image
image
image

Inhalt

image

(SMS aus einem Flugzeug über Zentralafrika im April 2005)

15. Dezember 2005

Es ist nicht meine Art, Tagebuch zu schreiben, aber alle sagen, ich soll es tun, und jetzt kann ich schon wieder nicht schlafen, ich liege da und spüre, dass ich jetzt wütend genug für so was bin oder fertig genug, oder was es auch sein mag, jetzt werde ich also schreiben, und der Psychotyp mit dem Bart da unten in der Stadt, in der Klinik, der jetzt seit bald einem halben Jahr herumnölt, dass ich mich öffnen soll, meine eigene Trauer spüren soll und all das, der kann sich freuen.

Diese ganzen Leute, die nur mein Bestes wollen, die habe ich scheißsatt. Und auch, dass alle es so furchtbar schlimm finden. Maßlos schlimm. Niemand kann mich ansehen ohne gleich diesen »Ach die Ärmste«-Blick. Ich hasse das immer mehr. Ich finde es ja auch ziemlich schlimm, aber das ist doch meine Sache. Ich werde noch verrückt davon, unablässig die Ärmste zu sein. Als ob sonst niemand etwas Trauriges oder Schwieriges erleben würde. Als ob ich die Einzige auf der Welt wäre, die ihre Familie verloren hat.

Fräulein Meier ist immer eine böse Hexe gewesen, aber seitdem ich allein bin, säuselt sie nur noch herum, alles ist ganz wunderbar, auch wenn ich meine Hausaufgaben nicht gemacht habe, fast wäre es mir lieber, wenn sie immer noch eine Hexe wäre, aber das kann ich ja irgendwie nicht sagen, und Constance, die Ärmste, weiß gar nicht, wie sie mit mir umgehen soll. Heute war ich irgendwann so weit, ihr zu sagen, sie soll sich ihre Scheiß-Pferde in den Arsch stecken. Wir saßen in der U-Bahn auf der Heimfahrt vom KG, dem Kristelig Gymnasium, und als wir in die Station Besserud kamen, nahm sie meine Hände und flehte mich schier an, ich solle nach Sørkedalen zum Reiten mitkommen. Seit Monaten quält sie mich damit, dass ich zum Reiten mitkommen soll, wenn man Constance glaubt, ist das Reiten das reinste Allheilmittel, ich brauche mich nur auf ein Pferd zu setzen, schon spielt es irgendwie überhaupt keine Rolle mehr, wie viele Familienmitglieder ich verloren habe oder auf welche Weise, denn das Pferd mit seiner Wärme und Kraft und so weiter kuriert mich augenblicklich und bringt mich ins Leben zurück, aber dann habe ich Constance gefragt, ob Pferde manchmal mit Mann und Maus durchs Eis brechen und untergehen, und Constance antwortete, dass das nie vorkommt, und da sagte ich, ich habe keinen Nerv dafür, und sie sah mich an aus ihren Rehaugen, als ob ich ihr ganz fürchterlich leidtun würde, und ich sah sie an aus meinen Rehaugen und fand, dass sie mir noch viel mehr leidtat, und da saßen wir nun mit unseren Rehaugen und taten einander ganz fürchterlich leid, bis sie begriff, dass ich mich über sie lustig machte, und da stieg sie aus der U-Bahn aus, und ich rief ihr nach, dass sie sich ihre Pferde an eine ganz bestimmte Stelle stecken könne, und gestern brachte ich es nicht über mich, zur Schule zu gehen, jetzt denkt sie sicher, mit unserer Freundschaft ist es vorbei oder so, und ich spüre, dass mir das egal ist, ich kann sogar begreifen, dass das eine ziemlich traurige Sache ist, also dass mir das egal ist.

