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»Mittendrin sein und zugleich am Rande – jeder macht diese Erfahrung, wenn er durch die belebten Straßen einer Stadt geht. Jeder ist in seinem eigenen Roman und liest im Vorbeigehen die flüchtig aufleuchtenden Zeichen der fremden Schrift.«

»Die Erkenntnis einer ­verborgenen Möglichkeit« – Zu Dieter ­Wellershoffs ­ausgewählten ­Erzählungen

von Peter Henning

Im vielgestaltigen und auf den ersten Blick von den großen Romanen sowie den literaturtheoretischen Schriften und Essays dominierten Gesamtwerk des Kölner Schriftstellers Dieter Wellershoff kommt der Erzählung schon lange eine besondere Bedeutung zu.

Ich selbst bin dem Erzähler Dieter Wellershoff zuerst in Form seiner kürzeren Texte begegnet, in Gestalt der Erzählsammlung Der Körper und die Träume Ende der Achtzigerjahre. Und ich, der ich mich zuvor jahrelang insbesondere mit der amerikanischen Short Story und ihren herausragenden Vertretern beschäftigt hatte, war spontan angetan von der ungewöhnlichen Dichte und psychologischen Genauigkeit der wellershoffschen Texte. Hier trat mir ein Schriftsteller entgegen, der es ebenso meisterhaft wie die von mir geschätzten Andre Dubus, Tobias Wolff oder Bernard Malamud verstand, auf wenigen Seiten ganze Lebensläufe bildhaft zu umreißen. Ich begegnete in den Erzählungen mit bewundernswert genau gesetzten Worten hellstrahlend aus der Schwärze der Anonymität herausgerissenen Wesen mit all dem Krisenhaften, das ihren Alltag dominiert, ihre Vorstellungen begrenzt oder unterläuft – und sie selbst nicht selten in ihren Zielsetzungen stört. Existenzen, die ich, nachdem ich ihnen einmal begegnet war, nie mehr vergaß.

Später bin ich Wellershoffs genuiner Fähigkeit, mit Worten Fenster in die Seelen seiner Figuren einzusetzen, um uns sichtbar zu machen, was in ihnen vorgeht, natürlich auch in seinen Romanen begegnet; zwar wuchtigen, jedoch höchst subtil angelegten Existenzromanen, die für mich zum Schönsten und Ernsthaftesten dessen zählen, was die deutsche Literatur nach 1945 bis heute hervorzubringen vermochte. Doch Romane sind das eine – Erzählungen dagegen, als Gattung und prägendes Ausdrucksmittel nur allzu oft und gern unterschätzt, etwas anderes.

Meine eigene kleine Schule des Lesens begann Mitte der Achtzigerjahre mit der staunenden Lektüre der Erzählungen von Camus und Sartre, den Bänden Das Exil und das Reich und Die Mauer. Später folgten Ingeborg Bachmanns Erzählungen, Borcherts Traurige ­Geranien, die Storys von John Cheever und Carver, Frühling in Fialta von Nabokov und vor allem die Erzählungen von Julio Cortázar nach.

Ich war immer ein Leser von Erzählungen, von Short Storys, diesen literarischen Kondensaten ganzer Existenzen. In den nun ausgewählt vorliegenden besten Erzählungen von Dieter Wellershoff finde ich ­alles, was ich von wirklicher Literatur erwarte, allem voran die Verdichtung gelebten Lebens auf manchmal nicht mehr als einer Handvoll Seiten in einer Vision dessen, was hätte sein können oder was wäre, wenn … Denn wovon, bitte schön, handelt Literatur, wenn nicht von den verpassten oder ungenutzten Möglichkeiten unserer Existenz? Das vor allem führen uns die vorliegenden Texte einprägsam vor Augen.

 

Dieter Wellershoff war dem Reiz des literarisch Zugespitzten, des Schnappschusses, der plötzlichen Geschichte, schon früh erlegen – als Leser wie als ihr Verfasser. Ausgehend von dem bereits 1973 erschienenen Band Doppelt belichtetes Seestück, welcher neben der kunstvoll in sich verspiegelten Titelgeschichte eines Mannes zwischen zwei Frauen noch drei weitere Erzählungen enthält, kultivierte der 1925 in Neuss Geborene über die Jahre und Jahrzehnte hinweg einen ganz eigenen und bis heute unverwechselbar gebliebenen Ton. Dabei verstand Wellershoff seine Erzählungen stets als Konzentrate oder Keimzellen, welche die Möglichkeit in sich tragen, mehr sein zu können, nämlich unter Umständen größere Romane. Und ähnlich wie etwa die Geschichten des 1982 verstorbenen und für seine Storys mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Amerikaners John Cheever zeigt sich auch in ihnen, ganz in der Tradition der klassischen amerikanischen Short Story, stets nur die Spitze des Eisbergs oder der Schatten des Ungeheuers. Dabei steht bis heute die Problematik der Identität des Einzelnen im Zentrum seines Erzählens – festgemacht an Grund­fragen menschlichen Seins, die da lauten: Wer bin ich? Wer könnte ich sein? Und wo ist mein Platz in der Welt?

 

Immer sind Wellershoffs Figuren auf der Suche nach Sinn und nach neuen Möglichkeiten, stets bestrebt, nicht dem Fadenschein oder den kursierenden Klischees von einem angeblich so oder so zu führenden richtigen Leben aufzusitzen. Das eint ihn etwa mit den Sinnsuchern eines John Updike oder den im Alltag Gefangenen eines Raymond Carver. Und wenn sie dann am Ende ihrer Metamorphose angelangt sind, an welcher Wellershoff uns regelmäßig ausschnitthaft teilhaben lässt, kann durchaus ein grundlegendes Dementi des bisher Gedachten oder Gefühlten stehen.

 

Exemplarisch führt dies die Novelle Zikadengeschrei vor, in deren Verlauf das unerhörte Ereignis in der Erkenntnis besteht, dass – entgegen gängiger ästhetischer Deutungen – eine offensichtlich körperlich entstellte Frau sehr wohl zu einer erotischen Verlockung werden kann, mehr noch: zur Erkenntnis einer verborgenen oder bislang nicht denkbar gewesenen Möglichkeit.

 

Es sind an die Kleinen Romane Anton Tschechovs erinnernde Arbeiten, die sich in diesem Buch gesammelt finden; Texte, die uns in Form flüchtig in sich öffnende und sogleich wieder schließende Lebensfenster geworfener Blicke zumeist prekäre Lebenszusammenhänge offenbaren; Szenarien, die auf ein dahinter stehendes größeres Leben mit all seinen Problemen verweisen. Und wie in seinen großen Romanen Die Schönheit des Schimpansen (1977), Der Sieger nimmt alles (1983), Der Liebeswunsch (2000) oder zuletzt Der Himmel ist kein Ort (2009) widmet sich der Existenzialist Wellershoff auch in seinen Erzählungen durchweg prekären Lebensläufen in einer vom Zufall bestimmten Welt.

