Cover

Christian Limmer

Unter aller Sau

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Christian Limmer

Christian Limmer, 1964 in Straubing geboren und aufgewachsen, hat versucht Theaterwissenschaft zu studieren, das Studium wegen Trockenheit abgebrochen und im Folgenden unter anderem als Cutter bei der Bavaria Film gearbeitet. An der UCLA in Los Angeles absolvierte er einen Drehbuchkurs, bevor er seine Karriere bei Film und Fernsehen begann. Seit 1993 schreibt er Drehbücher für Fernsehproduktionen wie »Polizeiruf 110«, »Tatort« oder »Unter Verdacht«. Er lebt mit seiner Familie in München. Sau Nr. 1 ist sein erster Roman.

Über dieses Buch

Das kleine Örtchen Niedernussdorf wird aus seiner beschaulichen niederbayerischen Idylle gerissen, als die beiden Streifenpolizisten Erwin und Richie eines Morgens eine weibliche Leiche im nahegelegenen Wald entdecken. Dienststellenleiterin Gisela Wegmeyer benachrichtigt widerwillig die Mordkommission in Straubing. Und es kommt wie befürchtet: Der übereifrige und ehrgeizige Hauptkommissar Florian Lederer steht eine Stunde später auf der Matte, um mit seinen unnachahmlichen Ermittlungsmethoden Angst und Schrecken zu verbreiten …

Impressum

eBook-Ausgabe 2012

Knaur eBook

© 2012 Droemer Verlag

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt

Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Maria Hochsieder

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: FinePic®, München

ISBN 978-3-426-41340-1

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Für Christine und Sina

Schneewittchen war kein schöner Anblick. Ihre Haut weiß mit einem Grauschimmer, schwarzes, zotteliges Haar, die Lippen blau und rissig, das rechte Auge blutunterlaufen, im linken räkelten sich ein Dutzend Maden.

Zusammengekrümmt wie ein frierendes Kleinkind lag sie zwischen den Brombeersträuchern, fast so, als hätte sie dort Schutz gesucht. Ihr Negligé war zerrissen, die Laufmaschen der halterlosen Strümpfe wirkten wie Narben an ihren langen, schlanken Beinen. Die Hände hatten den Waldboden aufgewühlt, die kleinen Fäuste mit den pink lackierten Fingernägeln hielten den Dreck immer noch fest umklammert.

Die Welt um sie herum kümmerte das wenig. Die Tannen knarrten im warmen Sommerwind, die Vögel trugen ihre morgendlichen Gesangsduelle aus, und nicht weit entfernt plätscherte der Bach, der seit Jahrhunderten den Wald durchzog und Richtung Niedernussdorf floss, um sich vierzig Kilometer weiter nördlich mit der Donau zu vereinen.

Kurz bevor der Bach die Ortsgrenze von Niedernussdorf überschreitet, macht er einen Schlenker um den Wegmeyerhof. Dort hatten die Kinder aus dem Dorf einen Staudamm aus Ästen gebaut, an dem ihre selbstgeschnitzten Holzschiffchen hängenblieben, die sie weiter oben ins Wasser ließen.

Auch diesmal schaukelten zwei Bötchen um die Wette auf den Staudamm zu. Beppo und sein bester Freund Olli liefen am Ufer entlang neben ihnen her. Die Schulranzen auf ihren Rücken wippten im Takt der Schritte.

»Kannst den Euro schon mal rüberfahren«, sagte Beppo mit einem fetten Grinsen, das Grübchen in seine Wangen zeichnete. Seine grünen Augen blitzten siegessicher.

»Noch sind wir nicht da«, erwiderte Olli. Der Elfjährige mit den Segelohren und der Igelfrisur grinste ebenfalls, denn schon oft hatten sich die Wettrennen auf den letzten fünf Metern entschieden, dort, wo der Bach in einer scharfen Kurve vom Wegmeyerhof abbog. Tatsächlich verfing sich das Boot Beppos, das aus leichtem Kiefernholz gefertigt war, an einem Autoreifen, der halb aus dem Wasser ragte. Ollis Fichtenschiffchen rammte den Konkurrenten, wirbelte einmal um die eigene Achse und setzte seine Fahrt fort.

»Hättest nicht so früh schreien sollen«, triumphierte Olli. Er eilte zum Staudamm, während Beppo kurzerhand aus seinen Flipflops rutschte, ins Wasser stieg und sein Bötchen aus der Reifenfalle befreite.

»Beppo!«, plärrte Olli. Beppo schaute zu seinem Freund, der mit einem durchsichtigen Gefrierbeutel wedelte. »Das musst dir anschauen!«

»Gleich!«

»Schick dich, sonst gehört das alles mir.«

»Komm halt du.«

»Bin ja nicht dein Fiffi.« Olli schaute trotzig zu Beppo. Der kletterte gemächlich ans Ufer, schlüpfte in seine Flipflops. Olli seufzte, rannte zu seinem Freund. »Schau.« Olli hielt den Beutel hoch. Beppos Augen wurden riesengroß. In dem Gefrierbeutel waren jede Menge Geldscheine, alles Fünfziger und Hunderter.

»Boah.«

»Was machen wir?«

»Ja, aufmachen, was sonst?« Beppo nahm Olli kurzerhand den Beutel aus den Fingern, zippte den Verschluss auf und leerte den Inhalt auf den Boden. Staunend gingen die beiden Jungs in die Hocke, keiner von ihnen traute sich, das Geld anzufassen.

»Wie viel is’n das?«, fragte sich Olli.

»Über tausend auf jeden Fall.«

»Zähl mal.«

»Wieso ich?«

»Weil du in Mathe einen Zweier hast.«

»Aber dein Vater ist Banker.«

»Der hat nie mehr als fünfzig Euro im Geldbeutel. Der zahlt nur noch mit Karte. Der sagt immer, heutzutage mit Bargeld rumrennen ist absoluter Schwachsinn.«

»Mein Vater hat nur Bargeld. Nur Bares ist Wahres.«

»Mei, jeder ist anders.«

Beide schwiegen, konnten ihren Blick nicht von dem Geld abwenden.

»Weißt, was du für über tausend Euro kriegst?«, fragte Beppo.