17. Dezember

Jetzt schreibe ich ja schon wieder. Ich weiß nicht, warum, aber das ist auch egal. Das Warum interessiert mich auf einmal nicht mehr, merke ich. Ich stelle nur fest, dass Dinge passieren. Flugzeuge fallen vom Himmel. Mir auch egal, warum. Aber merkwürdigerweise tut das Schreiben gut, obwohl ich dem Psychotypen mit dem Bart, Geir heißt er, nur ungern recht gebe. Er findet sich so wahnsinnig toll und überlegen und meint, er weiß einfach alles über Menschen, denen es schlecht geht, und darüber, wie man ihnen helfen kann, in ein annähernd normales Leben zurückzufinden, wie er es nennt, und vor ein paar Wochen hab ich ihn gefragt, ob er mal seine Familie durch ein Flugzeugunglück verloren hat, aber das hat er nicht, also fragte ich ihn, wie er da so todsicher wissen kann, wie es mir geht, und er sagte, er hat eben so eine lange Erfahrung und außerdem Unis und Institute in Norwegen und im Ausland besucht und mit Dutzenden Menschen in meiner Situation gesprochen, und ich sagte, er soll sich zum Teufel scheren, und er lächelte großzügig und warm in seinen Bart hinein und schaffte es, trotz allem immer noch irgendwie sympathisch zu wirken, und das ist fast das Schlimmste. Er sagt es zwar nie, aber mir ist jedes Mal klar, dass er hier derjenige ist, der recht hat, und das Einzige, was Probleme schafft, ist meine Einstellung, aber wo sind wir denn bitte, wer, der vor ein paar Monaten seine Familie durch einen Flugzeugabsturz in Afrika verloren hat, wird dazu eine offene und herzliche Einstellung haben, und bald ist auch noch Weihnachten.

Mein erstes Weihnachten allein in diesem wahnsinnig großen und leeren Haus. Ich hab sicher fünfzehn Einladungen bekommen, um bei Tanten und Onkeln und Freunden von Mama und Papa oder bei den Eltern meiner Freunde das Fest zu feiern, aber ich lüge sie alle an von wegen, ich hätte schon bei Constance und ihren Eltern zugesagt. Und denen sage ich, ich bin bei Trond und Bitten. Ja, das ist schön, sagen sie. Das Wichtigste ist, dass ich nicht allein dasitze. Die Leute sind so voller Bullshit. Tausende sitzen zu Weihnachten allein zu Hause. Und was soll ich überhaupt mit Weihnachten? Ich hab sowieso nicht vor, noch besonders lange zu leben. Also, etwas Bestimmtes beschlossen habe ich noch nicht. Abwarten.

20. Dezember

Als ich vorhin gerade am Panoramafenster saß, ist mir ein Gespräch zwischen Tom und Papa eingefallen, das ich mal mitgehört hab, als ich auf dem Sofa lag und sie dachten, ich schlafe. Das war, als Tom mit Keramik-Renate zusammen war und in einer Band spielte und Schriftsteller und Künstler und alles Mögliche werden wollte. Er wollte sogar auf dem KG aufhören. Papa nahm ihn sich zur Brust, und ich lag da und grinste in mich hinein. Ich war voll und ganz auf Papas Seite. Typisch für mich. Papa war ganz ruhig und sagte, Menschen wie wir tun etwas Wichtigeres, als zu musizieren und herumzuspielen und einen auf kreativ zu machen. Die meisten, die sich kreativ nennen, sagte er, sind nicht die Spur kreativ. Sie maßen sich das nur an, um so dazustehen wie diejenigen, die wirklich kreativ sind, und dann brauen sie irgendeinen Piss zusammen, für den sich kein Mensch interessiert. Einen auf interessant und schöpferisch machen, das ist das Einfachste von der Welt, hat Papa gesagt. Wer wirklich innovativ ist, der ist es einfach, und Punkt. Der macht da keine große Nummer draus. Und dann sagte er, falls Tom auf dem KG aufhören würde, dann würde er ihm den Geldhahn abdrehen, und Tom müsste von A bis Z für sich selbst sorgen. Falls er aber erst das Gymnasium und dann das Jurastudium absolvieren würde und danach schreiben oder töpfern oder weiß der Teufel was für ein Zeug machen will, dann wäre das seine Sache, und Papa würde sich nicht weiter einmischen. Ich erinnere mich gut, wie blass Tom während dieses Gesprächs wurde. Papa deutete hinunter auf die Stadt und sagte, Tom solle diejenigen, die da unten wohnen, schreiben und Blödsinn machen und all so was, vergessen. Wir, die wir hier oben am Hang wohnen, wir sorgen dafür, dass die Räder sich drehen, wir schöpfen Werte, und außerdem finde ich, diese Renate, die ist nichts für länger, die ist zu ungezähmt, zu unverbindlich für dich, drücke ich mich klar genug aus, verstehst du, was ich sage? Tom verstand.