Er rückt Personen ins Bild, die nach Glück und Zugehörigkeit suchen und dabei nicht selten auf der lange Zeit erfolgreich verdrängten Schattenseite ihrer Existenz stranden. Und sie alle erleben ihr menschliches Geworfen-Sein in bester existenzialistischer Tradition als krisenhaften Zustand, aus dem sie am Ende nur die Erkenntnis – so bitter sie auch für den Einzelnen sein mag – führt, dass ein anderes Leben nicht zu haben ist.

So entwirft Wellershoff in der großen und in ihrer zupackenden, gleichsam philosophisch-realistischen Haltung an den 1982 verstorbenen amerikanischen Existenzialisten und Fatalisten der Moderne Richard Yates erinnernden Erzählung Das normale Leben das tiefenscharfe Porträt eines in die Jahre gekommenen Mannes, der glaubt, das Rad der Geschichte noch einmal zurückdrehen zu können – und darüber geradezu schockartig auf die eigene altersbedingte Begrenztheit stößt.

Wiederholt hat man beim Lesen der Geschichte das Gefühl, einem unerschrocken bis an die Schmerzgrenze und manchmal auch darüber hinausgehenden Menschenforscher über die Schulter zu blicken, der seine Sätze wie Sonden in die Seele seiner Figur hinablässt, um fühlbar zu machen, was sie umtreibt, was sie verzweifeln lässt und wovon sie gegen alle Logik noch immer träumt.

Entrollt wird die Geschichte eines Namenlosen jenseits der fünfzig, dem der behandelnde Arzt nach einem überstandenen Herzanfall bei der Abschiedsvisite den Rat mit auf den Weg gibt: »Kehren Sie in Ihr normales Leben zurück«. Wo aber sollte für den Genesenen dieses sogenannte normale Leben jetzt zu finden sein? In den bestehenden oder bereits hinter ihm liegenden Beziehungen? In der Wiederaufnahme alter Gewohnheiten? Oder in dem Versuch, das Alte neu zu sehen und zu bewerten?

Wellershoffs Protagonist sucht sein Heil in der Idee, eine erloschene Liebe zu einem zweiten Leben zu erwecken. Und als es ihm tatsächlich gelingt, diese nur scheinbar allem offen gegenüberstehende Nina in sein Apartment in Ahrenshoop zu locken, glaubt er, der einst im Werben um die junge Frau erfolglos blieb, das Versäumte nachholen zu können.

So erweist sich Wellershoffs große Erzählung über den Versuch der Wiederherstellung, der Reparatur, als meisterhafte Darstellung der Nichtverfügbarkeit von Zukunft – und als Geschichte eines Widerrufs, in welcher die aufkeimende Utopie des scheinbar Normalen bereits im Moment ihrer Beschwörung aufgekündigt ist.

Dieter Wellershoffs Erzählungen lesen heißt, in einer Art Buch des Lebens zu lesen. Denn es begegnen einem darin all jene Themen, die immer schon der Gegenstand wirklich bedeutender Literatur waren: Liebe und Tod, Schuld und Sühne, die Schrecken des Alters und die Sehnsucht nach der Rückkehr in jenes für immer verlorene Paradies, das wir Jugend nennen. In ihnen spiegelt sich die Verwirrung des modernen Menschen, offenbart sich sein Hunger nach Glaube als Orientierungshilfe und nach Glück und was es heißt, auch ohne ein solches über die Runden kommen zu müssen. Aber Wellershoff lesen heißt auch die Möglichkeit einer verborgenen Erkenntnis entdecken. Mag sie sich später auch als noch so folgenschwer erweisen.

Und wenn sich in dem Stück »Wann kommt Walter?« die Episode einer verzweifelt Wartenden entspinnt, deren stete Sehnsucht nach dem gleichnamigen Abwesenden sich unversehens als blindes Klammern an den einen immer gleichen, formelhaft vorgetragenen und darum längst inhaltsleer gewordenen Wunsch offenbart, so erweist sich ihr Schöpfer auch hier als illusionsloser Realist. Als einer, der Konflikte nicht nur nicht scheut, sondern sie geradezu anstrebt und gezielt einsetzt als Mittel seiner schonungslos betriebenen Menschenerklärung.

Beispielhaft wird in »Wann kommt Walter?« eine bloß noch floskelhaft vorgetragene Sprache in ihrer ganzen Machtlosigkeit vorgeführt. Dabei wird die ersehnte Heimkehr des Fortgegangenen zwar als imaginäre Möglichkeit behauptet und durch die immer neu artikulierte Frage »Wann kommt Walter?« aufrechterhalten; tatsächlich aber hat sich das Ganze längst in der abgenutzten Wunschäußerung erschöpft.

Dieter Wellershoffs Erzählungen entrollen Geschichten von Menschen, die sich im Dickicht des Lebens verirrt haben. Es sind vom Weg Abgekommene, denen wir gebannt dabei zusehen, wie sie sich mühsam in die oft unfreiwillig verlassene Spur zurückkämpfen; im Abseits gestrandete Sinnsucher, denen das Schicksal die Scheuklappen herunterreißt, sodass sie sich plötzlich wiederfinden auf der anderen Seite der Welt: erschrocken, irritiert oder schmerzhaft geläutert. Menschen, die aus ihrem Alltag in eine Falle tappen, sich auf etwas Unmögliches einlassen – und doch gegen jede Logik auf dessen Erfüllung hoffen.

Immer schildern seine Texte die Begrenztheit des Augenblicks – und weisen doch regelmäßig darüber hinaus. Sie evozieren Konflikte und spitzen sie dramatisch zu, handeln von ungenutzten Optionen und jenen lauernden Gefahren, die das normale Leben tagtäglich für uns bereithält. Sie machen Begebenheiten erfahrbar, die sich tief unter der Oberfläche des Sichtbaren ereignen. Und stets eröffnet sich den ins Bild ­gerückten Existenzen die Hauptsache in der Neben­sache, also in jenem allzu gern unterschätzten Gefahrenraum, welchen der Philosoph Ernst Bloch einmal visionär als das alles entscheidende Nebenbei bezeichnete und zur philosophischen Kategorie erhob: jener besondere Ort, an welchem die wegweisenden Entscheidungen fallen. Dort nämlich kommen sie einer lange verdeckten oder unbewusst übersehenen oder ignorierten Wirklichkeit in empfindlicher Weise nah.

Gleichwohl lauert mancher Protagonist auf die sogenannte zweite Chance – manchmal mit Aussicht auf Erfüllung, zumeist aber vergebens. Denn Vergebung im erlösenden Sinn hält der erklärte Atheist Wellershoff für seine Geschöpfe nicht bereit. Vielmehr setzt er sie regelmäßig jenem unversöhnlichen, absurden Klima aus, in welchem schon Albert Camus’ Protagonisten die ganze Wucht ihres irdischen Geworfen-Seins zu spüren bekamen.