»Freilich. Eine PS3, eine Wii und eine Xbox.«

Beppo schaute auf, runzelte die Stirn. »Wie hast denn das so schnell zusammengerechnet?«

»Ich hab letztes Jahr einen Weihnachtszettel gemacht. Da war aber noch ein iPod drauf, da war ich dann bei eintausendeinhundertfünf.« Er schaute Beppo an. »Den iPod hab ich jetzt einfach abgezogen.«

Beppo deutete auf das Geld. »Ja, das sind aber bestimmt über tausend Euro, da kannst dir den iPod auch noch leisten.«

»Du willst das doch nicht behalten, oder?«

»Warum nicht?«

»Das gehört doch jemandem.«

»Schon. Aber er hat’s ja weggeschmissen, also wollt er’s nicht mehr.«

»Das glaubst doch selber nicht.«

Beppo grinste wieder fett. »Ich glaub, wir bringen’s zu den Sheriffs.«

Olli war erleichtert, dass sich Beppo nur einen Scherz erlaubt hatte. »Genau. Sollen die’s doch zählen.«

 

»Dreitausendfünfhundertfünfzig.« Schorsch Kramer legte den letzten Fünfziger mit seiner mächtigen Pranke auf die anderen Geldscheine. Der Statur nach erinnerte er an einen Braunbären, seine Haltung etwas gebeugt, als wollte er aus Rücksicht die anderen nicht überragen. Alles an ihm wirkte schwer und massig, von den weißwurstdicken Fingern über den wuchtigen Bauch bis zum Dreifachkinn, das seinen Kopf ohne sichtbaren Hals auf dem Oberkörper sitzen ließ.

Seine kindlichen Knopfaugen schauten Beppo und Olli an, die vor dem Tresen in der Polizeistation Niedernussdorf standen. »Dafür muss eine alte Frau lange Holz hacken.«

Seine Kollegen, Wachtmeister Richard Hafenrichter und Wachtmeister Erwin Huber, richteten ihren Blick ebenfalls auf die beiden Jungs. Die fühlten sich etwas unbehaglich angesichts dreier Uniformierter, die sie wie Verbrecher zu mustern schienen.

»Wir haben die gefunden, ehrlich«, fühlte Olli sich bemüßigt zu erklären. »Wir klauen nicht.«

Keiner der Streifenbeamten sagte ein Wort. Ihre Blicke drückten wie Mühlsteine auf das Gewissen der beiden Jungs.

»Sonst hätten wir das doch nicht hergebracht«, unterstützte Beppo seinen Freund.

Die drei Polizisten starrten die Kinder weiter stumm an. Jeder schien zu überlegen, was er sagen sollte, und bei jedem geschah das in unterschiedlicher Geschwindigkeit. Und mit unterschiedlichem Ergebnis. Erwin, der Schnellste unter ihnen, beugte sich vor.

»War da noch was?«

»Wie, war da noch was?«

»Da, wo ihr das gefunden habt. Habt ihr da noch was gefunden?«

Erwin erinnerte in diesem Moment an einen Wolf, ein Eindruck, der durch seine dichten Augenbrauen im schmalen Gesicht mit der kleinen Nase noch verstärkt wurde. Seine dunklen Augen fixierten die beiden Jungs finster. Erwins Grundhaltung war von Misstrauen geprägt, und sein gedrungener Körper schien immer angespannt und zum Angriff bereit. Beppo und Olli ließen sich davon nicht beeindrucken.

»Wenn wir noch was gefunden hätten, hätten wir’s mitgebracht«, polterte Olli frech zurück.

»Das kommt drauf an«, mischte sich Schorsch ein, was ihm einen schrägen Seitenblick Erwins einbrachte. Der hatte es gar nicht gern, wenn man sich in seine Befragung einmischte, und schon gar nicht, wenn es Schorsch war. Die beiden Kollegen verband seit der Grundschulzeit eine unverbrüchliche Hassliebe. In der zweiten Klasse hatte sich herausgestellt, dass Erwin unter einer Schreibschwäche litt. Buchstabendreher, vergessene Buchstaben, fantasievolle Eigenkreationen trieben Lehrer und Eltern zur Verzweiflung. Schließlich hatte es dazu geführt, dass Erwin auf eine Sonderschule kam. Mit dem sogenannten Depperlbus musste er fünf Kilometer ins benachbarte Grünharding fahren, wo sich speziell geschulte Pädagogen seiner annahmen.

Schorsch, der in der Schule immer ein Musterschüler gewesen war, verlieh Erwin den Titel geistiger Tiefflieger, was eines Tages zu einer Schlägerei führte, bei der Erwin zeigte, worin er wirklich gut war. Im Handfesten. Sein Oberstübchen war vielleicht etwas unterentwickelt, dafür hatte er, trotz seiner Kleinwüchsigkeit, eine unheimliche Kraft. Schorsch kam an jenem Abend mit zwei Milchzähnen weniger nach Hause, und Erwin hatte entdeckt, was ihm Spaß machte. Boxen. Henry Maske wurde sein Vorbild, dem er auch jetzt noch nacheiferte. Im Wohnzimmer hing ein Boxsack, den er regelmäßig traktierte, er trank jeden Morgen einen Eiweißdrink, und in den virtuellen Boxkämpfen im Internet belegte er stets einen der vorderen Plätze.

»Auf was?«, fragte Beppo Schorsch herausfordernd.

»Wie groß und schwer das war«, erwiderte Schorsch. Richie, die Lider von der vergangenen Nacht noch auf Halbmast, drehte seine Augen mit Mühe Richtung Schorsch. Worauf wollte der Dicke hinaus? Bevor er diesen Gedanken zu Ende denken konnte, schoss Schorsch bereits die nächste Frage ab.

»Vielleicht hat das Geld ja neben einer Leiche gelegen.«

Alle glaubten, sich verhört zu haben. Sie starrten Schorsch an, der sich zu einer Erklärung verpflichtet fühlte. »Die zwei haben uns schon mal Arbeit gemacht.«

Keiner reagierte. Jeder wusste, dass er auf den abgebissenen Finger vom letzten Jahr anspielte, der einen besonders grausamen Mord nahegelegt hatte. Das ganze Dorf hatte sich damals in heller Aufregung an der Opfersuche beteiligt. Wie sich schließlich herausstellte, hatte der Finger der alten Mathilda vom Gruberhof gehört. Sie war auf ganz natürliche Weise verstorben, von den Angehörigen aber an die Säue verfüttert worden, um sie spurlos verschwinden zu lassen. Eine Leiche in der Sommerhitze ist nur begrenzt haltbar, und so war das einzige Überbleibsel der Finger gewesen, den Beppo und Olli seinerzeit zur Polizei gebracht hatten. Ein Pflichtbewusstsein, das den Beamten immer noch säuerlich aufstieß. Man musste Arbeit ja nicht mit Gewalt erzwingen, war von jeher Schorschs Motto. Darin stimmten seine Kollegen mit ihm überein.

»Ich mein, wir haben sonst nie Stress, und immer wenn die zwei auftauchen …« Er deutete mit dem Kinn auf Beppo und Olli. Richie und Erwin seufzten und nickten synchron. Die Augen der Polizisten richteten sich wieder auf die Jungs. Erwin holte tief Luft.

»Also, ihr habt’s das gut gemacht, so ehrliche Finder gibt’s heutzutage selten. Ab jetzt übernehmen wir. Ihr könnt gehen.«

Die beiden Kinder bewegten sich keinen Millimeter.

»Kriegen wir was dafür?«, erkundigte sich Olli.

»Einen Finderlohn«, ergänzte Beppo.

»Finderlohn gibt’s, wenn sich derjenige meldet, dem das Geld gehört«, entgegnete Richie.