Drei Monate nach seinem letzten Juraexamen fiel das Flugzeug vom Himmel.

Und jetzt bin ich es, die schreibt, Papa. Obwohl du gesagt hast, dass solche wie wir nicht schreiben. Du hast dich geirrt. Dass ich schreibe, beweist, dass du dich geirrt hast. Und es ist deine Schuld, dass ich schreibe. Deine verfickte Schuld.

21. Dezember

Constance denkt natürlich, dass die Sonne heute wendet. Ich hab versucht, ihr klarzumachen, dass die Sonne überhaupt nicht wendet, sondern ab heute um 19 Uhr 35 täglich ein wenig höher steigt. Die Sonne merkt davon nichts, hab ich ihr erklärt. Wir schon. Am Neujahrsabend wird der Tag hier in Oslo schon sechs Minuten länger sein. Aber die Sonne spürt davon nichts, und gewendet hat sie in ihrem Leben noch nie. Constance wird ungern korrigiert, sie wurde wütend und sprang auf, um in Sørkedalen reiten zu gehen, und ich ging nicht zu der Sonnwendfeier, die sie heute Abend veranstaltet hat. Erst muss es einen kalten Tag in der Hölle geben, bevor ich mir vorstellen mag, zu feiern, dass die Tage länger werden. Meine Wunschvorstellung sind eher kürzestmögliche Tage. Kaum aufgestanden, könnte ich schon wieder ins Bett. Das wäre ideal. Constance hat Probleme. Sie weiß über nichts etwas. Sie hat keine Ahnung, ob die Uhr vor- oder zurückgestellt werden muss, wenn die Sommerzeit anfängt. Sie dreht noch durch, wenn ihr eines schönen Tages klar wird, dass sie nicht ihr Leben lang als Pferdemädchen wird bestehen können.

Versuchte Krzysztof zu überreden, dass er Weihnachten nicht nach Hause fährt. Ich hab gesagt, mir ist es unheimlich allein im Haus. Aber er wollte nach Hause. Ich hab ihn gut bezahlt, damit er auch zurückkommt. Das hätte Papa auch so getan. Krzysztof leistet unglaublich gute Arbeit. Der zweite Pool ist fast fertig. Ich habe ihn dazu gebracht, dass er ihn in Papas Geist zu Ende baut. Kleine, dunkelblaue achteckige Kacheln, dieselben wie im Schwimmbecken in dem Hotel, wo wir letztes Jahr zu Ostern in Berlin gewohnt haben. Mama wären sie wahrscheinlich nicht recht gewesen. Sie hatte immer sehr bestimmte Meinungen zu so was. Aber jetzt zählen meine Meinungen. Krzysztof ist ein Glücksfall. Er arbeitet für wenig Geld und wohnt im kleinsten Zimmer des Hauses; alles, was er will, sind eine Wolldecke und ein Aschenbecher. Ich verstehe gar nicht, warum die Polen international nicht besser dastehen. Vielleicht, weil sie die ganze Zeit beten. Das macht Krzysztof auch. Keine Ahnung, wofür er betet. Will es auch gar nicht wissen. Als der Papst starb, hat er den ganzen Tag keine einzige Fliese gelegt. Aber davor und danach war er ein sehr effektiver Fliesenleger. Warum schreibe ich das eigentlich?

24. Dezember

Was für ein Generve! Jeder einzelne Verwandte, ob von Mamas Seite oder von Papas, ist hier mit Geschenken und Worten des Trostes aufgekreuzt. Alle tun so, als ob sie es in Ordnung fänden, dass ich nichts weihnachtlich geschmückt habe, aber ich tue ihnen fürchterlich leid, und sie schauen mich bekümmert an. Mit gutem Grund, würde ich fast sagen. Was erwarten die denn?