Erzählen heißt für Dieter Wellershoff, die Oberfläche der Dinge zu durchbrechen, um zu ihrer tiefer liegenden Wahrheit vorzudringen, heißt, mit Worten Schneisen zu schlagen in dieses unglaubliche Dickicht des Lebens. So bannt er in seinen Erzählungen wiederkehrend jenen alles entscheidenden Moment, in welchem die Wahrheit aus dem Dickicht hervortritt, ­nämlich kalt und herausfordernd – verdichtet in Augenblicken, die seine Figuren für immer verändern, weil sie sie entweder zu einer Entscheidung zwingen oder aber ihnen auf schmerzhafte, mithin brutale Weise das Dilemma ihres Daseins vor Augen führen, das viel zu lange im Nichthandeln, im Nichtentscheiden lag.

So lastet über vielen der hier versammelten Geschichten und ihren Protagonisten die quälende Frage: Was wäre, wenn ich mich noch einmal entscheiden könnte? Wenn ich mich anders entschieden hätte, ­damals? Und wenn es für mich eine zweite Chance ­gäbe?

Neben seinen Romanen, Gedichten, Erinnerungsbüchern und literaturtheoretischen Schriften hat Dieter Wellershoff im Laufe seiner langen ertragreichen Karriere drei Bände mit Erzählungen publiziert: Doppelt belichtetes Seestück 1974, die Sammlung Der Körper und die Träume im Jahr 1986 und zuletzt, 2009, den Band Das normale Leben. Ihnen sind die Texte der vorliegenden Sammlung entnommen, und eines ist ihnen allen gemeinsam: Sie alle erzählen Geschichten von Menschen in Entscheidungskrisen, die an Gabelungen ihres sich plötzlich spaltenden Lebensweges stehen. Es sind tiefgreifende Gedankenspiele über das Mögliche und Unmögliche, über den Sinn oder Unsinn des Lebens und die sich daraus ergebenden Folgen für den Einzelnen, über geistige Bewegung und Stillstand, Nähe und Distanz, Wunsch und Nichterfüllung – inszeniert mit den Mitteln der Kleinen Form: auf allerengstem Raum oder über die Wegstrecke eines Kurzromans hinweg.

Dieter Wellershoff ist ein geborener Geschichtenerzähler, ein Philosoph im Gewand des Dichters, ein Denker hinter der Maske des Prosaisten, dessen Erzählkunst sich insgesamt vielleicht am anschaulichsten in seinen hier vorliegenden Geschichten aus dem beschädigten Leben offenbart.

Sie bescheren ihren Lesern Abenteuer von elektrisierender Wucht und Intensität, bringen Licht ins Dunkel unserer Existenz, ordnen unser Chaos. Wer sie bereits kennt, wurde klüger durch sie, reicher. Wer sie noch nicht gelesen hat, darf sich freuen, denn er hat wahrhaft Bedeutendes vor sich: Erzählungen aus dem Dickicht des Lebens – geschrieben von einem, der es erfolgreich für sich gemeistert hat!

Das weiße Handtuch

(2003)

Ich weiß nicht mehr, ob es mir gleich einfiel, als ich vor mir am Nachbartisch den breiten Rücken des Mannes sah, oder erst, als ich sein Gemurmel hörte, eine dumpfe, monotone Stimme, wie man sie von Pessimisten oder chronischen Nörglern kennt – jedenfalls dachte ich: Es ist der Rücken eines Gekränkten. Von vorne hatte ich den Mann nicht gesehen, als ich das Garten­restaurant betrat, in dem fast alle Tische besetzt waren, denn ich hatte im Hintergrund einen freien Tisch erspäht und war, ohne mich weiter umzusehen, darauf zugegangen. Es war ein Platz nach meinem Geschmack. Man saß nicht im Blickfeld der Leute und war am weitesten von der Straße und dem Autoverkehr entfernt, der allerdings nicht dicht war und niemanden zu stören schien. Die Leute genossen den klaren Sonnentag; und anscheinend waren mehr Gäste gekommen, als man erwartet hatte, denn auf der Karte waren schon zwei Gerichte gestrichen. Ich entschied mich für Räucherlachs mit Reibekuchen und den Kleinen Sommersalat, was ich schon einmal hier gegessen hatte. Der Ober, der mich kannte, nahm meine Bestellung mit einem freundlichen Lächeln entgegen. Und als er ging und den Blick auf den Nachbartisch freigab, sah ich, noch ohne besonderes Interesse, das dort sitzende Paar.

Der grauhaarige Mann, auf dessen Schultern fast halslos ein schwerer rundlicher Schädel saß, hatte seine Jacke so nachlässig über die Stuhllehne gehängt, daß sie gleich herunterzurutschen drohte. Dieses kleine Moment von Unordnung hinter seinem Rücken verstärkte den Eindruck seiner Unbeweglichkeit. Es war ein Mann wie ein Klotz. Er saß vorgebeugt, mit aufgestützten Unterarmen, am Tisch, wie eingeschlossen in seinen einfachen Umriß und deutlich abgegrenzt von der Frau rechts neben ihm, die ihn besorgt von der Seite anblickte, während er mit einer eintönigen, maulfaulen Stimme vor sich hin sprach. Ich konnte nicht verstehen, was er sagte, nicht einmal einzelne Wörter. Dem Tonfall nach schien es eine Beschwerde oder eine Klage zu sein. Sie quoll wie eine endlose, an niemanden gerichtete Litanei aus ihm hervor und brach auf einmal so unvermittelt ab, als wäre ein künstlicher Sprechmechanismus zum Stillstand gekommen.

Die Frau neben ihm nickte. Und als müßte auch sie eine Lähmung überwinden, wartete sie noch einen Augenblick, bevor sie, behutsam und vorsichtig, wie man ein schwieriges, unwegsames Gelände betritt, auf ihn einzureden begann: »Ich verstehe dich ja. Es ist genauso, wie du sagst. Er kann unwahrscheinlich arrogant sein. Und außerdem auch noch aalglatt in seiner falschen Höflichkeit. Ich verstehe, daß dich das nervt. Das würde mir ja auch so gehen. Trotzdem, du solltest dir überlegen, ob du nicht einen Weg finden kannst, um mit ihm klarzukommen.«

»Was? Wie? Ich?« stieß der Mann hervor.

Er hatte ihr ruckartig sein Gesicht zugedreht, als könnte er nicht glauben, was sie da gerade gesagt hatte. Es war ein plötzlicher Ausfallschritt aus der Defensive heraus. Doch sie fing das ab mit einer freundlich gemilderten, aber unnachgiebigen Sachlichkeit.

»Ja, du«, sagte sie, »du mußt jetzt einen Schritt auf ihn zugehen. Das ist das einzig wirklich Souveräne, was du tun kannst.«

Sie konnte nicht weiterreden, denn der Sprechmechanismus des Mannes sprang wieder an, anfangs mit Tönen eines heftigen Protestes, doch bald einmündend in seine monotone Weitschweifigkeit. Auch jetzt verstand ich nichts, weil er mir nach wie vor den Rücken zuwandte und wieder in seine maulfaule, verwaschene Redeweise verfallen war. Es hörte sich an, als hoffte er ohnehin nicht auf Zustimmung. Vermutlich war sein Blick auf seine Hände gerichtet, schwere, grobfingrige Hände, wie ich mir vorstellte, die unbeschäftigt und nutzlos vor ihm auf dem Tisch lagen, als Belege dafür, daß er nichts auszurichten vermochte gegen die Widrigkeiten seines Lebens, über die er sich so anhaltend beklagte.