»Aber irgendwas hätten wir schon gerne«, hakte Beppo nach.

»Das ist hier kein Wunschkonzert«, brauste Schorsch auf. »Sobald sich jemand meldet, hört ihr von uns.« Er und die Jungs starrten sich an. Keiner zuckte auch nur mit der Wimper.

»Ich hab da was für euch«, schob sich Richie dazwischen. Aus einer Schublade holte er ein Paar Handschellen, hielt sie den Jungs hin. Die Handschellen waren verschlossen. »Aber ohne Schlüssel.«

Beppo und Olli wechselten einen kurzen Blick, nickten. Beppo nahm die Handschellen, versuchte gleich, eine Hand durchzuzwängen. Es klappte.

»Cool.«

Die zweite Hand folgte. Er grinste Olli an.

»Jetzt kannst mich abführen.«

Erwin schaute auf die große Uhr über der Tür. Halb neun.

»Ja, und zwar zur Schule. Im Laufschritt. Die erste Stunde schafft ihr sowieso nicht mehr.«

»Vielleicht schreiben Sie uns eine Entschuldigung, damit die Müllerin auch glaubt, was wir erzählen.«

»Raus! Aber sofort!« Schorsch war der Kragen geplatzt, und der Ausbruch verfehlte seine Wirkung nicht. Beppo und Olli drängten zur Tür hinaus und flitzten davon.

Schorsch war so in Fahrt, dass er sich gleich Richie vorknöpfte.

»Und du, wieso schenkst du denen Handschellen? Das sind Arbeitsutensilien.«

»Ohne Schlüssel liegen die doch bloß rum.«

»Darum geht’s nicht. Dafür sind Steuergelder ausgegeben worden, die hast du nicht aus deiner eigenen Tasche bezahlt, oder?«

»Durchs Rumliegen werden die auch nicht besser. Und jetzt sind sie immerhin zu was nützlich.«

»Handschellen sind kein Kinderspielzeug.«

Jetzt war es Erwin, dem es zu bunt wurde.

»Es reicht!« Sein böser Blick brachte sowohl Richie als auch Schorsch zum Verstummen. »Viel wichtiger ist, was wir mit dem Geld da machen!«

Die drei glotzten auf die dreitausendfünfhundertfünfzig Euro.

»Warten, bis sich jemand meldet, was sonst«, meinte Richie, der jegliche Störung seines friedvollen Lebens als äußerst lästig empfand. Und den Besitzer dieses Geldhaufens zu finden roch nach richtiger Arbeit.

»Wir müssen da schon einen Aushang machen, und die Zeitung sollten wir auch informieren«, hielt Schorsch dagegen. Er hoffte, dass ein Mal gemacht würde, was er sagte. Bisher hatten sich derartige Hoffnungen in seinem Leben nur selten erfüllt, und auch diesmal wurde sein Einwand ignoriert.

»Wir sagen der Gisela Bescheid, die wird schon wissen, was wir machen sollen«, entschied Erwin. Schorsch grummelte zwar, aber letztendlich war es Gisela, die als Dienststellenleiterin die Entscheidung treffen musste.

 

Gisela Wegmeyer saß auf einem neumodischen Schwingstuhl in einem modernen Zimmer mit abstrakter Kunst an der Wand. Ihr Erscheinungsbild stand im krassen Widerspruch zur Einrichtung des Wartezimmers. Gisela war grundsolide. Ihre kornblauen Augen strahlten Ruhe und Gelassenheit aus, was von dem leichten Lächeln um ihre Mundwinkel unterstützt wurde. Sie trug niemals Make-up, ihre strohblonden Haare waren so unauffällig wie die Kleidung. Obwohl sie etwas fester gebaut war, hatte Gisela etwas Filigranes an sich, das nur mit ihrem speziellen Fingerspitzengefühl erklärt werden konnte. Sie war in der Lage, jedem Menschen, mit dem sie zu tun hatte, das Gefühl zu geben, er allein stehe im Mittelpunkt ihres Interesses. Das war keine Heuchelei, vielmehr entsprach diese Empathie ihrer Persönlichkeit. In Giselas Nähe fühlten sich die Menschen gut aufgehoben.

Auf den anderen Chromstühlen im Wartezimmer der neurologischen Praxis in Straubing hockten ein älteres Ehepaar, ein junger Mann mit Kopfverband, der eine Autozeitschrift durchblätterte, und eine Mutter mit ihrem dreijährigen Buben. Der Kleine hielt einen zerzausten Stoffelefanten fest umklammert, während seine Mutter ihm ein Lied ins Ohr summte. Er fixierte Giselas große Nase, die sie von ihrem Vater geerbt hatte. Er war so fasziniert von dem Zinken, dass er keinen Mucks von sich gab. Die Mutter schrieb seine Ruhe ihrem Lied und dem leisen Wasserplätschern zu, das, untermalt von Harfenmusik, aus unsichtbaren Lautsprechern rieselte.

Die Sprechstundenhilfe, eine magersüchtige Schwarzhaarige mit ungesunden Augenringen, steckte ihren Kopf ins Wartezimmer.

»Frau Wegmeyer, bitte.«

Gisela erhob sich.

»Wiederschaun«, verabschiedete sie sich in die Runde.

»Wiederschaun«, ertönte es unisono. Der Kleine starrte Gisela mit großen Augen nach, als sie das Wartezimmer verließ und der Magersüchtigen in ein kleines Besprechungszimmer folgte.

»Der Herr Doktor und Ihr Vater kommen gleich«, meinte die Magersüchtige und ließ sie alleine. Gisela setzte sich in einen der beiden Stühle vor dem Schreibtisch. Hier gab es keine Musik, hier summte nur die Sauerstoffanlage eines Aquariums, das fast eine gesamte Wandbreite einnahm. Auf der gegenüberliegenden Seite ein Regal voller medizinischer Enzyklopädien, den freien Platz daneben nahm eine Skulptur aus Blech ein, die man für einen Menschen halten konnte, der die Hände dem Himmel entgegenstreckte. Hinter dem Schreibtisch war eine breite Terrassentür, die von einem orangefarbenen Vorhang verdeckt war. Das durch den Vorhang hereinfallende Licht tauchte das Zimmer in eine warme Farbe, die dem nüchternen Raum fast etwas Gemütliches verlieh.

Wäre da nicht der unbequeme Schwingstuhl. Giselas Körper verspannte sich, weil sie das Gefühl hatte, dass sie bei der leisesten Bewegung von der schiefen Sitzfläche rutschen würde.

Vielleicht war sie aber auch angespannt, weil sie Angst vor dem hatte, was ihr der Arzt sagen würde. Gisela rieb ihre Handflächen trocken, versuchte gleichmäßig zu atmen und ihren wippenden rechten Fuß unter Kontrolle zu kriegen.

Die Tür schwang auf. Gisela zuckte leicht zusammen, stemmte sich sofort hoch. Doktor Rothaler und Giselas Vater kamen herein.