Als der Letzte weg war, nahm ich den Jaguar, ja Papa, du hast recht gehört, ich nahm den Jaguar himself, denn er gehört jetzt mir, alles hier gehört jetzt mir, ist doch so, ich nahm also den Jaguar und fuhr runter zum Alternativweihnachten im Volkshaus, mit allen Geschenken, die ich bekommen hatte, denn ich hatte in der Abendausgabe der Zeitung gelesen, dass sie dort Geschenke brauchten. Streng genommen darf ich ja noch nicht fahren, aber ich hielt es für schlichtweg unwahrscheinlich, dass die Polizei ein so teures Auto anhalten würde, ein, zwei Stunden, bevor die Weihnachtsglocken läuten, wie es so schön heißt. Das fühlte sich gut an. Aber als ich nach Hause kam, war da noch ein Geschenk. Von Krzysztof. Er muss es vor seinem Aufbruch auf den Kaminsims gelegt haben. Er ist süß. Eine CD, auf der ein Mann namens Anthony ganz traurig singt, dass er lieber eine Frau wäre. Ich habe sie mir schon ein paarmal angehört und lasse sie immer noch laufen, während ich dies hier schreibe, und es geht mir sehr nah, dieser Anthony singt so voller Sehnsucht, und obwohl seine Probleme mit meinen nicht ganz mithalten können, hilft es doch irgendwie, da ist ein Schmerz, und das finde ich gut, jeder Schmerz ist brauchbar. Krzysztof hockt den ganzen Tag auf den Knien und legt Fliesen und ist Katholik, aber zurückgeblieben ist er nicht.

Jeden Tag sterben ungefähr 155 000 Menschen, das habe ich gerade herausgefunden. Das sind 57 Millionen im Jahr. 6458 pro Stunde. 108 pro Minute. Ich frage mich, ob das ein Trost ist. Einerseits ja. Andererseits auch wieder nicht.

25. Dezember

Es ist wieder Nacht und ich kann nicht schlafen und ich liege hier und bin abgrundtief sauer auf dich, Papa. Afrika hat nur drei Prozent des jährlichen Fluggastaufkommens weltweit, aber fast 40 Prozent der Todesfälle. Instabile gesellschaftliche Verhältnisse, alte Flugzeuge, schlechte Wartung. All das hast du ganz genau gewusst. Aber natürlich musstest du trotzdem Tom und Mama auf irgendwelche wackligen Inlandsflüge mitschleifen. Mich wolltest du nicht dabeihaben. Ich sollte allein zu Hause blieben und zur Schule gehen, und wenn ich in ein paar Jahren mein Juraexamen hätte, wolltest du mit Mama und mir eine ähnliche Reise unternehmen. Hast du gesagt. Und diese SMS von dir, als dir klar wurde, dass ihr abstürzt. Was hast du dir dabei gedacht? Dass es das für mich einfacher machen würde? Es hat alles viel schlimmer gemacht, begreifst du das nicht? Weil es mir zeigt, dass ihr wusstet, was passierte, ihr wusstet, dass ihr nicht die geringste Chance hattet, das zu überleben, und dass du mitten in der Panik so geistesgegenwärtig warst, an mich zu denken, daran, wie ich reagieren und wie es mir in meinem weiteren Leben ergehen würde, das ist eine ganz schreckliche Vorstellung, das ist grotesk, Papa. Ich mag nicht mehr leben. Die meisten Mahlzeiten nehme ich zurzeit im Holmenkollen-Restaurant ein. Ich habe keinen Nerv, was zu essen einzukaufen oder zu kochen. Ich weiß, du hast das Restaurant nicht gemocht. Das Wochenendmagazin in der Zeitung hat es eine »überteuerte Touristenfalle« genannt. Da musstest du drüber lachen. Den Küchenchef dort hast du auch nicht gemocht. Ohne je zu erklären, warum. Ist ja auch egal. Mir lächelt er jedes Mal zu, wenn ich reinkomme. Und er zieht mich mit den Blicken aus, wenn er denkt, ich schaue nicht hin. Zum Lohn kriege ich immer einen Rabatt. Als würde das eine Rolle spielen. Wenn ich den Führerschein habe, überfahre ich ihn und begehe Fahrerflucht. Hit and run, wie es so schön heißt. Mir gehen alle möglichen merkwürdigen Gedanken durch den Kopf. Ich bin nicht sicher, ob ich das alles aufschreiben sollte.