Im Gesicht der Frau hatte sich die Besorgnis in einen Ausdruck von Gequältheit und Erschöpfung verwandelt. Irgend etwas band sie an diesen Mann, der so wenig zu ihr zu passen schien. Vielleicht war sie eine alte Freundin oder eine befreundete Kollegin und empfand eine gewisse Verantwortung für ihn, der offensichtlich dabei war, sich in ein soziales Abseits zu manövrieren. Vermutlich aber war sie mit ihm verheiratet. Ich schloß das aus ihrer disziplinierten, aber sichtlich überforderten Geduld und aus der von vielen Wiederholungen zerschlissenen Routine, mit der sie sich um ihn bemühte.

Sie war nicht gerade eine hübsche Frau, aber sie hatte einen auffallend großen und weichen Mund, den sie dunkelrot geschminkt hatte. Das paßte nicht zu ihrer unauffälligen Erscheinung, war aber vielleicht ein Zeichen ihrer Selbstbehauptung. Für mich jedenfalls waren die Worte, die aus diesen rot geschminkten Lippen kamen, in unsichtbare Anführungszeichen gesetzt. Sie waren ja auch das einzige, was ich verstand in diesem ungleichen Dialog. Aus den kurzen Bemerkungen der Frau konnte ich ungefähr erschließen, wovon zwischen den beiden die Rede war. Das war ein Reiz, der sich abzunutzen begann, auch wegen meiner wachsenden Abneigung gegen den monotonen Klageton der Männerstimme.

Aber jetzt kam der Ober und brachte mir das Mineralwasser, und ich nahm einen langen, gierigen Schluck. Es war ein Augenblick erfrischender, befreiender Neutralität. Als ich das Glas vor mich hinstellte, war ich entschlossen, mich mit etwas anderem zu beschäftigen, bis mein Essen kam. Ich wußte allerdings nicht recht, mit was, weil ich nichts zu lesen dabeihatte, und musterte, vergeblich nach Ablenkung suchend, die mir längst bekannte Häuserfront der anderen Straßenseite, als ich die Frau sagen hörte: »Ich will ja bloß verhindern, daß du vor aller Augen den kürzeren ziehst.«

Sofort schaute ich wieder hin und sah, daß der Mann sich bewegte, als wollte er etwas abschütteln. Die Bewegung ging von seinem Kopf aus und lief als ein kurzes, krampfhaftes Zucken durch seinen ganzen Körper. Dabei rutschte seine Jacke von der Stuhllehne, und die Frau ergriff sie, bevor sie auf den Boden fiel, und hängte sie wieder auf. Noch wie in Fortsetzung dieser kurzen Bewegung sagte sie: »Du könntest das doch überhaupt nicht ertragen. Du doch schon gar nicht. Und ich möchte dieses Theater nicht erleben. Ich möchte es dir und mir ersparen.«

Sie hatte das so eindringlich gesagt, daß ich annahm, nicht nur ich hätte es gehört. Aber an allen Tischen ringsum schienen die Menschen mit sich beschäftigt zu sein. Das beruhigte mich, denn aus irgendeinem Grund wollte ich nicht, daß die beiden in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerieten. Weshalb ich das so empfand, war mir nicht klar. Vielleicht wollte ich nur, daß die Vorstellung ungestört weiterging. Aber meine Neugier oder mein Interesse waren verbunden mit dem seltsamen Gefühl, daß das Paar in meine Obhut gegeben sei, solange ich der einzige Zeuge seines Dramas blieb.

Im Augenblick schwiegen beide. Der Kontakt zwischen ihnen schien abgerissen. Die Frau wischte einmal achtlos mit der linken Hand über ihren Rock, als wedele sie da eine Fluse oder einen Krümel weg. Dann nippte sie an ihrer Tasse und erstarrte wieder. Vielleicht wollte sie ihm Gelegenheit geben, etwas zur Verständigung beizutragen. Doch von ihm kam nichts. Vielleicht empfand er die Pause weniger deutlich als sie, falls es nicht einfach nur Verbohrtheit war. Schließlich raffte sie sich auf und fragte, als appelliere sie an den verbliebenen Rest seiner Vernunft: »Warum willst du dich unbedingt in diese peinliche Lage bringen?«

»Was für eine Lage?« fuhr er sie an.

Sie ließ sich einige Sekunden Zeit, bevor sie antwortete. Dann sagte sie langsam, als müßte sie es seinem schwerfälligen Geist nachdrücklich einprägen: »Er ist dir rhetorisch haushoch überlegen. Außerdem hat er das neueste Know-how, das dir fehlt und das du auch nicht mehr erwerben kannst. Das ist deine Lage.«

»Na gut!« stieß er hervor. »Ich scheiße darauf!«

»Ich habe mir schon gedacht, daß du so reagieren würdest«, sagte sie. »Dann mußt du eben tun, was du tun mußt.«

Wieder brach der Kontakt ab, indem sich beide gleichzeitig voneinander abwandten. Jeder schaute in eine Richtung, wo der andere, der unvermeidliche Partner ihres heillosen Konflikts nicht zu sehen war.

Mit Erstaunen hatte ich während des kurzen Streitgesprächs bemerkt, daß der Mann eine Stirnglatze hatte. Ein weiches, volles Gesicht mit einer Stirnglatze. So hatte ich ihn mir nicht vorgestellt, solange ich nur auf seinen breiten Rücken geblickt hatte. Ich hatte ihn mir vielmehr überhaupt nicht vorgestellt. Jetzt hatte er plötzlich ein Gesicht, das ich nicht mit seinem Verhalten in Einklang bringen konnte, obwohl das ein absurdes, nicht zu begründendes Gefühl war. Trotzdem war er mir nähergekommen in all seiner Fremdheit, und wie auf einer hin und her schwankenden inneren Waage verschoben sich die moralischen Gewichte. Die Frau hatte plötzlich eine Kälte gezeigt, die mich ­schockiert hatte, obwohl ich zu verstehen glaubte, daß ihre Aggressivität die Folge einer vermutlich langen, allmählich unzumutbaren Erfahrung von Vergeblichkeit war. Ja, sie hatte ihn gedemütigt und seinen Rivalen »haushoch«, wie sie formuliert hatte, über ihn gestellt. Wahrscheinlich wußte er, daß sie recht hatte. Aber ihr auch noch recht zu geben, indem er sich anpaßte an die Demütigungen, die sie ihm als die unumgänglichen Konsequenzen seiner Unterlegenheit darstellte, das überforderte seine Kraft. Wahrscheinlich fühlte er sich von ihr verraten. Sie war übergelaufen, hatte sich auf die Seite seines Feindes gestellt und redete ihm ein, daß er, der Verlierer, sich als Verlierer zu verhalten habe. Gut, dann sollte sie sehen, wohin das führte. Dann ging jetzt eben alles kaputt.

