Anfängen bis 1949

ANDERS ALS SIE ANDERN (1919)

FRIDERICUS REX (1922/23)

NATHAN DER WEISE (1922)

GIER NACH GELD (1924)

PANZERKREUZER POTEMKIN (1925)

EIN ANDALUSISCHER HUND (1929)

TAGEBUCH EINER VERLORENEN (1929)

DAS GOLDENE ZEITALTER (1930)

IM WESTEN NICHTS NEUES (1930)

DAS FLÖTENKONZERT VON SANSSOUCI (1930)

EKSTASE (1933)

Die 1950er Jahre

DIE SÜNDERIN (1951)

DIE ZEIT MIT MONIKA (1953)

BABY DOLL (1956)

ANDERS ALS DU UND ICH (§ 175) (1957)

DAS MÄDCHEN ROSEMARIE (1958)

DIE LIEBENDEN (1958)

Die 1960er Jahre

AUGEN DER ANGST (1960)

VIRIDIANA (1961)

DAS SCHWEIGEN (1963)

491 (1964)

SPUR DER STEINE (1966)

Die 1970er Jahre

O.K. (1970)

NICHT DER HOMOSEXUELLE IST PERVERS, SONDERN DIE SITUATION, IN DER ER LEBT (1971)

SALÒ ODER DIE 120 TAGE VON SODOM (1975)

IM REICH DER SINNE (1976)

DIE KONSEQUENZ (1977)

Die 1980er Jahre

DAS GESPENST (1982)

MARIA UND JOSEPH (1985)

DIE LETZTE VERSUCHUNG CHRISTI (1988)

Die 1990er Jahre

BASIC INSTINCT (1992)

KIDS (1995)

FUNNY GAMES (1997)

LOLITA (1997)

IDIOTEN (1998)

Die 2000er Jahre

BAISE-MOI (FICK’ MICH!) (2000)

DIE PASSION CHRISTI (2004)

TAL DER WÖLFE – IRAK (2006)

Ausblick

Literatur

Bildnachweis

Der Autor

Dr. Stefan Volk lebt als freier Journalist, Film- und Literaturkritiker in Freiburg i. Br. Er schreibt u.a. regelmäßig für die Fachzeitschriften Film-Dienst und Filmbulletin, die Berner Zeitung sowie die Magazine Bücher und HörBücher. Er hat mehrere film- und literaturdidaktische Arbeiten veröffentlicht, darunter einen Band zur Filmanalyse im Unterricht.

Stefan Volk

Skandalfilme

Cineastische Aufreger gestern und heute

Unter Mitarbeit von Barbara Scherschlicht


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Schüren Verlag GmbH

Universitätsstr. 55 · D-35037 Marburg

www.schueren-verlag.de

© Schüren Verlag 2011

Alle Rechte vorbehalten

Gestaltung: Erik Schüßler

Umschlag: Wolfgang Diemer unter Verwendung eines Fotos aus BAISE-MOI (2000, MFA)

eISBN: 978-3-89472-791-8

Vorwort

«Solche Filme bereiten den Puritanismus von morgen vor. Sie banalisieren Sexualität dermaßen, dass stattdessen Mord als höchstes Vergnügen erscheint.» Das gab der französische Psychoanalytiker Tony Anatrella im Juni 2000 während der Debatte um Virginie Despentes’ Skandalfilm BAISE-MOI zu Protokoll. «Space may be the final frontier / But it’s made in a Hollywood basement.», sangen die Red Hot Chili Peppers ein Jahr zuvor. «Im Kino gewesen. Geweint.», notierte Franz Kafka am 20. November 1913 in seinem Tagebuch. «Lolotte» hieß der Kurzfilm, der Kafka damals so anrührte. Lo-lo-tte. «Die Zungenspitze macht drei Sprünge den Gaumen hinab und tippt bei Drei gegen die Zähne.» Derart schwärmte Humbert Humbert bei Nabokov über seine Lo-li-ta, die auch im Kino zweimal Anstoß erregte: 1962, als Stanley Kubrick sie in Gestalt der 14-jährigen Sue Lyon auf die Leinwand zauberte, und mehr noch 1997, als Adrian Lyne sie in Dominique Swains 15-jährigem Körper Jeremy Irons auf den Schoß setzte. «Der gute Pfarrer. Das kleine Fahrrad. Die Versöhnung der Eltern. Maßlose Unterhaltung.» So hatte Kafka über «Lolotte» gestammelt, «ganz leer und sinnlos», noch überwältigt vom Eindruck des Lichtspiels.

Ein abgeschnittenes Ohr, ein enger Schrank, ein Inhalator, ein roter Vorhang und davor Isabella Rossellini, die «Blue Velvet» sang. Das war meine Kinoinitiation. Eher zufällig auch ein Skandalfilm. Einer, über den gesprochen wurde, da musste man rein. Im Kino gewesen. Geträumt. Und dann doch nicht nur zufällig: sinnlich, überwältigend, maßlose Unterhaltung. Ein Kino, das erregte und zu dem etwa um dieselbe Zeit, in der Kafka die «Lolotte» sah, der Vatikan seinen Geistlichen den Zutritt verwehrte. Unter Androhung kanonischer Strafen und der Suspendierung a divinis wurde ihnen der Besuch der «Schaustellungen in den öffentlichen Kinematographen Roms» verboten.1 «Für Kinder und Jugendliche ist der ungezügelte Kinobesuch schon jetzt zum Verderben geworden», resümierte 1920 eine «rheinische Volksgemeinschaft zur Wahrung von Anstand und guter Sitte».2 Aufklärungsfilme, die zum Geschlechtsverkehr verleiteten, Rufe nach Zensur, Stinkbomben und Farbeier, die auf Leinwände flogen, weiße Mäuse und Kinoschlachten, ein Regisseur mit Steinen in den Taschen, Feministinnen, die auf Kinositze pinkelten, Lichterprozessionen und Boykottaufrufe, hupende Autofahrer, Krawalle und Festnahmen, Mahnworte und Beschlagnahmen, Fernsehdebatten und Drohanrufe, Zuschauerfluchten und Festivaleklats, Aktionsbündnisse und Unterschriftenfluten: das Kino macht drei Sprünge den Gaumen hinab und tippt bei Drei gegen die Zähne: Skandal, Skandal, heißt es dann.

Aber, was bedeutet das eigentlich? «1. Ärgernis; aufsehenerregendes, schockierendes Vorkommnis. 2. Lärm», so steht es im Fremdwörter-Duden. Das Wort «Skándalon» stammt aus dem Griechischen und bezeichnet ein Hölzchen, bei dessen Berührung eine Falle zuschnappt. Mit «Fallstrick» übersetzt man das auch. Die Hölzchen, die ein Film nicht berühren durfte, ohne dass er in die Skandalfalle tappte, wurden im Laufe der Kinogeschichte immer mal wieder ausgetauscht. Der flüchtige Blick auf einen nackten Busen gegen Sex vor laufenden Kameras, zum Beispiel; aber auch: eine homophile Tendenz gegen eine homophobe; zu wenig Nationalismus gegen zuviel. Es waren nicht immer dieselben, die am Ende in der Falle saßen.