»Grüß Gott, Frau Wegmeyer.«

»Grüß Gott, Herr Doktor.«

Gisela schob ihrem Vater den zweiten Stuhl hin und stützte den Einundachtzigjährigen, während er sich darauf niederließ. Doktor Rothaler, Mitte fünfzig, aber mit der Dynamik eines Studenten, warf sich in seinen Ledersessel hinter dem Schreibtisch. Er sah unverschämt gut aus, braungebrannt, gerade weiße Zähne und kein einziges graues Haar. Jedes Mal, wenn sie ihn sah, fragte sich Gisela, ob er sich von einem Schönheitschirurgen behandeln ließ. Üblicherweise wusste die Natur zu verhindern, dass jemand in ihrem Alter so frisch und gut erhalten blieb.

»Wollen Sie die gute oder die schlechte Nachricht zuerst?«

Doktor Rothaler schaute Gisela aus seinen klaren blauen Augen offen an. Gisela war seine forsche Art schon gewohnt.

»Erst die schlechte. Falls die mich umhaut, bringt mich die gute hoffentlich wieder auf die Füße.«

»Das Kurzzeitgedächtnis Ihres Vaters ist kaum mehr vorhanden.«

Sein Blick wanderte zu Jakob, der auf seine verschränkten Hände sah und augenscheinlich kein Wort hörte. Doktor Rothaler und Gisela wussten, dass dem nicht so war. Jakob war es einfach unangenehm, wenn in seiner Anwesenheit über ihn gesprochen wurde. Er hatte nie gern im Mittelpunkt gestanden.

»Das bedeutet, er vergisst Dinge, die Sie ihm vor ein paar Minuten gesagt haben, er wird Sie immer häufiger nicht erkennen, und seine gewohnte Umgebung wird ihm allmählich fremd erscheinen. Wir müssen ihm Hilfestellungen geben, damit er im Alltag einigermaßen gut zurechtkommt.«

»Aha«, kam es rauh aus Giselas Mund. Ihr Hals war vollkommen ausgetrocknet, ihr Kopf fühlte sich an, als wäre er mit Luft gefüllt.

»Sie müssen sich daran gewöhnen, in einfachen Sätzen zu reden. Er wird oft aufbrausend reagieren, weil er nicht versteht, was Sie von ihm wollen. Er meint es nicht böse, er hat nur Angst, weil ihm nichts in seiner Welt mehr Orientierung gibt.«

Doktor Rothaler holte eine kleine Blechdose aus seinem blütenweißen Kittel, öffnete den Deckel. Darin lagen schneeweiße Pfefferminzbonbons. Er hielt Gisela das Döschen hin, sie schüttelte den Kopf. Doktor Rothaler bot Jakob die Bonbons an. Der Alte streckte seine Hand aus, nahm eines.

»Danke«, sagte er leise. Er schob sich das Pfefferminzbonbon in den Mund. Zufrieden lehnte er sich zurück. Er schien plötzlich völlig entspannt.

Doktor Rothaler bediente sich selbst und fläzte sich wieder in das Lederpolster.

»Diese Bonbons erinnern ihn an seine Kindheit, er hat immer eines bekommen, wenn er seine Hausaufgaben gemacht hatte.«

»Hat er Ihnen das erzählt?«

»Wer sonst?«

Doktor Rothaler und seine Augen lächelten.

»Das hab ich gar nicht gewusst«, meinte Gisela.

»Das ist die gute Nachricht. Wir müssen uns mit den Kindheitserinnerungen Ihres Vaters auseinandersetzen. Aber nur mit den positiven, bitte schön.«

»Und dann ist er glücklich?«

Doktor Rothaler drehte sich in seinem Sessel hin und her.

»Glücklich ist vielleicht das falsche Wort. Dann fühlt er sich wohl. Damit können wir die negativen Auswirkungen der Demenz etwas abmildern.«

Gisela mochte dieses Wörtchen wir überhaupt nicht, diese Implikation, dass es nicht alleine ihre Aufgabe war, sich um ihren Vater zu kümmern.

»Haben Sie noch Angehörige, die uns da unterstützen können?«

»Wir haben da noch einen Bruder, der aber mit seiner Familie total überfordert ist. Der wird uns da keine Hilfe sein.«

Die Betonung der beiden Pronomen ließ das Lächeln in den Augen des Doktors noch fröhlicher werden. Er mochte Menschen wie Gisela, die nicht auf den Mund gefallen waren.

»Sehen Sie das Ganze als Chance, Ihren Vater besser kennenzulernen.«

Er beugte sich vor.

»Sie werden es nicht bereuen.«

Gisela war nicht so überzeugt. Die letzten Jahre hatte Jakob ihre Lebenszeit sehr in Anspruch genommen, und wenn das jetzt noch weiter zunähme …

Sie schaute zu ihrem Vater, der aus seiner Selbstversunkenheit auftauchte. Er schnalzte kurz mit der Zunge, spürte dem Geschmack des Pfefferminzbonbons nach.

»Kann ich noch eines haben?«

Doktor Rothaus streckte Jakob die Dose hin.

»Wo krieg ich die denn her?«, fragte Gisela.

»Die gibt’s nur noch im Internet. Ich schreib Ihnen die Adresse auf.«

 

Nachdem Jakob in den nigelnagelneuen Smart eingestiegen und festgeschnallt war, schaltete Gisela ihr Handy wieder ein. Die ersten Takte von Mamma Mia informierten Gisela über eine Nachricht auf der Mailbox. Es war Erwin, der sie über das gefundene Geld in Kenntnis setzte. Gisela drückte die Kurzwahltaste für ihre Dienststelle.

»Bist schon fertig?«, tönte ihr Erwins Stimme entgegen.

»Grad vor fünf Minuten.«

»Und? Wie schaut’s aus?«

»Mei, nicht gut.«

Sie blickte zu Jakob, der im Beifahrersitz saß und wieder auf seine verschränkten Hände starrte.

Sie holte tief Luft. »Was ist denn das mit dem Geld?«

»Keine Ahnung. Mehr, als ich dir aufs Band gesprochen hab, wissen wir jetzt auch nicht.«

»Die haben das im Bach gefunden?«

»Genau.«

Gisela überlegte kurz. Sie war froh, eine Aufgabe zu haben, die ihr Gehirn in Anspruch nahm.

»Dann geht ihr jetzt von der Fundstelle bachaufwärts. Vielleicht findet ihr ja was.«

»Ja, und was?«

»Irgendwas. Und wenn nicht, dann haben wir es wenigstens probiert.«

Ätherisches Rauschen füllte eine kurze Pause.