Wieder saßen sie stumm beieinander, mit voneinander abgewandten Gesichtern, der Mann erneut zusammengesackt in seiner unbeweglichen Schwere. Plötzlich sah ich, wie er die Schultern hob und sich zurücklehnte, um zwei tiefe Atemzüge zu machen, bevor er sich wieder vorbeugte. Und im selben Augenblick erinnerte ich mich an einen Film, in dem ich einen Boxer gesehen hatte, der erschöpft, mit einem zerschlagenen, von Schwellungen und Blutergüssen entstellten Gesicht in seiner Ringecke saß und ebendiese beiden tiefen Atemzüge machte. Er wartete auf die vorletzte Runde eines langen Kampfes, und es sah nicht so aus, als ob er sie überstehen würde, obwohl man seinen Schädel mit Wasser übergoß, Wasser in seinen weit geöffneten Mund spritzte, die klaffende Rißwunde unter seiner Augenbraue mit einem Kältestab und blutstillender Salbe notdürftig zu schließen versuchte, während der Trainer, dicht über ihn gebeugt, ihm Anweisungen für die nächste Runde gab, die er wohl kaum noch verstand. Er war in der vorigen Runde schon einmal schwer angeschlagen am Boden gewesen und benommen wieder auf die Beine gekommen. Nur der Gong hatte ihn gerettet. Jetzt mußte er in die nächste Runde. Bevor er aufgestanden war, hatte er noch zweimal tief durchgeatmet. Aber er hatte keine Chance. Er lief in den Schlaghagel seines überlegenen Gegners, taumelte rückwärts in die Seile, wurde erneut schwer getroffen, und als die Beine unter ihm nachgaben, warf der Trainer das weiße Handtuch in den Ring, das den aussichtslosen Kampf beendete.

Das war mir wieder vor Augen gekommen, als ich die zwei tiefen Atemzüge des Mannes sah, der wußte, aber nicht zugeben wollte, daß er der Verlierer war, dem nichts anderes übrigblieb, als sich in seine Niederlage zu fügen.

Sie sagt es schon wieder. Doch nun wählt sie einen versöhnlichen Ton.

»Versuch doch mit ihm zusammenzuarbeiten. Was ist daran so schlimm?«

Vielleicht weiß er das nicht mehr. Er versteht die Ratschläge, die Kommandos nicht mehr. Er sitzt zusammengesunken in der Ringecke und ist nicht mehr in der Situation.

»Es ist alles nur Gewöhnungssache«, fügt sie hinzu. »Du wirst sehen: Er wird sich dann auch ändern. Alles spielt sich allmählich ein. Du hast das immer noch in der Hand.«

Auch sie kämpft um ihr Leben, denn es hängt mit seinem Leben zusammen. Aber ist das ihr Leben? Ist es seins? Sie sehen jetzt beide erschöpft aus, vereint in trostloser Friedfertigkeit. Sie einigen sich, daß sie gehen wollen. Aber er muß vorher noch zur Toilette. Und sie zahlt schon einmal. Der Mann läßt sich Zeit. Wahrscheinlich kennt sie das. Sie sitzt reglos neben dem leeren Stuhl, über dessen Lehne seine Jacke hängt, und scheint in Gedanken anderswo zu sein, an einem Fluchtort, wohin ihr niemand folgen kann. Vielleicht ist es nur ein Augenblick von Leere und Stille. Dann, wie von innen angestoßen, öffnet sie ihre Handtasche, kramt einen kleinen runden Spiegel und einen Schminkstift hervor und zieht ihre Lippen nach, ein Signal, daß es gleich weitergeht. Wie herbeizitiert kommt der Mann zurück, geht dicht an mir vorbei. Ich sehe seine vorgeschobene mürrische Unterlippe. Wortlos greift er nach seiner Jacke und zieht sie an, während sie sich ihre Handtasche über die Schulter hängt. So gehen sie, warten an der Ampel, überqueren die Straße, wo ich sie aus meinem Blick verliere.

Der Ober bringt mir mein Essen: Räucherlachs, Reibekuchen, Kleiner Sommersalat. »Und bitte noch ein Mineralwasser«, sage ich. »Gerne«, sagt der Ober und eilt schon wieder davon. Ich wickele das Besteck aus, das eingewickelt in eine weiße Papierserviette neben dem Teller liegt, und wende mich dem Essen zu. So einfach kann das Leben sein.

Das Vermächtnis

(1991)

Ich kenne Guido Schrader seit mehr als sechs Jahren, aber vielleicht muß ich jetzt sagen: Ich kannte ihn. Denn seit Monaten habe ich ihn nicht mehr gesehen. So nehme ich an, daß er gestorben ist. Alles andere wäre auch ein Wunder. Eine Todesanzeige habe ich zwar nicht bekommen, aber da er seit Jahren allein lebte, sind wahrscheinlich keine Anzeigen verschickt worden. Auch in der Zeitung habe ich nichts gesehen.

Zu seinem fünfundsiebzigsten Geburtstag, einige Tage bevor ich ihn kennenlernte, war im Kulturteil unserer Zeitung eine kleine Würdigung erschienen, ein Einspalter ohne Bild, mit Daten, die sein Leben umrissen. Mir war der Artikel entgangen, da mir der Name Guido Schrader nichts sagte. Er gab mir später eine Kopie.

Als junger Mann hatte er Pianist werden wollen, aber der große Durchbruch war ihm nicht geglückt, und so hatte er gewissermaßen eine verschobene Karriere gemacht, als geschätzter und weithin bekannter Klavierbegleiter berühmter Sängerinnen. Vielleicht war ihm dabei ein Zug seines Wesens nützlich gewesen, den ich noch an dem alten Mann entdeckte – er war ein Freund der Frauen. Mag sein, daß es sich auch umgekehrt verhielt und sein Beruf diese Eigenschaften kultiviert hatte. Er war berühmt gewesen für sein einfühlsames Spiel, das, wie der Autor des Artikels geschrieben hatte, »für lyrische und dramatische Stimmen gleichermaßen ein lebendiger Resonanzboden war«. In den letzten zehn Jahren war er allerdings nicht mehr öffentlich aufgetreten, zuletzt noch mit seiner zweiten Frau, einer ehemaligen Opernsängerin, die sich nach ihrem Abschied von der Bühne noch einige Male in Konzertsälen mit Liederabenden versucht hatte. Aber das war wohl trotz Guido Schraders »einfühlsamer Begleitung« kein Erfolg gewesen.

War er eigentlich ein glücklicher Mensch? Ich hatte manchmal diesen Eindruck, aber vielleicht war es nur sein leicht manisches Temperament, das mich täuschte, seine Bereitschaft, zu lachen und einen seiner altherrenhaften Scherze zu machen, wenn ich ihn auf der Straße oder im Park bei seinen Spaziergängen traf und ihn ein Stück begleitete oder einige Minuten bei ihm stehenblieb. Er war eine auffallende Erscheinung: schlank, gepflegt und modisch gekleidet. Die Sorte ­Jacketts, die er trug, kannte ich nur aus den Schaufen­stern der teuersten Herrenausstatter. Er hatte eine Vorliebe für helle Farben: die leichten cremefarbenen Hosen, das weiße Hemd, den zartgelben Kaschmirpullover. Meistens trug er dazu eine Fliege, wohl um seinem Aussehen einen Zug ins Künst­lerische zu geben. Immer fiel mein Blick auf das Einstecktuch in der Außentasche seiner Jacke, und ich stellte mir vor, wie er es vor dem Spiegel mit ein, zwei Griffen zurechtschob, um den Falten jene unnachahmliche Zufälligkeit zu geben: wie ich dachte, mit derselben Intuition seiner Fingerspitzen, die auch seinem Anschlag auf dem Flügel den persönlichen Ausdruck gegeben hatte.