26. Dezember

Heute ist Constance vorbeigekommen. Sie hat durchschaut, dass ich allen etwas vorflunkere und Weihnachten allein verbringe. Aber sie sagt nichts. Das ist rücksichtsvoll. Sie hatte weihnachtliches Essen dabei, und zu meiner eigenen Überraschung habe ich Rippchen und etwas Kasseler gegessen. Das fette Essen hat mir fast eine Art Kick gegeben. Früher hätte ich so was nicht angerührt, aber ich merke, dass meine Figur mir jetzt egal ist. Was soll man mit einer Figur, wenn man tot ist? Und sie fragte, ob ich nicht eine Rolle in dem Stück übernehmen wollte, das das KG – Theater im Januar einübt. Das KG ist natürlich so gut wie das einzige Gymnasium in ganz Oslo, das keine Revue produziert. Die Direktion glaubt wahrscheinlich, eine Revue strotzt vor Frivolitäten, und so was geht ja in unserem feinen KG nicht, aber Theater darf sein, und Jeanette, die eine winzig kleine Rolle hätte spielen sollen, hat von zu Hause aus nicht mal das gedurft, sagt Constance, es gab eine große Diskussion für und wider, aber Jeanettes Vater ist wohl noch christlicher als alle anderen, sodass ich jetzt das Angebot für ein Bühnendebüt erhalte. Es ist eine sehr kleine Rolle. Ich sage ein paar Sätze und verschwinde durch eine Tür, aber Constance findet, es würde mir gut tun, mal unter Leute zu kommen und an etwas teilzunehmen, egal woran, scheint sie zu denken, denn wenn ich nur etwas mehr Umgang mit Menschen oder Tieren hätte, dann würde ich bald wieder fröhlich oder so in der Art. Eigentlich will ich sie nicht zum Narren halten, denn sie meint es natürlich supergut und ist durch und durch nett. Ich sagte, ich würde es mir überlegen. Das fühlte sich besser an, als nur brutal Nein zu sagen.

28. Dezember

Hatte heute Fahrstunde. Hab da gesessen und überlegt, was wäre, wenn ich das Gaspedal durchtrete und frontal auf den Bus zuhalte, der mir entgegenkommt, oder was wäre, wenn ich an der Kreuzung Karl Johan und Ring 1 rechts abbiege, statt geradeaus zu fahren, den Wagen auf zweihundert Sachen hochjage, den Schlosshügel hinauf und gegens Schloss rase. Das wär doch was, dachte ich. Aber dann hab ich gedacht, das wäre doch egoistisch von mir, der arme Fahrlehrer fände das wohl nicht so passend, der hat sicher nicht seine Familie verloren, jedenfalls deutet nichts darauf hin, außerdem hat er ja seine eigenen Pedale und würde sicher bremsen oder so, aber der Gedanke gefiel mir, obgleich ich mich nicht lange damit aufhalten konnte, weil der Fahrlehrer in einem fort über seine Zeit als Schüler an der Fahrlehrerschule in Stjørdal quatschte. Scheint der Zeit nachzutrauern. Sie fuhren oft nach Trondheim rein, hat er erzählt, um auf echten Straßen mit richtigen Kreuzungen zu üben, und mehrmals hat er eine Prinzenkreuzung erwähnt. Die schönste Kreuzung von ganz Norwegen, sagte er. Jedenfalls die verkehrskundlich am besten geeignete. Er hat es zwar nicht ganz so gesagt, aber ich glaube, er liebt diese Kreuzung. Das konnte ich seiner Stimme anhören. Überhaupt kann ich den Stimmen der Leute alles Mögliche anhören. Constance kann das nicht. Sie merkt höchstens, ob ihr Pferd gute Laune hat oder stinkig ist. Vielleicht könnte aus mir eine gute Psychologin werden oder so was. Wenn ich dazu denn Lust hätte, meine ich. Aber wenn es so weit ist, bin ich ja nicht mehr da, also von wegen, werden wir leben, werden wir sehen, wie man so schön sagt. Wer nicht lebt, wird nicht sehen. Ziemlich ungerecht eigentlich. Oder was, Papa? Jetzt kannst du bereuen. Eigentlich wahnsinnig kitschig, dass ich mich an dich wende beim Schreiben. Wie ein kleines Mädchen im Film, das Mutter oder Vater verloren hat und mit ihnen spricht, als ob sie sie hören könnten, und alle, die den Film sehen, wissen, dass sämtliche Filme über Kinder, die jemanden verloren haben, einander gleichen, trotzdem nehmen sie es hin, dass es im x-ten Film genauso läuft. Das liegt wahrscheinlich daran, dass wir so einen irrsinnigen Respekt vor dem Tod haben und uns alle, die jemanden verloren haben, so leidtun. Der Tod, huh. Der TOD. Als ob der so fucking besonders wäre. Irgendwie wow oder so. Trotzdem, eigentlich kann man Toten nicht schreiben. Weiß ich ja. Man kann Toten nicht schreiben. Also schreibe ich mir selbst.