Die Filme, die seit den Anfängen des Kinos im deutschsprachigen Raum am meisten Lärm veranstalteten und die aufsehenerregendsten Ärgernisse verursachten, werden in Skandalfilme ausführlich vorgestellt: mit prägnanten Zusammenfassungen des jeweiligen Werkes und des Skandals, den es verursachte, mit exemplarischen Zitaten aus den zeitgenössischen Reaktionen, mit Auszügen aus Zeitungsartikeln, Boykottaufrufen, FSK-Entscheiden, mit Interviews sowie weiteren Informationen zu Regisseuren, Darstellern, Filmströmungen oder politischen und gesellschaftlichen Hintergründen, mit dem nötigen Ernst und dem nicht minder nötigen Spaß am cineastischen Eklat. Denn, dass sich im Laufe der Filmgeschichte eine fast unüberschaubare Menge an Skandalfilmen angesammelt hat, dürfte nicht zuletzt daran liegen, dass das Kino eben nah am Skandal gebaut hat. Und daran, dass Regisseure wie Publikum den Skandal immer wieder suchten. Die Menschen, so scheint es, lieben den Streit. In der Filmhistorie äußerte er sich in kreativer Leidenschaft, befreienden Provokationen, aber auch im Kulturkampf und (Kino-)Krieg.

Zeitlich umfasst die vorliegende Auswahl die gesamte Kinogeschichte von ihren Anfängen bis heute. Im Mittelpunkt stehen Werke, die im deutschsprachigen Raum als Skandalfilme wahrgenommen wurden, weil sie hier entweder selbst einen Skandal auslösten oder aber mit dem Skandal, den sie andernorts verursachten, zumindest für Gesprächsstoff sorgten. Der Blick richtet sich also über die Grenzen Deutschlands hinaus, bleibt aber perspektivisch darin verankert. Die Auswahl der Skandalfilme, die ich für dieses Buch getroffen habe, ist allerdings nicht annähernd komplett. Einige Filme werden ausführlicher behandelt als andere, viele nur kurz erwähnt, manche fehlen ganz. Vielleicht halten Sie das in dem einen oder anderen Fall für einen besonders schweren Irrtum, ein Versäumnis, ein Ärgernis oder gar – einen Skandal? Kritik, Anregungen, Lob nehme ich unter der E-Mail-Adresse info@skandalfilm.net gerne entgegen. Wenn Sie Lust haben, schauen Sie auch mal auf der Internetseite www.skandalfilm.net vorbei. Aber bitte, bevor Sie dann kräftig Dampf ablassen, sollten Sie sich das Buch schon erst Mal durchlesen. Also, viel Spaß beim Ärgern!

Stefan Volk, Freiburg im Breisgau,
den 15. August 2010

 

1 Zitiert nach: Curt Moreck: Sittengeschichte des Kinos. Dresden 1926, S. 22.

2 Zitiert nach: Moreck, S. 84.

Einleitung

Den Anfang machte ein Kuss. Achtzehn Sekunden1 genügten, um im Frühjahr 1896 den vermutlich ersten Filmskandal der Kinogeschichte auszulösen. Die Tageszeitung New York World hatte US-Filmpionier Thomas Alva Edison beauftragt, eine Szene aus dem beliebten New Yorker Lustspiel The Widow Jones nachzustellen: einen Kuss. Unter der Regie von William Heise küssten sich deshalb im April 1896 die Schauspieler May Irwin und John Rice in Edisons Black Maria Studio in West Orange, New Jersey vor laufender Kamera wie sie es zuvor bereits unzählige Male auf der Bühne getan hatten. Das heißt, eigentlich küssen sie sich nicht wirklich. Ihre Wangen berühren sich, während sie neckisch lächelnd – und natürlich tonlos – miteinander reden. Dann zwirbelt er sich seinen Schnurbart zurecht, beugt sich zu ihr und tut so, als würde er sie küssen. Der vermeintliche, in Naheinstellung gezeigte Kuss dauert kaum länger als eine Sekunde. Die Lippen von Rice und Irwin berühren sich dabei kaum; wenn überhaupt. Mit der speichelintensiven Zungenakrobatik moderner Hollywoodküsse hat das nichts zu tun.

Doch das, was einem aufgeklärten Kinogänger heute geradezu keusch und ein bisschen albern vorkommt, war in den frühen Tagen des Films eine Sensation. In Edisons Filmkatalog las sich das so: «They get ready to kiss, begin to kiss, and kiss and kiss and kiss in a way that brings down the house every time.» Immerhin war das, womit das kurze Stummfilmchen angeblich solch stürmischen Beifall erntete, die wohl erste Kussszene der Filmgeschichte. Der in Edisons Katalog unter dem Titel KISS2 geführte Film, der 1999 in die «National Film Registry» (das Verzeichnis der besonders erhaltenswerten US-Filme) aufgenommen wurde, entwickelte sich 1896 zum erfolgreichsten Vitascope-Film Edisons. Gleichzeitig gilt er aber auch als einer der ersten Filme, die den Ruf nach Zensur laut werden ließen. Als Musterbeispiel für die empörten Reaktionen, die KISS vor allem in traditionellen Kulturkreisen ausgelöst haben soll, wird die Äußerung eines Geistlichen kolportiert, der die angedeuteten Filmküsschen offenbar als viehisch empfand und als «lyric of the stockyards» – also Schlachthoflyrik oder Kuhstallpoesie – abkanzelte. «Bei so etwas sollte die Polizei einschreiten», ereiferte sich Herbert S. Stone, der Herausgeber der Chicagoer Literaturzeitschrift The Chap Book. In der Ausgabe vom 15. Juni 1896 ließ er kein gutes Haar an dem Filmschauspiel: «Keiner der beiden Beteiligten ist körperlich attraktiv, und der Anblick, wie sie sich gegenseitig ausgiebig an ihren Lippen weideten, war kaum auszuhalten… Auf gewaltige Maße vergrößert und dreimal wiederholt ist das schlechthin widerwärtig. Miss Irwin scheint auch die letzten zarten Überbleibsel ihres weiblichen Reizes verloren zu haben, und in ihrer betonten Obszönität ist die Darbietung nahezu unzüchtig.»3

Das Medium Film, das wird bei dieser Argumentation deutlich, das alltägliche Dinge in Überlebensgröße abbilden und sie beliebig oft wiederholen lassen konnte, und das mit seiner affektiven Macht die Massen auf Jahrmärkten oder im Varieté begeisterte, dieses proletarische Medium war in seinen Anfängen für das kulturelle Establishment selbst ein Skandalon. Ein Streifen wie KISS (Abb. 1–2) verstärkte alle Vorbehalte der traditionellen Eliten, die dem Film seine Kunstfähigkeit weitgehend absprachen und ihn auf eine technische Sensation reduzierten, die allenfalls auf Rummelplätzen ihre Berechtigung fand.