Doch all das betonte in meinen Augen die knöcherne Starrheit seines alten, mageren Körpers, wenn er allein seiner Wege ging. Er neigte jetzt dazu, im Gehen die Hände auf dem Rücken zu falten, und manchmal stand er in dieser Haltung auf einem Parkweg und schaute einige Minuten über die Rasenfläche, ohne daß ich erkennen konnte, was ihn dort interessierte. Vielleicht träumte er, blickte in seine Vergangenheit, in die verschwundenen Gesichter eines applaudierenden Publikums. Die berühmte Sängerin stand an der Rampe in einem straßfunkelnden Abendkleid, verneigte sich mehrmals mit huldvoller Langsamkeit und wies dann mit nacktem üppigem Arm auf ihn, ihren Begleiter: »am Flügel Professor Guido Schrader«, wie es im Programmheft hieß. Und auch er verbeugte sich, aber nur einmal, um den gebührenden Abstand zu wahren. Denn nun eilte der Direktor des Konzerthauses mit einem Blumenstrauß auf die Sängerin zu, und der Applaus und die Hochrufe brandeten noch lauter auf. Schließlich kam sie und ließ sich von ihm hinausführen. »Danke, Guido«, sagte sie, »es war wundervoll«, und er erlaubte sich, ihre Hand zu küssen. »Für mich«, sagte er, »waren die großen Künstlerinnen immer auch schöne Frauen, und wenn ich spielte, wollte ich ihnen sagen, daß ich sie liebte, verstehen Sie?« Doch vielleicht waren seine Erinnerungen nur so prunkvoll, wenn er davon erzählte, und verloren sich in wortlosem Gemurmel, wenn er allein war.

Meistens sah ich ihn zuerst, wenn wir uns begegneten, was mir einige Male die Gelegenheit gab, ihm auszuweichen. Wenn ich aber auf ihn zuging, erlebte ich jedesmal den Augenblick, in dem er aus seiner Abwesenheit erwachte und sich mit einem Ruck von innen her in Form brachte, wie er es früher wohl gemacht hatte, wenn er auf die beleuchtete Bühne trat. »Halloh«, sagte er, indem er das o singend dehnte, daß es etwas Festliches bekam. Es war, als risse es ihn aus seiner trüben Versunkenheit, wenn er mich zufällig traf.

Wir standen dann eine Weile da und plauderten, und zum Abschied sagte er in Anspielung auf die berühmte Formel, mit der Cato alle seine Reden im römischen Senat beschlossen hatte: »Im übrigen bin ich der Meinung, daß Sie mich bald besuchen müssen.« Er lachte jedesmal und fügte in treuherzigem Ton hinzu: »Wirklich, mein Lieber, kommen Sie doch mal. Ich habe immer einen guten Champagner da.« Dann klopfte er mir auf den Arm, hob die Hand zum Gruß und zog seine Augenbrauen hoch, was ein verschwörerisches Zeichen von unbestimmter und umfassender Bedeutung zu sein schien. Und so, zunächst ein wenig beschwingter, dann bald wieder lahm und mit kurzen, steifen Schritten – ging er davon.

Als er mich zum ersten Mal einlud, hatte er einen bestimmten Anlaß. Er wollte die Hauskonzerte und literarischen Abende wieder aufleben lassen, die er, zusammen mit seiner Frau, einmal im Monat für die gemeinsamen Schüler und Freunde in seiner Wohnung veranstaltet hatte. Nach ihrem Tod hatte der Kreis sich aufzulösen begonnen. Er versuchte das aufzuhalten, indem er nach neuen Gästen Ausschau hielt. Eines Tages trat er in einem Café unseres Viertels an meinen Tisch und fragte, ob er sich zu mir setzen dürfe. Er hatte mich durch die großen Fensterscheiben des ehemaligen Ladenlokals erspäht und war hereingekommen, eine fremdartige Erscheinung in dieser Umgebung, und er sagte auch gleich, er sei noch nie hier gewesen, obwohl er um die Ecke wohne, kaum hundert Meter weit und seit über dreißig Jahren. Mich habe er schon einige Zeit »observiert«, lächelte er. Aber er habe nicht schreiben, nicht anrufen wollen. Er war eben ein Gesellschaftsmensch, der sich auf den persönlichen Auftritt verließ. Und sogleich, als überprüfe er meine kulturellen Voraussetzungen, fragte er mich nach meinem »Verhältnis zur Musik«.

Ich bin nie hingegangen zu diesen Abenden. Einmal habe ich es versucht. Aber er war nicht da, als ich anrief, und so habe ich es aufgegeben. Nach zwei oder drei Monaten traf ich ihn wieder, und er erzählte mir, daß er in Kur gewesen sei. Nach einer Pause fügte er hinzu: »Es war ein kleiner Herzinfarkt.« Die Musik­abende habe er aufgegeben. »Mangels Muße und Möge«, so nannte er es. Und wie immer lachte er und riß die Augenbrauen hoch, was diesmal wohl bedeutete: »Schon gemerkt? So ist das Leben!« Danach klopfte er auf meinen Oberarm. »Besuchen Sie mich doch mal. Ich habe immer einen guten Champagner da.« Und stakste davon.

Wenn wir uns nach diesen kurzen Unterhaltungen trennten und in entgegengesetzter Richtung weitergingen, hatte ich manchmal den Impuls, umzukehren und unbemerkt in sein Gesicht zu blicken, weil ich vermutete, etwas sehen zu können, was er sorgfältig verbarg: einen Schatten, der dichter wurde und von ihm Besitz ergriff. Er ging inzwischen auf die Achtzig zu, wohnte aber immer noch allein in seiner großen Wohnung, nur versorgt durch eine Zugehfrau, die dreimal in der Woche für zwei Stunden kam. Traf ich ihn erst nach Monaten wieder, dann war er in einer Kur gewesen, und weil ich wußte, daß er gerne dar­über sprach, fragte ich, wie sein Erfolg bei den Damen gewesen sei. »Oh«, sagte er, »ich kann mich nicht beklagen«, und riß die Augenbrauen hoch. Doch als sei er mir auch die Wahrheit schuldig, sagte er in einem anderen, vertraulichen Ton: »Man wird bescheiden. Es ist ja nur, damit ich eine Ansprache habe.« Und als müsse er mir noch ein Geständnis machen, flüsterte er fast: »Ich gehe sogar zu den Kurkonzerten.«