So was von durchschaubar.

Ich durchschaue den Sinn und Zweck dieser Tagebuchschreiberei voll und ganz. Trotzdem schreibe ich, und es macht mir sogar eine Art Freude. Es ist wie in dem rundum verspiegelten Raum voller rosa Badebälle in der Nationalgalerie, in den Constance mich geschleppt hat. Wir konnten uns in alle Richtungen unendlich vervielfacht sehen. Oder die Spiegelkammer im Technischen Museum, in der ich immer mit Papa gewesen bin. Man sieht sich selbst unendlich oft, bis weit nach hinten, und alle miteinander sind ein Selbst und man entkommt dem nicht und kann keine Geheimnisse mehr haben.

Ich weiß nicht, ob es an der Tageszeit liegt, dass ich so tiefsinnig bin, oder einfach daran, dass ich ans Schreiben nicht gewöhnt bin, oder daran, dass ich sterben werde. Wahrscheinlich wird man tiefsinniger als sonst, wenn man weiß, dass man sterben wird.

Jetzt muss ich das Licht ausmachen, bevor ich völlig abhebe.

1. Januar 2006

Krzysztof ist gestern früh zurückgekommen. Merkwürdiger Zeitpunkt zum Zurückkommen. Und er hat sofort angefangen, Fliesen zu legen. Ich konnte spüren, dass etwas nicht in Ordnung war, also unterbrach ich ihn und machte ihn darauf aufmerksam, dass immerhin Silvester sei und man an Silvester doch keine Fliesen legt, aber er sagte, in Polen sei das ganz normal, aber ich hab ihm nicht geglaubt und ihn ins Holmenkollen-Restaurant zum Essen eingeladen und Wein bestellt und ihm für sein Weihnachtsgeschenk gedankt und erzählt, dass das die schönste Musik ist, die ich seit Langem gehört habe, und es verging nicht viel Zeit, da fing er an zu weinen und erzählte, dass seine Freundin wegen einem anderen mit ihm Schluss gemacht hat, und ich fragte, was er denn erwartet, wenn er ein Jahr lang in Norwegen ist, so sind Frauen nun mal, sagte ich, und es ist sentimental, wenn du denkst, du kannst jahrelang weg sein und Fliesen legen und einen Aschenbecher neben dem Kopfkissen am Boden stehen haben, und sie soll irgendwo in Polen rumsitzen und dämlich warten.

Es gefällt mir, wenn Jungs weinen und verzweifelt sind.

Später am Abend kletterten wir auf die Holmenkollen-Sprungschanze, setzten uns an die Absprungkante und schauten das Feuerwerk an und versuchten, miteinander zu schlafen, aber Krzysztof war zu betrunken, was wohl auch nichts machte, denn es wurde trotzdem ein ziemlich schöner Silvesterabend. Ich merke gerade, das Praktische daran, finster auf das Dasein zu schauen, ist, dass ich viel leichter positiv überrascht werde.

Mein einziger Vorsatz fürs neue Jahr ist, dass ich versuchen will zu sterben. Ich weiß nur noch nicht, wie ich es anstellen soll. Die üblichen Methoden wirken so vulgär. Sich erhängen oder erschießen oder so. Das bin irgendwie nicht ich. Am liebsten würde ich auch mit dem Flugzeug abstürzen. Aber Flugzeugabstürze sind zu selten. Es sei denn natürlich, man fliegt erst nach Afrika. Aber das wirkt vielleicht wieder etwas kompliziert. Ich muss noch drüber nachdenken.