»Und wen meinst du mit ihr?«

»Na, du und der Richie.«

»Und der Schorsch?«

»Einer muss ja auf der Wache bleiben, oder?«

»Ja, aber immer der Schorsch.«

»Jetzt geh, Bewegung schadet euch nicht. Ich bin in einer Dreiviertelstunde da. Servus.«

Ohne auf ein weiteres Wort Erwins zu warten, drückte sie die Auflegen-Taste. Sie hatte keine Lust auf endlose Diskussionen darüber, wer was machte und warum. Ihre drei Untergebenen waren in dieser Hinsicht wie Kinder, die nie Pflichten übernehmen, sondern immer nur Spaß haben wollten. Gisela selbst hatte zwar keine Kinder, aber sie wusste mit ihnen umzugehen.

Und so schlurften fünf Minuten später Erwin und Richie ohne großen Elan den kleinen Bach entlang Richtung Wald. Ihre Augen taten so, als würden sie die Umgebung nach Hinweisen auf den Ursprung des Geldes absuchen, aber in Wahrheit reichte der Blick nicht weit. Ohne klare Vorstellung, wonach man suchte, war jede Suche sinnlos. Das jedenfalls war Richies Meinung, und seine ganze Körperhaltung drückte das aus. Er wirkte wie der personifizierte Widerwille in Uniform.

Nach zehn Minuten hatten sie den Wald erreicht, und Richie blieb stehen.

»Da willst du jetzt aber nicht wirklich reingehen, oder?«

Erwin drehte sich zu Richie um.

»Logisch. Wieso nicht?«

»Weil, wenn wir dem Bach noch weiter nachgehen, sind wir übermorgen in Zwiesel und Ende der Woche in der Tschechei.«

Erwin schaute Richie lange an, dann wandte er sich dem Wald zu, starrte auf die Bäume, drehte sich schließlich wieder zu Richie um.

»Wir gehen bis zur Grenze von Grünharding und kehren dort um. Das heißt, wir sind maximal noch eine Stunde unterwegs.«

Richie seufzte. »Wenn’s sein muss.«

Die beiden setzten sich wieder in Bewegung.

»Eigentlich hätte das der Schorsch machen können. Dem tät’s echt nicht schaden, wenn er ein bisschen rauskommt«, brummte Richie.

»Mei, er ist halt der geborene Schreibtischhengst. Wir nicht. Das passt schon.«

Erwin und Richie verschwanden zwischen den Bäumen. Ein Specht klopfte, ein Traktor dröhnte, ein Hund bellte, und dreiundfünfzig Minuten später standen die beiden Streifenbeamten vor Schneewittchen und kämpften mit dem Brechreiz.

Erwin verlor den Kampf, er hastete Richtung Bach und spendete sein Frühstück der Natur. Richie spürte seinen Magen zwar rumoren, aber da er nie frühstückte, sondern nur einen Joint rauchte und ein Weißbier trank, gelang es ihm, seinen Mageninhalt bei sich zu behalten. Seine Augen klebten an der Leiche, während seine Hand sich langsam hob und die Finger in die Brusttasche wanderten, wo sein Handy wohnte. Er zog es heraus, und ohne dass sich seine Pupillen einen Millimeter bewegten, drückte er eine Kurzwahltaste, hielt das Telefon ans Ohr und lauschte dem Freizeichen. Wahrscheinlich hörte er den Ton gar nicht, denn als sich Gisela am anderen Ende meldete, dauerte es glatte zwanzig Sekunden, bis ihre Stimme in seine Gehirnwindungen vordrang.

»… Richie, jetzt sag einmal, was ist denn los? Hörst du mich überhaupt?«

»Gisela.«

Das war alles, was sich aus seinem Mund quälte. Und es klang so rauh, dass man Tannenzapfen damit hätte abschmirgeln können.

»Was?«, drang es aus dem Handy.

»Gisela.«

Richie war noch immer zu keiner Bewegung fähig. Diese junge Frau, deren linkes Auge mit Maden gefüllt war, war der erste gewaltsam umgekommene Mensch, den er in seinen bislang dreiunddreißig Lebensjahren gesehen hatte. Eine Erfahrung, die seine Seelenruhe zutiefst erschütterte.

»Wo bist du denn?«

»Im Wald.«

Erwin kam hinter einem Baum hervor, näherte sich kreidebleich seinem Kollegen. Er bemühte sich, die Leiche nicht anzuschauen, während er Richie das Handy aus der Hand nahm. An dessen Körperhaltung änderte sich nichts.

»Wir sind am Mittererbach, da wo’s nach Grünharding geht. Da liegt …«, krächzte Erwin, würgte, zwang sich, nicht zu Schneewittchen zu blicken, »… da liegt eine Frau. Sie, die ist …« Der Rest seines Frühstücks überholte den Satz.

Gisela, die auf den Seitenstreifen gefahren war, hörte Erwin über ihre Freisprecheinrichtung kotzen. Die Übertragung war so gut, dass man glaubte, er säße im Wagen. Das Geräusch erhitzte Giselas Innereien schlagartig, sie spürte, wie ihr ebenfalls unwohl wurde. Jakob hingegen starrte zum Beifahrerfenster hinaus und schien nichts davon wahrzunehmen.

»Erwin?«

Sie hörte Keuchen. Ein herzhaftes Fluchen.

»Wann bist du da?«, tropfte Erwins Stimme ins Auto.

»Ich bring den Papa noch schnell heim, dann komm ich zu euch.«

»Wie lang …?«

Gisela ahnte das Herannahen eines erneuten Schwächeanfalls Erwins.

»So schnell’s geht. Und schaut, dass ihr den Tatort nicht versaut.«

Aus den Lautsprechern gedämpfte Schritte, als würde jemand über Waldboden laufen, um sich in sicherer Entfernung der Leiche noch einmal zu übergeben. Gisela schaltete das Handy ab, legte den ersten Gang ein, und der Smart pfiff zurück auf die Fahrbahn, um Giselas Mitarbeitern zu Hilfe zu eilen.

 

Erwin kniete auf dem Waldboden, sein Gesicht schweißnass und weiß. Er atmete schwer, sammelte alle Kraft, um sich wieder auf die Beine zu zwingen. Richie stand immer noch bei Schneewittchen, seinen Arm angewinkelt, ein imaginäres Handy am Ohr. Immerhin bewegten sich jetzt seine Augäpfel. Dann ein Blinzeln, es war fast, als würde er aus einem langen Schlaf erwachen. Er steckte das Phantomhandy zurück in die Brusttasche seiner Uniformjacke. Dann legte er den Kopf in den Nacken, saugte die sich wiegenden Baumwipfel mit tiefen Atemzügen ein, schloss für einen Moment die Augen und spürte einem Gedanken nach, der sich allmählich in seinem Kopf formte.

Er öffnete die Augen, sein Blick war glasklar. Er schaute zu Erwin. Der hatte mittlerweile ein Bein angewinkelt, stützte sich mit dem Ellbogen müde darauf ab. Er war kurz davor aufzustehen.

»Wir legen die drüben ab«, flüsterte Richie.

Sein Kollege runzelte nur die Stirn, zu einer formulierten Frage war er noch nicht fähig. Richie deutete auf eine Stelle am anderen Ufer des Baches.