Image Missing

1-2 KISS (USA 1896): »schlechthin widerwärtig»

Gleichzeitig warf der Film aber auch eine Frage auf, die im Laufe der Filmgeschichte unter veränderten Vorzeichen stets wieder aufs Neue gestellt wurde: Was darf im Kino gezeigt werden und was nicht? Diese auf den Film gemünzte Variante der alten Frage «Was darf Kunst (nicht)?» begleitete jedes der Werke, die in Skandalfilme vorgestellt werden. Nur weil sie die Grenze des Zeigbaren überschritten, konnten sie überhaupt einen Skandal auslösen. Dass dazu 1896 schon ein angedeuteter Kuss ausreichte, verdeutlicht, dass diese Grenzen keineswegs a priori festgelegt sind. Sie richten sich vielmehr nach dem Konsens der Gesellschaft – oder zumindest einer gesellschaftlich relevanten Gruppe – darüber, was gerade noch als zumutbar empfunden wird. Doch so kulturgeprägt diese Grenzen auch sind und so sehr sie sich im Laufe der Jahre verschoben haben, ähneln sich doch die Gebiete, die sie zu cineastischen Sperrzonen erklären. Selbst Küsse konnten über 80 Jahre nachdem May Irwin und John Rice so getan hatten, als ob sie miteinander knutschen würden, noch einen Skandal entfachen, wenn wie 1977 in Wolfgang Petersens DIE KONSEQUENZ zwei Männer daran beteiligt waren. Überhaupt entzündeten sich viele Filmskandale an der Darstellung von Sexualität. Aus dem, was jeweils als skandalös empfunden wurde, lässt sich auch ein Wandel der geltenden gesellschaftlichen Sexualmoral ablesen. Aber so sehr sich die Bilder, die dazu in der Lage waren, für einen entrüsteten Aufschrei zu sorgen, mit der Zeit änderten, ähnelten sich die Vorwürfe. Als skandalös empfunden wurde das, was jeweils als «obszön» und «unzüchtig» galt.

1896 rief dann eben ein Kuss, 1933 in EKSTASE die nackt badende Hedy Lamarr die Sittenwächter auf den Plan. Und 1951 sorgte unter anderem die bloße Brust Hildegard Knefs für einen Sturm der Entrüstung. Die Aufregung um DIE SÜNDERIN war so nachhaltig, dass der Film in der Ausstellung «Skandale in Deutschland nach 1945» im Haus der Geschichte in Bonn 2007/08 zu den zwanzig größten Skandalen der deutschen Nachkriegsgeschichte gezählt wurde. Übrigens als einziger Film. Doch auch andere Skandalfilme wie die Bergman-Filme DIE ZEIT MIT MONIKA (1953) und DAS SCHWEIGEN (1963) hinterließen mit ihrer für damalige Zeiten provokativen Freizügigkeit ihre Spuren in der deutschen Kulturgeschichte. Schon damals aber war es nicht allein die nackte Haut, die für Aufregung sorgte, sondern vor allem auch der Bruch mit traditionellen Rollenmustern, den diese Nacktheit symbolisierte. Entsprechend ging es 1992 bei BASIC INSTINCT weniger darum, ob man nun bei einem Standbild am heimischen Videorekorder Sharon Stones Schamhaar erkennen konnte, wenn sie die Beine übereinander schlug, als vielmehr um den Typus, den sie in ihrer Rolle als männermordende bisexuelle Frau repräsentierte. Dass der Skandal bei BASIC INSTINCT dadurch ausgelöst wurde, dass sich homosexuelle Interessensverbände in den USA an der vermeintlich negativen Darstellung lesbischer Frauen in Paul Verhoevens Erotikthriller störten, zeugt von einem beachtlichen gesellschaftlichen Wandel. Filme wie ANDERS ALS DIE ANDERN (1919) oder DIE KONSEQUENZ (1977) hatten noch vor allem deshalb für einen Skandal gesorgt, weil Homosexuelle nach dem Geschmack vieler darin zu positiv wegkamen. Eine bemerkenswerte Ausnahme bildete Rosa von Praunheims NICHT DER HOMOSEXUELLE IST PERVERS, SONDERN DIE SITUATION, IN DER ER LEBT (1971), der sowohl bei Schwulenverbänden als auch in traditionell konservativen Kreisen auf heftige Kritik stieß.

Neben der Sexualität erwiesen sich im Laufe der Filmgeschichte vor allem die Themen Gewalt, Religion und Politik als skandalträchtig; und das besonders, wenn Filme, was häufig der Fall war, gleich auf mehreren Gebieten gegen geltende Tabus verstießen. Tabus zu brechen bzw. brechen zu wollen, genügte freilich nicht. Solange kaum jemand davon Kenntnis nahm, blieb der Skandal aus. Die öffentliche Debatte ist neben dem Verstoß gegen einen gesellschaftlichen Konsens eine weitere Grundvoraussetzung für jeden Skandal. Filme, die sich am Rande der öffentlichen Wahrnehmung bewegen, verfügen entsprechend nur über ein geringes Skandalpotenzial. Das gilt für Avantgarde- oder Undergroundfilme ebenso wie für Pornos. Die werden zwar wie blöde gekauft, aber man spricht nicht darüber. Im öffentlichen Diskurs sind sie, wenn überhaupt, dann als allgemeines Phänomen präsent. Man kann die Pornoindustrie insgesamt skandalös finden und, wie Alice Schwarzer es tat, eine Anti-Porno-Kampagne initiieren, einzelne Pornostreifen aber verursachen keine Debatten. Anders ist das, wenn pornografische Elemente in das Licht der Öffentlichkeit rücken, also das normale Kino erreichen. Allgemein gilt, je höher der soziale Status eines Filmes ist, je prominenter seine Besetzung, sein Regisseur, je höher sein Kunstwert gehandelt wird, desto tiefer kann er fallen. Je bekannter ein Film ist, desto schneller wird er zum Skandal. Und weil das bisweilen auch andersherum funktioniert, ist die Skandalisierung längst auch zu einem festen Bestandteil im Werberepertoire von Regisseuren und Filmfirmen geworden. Mitunter kommt die Werbung – wenn auch nicht unbedingt kostenlos – so doch unfreiwillig von denjenigen, die den Film am liebsten ganz verschwinden lassen würden. So nahm eine größere Öffentlichkeit von Achternbuschs DAS GESPENST erst Notiz, als der damalige Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann sich weigerte, dem Regisseur die zugesagten Fördergelder auszuzahlen. Auch Verbotsversuche brachten Filme ins Gespräch. Umgekehrt wurden, insbesondere in der Weimarer Republik, Skandale auch immer wieder gezielt geschürt, um im Doppelpass mit Gesetzgeber und Polizei, die ja für die öffentliche Ordnung und Sicherheit sorgen sollten, ein Verbot zu provozieren.