1. Januar

Gestern Abend hat der Premierminister zu mir gesprochen. Zu anderen wahrscheinlich auch, aber ich konnte spüren, dass er vor allem zu mir sprach. Er sagte, ich könne mich selbst besiegen. Auf jeden Einzelnen von uns warten Siege. Er sagte, genau darum gehe es; seinen Träumen Raum zu geben und Möglichkeiten zu schaffen, damit sie wirklich werden. Fast erschreckend. Als hätte er begriffen, worüber ich nachdenke, und würde es voll und ganz unterstützen. Er unterstützt meinen Wunsch zu sterben. Und dann hat er noch einen Haufen Unsinn über Ibsen erzählt, von wegen hundertster Todestag im neuen Jahr und so.

2. Januar

Gestern und heute ist Krzysztof mir aus dem Weg gegangen. Nicht einmal meinem Blick wollte er begegnen. Als ich endlich fragte, wurde mir klar, dass er ein schlechtes Gewissen hat, weil wir in der Neujahrsnacht fast miteinander geschlafen haben. Er hat Angst, ich könnte das Gefühl haben, er hätte mich unter Druck gesetzt oder so und ich wäre jetzt sauer und er dürfte nicht mehr hier arbeiten. Fast hätte ich gelacht. Wie süß. Ich sagte, er soll sich mal entspannen. Ich weiß ja nicht, wie es in Polen so zugeht, aber das hier ist Norwegen. Im Jahre 2006. Jungs und Mädchen schlafen unablässig miteinander, auch vor der Ehe, man könnte fast sagen, gerade vor der Ehe, und ich schlaf doch lieber mit dir als mit den geschniegelten Typen hier im Westend.

Danach wirkte er erleichtert. Legte Fliesen bis spät in den Abend hinein. Ich frage mich, ob er nicht immer noch weitermacht. Das wirkt ein bisschen stumpfsinnig, aber was weiß ich.

4. Januar

Constance hat mich zur ersten Probe des KG – Theaters mitgeschleppt. Bis zur Premiere sind es nur noch gut zwei Wochen, und ich habe offenbar mehr oder weniger zugesagt, dass ich dabei bin. Es scheint einfach zu sein. Ich soll vor dem ersten Akt auf die Bühne gehen und ein paar Sätze sagen und dann dasselbe noch mal vor dem zweiten und dann ganz am Schluss des Stücks zum dritten und letzten Mal. Ich verbinde das Ganze zu einer Einheit, hat der Regisseur, glaub ich, gesagt. Na, von mir aus. Ich weiß nicht mal mehr, wie das Stück heißt. Das spielt auch keine Rolle. Das Wichtigste ist wohl, dass ich ein bisschen rauskomme und ein paar Menschen oder Tiere sehe, wie Constance sagt.

10. Januar

Harte Woche.

Nicht in der Schule gewesen.