»Da drüben. Sind nur zwei Meter, dann geht uns das Ganze nichts mehr an, dann können sich die Grünhardinger damit rumschlagen.«

Erwin starrte auf den Grünhardinger Gemeindewald. Tapfer huschten dabei seine Augen an Schneewittchen vorbei. Immerhin reichte seine Kraft, um den Kopf zu schütteln. Richie tapste auf Erwin zu, half ihm hoch.

»Weißt du, was das bedeutet, wenn wir die da liegen lassen?«, fragte er.

»Arbeit«, lispelte Erwin.

»Nicht nur das.« Der Schreck stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Der Straubinger kommt dann wieder.« Die letzten Worte hauchte er, als hätte er Angst, den Teufel heraufzubeschwören, sollte er zu laut sprechen. Erwin schien diese Angst zu teilen, denn er glotzte ohne weiteren Brechreiz auf Schneewittchen. Er wägte ab, ob der Straubinger Hauptkommissar Lederer ein größeres Übel war, als die Leiche ein paar Meter durch den Wald zu tragen. Schließlich drängten sich Vernunft und Anstand wieder nach vorne. Erwin schüttelte den Kopf.

»Das können wir nicht machen.«

Richie war sichtlich enttäuscht, dass seine großartige Idee bei seinem Freund auf taube Ohren stieß. Er straffte sich, schob sein Kinn trotzig vor.

»Na gut, dann mach ich’s alleine.«

Richie drehte sich um, stapfte zu Schneewittchen. Erwin rappelte sich auf, hetzte ihm hinterher, packte ihn am Ärmel.

»Jetzt spinn nicht rum.«

Richie ignorierte Erwin. Der ließ den Ärmel los, packte Richie an der Schulter, riss ihn herum und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige. Vögel flogen auf. Richie stiegen Tränen des Schmerzes in die Augen, fassungslos rieb er sich die Backe.

»Was willst du denn der Gisela sagen? Die weiß doch schon, dass die bei uns liegt«, sagte Erwin. »Außerdem würden wir den Tatort verfälschen, und auch wenn wir den Straubinger nicht ausstehen können, er ist Polizist wie wir, und das macht man einfach nicht.«

Richie seufzte, Luft wich aus seinem Körper wie aus einem porösen Luftballon, und er nickte. Erwin klopfte ihm erleichtert auf die Schulter.

Gisela kam knapp zwei Stunden später das Bachufer entlang auf Erwin und Richie zu. Die beiden Polizisten hockten etwas abseits in sehnsüchtiger Erwartung ihrer Chefin. Sie sprangen auf und staksten ihr entgegen.

»Also, wo ist sie?«

»Die schaut aber gar nicht gut aus«, warnte Erwin.

»Das ist mir wurscht, wie die ausschaut, wo liegt sie?«

Erwin deutete zu Schneewittchen. Giselas Blick folgte seinem Finger, kurz zögerte sie, dann steuerte sie auf die Leiche zu. Erwin und Richie blieben zurück. Sie würden erst kommen, wenn Gisela sie brauchte.

Die ging neben Schneewittchen in die Hocke, besah sich nach dem ersten Schock die junge Frau aufmerksam. Zerlaufener Mascara, künstliche Fingernägel, ein Stringtanga unter dem Negligé.

Gisela schlich um die Leiche herum, sie wollte jedes Detail aufnehmen. Zum ersten Mal war der Tod so nah und präsent, und von der Toten ging eine eigentümliche Faszination aus. Wer war sie? Wie war sie gestorben? Warum lag sie in dieser Aufmachung hier im Wald? Und wie jung sie war. Warum musste so ein junger Mensch schon sterben? Sie sah kaum älter aus als fünfundzwanzig, doch die wächsern wirkende Haut und die fehlenden Augen machten sie womöglich älter, als sie war. Sie mochte achtzehn sein. Sie hatte durchstochene Ohrläppchen, aber keinen Schmuck darin. Keine Ringe, kein Halskettchen, nichts, womit sich junge Frauen normalerweise schmücken. Schneewittchen wirkte jungfräulich, und für einen Moment schoss Gisela der Gedanke durch den Kopf, dass sie vielleicht an einem vergifteten Apfel gestorben war. Kein Märchen, das hier war kein Märchen, jagte der nächste Gedanke hinterher.

Gisela betrachtete den Rücken, die Wirbelsäule zeichnete sich wie ein verknöchertes Reptil unter der Haut ab. Waren das Muttermale? Gisela lupfte vorsichtig das Negligé nach oben. Auf Höhe der Nieren waren zwei faustgroße grünblaue Flecken. Blutergüsse, mehrere Tage alt. Gisela bezweifelte, dass Schneewittchen sich gestoßen hatte, sie war vermutlich geschlagen worden.

Gisela stockte für einen Moment der Atem.

Je länger sie das Mädchen betrachtete, desto mehr Fragen wirbelten durch ihren Kopf. Ihr wurde schwindlig. Sie musste für einen Augenblick die Augen schließen. Atmete tief durch, die harzige Luft wirkte beruhigend. Das Plätschern des Baches unterstützte diese Wirkung. Der Wald und der Bach, beides waren Vertraute seit ihrer Kindheit.

Die beiden Jungs hatten einen Beutel mit Geld im Bach gefunden.

Gisela öffnete die Augen. Der Wald roch immer noch nach Harz, der Bach plätscherte immer noch, und Schneewittchen war immer noch tot. War das ihr Geld gewesen? Woher hatte sie so viel Geld?

Bevor der Wirbelsturm an Fragen wieder einsetzen konnte, stemmte sich Gisela aus der Hocke hoch. Kurz flimmerte es vor ihren Augen, dann drehte sie sich zu Richie und Erwin um, die sie aus der Ferne aufmerksam beobachtet hatten.

»Ihr bleibt hier«, bestimmte sie und steuerte auf die beiden zu. Sie zog ihr Handy aus der Jackentasche. »Schaut, dass keine Viecher rangehen.«

Sie rief ihr Adressbuch auf, suchte unter L nach Lederer, marschierte zurück zum Hohlweg, der zum Dorf führte. Erwin und Richie waren fassungslos.

»Du gehst doch jetzt nicht, oder?«, stammelte Erwin und sprach damit Richies Gedanken aus, bevor dieser ihn selbst formulieren konnte. Gisela drückte die Wahltaste, schaute über die Schulter zu den beiden Polizisten.

»Ich komm ja wieder.« Sprach’s und setzte ihren Weg fort.

Am anderen Ende meldete sich eine rauhe Stimme, die Gisela seit über einem Jahr nicht mehr gehört hatte.

»Hauptkommissar Lederer.«

»Polizeihauptmeisterin Wegmeyer. Erinnern Sie sich?«

Einen Moment lang war nichts zu hören.