Erwiesen sich auch die öffentlichen Zensurdebatten und das Pingpongspiel von Verbot und Freigabe als skandalfördernd, so galt das nicht, wenn durch Zensurmaßnahmen verhindert wurde, dass ein Film überhaupt an die Öffentlichkeit gelangte, und sich auch diese Vor-Zensur der öffentlichen Diskussion entzog. Mit anderen Worten: Skandalfilme erfordern ein Mindestmaß an Meinungsfreiheit. Diktaturen verhindern Skandalfilme, weil Normverstöße bereits im Vorfeld geahndet werden und eine offene Kritik im Rahmen der Gesetze ebenso wenig möglich ist wie kontrovers geführte gesellschaftliche Debatten. Skandalfilme können nur dort entstehen, wo es einen gesellschaftlichen Grundkonsens gibt und die Freiheit dagegen zu verstoßen. Daher bewegen sich Skandalfilme immer in der Grauzone zwischen Moral und Gesetz. Der Ruf nach der Polizei bleibt dagegen, wie auch im Fall von KISS, oft unerhört, weil die Filme zwar gegen die Regeln des Anstandes verstoßen, damit aber – im Gegensatz zu den Verursachern manch anderer Skandale – zumeist nicht gegen geltendes Recht. Vielmehr führt häufig gerade der Versuch, die moralischen Grenzüberschreitungen eines Filmes juristisch zu ahnden, erst zum eigentlichen Skandal. Zumindest aber erwiesen sich Verbotsversuche – wie etwa bei Pier Paolo Pasolinis SALÒ ODER DIE 120 TAGE VON SODOM (1975), Nagisa Oshimas IM REICH DER SINNE (1976) oder Herbert Achternbuschs DAS GESPENST (1982) – als treue Begleiter von Skandalfilmen. Auch hier lassen sich Rückschlüsse auf den Zustand einer Gesellschaft ziehen, auf ihre moralische Verfassung ebenso wie auf ihre juristische. In einem freiheitlichen Staat sind die Hürden für Filmverbote hoch, einer Diktatur gehen sie deutlich leichter von der Hand. Da sie dort gewöhnlich bereits vorab ausgesprochen werden, also ehe ein Film das Licht der Öffentlichkeit erblickt, gerät die Zensur nur dann in Erklärungsnot, wenn sie im Vorfeld im Sinne des Regimes versagt hat. Ein Beispiel hierfür ist Frank Beyers SPUR DER STEINE (1966), bei dem ein von Staats wegen inszenierter Skandal den Vorwand dafür lieferte, ihn nachträglich zu verbieten. Echte Skandalfilme konnte es in totalitären Staaten wie der DDR oder Nazideutschland jedoch nicht geben, weil hier zwischen moralischem und juristischem Recht im Prinzip kein Unterschied gemacht wurde. Wo sich der Staat als oberste und letztlich einzige moralische Instanz versteht, muss jede moralische Abweichung automatisch zu einem Gesetzesverstoß führen.

In freiheitlichen Gesellschaften hingegen reiben sich Filmskandale an jeweils geltenden Moralvorstellungen. Lockern sich diese, verlieren auch die Filme ihre skandalöse Wirkung. Beispiele für einen solchen Wandel gibt es neben KISS oder DIE SÜNDERIN zahlreiche. Die Geschichte der Skandalfilme lässt sich daher auch als exemplarische Kulturgeschichte lesen. Skandalfilme werden darin dann zu Indikatoren für sozialen Wandel und kulturelle Unterschiede. Deutlich wird dies, wenn ein Actionfilm wie TAL DER WÖLFE – IRAK (2006) von türkischen Politikern gelobt und von deutschen verteufelt wird. Es zeigt sich aber auch, wenn Michael Haneke nur zehn Jahre nach dem Skandal um sein Horrorkammerspiel FUNNY GAMES (1997) daran scheitert, mit einem Remake nun auch in den USA für Aufregung zu sorgen.

Mehrfach schon wurde das Ende aller Skandale heraufbeschworen. Bereits 1958 soll André Breton zu Luis Buñuel, dem Schöpfer des surrealistischen Skandalfilms L’AGE D’OR (DAS GOLDENE ZEITALTER, 1930) gesagt haben, es sei «nicht mehr möglich, bei irgend jemandem einen Skandal hervorzurufen». In einem 1966 veröffentlichten Interview schließt sich Buñuel dieser Auffassung an: «In London fand eine Retrospektive meiner Filme statt, auf der L’AGE D’OR zwölfmal vorgeführt wurde (ein Briefträger hat an allen zwölf Vorführungen teilgenommen). Kein einziger Protest, kein einziges Zeichen des Unbehagens. Die Leute fanden den Film sehr erheiternd.»4 Es griffe freilich zu kurz, daraus, dass ein Film, der 1930 die Gemüter erhitzte, das mehr als dreißig Jahre – und einen Weltkrieg – später nicht mehr tat, zu schließen, dass die Zeit der Skandalfilme generell zu Ende sei. Auch nach 1966 gab es noch genügend Filme, die für Aufruhr sorgten.

«Vorbei sind auch die Zeiten umstrittener Filme, es gibt keine Skandale mehr», behauptete 1997 dann auch die katholische Filmfachzeitschrift Film-Dienst5. Schon zwei Jahre zuvor hatte Peter Hasenberg ebenfalls im Film-Dienst zu erkennen geglaubt, dass «Skandalfilme keine hohen Wellen mehr schlagen», was er darauf zurückführte, dass das Kinopublikum immer jünger werde.6 Das Bedauern, das in dieser Beobachtung mitschwang, mag daher rühren, dass die Brisanz eines Themas immer auch in Wechselwirkung mit dessen gesellschaftlicher Relevanz tritt. Nur wichtige Themen sorgen für Aufregung. Umgekehrt rückt ein Thema, das für einen Skandal sorgt, verstärkt in den gesellschaftlichen Mittelpunkt. Erst richtig schlimm bestellt wäre es demnach um die Kirche, wenn sich keiner mehr über sie aufregte. Thomas Kucharz umschrieb das 1992 so: «Skandale um Jesus-Filme sprechen im Prinzip eher für als gegen die Filme und eher für als gegen ihre Nähe zum Skandal der <message> Jesu.»7 Es spräche also nicht unbedingt für einen hohen sozialen Stellenwert christlicher Kirchen, wenn Jesus aufhörte, im Kino für Skandal zu sorgen. Darüber, ob nicht andere gesellschaftliche Felder oder auch andere Religionen wie etwa der Islam stattdessen für den einen oder anderen Skandal gut wären, würde das aber nichts aussagen. Auch nach 1997 gab es noch Skandalfilme, und spätestens nach dem Skandal um Mel Gibsons DIE PASSION CHRISTI (2004) erwies sich auch der Abschied vom Jesusfilmskandal als vorschnell. Und, so tolerant die heutige westliche Zivilisation erscheinen mag, Skandalfilme wird es auch hier weiterhin geben.

Zum Glück, muss man anfügen. Denn während im Spannungsfeld von Moral und Freiheit am einen Ende der Skala totalitäre Staaten Skandalfilmen den Nährboden entziehen, wären es am anderen Pol tabulose Gesellschaften, in denen es keinerlei gemeinsamen moralischen Konsens mehr gibt. Auch insofern fungieren Skandalfilme als soziale Seismographen, die einiges über den Zustand einer Gesellschaft verraten. Eine Gesellschaft ohne Skandale, ein Kino ohne Skandalfilme sollte man sich da eher nicht herbeiwünschen. Aber heißt das umgekehrt, dass Skandalfilme eine kulturelle Bereicherung darstellen? Tun Skandale der Gesellschaft gut? Das zumindest ist eine, wenn auch nicht unumstrittene, These, die sich bis zu Emile Durkheim (1858–1917), einem der Begründer der empirischen Soziologie, zurückverfolgen lässt. Demnach stärken Tabu- und Normverletzungen, um die es sich bei Skandalen ja handelt, letztlich den gesellschaftlichen Zusammenhang und Wertekanon, indem sie der von ihnen überschrittenen Grenze neue Relevanz verleihen. Indem ihre Grundwerte attackiert werden, wird sich die Gesellschaft dieser wieder bewusst, verteidigt sie und bekräftigt sie dadurch.