Ich fragte ihn, wie er zu Hause seine Abende verbringe. Ob er noch Klavier spiele? »Nein«, sagte er, »das ist vorbei. Ich setze mich abends vor die Glotze, dann schlaf ich dabei ein, und wenn ich aufwache, geh ich ins Bett. Oft kann ich dann nicht mehr schlafen. Dann ziehe ich mich wieder an und gehe in der Wohnung herum. Am besten schlafe ich gegen Morgen ein. Meine Zugehfrau hat einen Schlüssel. Manchmal werde ich wach, weil sie durch den Türspalt in mein Zimmer linst. Wissen Sie, weshalb?« Er zwinkerte mir zu. »Sie prüft nach, ob ich gestorben bin.«

Immer häufiger sprach er über seine Gesundheitsprobleme, in einem Tonfall, der die Lächerlichkeit betonte, die für ihn darin lag, mehr und mehr in einen gebrechlichen Körper verwandelt zu werden. Er war, wie er mir eines Tages erzählte, bei einem Enddarmspezialisten gewesen. »Stellen Sie sich vor, das gibt es«, sagte er. Und er sang mir das Wort mit seiner wackeligen Altmännerstimme vor, wie die Schlußphrase einer Opernarie: »Enddarm-spezialist!« Als ich weiterging, blieb mir seine hilflose Verwunderung im Ohr.

Danach sah ich ihn lange nicht, und als ich ihn wiedertraf, war er abgemagert und hatte tiefe Schatten unter den Augen. Er war wieder zur Rehabilitation in einer Klinik gewesen, wegen eines zweiten Herzinfarkts, der ihn in den Morgenstunden erwischt hatte. Die Zugehfrau hatte ihn gefunden: einen ohnmächtigen alten Mann, dem es fast schon gelungen war, sich davonzumachen. Nun hatte man ihn wieder auf die Beine gestellt, aber die schienen ihn kaum noch zu tragen. Er bewegte sich mit dem schiebenden und ­stockenden Gang einer mechanischen Puppe. Ich versuchte ihn zu überzeugen, daß er in ein Krankenhaus müsse. Er wehrte das ab mit der unwidersprechbaren Autorität seiner Atemnot. »Nein, nein, nein. Ich fahre nach Bad Nauheim oder Bad Oeynhausen. Da kennen mich die Ärzte. Morgen höre ich, wo ich einen Platz bekomme.«

Knapp zwei Wochen später schlurfte er mir wieder entgegen. Er trug eine kleine Apothekentüte mit Medikamenten in der Hand und hatte eine weiße Schirmmütze auf dem Kopf. Aus dem zu weit gewordenen Hemdkragen schaute sein faltiger Hals hervor, stoppelig von weißen Barthaaren, die er beim Rasieren übersehen hatte. So wäre er, ohne mich zu bemerken, an mir vorbeigegangen, hätte ich ihm nicht einen guten Tag gewünscht. Er blieb stehen wie angehalten und richtete seine trüben, wäßrigen Augen auf mich. Ein Ausdruck von Angst stand darin, der auch nicht verschwand, als er mich verzögert, aus einem Nebel der Schwäche heraus, erkannte. Die Augenbrauen zuckten ein wenig. Und mit matter Stimme sagte er: »Hallo, mein Lieber.« Ich fragte ihn, was er hier mache und warum er nicht zur Kur gefahren sei. »Bin nicht reisefähig«, stieß er hervor, »hab die halbe Lunge voll Wasser.«

Ich sah einen Sterbenden vor mir, einen Menschen, der die Grenze überschritten hatte, von der aus es keine Rückkehr gibt. Anscheinend verstand er meinen Blick, denn er sagte: »Ja, ich mach’s nicht mehr lang. Aber ich warte es zu Hause ab.« Morgens und abends kam sein alter Hausarzt, und die Zugehfrau, seine Lebensretterin, versorgte ihn. Er schwankte auf einmal, und ich ergriff seinen stockdürren Arm und begleitete ihn nach Hause. In einer Stunde würde der Arzt kommen und ihm ein kreislaufstützendes Mittel spritzen. Neben mir hörte ich seinen kurzen Atem, in den sich ein schwaches Pfeifen mischte, ein regelmäßiges, piepsendes Geräusch, als entwiche ein Teil seiner Atemluft auf falschem Wege durch ein ganz enges Rohr. Als wir bei seiner Haustür ankamen, mußte ich für ihn aufschließen. Er schien nicht richtig zu sehen und stocherte vergeblich nach dem Schlüsselloch. Glücklicherweise gab es einen Aufzug. So gelangten wir ohne Schwierigkeiten in den zweiten Stock. Die Wohnung war weiträumig und trotz der hohen Fenster ziemlich dunkel, denn die Gardinen waren überall zugezogen. Im Musikzimmer, in das ich einen Blick warf, sah ich vollgestopfte verglaste Notenschränke, hochlehnige Sessel mit verblichenen Brokatbezügen und den zugeklappten schwarzen Flügel.

Wir gingen durch den langen Flur in sein Schlafzimmer, das er sich mit zwei Sesseln, einem kleinen Tisch und dem Fernseher zum Wohnen eingerichtet hatte. Auf die Türen des Wandschrankes hatte er mit Klebestreifen alte Konzertplakate gehängt. Ich half ihm, sich in seinen Sessel zu setzen und die Beine auf einen ­Hocker zu legen, und dabei hielt er mich fest und ­flüsterte mit seiner schwachen Stimme: »Die Pulle liegt im Kühlschrank.«

Ich fand dort eine Flasche Louis Roederer, Brut Cristal, eine Marke, von der ich noch nie gehört hatte. Ich verstehe nichts von Champagner, vergoß einen Teil beim Eingießen, weil ich die Flasche nicht ruhig getragen hatte, und Guido Schrader, der Einundachtzigjährige, sagte zu mir, der Mitte Sechzig war: »Nicht so stürmisch, junger Mann.«

Ich wußte nicht, was ich sagen sollte, als wir uns zutranken, und so war er es, der »Auf Ihr Wohl« sagte. Vielleicht war das richtig so. Wir tranken jeder zwei Glas. Ich konnte sehen, wie er ein wenig aufblühte. Und er sagte, was ich hätte sagen sollen, daß es ein feiner Tropfen sei. Was er dann wollte, verstand ich nicht recht, denn er war wieder kurzatmig und fuchtelte mit dem Arm in der Luft herum, bis ich hörte: »Da der Schrank! Die Schiebetür! Machen Sie mal auf.« Ich schob zwei Türen und damit zwei Plakate auseinander, von denen das eine einen längst vergangenen Schubert­abend ankündigte und das andere ein gemischtes Programm von Hugo Wolf bis Schönberg, wenn ich mich recht erinnere. Und wie die Türen auseinanderfuhren, enthüllten sie wie ein Bühnenbild Guido Schraders Garderobe.

Einen Augenblick lang war ich wie vor den Kopf geschlagen. Was ich da sah, Ärmel für Ärmel aneinandergereiht, nach Schnitten gruppiert und nach Farben und Dessins geordnet, hätte das Angebot eines exklusiven Herrenausstatters sein können. Und fast alle diese Sakkos und Blazer und die dazugehörigen Hosen wirkten so glatt und faltenlos, als seien sie neu.