»Sicher«, erklang Lederers Stimme, noch rauher. »Wie könnt ich Sie vergessen.«

»Ich ruf beruflich an. Meine Mitarbeiter haben da eine Leiche gefunden. Im Wald. Hier, bei uns.«

Jetzt, da sie ihre Stimme hörte und die Tote Wirklichkeit wurde, begann ihr Herz zu rasen. Sie hatte das Bedürfnis, alles zu erzählen; dass in ihrem Kopf ein Schneesturm tobte, dass ihr Magen sich wie Watte anfühlte, dass die Haut im Nacken spannte wie eine zu enge Strumpfhose.

»Kommen Sie?« Es klang wie ein Flehen. In vielen Dingen des Lebens war Hauptkommissar Karl Lederer sicher unsensibel, aber den Klang einer Stimme richtig einzuordnen vermochte er durchaus.

»Ich bin in einer Stunde da.«

»Danke.«

Gisela drückte die rote Taste, richtete ihren Blick auf den hellen Schimmer vor sich, dorthin, wo der Hohlweg den Wald verließ und nach einigen Windungen das herrliche Niedernussdorf erreichte.

Karl Lederer, Kriminalhauptkommissar der Mordkommission Straubing und seiner Meinung nach der schönste Polizist Niederbayerns, schaltete vom vierten in den dritten Gang zurück, drückte das Gaspedal bis zum Boden durch und jagte bei Rot über eine Kreuzung am Ortsausgang Straubings. Aus den Augenwinkeln sah er einen kleinen Fiat bremsen, einen Porsche Cayenne auffahren und zwei Hausfrauen, die ihm mit offenem Mund nachstarrten. Er lächelte. Was gab es Schöneres als ein Blaulicht in Verbindung mit einem Martinshorn. Die Welt lag ihm zu Füßen. Das kam so selten vor, dass es ihm in diesem Moment Freudentränen in die Augen trieb. Dafür war er Polizist geworden, dafür lebte er und, da war er sich ziemlich sicher, dafür würde er sterben. Das Gefühl konnte niemand verstehen, niemand, schon gar nicht diese biedere Dorfuniformierte, die ihn vor der kleinen Polizeiwache in Niedernussdorf erwartete.

Gisela konnte nur mühsam ein Augenrollen unterdrücken, als Lederer seinen Mercedes schlitternd vor ihr zum Halten brachte. Der Typ hatte sich seit ihrem letzten Aufeinandertreffen anscheinend nicht geändert. Als sie ihn dann mit seinem abgewetzten Ledermantel, den Cowboystiefeln und dem Pornoschnauzer aussteigen sah, bestätigte sich ihre Befürchtung.

»Schön, Sie zu sehen, Frau Kollegin.«

»Mei, ich find das jetzt nicht so schön. Also, beruflich gesehen.«

»War auch nicht beruflich gemeint.«

Sein Grinsen verfing sich an Giselas stoischer Miene. Sie schaute auf seine Cowboystiefel.

»Sind die bequem?«

Lederer wackelte kurz mit den Schuhspitzen.

»Die sind handgemacht. Straußenleder. Gladstone, Australien. Die hab ich jetzt gute zehn Jahre, die tragen sich wie eine zweite Haut. Absolut weich und elastisch und trotzdem zäh und widerstandsfähig. Ein Traum.«

»Gut. Weil wo wir hinmüssen, da kann man mit dem Auto nicht hin. Da müssen wir zu Fuß gehen.«

Lederers Schnauzer zuckte kurz.

»Wie weit ist denn das?«

Gisela schaute Richtung Wald, zuckte mit den Achseln.

»Mei, Stund.«

»Und wenn wir so nah wie möglich ranfahren? Kann man da irgendwo parken?«

»Freilich. Ab da dauert’s dann eine Stunde.«

Noch ein Schnauzerzucken.

»Soll ich Ihnen bequemere Schuhe aus der Wache holen? In Ihrer Größe, glaub ich, haben wir noch was. Da ist der Schorsch rausgewachsen. Der hat die so ausgetreten, da schwimmt ein normaler Mensch drin. Aber Sie sind ja einen Kopf größer als der Schorsch, und wenn man die gut zuschnürt, dann passen die Ihnen sicher wie handgemacht.«

Lederer beugte sich leicht vor.

»Die Schuhe Ihrer Mitarbeiter werden mir nie passen, Frau Kollegin.« Sein kecker Blick unterstrich die Botschaft, dass er was Besseres war, etwas, wovon kleine Dorfpolizisten nur träumen konnten. »Fahren wir.«

Er stieg ein. Gisela musste grinsen. Auch wenn Lederer ein Gockel und seine äußere Erscheinung gewohnheitsbedürftig war, so verlieh ihm dieses ungeheure Selbstbewusstsein einen ganz eigenen Charme. Er wusste, wer er war, und scheute sich nicht, es auch zu zeigen. Er war ein Alphatier, ein Leitwolf, ein Auserwählter.

Der Auserwählte humpelte wenig später etwas fußlahm hinter Gisela her, die den ansteigenden Hohlweg mit kraftvollen Schritten entlangmarschierte. Sie schaute über die Schulter zu Lederer.

»Geht’s?«

Lederer nickte. Er war zu kurzatmig, um antworten zu können.

»Wir sind gleich da, nur noch da hoch. Ist eine Abkürzung.« Gisela deutete zwischen die Bäume hindurch den steilen Hang hinauf. Sie schaute noch einmal zu Lederer und konnte den Schmerz seiner angeschwollenen Füße spüren, als wäre es ihr eigener. Sie hob einen armlangen, dicken Ast auf, hielt ihn Lederer hin. »Hier.«

Lederer schüttelte den Kopf, winkte ab und stakste tapfer an Gisela vorbei, um den Hang zu erklimmen. Die glatten Sohlen seiner Straußenledercowboystiefel machten den Aufstieg jedoch zu einer Rutschpartie. Immer wieder musste Lederer sich entweder an einem Baum festhalten und hochziehen oder alle zehn Finger wie Steigeisen in den Waldboden krallen, um nicht die mühevoll gewonnenen Raummeter abzugeben. Kurz vor dem Gipfel nahm er dankbar Giselas Hilfe in Anspruch, die ihn den letzten Streckenabschnitt mittels des Astes wie an einer Abschleppstange hinter sich herzog.

Oben erwartete Gisela und Lederer nur der Wald. Von Erwin und Richie keine Spur. Und auch das tote Mädchen war nirgendwo zu sehen. Gisela schaute sich verblüfft um, während Lederer mit aufgestützten Händen durchzuatmen versuchte.

»Erwin! Richie!«

Giselas Stimme hallte leise zwischen den Bäumen wider. Jetzt hatte Lederer genug Kraft getankt, sich wieder in aufrechte Position zu begeben und sich ebenfalls umzuschauen.

»Erwin! Richie!« Gisela ging ein paar Schritte zum Bach, bemerkte dabei Erwins Erbrochenes. Sie blieb stehen, ihr Blick flitzte herum. Sie entdeckte die Leiche unter einer Decke aus Tannenzweigen.