Dass Skandalfilme aber nicht zwangsläufig eine unfreiwillige konservative, wertstabilisierende Wirkung haben müssen, belegt Rosa von Praunheims NICHT DER HOMOSEXUELLE IST PERVERS, SONDERN DIE SITUATION, IN DER ER LEBT, der 1971 eine nachhaltige öffentliche Debatte in Gang brachte und mit der Schwulen-und-Lesbenbewegung im deutschsprachigen Raum eine soziale Bewegung zumindest mitinitiierte, die erreichte, dass traditionelle Werte gesellschaftlich neu verhandelt wurden. Der Skandal um NICHT DER HOMOSEXUELLE IST PERVERS… gilt heute als Meilenstein der homosexuellen Emanzipation.

Wenn Skandalfilme auf die eine oder andere Weise einer Gesellschaft gut tun können, bedeutet das aber natürlich nicht, dass man sie in jedem Fall wort- und klaglos hinnehmen sollte. Sie ernst zu nehmen, heißt auch, sie dort zu kritisieren, wo es angebracht erscheint. Wer Skandal macht, hat eben nicht immer recht. Auch heute noch könnten Küsse und Nacktheit auf der Leinwand für möglicherweise berechtigte Skandale sorgen, wenn sich ein Film damit, wie 1995 Larry Clarks KIDS, den Vorwurf der Pädophilie einhandelte.

Es gibt aber noch einen weiteren Grund, weshalb auch für die Zukunft mit Skandalfilmen zu rechnen ist. Nämlich einfach, weil das Publikum Spaß daran hat. Der Journalist Andreas Förster belegte 2006 die zunehmende Skandalisierung der Mediengesellschaft mit einem einfachen Rechercheexperiment. Er gab den Suchbegriff «Skandal» in ein elektronisches Archiv ein, in dem die Artikel der fünfzehn wichtigsten Zeitungen und Zeitschriften Deutschlands gespeichert waren. 1996 tauchte der Begriff 3879 mal auf, zehn Jahre später, 2006, 7125 mal, fast doppelt so oft. Gab es also 2006 doppelt so viele Skandale wie zehn Jahre zuvor? Wohl kaum. Förster spricht stattdessen von einer «moralischen Entwertung des Skandal-Begriffs»8. Der Skandal führt nicht mehr zu einer profunden thematischen Auseinandersetzung, sondern verkommt, nach Försters Ansicht, zum reinen Showeffekt, zum Ablenkungsmanöver, das Aufklärung eher verhindert als fördert. Ähnlich sieht das der ehemalige Spiegel-Chefredakteur Erich Böhme: «Der verzweifelte Versuch, […] Nichtigkeiten zu skandalisieren, ist der beste Beweis dafür, dass es heute keine echten Skandale mehr gibt.»9 Es beweist aber auch, dass die Sehnsucht danach ungebrochen ist. Vielleicht ähnelt das Verhältnis von Skandal und Moral ja demjenigen von Horrorfilmen und Religion. So wie sich der Kult des Bösen als Sehnsucht nach dessen Gegenteil, dem Göttlichen, interpretieren lässt, so mag sich vielleicht auch in der Lust am Skandal der Wunsch nach verbindlichen moralischen Wertmaßstäben spiegeln. Über den Umweg der Empörung lassen sich mühelos moralische Standpunkte beziehen, die nicht erst umständlich hergeleitet und aus sich selbst heraus legitimiert werden müssen. Es versteht sich, dass solche Positionen wankelmütig und oberflächlich bleiben. Mit einer Gesellschaft, in der es immer mehr Skandälchen, aber immer weniger echte Skandale gibt, stünde es demnach auch nicht gerade zum Besten.

Im Kino ist eine entsprechende Entwicklung nur teilweise zu erkennen. Es scheinen eher die Stars, die Schauspieler und Regisseure, denen vom Boulevard private Skandale angedichtet werden, als die Filme selbst. Skandal und Moral werden individualisiert, reduzieren sich auf die Frage des persönlichen Lebensstils. Freilich wird gleichzeitig auch manch kleiner cineastischer Aufreger publicityträchtig zum handfesten Skandal hochgejazzt; tiefgründige Debatten nicht inbegriffen. Eine klare Grenze lässt sich hier nicht ziehen. In Skandalfilme geht es jedenfalls nicht darum, aus Mücken Elefanten und aus jedem indignierten Hüsteln einen moralischen Aufschrei zu machen. Die Skandalfilme, die hier ausführlich vorgestellt werden, haben sich diese Bezeichnung redlich und manchmal auch unredlich verdient. Dennoch sollte man das Wort «Skandal» nicht allzu sehr auf die Goldwaage legen. Es wäre geheuchelt, zu behaupten, dass ein Buch über Skandalfilme wie dieses nicht auch der Lust an der Sensation frönte, am Verruchten, Verbotenen, am Spektakel, am Streit, am Drama, am Voyeurismus. Ohne all das wäre aber auch das Kino, wie wir es kennen, kaum vorstellbar. Skandalfilme bilden insofern eine Art Essenz des Kinos. In der Geschichte der Skandalfilme zeichnet sich die Geschichte des Skandalons Film insgesamt ab, in seiner ganzen Vielfalt; mitreißend, quälend, unterhaltsam, streitbar: vom Kunst- bis zum Kommerzkino, vom Meister- bis zum Machwerk.

 

1 Bei einer Aufnahme von 30 Einzelbildern (Frames) pro Sekunde.

2 Der auch unter den Titeln THE MAY IRWIN KISS, THE RICE-IRWIN KISS oder THE WIDOW JONES bekannte Film ist im Internet zu sehen unter: http://memory.loc.gov/cgi-bin/query/h?ammem/papr:@field (NUMBER+@band(edmp+4038)) (29.04.10.)

3 Zitiert nach: Lothar Bredella (Hrsg.): Der amerikanische Dokumentarfilm. Tübingen 1994, S. 53.

4 Ulrich Gregor: wie sie filmen. Gütersloh 1966, S. 96f.

5 ‹Film-Dienst› 1947–1997. In: Film-Dienst 26, 1997.

6 Peter Hasenberg: Von Abwehrgefechten zu Dialog-Ansätzen – Skandalfilme in der katholischen Filmarbeit. In: Film-Dienst 12, 1995.

7 Thomas Kucharz: Skandal um Jesus. In: Katholisches Institut für Medieninformation e.V. (Hrsg.): film-dienst Extra: Jesus in der Hauptrolle – Zur Geschichte und Ästhetik der Jesus-Filme. Köln 1992, S. 47.

8 Andreas Förster: Skandalisierung statt Aufklärung. In: Christian Schertz, Thomas Schuler (Hrsg.): Rufmord und Medienopfer. Berlin 2007, S. 103.