Hab nur zu Hause gesessen und nachgedacht, was sein wird, wenn ich tot bin. Nachgedacht, ob ich hier aufräumen soll. Alles in Kisten packen. Sortieren und ordnen. Oder ob ich den Job anderen überlassen soll. Aber diese anderen würden dann jede Menge persönlichen Eigentums finden, das ihnen nichts bedeutet. Briefe. Bilder. Sie würden sie wegwerfen, und das ist ein problematischer Gedanke. Ich sollte den Job selbst erledigen, aber ich bringe es nicht über mich, kann den Gedanken nicht ertragen. Falls ich weiterleben würde, könnte ich alles liegen lassen und das in ein paar Jahren angehen, aber das werde ich ja nicht. Mit anderen Worten, ich müsste aufräumen und das Haus verkaufen und das Geld für etwas Gutes spenden. Aber dazu fehlt mir auch die Kraft. Ich glaube fast, alles muss so bleiben, wie es ist. Dann werden wohl meine Tanten und Onkel das Ganze erben. Da werden sie sich freuen. Es sei denn, Mama oder Papa hatten Kinder, von denen sie nichts erzählt haben. Das würde mich nicht überraschen. So was kommt ziemlich häufig vor, habe ich gelesen. Obwohl, Mama wahrscheinlich nicht, glaube ich. Aber Papa ... auszuschließen ist es jedenfalls nicht. Aber was schert mich das. Ich bin dann sowieso nicht mehr hier, und wer nicht hier ist, hat kein Wörtchen mitzureden. Darüber denke ich zurzeit relativ viel nach. Man muss irgendwie da sein, sonst zählt man nicht. Wer stirbt, schließt sich dadurch ziemlich endgültig aus. Natürlich habe ich mich in der letzten Zeit ziemlich viel auf den Selbstmordseiten im Internet umgeschaut. Ich dachte, ich würde auf Gleichgesinnte treffen, aber ich finde das alles abstoßend. Viele wirken jünger als ich, und ihre Gründe dafür, dass sie nicht mehr leben wollen, wirken völlig unangemessen. Sie sind zu unreif, um wirklich sterben zu wollen. Sie sind ein bisschen deprimiert, ohne zu wissen, warum, oder mit ihrer Beziehung ist Schluss, oder sie wollen sich an ihren Eltern rächen, die sie nicht verstehen. Sie haben ein romantisches Verhältnis zum Sterben, als wäre das etwas Großartiges, als wäre der Tod der Anfang von etwas Großem, als könnte das Sterben eine Rache sein, ich glaube, sie haben keine Ahnung, womit sie da flirten. Kinderkacke.

Und Constance ruft an und kaut mir ein Ohr ab wegen Theatergruppen und Pferden und anderer Tiere (über Pferde weniger als bislang, aber trotzdem genug), und ich sage, dass ich meinen Text schon längst gelernt habe, aber das habe ich natürlich nicht. Ich habe ein bisschen im Textbuch gelesen, aber nach 3 Sekunden wurde mir langweilig, jedenfalls lange bevor 10 Sekunden vergangen waren.

11. Januar

Habe gestern mit Psychogeir gesprochen. Sein Bart wird immer länger. Er findet es gut, dass ich so zuverlässig zu unseren Terminen komme, das sei ein gutes Zeichen, und außerdem findet er, dass ich besser wirke, und das freut ihn zu sehen. Wenn der wüsste. Er sagte, er habe längere Zeit befürchtet, ich könnte selbstmordgefährdet sein, und er hat sich gefragt, ob ich etwa in der Richtung etwas unternehmen will, wie er es nennt. Wenn man bedenkt, was für eine Mordsausbildung der hat und wie viel Erfahrung mit meinesgleichen, dann ist er ganz schön leicht zu beschummeln. Ich habe gesagt, stimmt, ich habe darüber nachgedacht, ob ich mir das Leben nehmen soll, doch je mehr ich darüber nachdenke, desto klarer wird mir, dass ich das Leben liebe.

Ich bin ja nicht dumm. Eingesperrt werden, weil Psychogeir denkt, ich bin eine Gefahr für mich selbst, das ist das Letzte, was ich jetzt brauchen kann.

15. Januar

Gestern auf der Theaterprobe gewesen. Premiere ist am 20., also in fünf Tagen. Die Leute sind alle voll gestresst. Als würde es eine Rolle spielen, wie die Vorstellung läuft. Die sind alle so kurzsichtig. Wenn sie fröhlich sind, dann auf eine dumme, nervige Art und Weise, wenn sie gestresst sind, dann auch auf eine dumme, nervige Art und Weise, und wenn sie böse sind, genauso. Wahrscheinlich finde ich sie einfach rundum dumm und dass sie keine Ahnung davon haben, was eigentlich Sache ist. Sie halten sich für unsterblich. Es ist fast unmöglich, mir vorzustellen, dass ich vor einem Jahr so war wie sie.

Während ich auf der Bühne stand und mit den letzten Textzeilen rang, hatte ich eine Idee. Eine Idee, in die ich mich allmählich verliebe, obwohl sie ziemlich dramatisch ist und vielleicht sogar kindisch. Ich verrate sie nicht. Muss erst noch ein bisschen drüber nachdenken. Aber sie ist teuflisch gut.

16. Januar