»Das ist jetzt hier aber nicht der gespielte Witz, oder?«, fragte Lederer.

»Ein Witz schaut für mich anders aus.« Gisela deutete auf Schneewittchen. »Da ist sie.«

Lederer näherte sich der Toten, zog sich Einweghandschuhe an und legte die Tannenzweige zur Seite.

Gisela holte ihr Handy heraus, drückte die Kurzwahl. Kurz darauf schepperte im Wald die Titelmelodie von Mission Impossible. Lederer fotografierte derweil Schneewittchen und den Fundort.

»Ja?«, flüsterte es aus dem Telefonhörer.

»Sag einmal, wo seid ihr denn?«

»Wir observieren.«

»Ah, und wen?«

»Kennen wir nicht. Aber der hat sich sehr verdächtig benommen, als er am Tatort vorbei ist.«

»War er bei der Leiche?«

»Nicht direkt. Der ist auf der anderen Seite vom Bach vorbeigegangen. Aber so wie der rumgeschaut hat, als wollte er die Tote nicht sehen, als hätt er Angst, hinzuschauen.«

»Warum habt ihr ihn dann nicht aufgehalten?«

»Könnt ja sein, dass es kein Einzeltäter ist.«

Gisela atmete tief durch.

»Kann es sein, dass ihr euch aus dem Staub gemacht habt, weil ihr Schiss hattet?«

Keine Antwort war auch eine Antwort.

»Ihr dreht jetzt sofort um und kommt her.«

»Gisela … echt …«

»Sofort!« Gisela brüllte so laut, dass sie selbst ohne Telefon ihren Adressaten erreicht hätte. Sie schaute entschuldigend zu Lederer, beendete das Gespräch und steckte das Handy weg.

»Die Kollegen dürften gleich da sein.«

Lederer, der in der Hocke neben Schneewittchen kauerte, befasste sich weiter mit der Toten. Er zog sanft ihre Lippen auseinander. Die beiden oberen Schneidezähne überlappten sich leicht. Er nahm eine kleine Stabtaschenlampe aus seiner Manteltasche, drückte die Kiefer etwas auseinander, leuchtete in den Rachen und sah sich prüfend die Zahnreihen an. Gisela verfolgte Lederers Handgriffe aufmerksam. Er ging mit professioneller Ruhe und Sicherheit vor. Als Lederer ihr letztes Jahr erzählt hatte, er wäre bei der Mordkommission in München gewesen, konnte sie sich das gar nicht vorstellen. Aber jetzt, wo sie ihn arbeiten sah, gab es keinerlei Zweifel. Lederer wusste genau, was er tat. Er steckte die Taschenlampe weg. Eine Hand legte er auf den Hinterkopf der Toten, mit der anderen tastete er das Genick, die Wirbelsäule und den Brustkorb nach einem Bruch ab. Er schloss dabei die Augen, verließ sich ganz auf seine Fingerspitzen, die ihm erzählten, dass eine der fliegenden Rippen rechts angeknackst war. Die Leber wies einen langen Riss auf, das Blut war in den Bauchinnenraum geflossen und hatte sich dort gesammelt.

Lederer machte die Augen wieder auf, drehte Schneewittchen vorsichtig herum. Ein Käfer krabbelte ertappt davon. Lederer schob das Negligé nach oben, begutachtete den Bauchbereich. Eine kleine Wölbung unterhalb des gepiercten Nabels zeigte ihm den Bereich der Blutansammlung. Die Körperfläche, die auf dem Boden aufgelegen hatte, wies blauviolette Totenflecken auf. An der Innenseite des linken Handgelenkes erhob sich eine etwa zwei Zentimeter lange weiße Narbe wie ein Relief. Lederer schaute sich das rechte Handgelenk an, auch dort eine Narbe, zwei Zentimeter, rötlich. Diese war noch nicht ganz so alt, etwa ein halbes Jahr,. Schneewittchen hatte zweimal versucht, sich umzubringen.

Lederer zupfte das Negligé auf Höhe der kleinen Brüste auseinander. Über der rechten Brust waren Buchstaben auf primitive Weise eingebrannt worden. Ionel. Gisela prägte sich das Wort ein.

Lederer knickte den Saum eines der halterlosen Strümpfe um, ein Etikett, ein No-Name-Produkt. Er beugte sich vor, rollte den Strumpf bis zu den Knöcheln hinunter. Er untersuchte die Kniekehlen. Ein halbes Dutzend Einstiche. Lederer checkte das andere Bein, auch hier Einstiche in den Kniekehlen. Er zog Schneewittchen beide Strümpfe aus, untersuchte die Zehenzwischenräume. Nichts. Am kleinen Zeh ein silberner Ring. Glatt, ohne Gravur. All das kommentierte er mit einer Kompaktkamera.

Lederers Blick ruhte für einen Augenblick auf Schneewittchen, dann stemmte er sich hoch, schaute Gisela an.

»Kennen Sie sie?«

Gisela schüttelte den Kopf. »Wie ist sie gestorben?«

»Die Leber scheint durch einen oder mehrere Schläge so stark verletzt worden zu sein, dass es zu inneren Blutungen kam. Ich vermute, es hat zwischen drei und vier Stunden gedauert, bis sie tot war.« Er sah auf sein Rolex-Imitat. »Der Exitus dürfte heute Morgen gegen fünf Uhr eingetreten sein. Die Maden …«

»Jaja, ich weiß.« Gisela musste sich zwingen, Lederer ins Gesicht zu schauen. »War sie drogensüchtig?«

»Ich denke nicht. Junkies injizieren sich die Drogen nur dann in die Kniekehlen, wenn die Arme zerstochen sind. Außerdem gäbe es unauffälligere Stellen, um sich das Zeug zu spritzen.«

»Zwischen den Zehen?«

»Zum Beispiel.«

Hinter Gisela tauchten Erwin und Richie auf. Sie zeigten unverhohlene Abneigung, als sie Lederer sahen. Gisela war froh, sich endlich von Schneewittchen abwenden zu können.

»Ja, sag einmal, seid ihr noch ganz sauber, einfach abhauen, ohne mir Bescheid zu geben.«

Erwin deutete auf Schneewittchen. »Wir haben sie doch extra zugedeckt, wegen der Viecher.«

»Und einen Tatverdächtigen kann man doch auch nicht so mir nichts, dir nichts davonspazieren lassen«, unterstützte Richie seinen Freund und Helfer.

»Erstens muss sich das noch rausstellen, ob das ein Tatverdächtiger war, und zweitens hätt ja einer gelangt, der ihm nachsteigt, und drittens hättet ihr den aufhalten und die Personalien aufnehmen müssen, wenn’s nach Vorschrift gegangen wär.«

Erwin und Richie schauten sich schuldbewusst an. Lederer machte einen Schritt vor.

»Und, wo ist er?«

Erwin und Richie glotzten Lederer mit blankem Blick an.

»Na, der Tatverdächtige.«