9 Jens Bergmann; Bernhard Pörksen (Hrsg.): Skandal – Die Macht öffentlicher Empörung. Köln 2009, S. 77.

Von den Anfängen bis 1949

Den Kinogegnern der ersten Stunden hätte die Rede vom «Skandalfilm» wohl wie eine Tautologie erscheinen müssen. Der Skandal steckte für sie im Film automatisch mit drin. Kinematographie galt ihnen als Jahrmarktsschund, eine Sensation für den Pöbel, kulturell minderwertig und verderblich dazu. Hinter den bewegten Bildern vermuteten sie eine suggestive Kraft, die sie als bedrohlich empfanden. Es kursierten Berichte von mehr oder weniger schockierenden Nachahmungstaten. Ein Junge jagte sich angeblich mit dem väterlichen Revolver eine Kugel in den Kopf, als er eine Filmszene nachspielte.1 Ein anderer schmierte einem 10-jährigen Mädchen trockenes Farbpulver ins Gesicht. Auch daran sollte das Kino, diese «Schule des Verbrechers»2 schuld sein.3 Es stellten sich Fragen nach dem Zusammenhang zwischen Rezeption und Ausübung von Gewalt, die an die Debatten um Amokläufe und Killerspiele erinnern und bis heute nicht vollständig beantwortet sind.

«Wie schützen wir die Kinder vor den schädlichen Einflüssen der Theater lebender Photographie?» fragte sich 1907 eine Kommission, die der Hamburger Lehrerverein «Gesellschaft der Freunde des vaterländischen Schul- und Erziehungswesens» ins Leben gerufen hatte.4 Ein mögliches Mittel zu diesem «Schutz» war die Film-Vorzensur, die am 5. Mai 1906 in Berlin durch einen Erlass des Berliner Polizeipräsidenten erstmalig eingeführt worden war. Vorausgegangen waren dieser Polizeiverordnung mehrere Filme, die über das ohnehin Skandalöse des Mediums hinaus für Aufregung sorgten, weil sie die Polizei kritisierten oder sich über sie lustig machten. Gegenstand der Filme war ein zeitgenössischer Kriminalfall: die Geschichte des Raubmörders Rudolf Hennig und seiner spektakulären Flucht vor der Berliner Polizei. Der bekannteste dieser Filme war Gustav Schönwalds (1868–1919) DIE FLUCHT UND VERFOLGUNG DES RAUBMÖRDERS RUDOLF HENNIG ÜBER DIE DÄCHER VON BERLIN (1905). Wenn man so will, war dieser circa 100 Meter kurze, von der «Internationalen Kinematograph- und Lichtbild-Gesellschaft» in Berlin hergestellte Streifen der erste Skandalfilm der deutschen Filmgeschichte.

Hennig war mittlerweile gefasst worden, als das Berliner Polizeipräsidium am 13. April 1906 ein Vorführungsverbot über alle «auf künstlichem Wege hergestellten Darstellungen von Hennigs Mordtat und seiner Flucht» verhing, weil darin die Polizei verunglimpft und in ein schwebendes Verfahren eingegriffen werde. Das Verbot wurde zwar bereits am 18. April wieder aufgehoben. Gleichzeitig aber wurde für die Zukunft Vorsorge getroffen. Am 5. Mai, vier Tage nachdem Hennig zum Tode verurteilt worden war, führte der Berliner Polizeipräsident die Vorzensur ein. Kinobesitzer mussten ihr Programm fortan im Polizeipräsidium einreichen. Filme konnten zur Vorführung «freigegeben» oder «verboten» werden oder auch in die Kategorie «verboten für Kinder» fallen. Auch Schnittauflagen konnten als Voraussetzung für eine Freigabe verhängt werden.5

Deutschlandweit fand der Berliner Erlass Nachahmer, und Filmprüfstellen wurden eingerichtet. Die Filmzensur wurde in den kommenden Jahren zunehmend vereinheitlich und systematisiert. Doch erst mit dem Ministerialerlass vom 30. April 1912 und seiner Präzisierung im Juli 1912 konnte zumindest für Preußen von einer einheitlichen Filmzensur unter dem Dach der Polizeibehören gesprochen werden.6

Diese Situation änderte sich grundlegend nach Ende des 1. Weltkrieges in der Übergangsphase vom Kaiserreich zur Weimarer Republik als der «Rat der Volksbeauftragten» am 12. November 1918 die Zensur abschaffte. Im Artikel 118 der Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 wurde diese Zensurfreiheit zwar prinzipiell bestätigt, gleichzeitig jedoch potenziell eingeschränkt: «Eine Zensur findet nicht statt, doch können für Lichtspiele durch Gesetz abweichende Bestimmungen getroffen werden. Auch sind zur Bekämpfung der Schund- und Schmutzliteratur sowie zum Schutze der Jugend bei öffentlichen Schaustellungen und Darbietungen gesetzliche Maßnahmen zulässig.» Eine solche «abweichende Bestimmung» erfolgte am 12. Mai 1920 mit dem 1. Reichslichtspielgesetz.

In den 18 Monaten aber, die zwischen der Abschaffung der Filmzensur und ihrer Wiedereinführung lagen, traf die Kunstfreiheit in Deutschland auf eine durch die Erfahrungen des verlorenen Krieges hochgradig verunsicherte, inhomogene Gesellschaft mit in weiten Teilen dennoch unverändert strikten Moralvorstellungen. Das ideale Klima für Skandalfilme. Eine Welle von Aufklärungs-, Sitten- und Animierfilmen, auf die im Zusammenhang mit dem Skandal um Richard Oswalds ANDERS ALS DIE ANDERN (1919) noch näher eingegangen wird, ergoss sich über die Lichtspielhäuser und wurde von ihren Gegnern mit einer Gegenwelle wutschäumender Empörung beantwortet. Kinokritiker, die sich in ihrem Kampf gegen den «Schundfilm» ereiferten, unterschieden oft kaum noch zwischen ernstgemeinter und nur geheuchelter Aufklärung über Themen wie Prostitution, Ehebruch, Geschlechtskrankheiten, Homosexualität, Abtreibung oder Mädchenhandel. Einmal mehr drohte das Kino per se als Hort der Unmoral diffamiert zu werden. In einem Bericht an das Reichsinnenministerium fasste die «Kölner Volksgemeinschaft zur Wahrung von Anstand und guter Sitte» ihre Erfahrungen aus dem Besuch von 36 Lichtspieltheatern 1920 folgendermaßen zusammen: «Was zunächst die Zuschauer betrifft, so stammten diese in überwiegender Zahl aus Arbeiterkreisen. Die besseren Bürgerfamilien und die Gebildeten scheinen das Kino gänzlich zu meiden. […] Viele Frauen, oft mit kleinen Kindern, meist ohne Begleitung ihrer Männer, waren zu bemerken, auch manchmal mit Männern, die wohl nicht ihre Ehemänner sind. […] Vielfach wurden auch junge Pärchen aus dem Arbeiterstand beobachtet, die sich in nicht ganz einwandfreier Weise auf den weniger beleuchteten Plätzen benahmen. […] Ausgesprochene Straßendirnen, die in ihrem Benehmen sofort erkennbar waren, suchten hier ihre Opfer.»7