»Wie viele sind es?« fragte ich.

»Na«, sagte er, »ein paar mehr als vierzig, glaube ich. Die Abendgarderobe nicht mitgerechnet. Aber das sind ja nur noch Reliquien.«

Er wollte lachen, mußte aber husten. Sein Gesicht rötete sich, und ich hörte wieder das Pfeifen und Röcheln seiner Atemnot. Ich goß ihm ein wenig von dem Champagner ein, und er trank ihn mit einem Ruck wie einen Schluck Medizin, blickte kurz in das leere Glas, bevor er es mir zurückgab. Dann ließ er sich erschöpft gegen die Lehne des Sessels sinken und schloß die Augen. Eine Zeitlang hörte ich nur seine röchelnden Atemzüge und sah, wie das krampfige Luftholen seine Brust erschütterte. Dann öffnete er wieder die Augen und schaute mich an mit einem stumpfen Blick, als ob er sich mühsam auf etwas besinnen müsse. »Ich will nicht, daß sie zerschnitten werden«, sagte er.

»Was?« fragte ich, da ich nicht wußte, ob ich ihn richtig verstanden hatte.

»Ich habe gehört, man zerschneidet sie.«

»Bestimmt nicht«, sagte ich, »nicht solche teuren, fast neuwertigen Sachen. Die werden verschenkt oder verkauft.«

»Ich habe gehört, sie kommen in den Reißwolf.«

»Nein, nein«, sagte ich. »Keine Angst.«

»Ich habe keine Erben«, sagte er, »weit und breit nicht.«

Wieder fielen ihm die Augen zu, und der welke, dünnlippige Mund klaffte auf. Aus seiner Brust kamen seltsame Laute: harr, harr, wie ein Hobel, der über ein grobfaseriges Brett geführt wurde und sich in das Holz fraß. Plötzlich schüttelte er den Kopf und war wieder wach.

»Habe ich geschlafen?« fragte er.

»Ja, einen Augenblick.«

»Ich habe was vergessen«, sagte er. »Ich möchte, daß Sie die Sachen übernehmen. Sie bestimmen, was damit passiert. Ich will nur nicht, daß sie zerschnitten werden.«

»Das geschieht sowieso nicht«, antwortete ich.

Er sah mich mißtrauisch an, eine ganze Weile, in der er wohl nachdachte. Schließlich sagte er: »Oder nehmen Sie ganz einfach alles, was Ihnen gefällt. Wir haben doch dieselbe Größe. Wir haben uns doch immer direkt in die Augen gesehen.«

»Ja, gut«, sagte ich, »danke.«

Und um ihn nicht zu enttäuschen, griff ich die erste beste Jacke, eine hellbraune mit einem dunkelbraunen Gittermuster, und probierte sie vor seinen Augen an. Sie paßte, und ich glaube, sie stand mir auch.

»Perfekt«, sagte er, »sehen Sie, das gefällt mir.«

Er versuchte mir noch andere Jacken mit den dazugehörigen Hosen und auch komplette Anzüge aufzudrängen, nannte jedesmal die Namen der italienischen Modedesigner, die innen auf den eingenähten Etiketten standen. Manche Jacken oder Anzüge nahm ich auf dem Bügel heraus, bewunderte sie und hängte sie wie beiläufig wieder in den Schrank zurück. Ich wollte ihn nicht aufregen, so fiel mir nichts anderes ein als dieses Schattengefecht, in dem er der Verkäufer und ich der wählerische, unentschlossene Kunde war.

Schließlich klingelte der Arzt. Ich ging sofort zur Wohnungstür, um ihn hereinzulassen. Er war auch ein vom Alter gezeichneter Mann, schwerhörig und schlagflüssig, der wohl schon seit längerer Zeit nicht mehr praktizierte und nur noch aus alter Verbundenheit zweimal am Tag nach dem Kranken sah. Vielleicht hatte er früher bei den Hauskonzerten mitgespielt. Er maß Puls und Blutdruck und zog die Spritze auf: Gelegenheit für mich, die braune Jacke zu greifen und mich zurückzuziehen.

Ich weiß nicht, was an diesem Tag noch passiert ist. Oder in der Nacht. Als ich am nächsten Tag anrief, meldete sich niemand. Und ich habe Guido Schrader auch nicht mehr gesehen. Die Jacke hängt immer noch in meinem Schrank, obwohl ich sie nie trage, nie tragen werde, ohne daß ich sagen kann, warum. Einmal, es war besonders schönes Wetter, habe ich sie angezogen, um im Park spazierenzugehen. Schon im Treppenhaus bin ich umgekehrt und habe sie wieder in den Schrank gehängt. Sie ist mein bestes Kleidungsstück. Aber ich glaube, daß sie einem Toten gehört. Vielleicht genügt es ja, daß ich sie behalte.

Im Vorbeigehen

(2005)

Er sah sie in der Ferne im nachmittäglichen Menschengedränge der Einkaufsstraße auftauchen – noch eine Erscheinung unter vielen, die sich nur bedeutungslos von den übrigen Passanten unterschied –, bis er sie ­einen Augenblick später erkannte und sie nicht mehr nur an diesem beliebigen Ort und in dieser zufälligen Stunde eines beliebigen Tages, sondern zugleich aus der Vergangenheit auf ihn zukam. Ja, sie war es! Sie war noch in der Welt. Seit Jahren hatte er sie nicht mehr gesehen und darüber vergessen, als wäre sie dort, wo sie sich getrennt hatten, zurückgeblieben, eingesargt in der Vergangenheit, unbeweglich wie ein zartes Insekt in einem zu Bernstein erstarrten Tropfen Harz. Sie erschien ihm kleiner, als er sie in Erinnerung hatte, vermutlich weil sie im Unterschied zu damals, als sie bemüht gewesen war, den Größenunterschied zwischen ihnen auszugleichen, flache Schuhe trug. Doch vielleicht war sie auch geschrumpft. Ihre Haltung schien sich geändert zu haben, wie die eines Menschen, der sich vor Kälte in sich selbst zusammenzieht. Zweifellos war sie gealtert. Darauf mußte er gefaßt sein. Was auch immer er sehen würde – es war nicht mehr seine Schuld.

Jetzt hatte sie ihn wohl auch erkannt, denn augenblicklich stockte sie, als wollte sie ausweichen oder umkehren. Es war nicht mehr als ein kurzer Ruck. Wenn überhaupt ein Impuls, ihm auszuweichen, sie durchzuckt hatte, war sie sofort darüber hinweggegangen. Er wußte im voraus, was sie jetzt tun würde, sah es an der Entschlossenheit ihrer Bewegungen. Stumm, ohne ein Zeichen des Erkennens, würde sie an ihm vorbeigehen, als gäbe es ihn nicht, oder vielmehr, als gäbe es ihn schon, aber nicht mehr für sie, nicht mehr als ein Teil ihrer Lebensgeschichte oder ihrer Welt.