Und wenn die «besseren Bürgerfamilien» dann doch einmal ins oder vors Kino gingen, dann, so schien es beinahe, um gegen die «unsittlichen Zustände» zu demonstrieren, zu pfeifen und ihr Geld zurückzuverlangen. Allerorten kam es zu Zwischenfällen und öffentlicher Empörung. Selbst liberale Zeitgeister wie Kurt Tucholsky alias Ignaz Wrobel entrüsteten sich: «Inzwischen bilden die Leute Queue, wenn Parvus Rehwiese8 wieder einen Paragraphen des Strafgesetzbuches verfilmt hat (es stehen noch aus: § 176,3 – wer mit Personen unter vierzehn Jahren unzüchtige Handlungen vornimmt…; § 177 – Notzucht; § 183 Öffentliche Erregung eines geschlechtlichen Ärgernisses; und nur der § 184 ist vor dem Filmisten sicher, weil er selber drunter fällt: Verbreitung unzüchtiger Schriften.) Die Leute also stehen vor der Kasse bis auf die Straße, unser Mahnruf wird da auch nichts helfen, und es bleibt schon bei unserm guten alten Spruch: Jeder seins.»9

Es blieb nicht dabei. Am 12. Mai 1920 trat das Lichtspielgesetz in Kraft, das die öffentliche Vorführung von Filmen nur noch erlaubte, wenn sie zuvor von «amtlichen Prüfungsstellen» zugelassen wurden. Diese Filmprüfstellen, die anschließend in München und Berlin eingerichtet wurden, hatten in erster Instanz die Zulassung zu versagen, wenn «die Vorführung eines Bildstreifens geeignet» schien, «die öffentliche Ordnung und Sicherheit zu gefährden, das religiöse Empfinden zu verletzen, verrohend oder entsittlichend zu wirken, das deutsche Ansehen oder die Beziehungen Deutschlands zu auswärtigen Staaten zu gefährden». Der große Spielraum, den die Zensoren aufgrund dieser allgemein gehaltenen und vage formulierten Verbotsgründe erhielten, sollte durch die von der SPD und DDP durchgesetzten «Tendenzklausen» wieder etwas eingeschränkt werden. Danach durfte ein Film «wegen einer politischen, sozialen, religiösen, ethischen oder Weltanschauungstendenz als solcher» nicht verboten werden. Das Lichtspielgesetz legitimierte damit eine Wirkungszensur, die sich nicht am Geschmack der Zensoren oder reinen Inhalt des Filmstreifens zu orientieren hatte, sondern an der von ihm ausgehenden Wirkung. Diese wiederum musste ihren Ursprung im Film selbst haben. Aus «Gründen, die außerhalb des Inhalts des Bildstreifens liegen», durfte einem Film die Zulassung nicht verweigert werden. Filmen, «bei denen die Gründe der Versagung der Zulassung nur hinsichtlich eines Teils der dargestellten Vorgänge zutreffen», konnte die Prüfstelle Schnittauflagen für eine Zulassung erteilen. Für eine Zulassung zur Vorführung vor Jugendlichen musste zusätzlich «eine schädliche Einwirkung auf die sittliche, geistige oder gesundheitliche Entwicklung oder eine Überreizung der Phantasie der Jugendlichen» ausgeschlossen werden können. Kinder unter sechs Jahren war der Kinobesuch nicht erlaubt.

Das Lichtspielgesetz erfuhr mehrere Novellierungen; eine davon als Reaktion auf den von den Nationalsozialisten provozierten Skandal um IM WESTEN NICHTS NEUES (1930). Im Oktober 1931 wurde per Notverordnung ein weiterer Verbotsgrund in das Gesetz aufgenommen. Eine Zulassung war demnach auch dann zu versagen, wenn «lebenswichtige Interessen des Staates» gefährdet wurden. Gegen eine Zulassung durch die Prüfstelle, die jeweils für das gesamte Reichsgebiet galt, konnten die Länder Widerspruch einlegen. Auch konnte der Vorsitzende der Prüfstelle oder, im Fall eines Verbotes, die betroffene Filmproduktionsfirma Beschwerde gegen den Entscheid einlegen. In letzter Instanz entschied jeweils die Filmoberprüfstelle in Berlin über die Zulassung des Films. Sowohl die Kammern der Prüfstellen als auch die Oberprüfstelle setzten sich aus einem Vorsitzenden und vier Beisitzern zusammen, von denen «einer dem Lichtspielgewerbe und zwei den Kreisen der auf den Gebieten der Volkswohlfahrt, der Volksbildung oder der Jugendwohlfahrt besonders erfahrenen Personen zu entnehmen» waren. Da der Gesetzestext einen weiten Auslegungsspielraum offen ließ, war es oftmals die jeweilige personelle Zusammensetzung des Beirates, die in strittigen Fällen über Zulassung und Verbot entschied.

Image Missing

3 D.W Griffith’ GEBURT EINER NATION: «Bösartigste Herabwürdigung»

In diesem Grenzbereich am Rande des Verbots bewegten sich auch die meisten Skandalfilme der Weimarer Republik, sodass sich der Skandal um einen Film häufig zu einer Debatte über die Zensur bzw. die Entscheide der jeweiligen Prüfstellen ausweitete. Mit dem Lichtspielgesetz verschoben sich die Schwerpunkte bei den Themen, die Skandale hervorriefen. «Sitten-» oder unsittliche Filme sorgten nicht mehr ganz so häufig für Aufsehen. Zum öffentlichen Ärgernis gerierten sie vor allem dann, wenn sie, wie etwa GIER NACH GELD (1924), ein unbequemes Gesellschaftsbild zeichneten oder wie TAGEBUCH EINER VERLORENEN (1929) eine Haltung vertraten und eine Lebensweise propagierten, die als unmoralisch empfunden wurde.

Allerdings nicht nur dann. So protestierte etwa die bayerische Turnerschaft energisch gegen den von Wilhelm Prager inszenierten Ufa-Film WEGE ZU KRAFT UND SCHÖNHEIT (1924/25), in dem zur Veranschaulichung von Körperertüchtigung und Körperkult(ur) serienweise nackte – aber nicht etwa «ausgekleidete», wie Siegfried Kracauer in seiner Filmkritik lobend hervorhob10 – und halbnackte Menschen posierten. Die Landesregierungen von Bayern, Baden und Hessen legten Widerspruch gegen die Zulassung des Films ein, konnten jedoch nicht mehr als einige zusätzliche Schnittauflagen erreichen. «Die Darstellung des ‹Nackten› schlechthin ist nicht entsittlichend», entschied die Berliner Oberprüfstelle.11

Die Filmskandale um die beiden Buñuel-Filme EIN ANDALUSISCHER HUND (1929) und DAS GOLDENE ZEITALTER (1930) wurden in Deutschland nur am Rande wahrgenommen. Wegen der besonderen filmhistorischen Bedeutung dieser beiden Werke und weil sie die wohl herausragendsten Filmbeispiele surrealistischer Skandallust darstellen, werden sie, mit einem Blick über den deutschen Tellerrand hinaus, auf den folgenden Seiten dennoch vorgestellt. Schon 1915 hatte ein anderer Filmkünstler mit einem filmästhetisch bahnbrechenden Werk in den USA für gewaltige Unruhen gesorgt. D.W. Griffith’ THE BIRTH OF A NATION (DIE GEBURT EINER NATION; Abb. 3) lockte nicht nur über 800.000 Besucher in die US-Kinos, womit er zum erfolgreichsten Stummfilm der Kinogeschichte avancierte, sondern auch Tausende auf die Straßen. Die Mitglieder der afro-amerikanischen Bürgerrechtsorganisation NAACP («National Association of the Advancement of Colored People») protestierten gegen die «bösartigste Herabwürdigung» aller Farbigen und gegen die rassistische Botschaft des Films, der die Anhänger des Ku Klux Klans zu Verteidigern des weißen Geburtsrechtes zu verklären schien.12 Bei den Filmpremieren in Austin, Texas und Atlanta, Georgia feierten Zuschauer das Wiederaufleben des Klans und paradierten jubelnd durch die Stadt.13 Der Filmskandal um THE BIRTH OF A NATION legte den Finger in die Wunde einer in der Rassenfrage noch immer gespaltenen Nation.

Auch für das gesellschaftliche Klima in Deutschland war es zur Zeit der Weimarer Republik bezeichnend, dass die größten Filmskandale keinen sittlichen Ursprung mehr hatten, sondern vielmehr einen politisch-ideologischen. Die Fronten verliefen dabei nicht zwischen tabubrechenden Künstlern und Filmproduzenten einerseits und der aufgebrachten moralischen Mehrheit andererseits, sondern zwischen rechtem und linkem Lager. So stehen auch die Auseinandersetzungen um Filme wie FRIDERICUS REX (1920/21), PANZERKREUZER POTEMKIN (1925), IM WESTEN NICHTS NEUES oder DAS FLÖTENKONZERT VON SANSSOUCI (1930) beispielhaft für eine polarisierte Gesellschaft ohne eine breite und stabile politische Mitte. Nicht selten schlugen sich die in der Presse, auf der Straße und in den Kinos ausgefochtenen ideologischen Grabenkämpfe in den Entscheiden der Prüfstellen nieder, in denen das Lichtspielgesetz je nach Zusammensetzung des Beirates völlig unterschiedlich angewandt wurde.

Während die Filmskandale in der Zeit bevor das Lichtspielgesetz verabschiedet worden war oftmals Stimmen nach Wiedereinführung der Zensur laut werden ließen, führten die Verbotsmöglichkeiten des Lichtspielgesetzes in den Jahren danach teilweise zu einer bewussten Skandalisierung von Filmen. Skandale wurden gezielt inszeniert oder geschürt, Kinovorstellungen gestört und die «öffentliche Ordnung» auf den Straßen vor den Kinos gefährdet, um auf diese Weise ein Verbot des ideologisch unliebsamen Filmes zu erzwingen. Dabei lieferte der «Skandalfilm», wie etwa bei den von Goebbels gelenkten gewaltsamen Protesten gegen IM WESTEN NICHTS NEUES, den willkommenen Vorwand für einen grundlegenden gesellschaftspolitischen Machtkampf. Dass sich die Gewichte darin gegen Ende der Weimarer Republik zum rechten Rand hin verschoben hatten, lässt sich anhand der Zensurpraxis in den Auseinandersetzungen um die politischen Skandalfilme der Weimarer Republik exemplarisch nachweisen. Ein Vergleich der Prüf- und Widerspruchs- bzw. Beschwerdeverfahren bei den Filmen NATHAN DER WEISE (1922/23) und IM WESTEN NICHTS NEUES veranschaulicht den Rechtsruck innerhalb der Filmzulassungsstellen. Eine wichtige Rolle spielte hier jedoch bereits der Wechsel in der Leitung der Berliner Filmoberprüfstelle, wo Ernst Seeger 1924 den bisherigen Vorsitzenden Carl Bulcke abgelöst hatte. Deutlich wird am Beispiel der Weimarer Skandalfilme außerdem, dass sich der politisch-ideologische Riss, der die Republik bedrohte, auch durch deren Zensurbehörden zog.

Einen unfreiwilligen Rechtsrutsch in der Führungsriege hatte 1927 auch die bedeutendste deutsche Filmproduktionsfirma der Weimarer Republik, die Universum Film AG, kurz Ufa, erlebt. Die finanzielle Krise der Ufa hatte sich durch den als Rettungsanker gedachten «Parufamet-Vertrag» mit den US-Studios Paramount und Metro-Goldwyn-Mayer und das gigantische Minusgeschäft mit Fritz Langs METROPOLIS (1925/26) noch verschärft. Das ermöglichte es Alfred Hugenberg, dem Chef der einflussreichen rechtskonservativen Scherl-Verlagsgruppe und Mitbegründer der reaktionären Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), 1927 die Ufa zu übernehmen.

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten geriet die Ufa dann de facto unter staatliche Kontrolle. Das Lichtspielgesetz vom 16. Februar 1934, das nun auch eine Verletzung des «nationalsozialistischen Empfindens» als Verbotsgrund vorsah und einen Reichsfilmdramaturgen einführte, der jedes Filmprojekt vorab prüfte, sollte sicherstellen, dass künftig nur noch linientreue Filme ihren Weg auf die Leinwand fanden. Die Filmprüfstelle in München wurde geschlossen, und die Berliner Prüfstellen wurden in die Abteilung Film des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda integriert. Leiter der Abteilung wurde Ernst Seeger.

Für Filmskandale blieb im totalitären Kontrollsystem der Nationalsozialisten kein Raum. Weder schafften es strittige Filme überhaupt ins Kino, noch hätte es in der gleichgeschalteten Medienlandschaft ein Forum für eine öffentliche Debatte gegeben. Der bis zum Ende der nationalsozialistischen Herrschaft letzte große Skandalfilm, der – wenn auch in einer völlig verstümmelten und veränderten Fassung und nur für kurze Zeit –in Deutschland gezeigt wurde, war Gustav Machatýs EKSTASE (1933), der unter dem Titel SYMPHONIE DER LIEBE am 8. Januar 1935 in Berlin uraufgeführt wurde. Zwar hatte der Film vor allem in Österreich und Italien für Skandale gesorgt, doch auch in Berlin stieß er auf – eine möglicherweise von den Nationalsozialisten verordnete – Ablehnung. Offensichtlich hatte die nationalsozialistische Filmkontrolle hier (noch) nicht reibungslos funktioniert. Bemerkenswert sind auch die Stimmen aus der Filmkritik, die zum Teil ausdrücklich die Eingriffe der Zensur bemängelten. Derart kritischen Tönen entzog Joseph Goebbels am 27. November 1936 mit dem «Erlass zur Neuformung des deutschen Kulturlebens» die rechtliche Grundlage. Darin heißt es:

«Da auch das Jahr 1936 keine befriedigende Besserung der Kunstkritik gebracht hat, untersage ich mit dem heutigen Tage endgültig die Weiterführung der Kunstkritik in der bisherigen Form. An die Stelle der bisherigen Kunstkritik, die in völliger Verdrehung des Begriffs ‹Kritik› in der Zeit jüdischer Kunstüberfremdung zum Kunstrichtertum gemacht worden war, wird ab heute der Kunstbericht gestellt; an die Stelle des Kritikers tritt der Kunstschriftleiter. Der Kunstbericht soll weniger Wertung als vielmehr Darstellung und damit Würdigung sein.»14