image

image

Das bezaubernde Lächeln der Ann Ewill | Reihe: 21

Die Deutsche Nationalbibliothek – CIP-Einheitsaufnahme.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet dieses Buch in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

image

Erste Auflage 2012
© Größenwahn Verlag Frankfurt am Main Sewastos Sampsounis, Frankfurt 2012
www.groessenwahn-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN: 978-3-942223-14-0
eISBN: 978-3-942223-58-4

Michalis Patentalis

Das bezaubernde Lächeln
der Ann Ewill

Surrealistische Geschichten

image

IMPRESSUM

Das bezaubernde Lächeln der Ann Ewill

Reihe: 21

I N H A L T

DAS BEZAUBERNDE LÄCHELN DER ANN EWILL

EIN UNFALL BEIM BBC

EINE ERNSTHAFTE ERFINDUNG

DIE POL(L)EN FLIEGEN IM FRÜHLING

SCHATTENSPRUNG

DAS GEHEIMNIS DES NACHBARN

DER SCHWARZE OHRRING

EINE MUH, EINE MÄH

AUGEN IN EINEM AQUARIUMGLAS

DIE BISSOFFS

STILLGESTANDEN

DAS ROTKÄPPCHEN IN DER STADT

BIOGRAPHISCHES

Dem Komponisten, Schriftsteller, Philosophen und Freund
Manolis Rasoulis
gewidmet,
der eines Morgens beschloss, diese Erde zu verlassen,
um in die Sphäre des Weltalls umzuziehen.
Ein Passant, der gerade auf der Sonnenbahn einen Spaziergang machte,
hat ihn gesehen,
wie er vor der Hiobspyramide mit einem Delfin im Arm seine Runden drehte.
Jetzt weiß ich, wo ich ihn finden kann

DAS BEZAUBERNDE LÄCHELN DER ANN EWILL

Es war wohl Herbst, da die Blätter sich ermüdet von den Zweigen fallen ließen und auf den feuchten Bürgersteigen der Stadt Zuflucht suchten. Die Häuser in der Birkenstraße standen stumm und grau in Reih und Glied, wie bereit zu einer Trauerprozession. Dieses Bild würde dem Leser nichts Besonderes vermitteln, wenn nicht in einem dieser Häuser George Klosé wohnte. George war Arbeiter in einer Taschentuchfabrik, hatte graue Haare, welche erst kürzlich in eine tiefe Depression gefallen waren, ein schwarzes Muttermal genau am Punkt des Dritten Auges, und sein rechtes Nasenloch war größer als das linke.

George stand jeden Tag um fünf Uhr in der Frühe auf, trank eine Tasse schwarzen Kaffee, spuckte ins Waschbecken die Träume der vergangenen Nacht aus und, nachdem er seine Schnürsenkel doppelt gebunden hatte, sprang er die Treppe hinunter, wobei er immer drei Stufen auf einmal nahm. Sein Ziel war die Fabrik, die zwanzig Minuten zu Fuß von seinem Haus entfernt war. Eine Minute vor sechs stempelte er seine Karte in der Stechuhr am Eingang der Fabrik, zog seinen Blaumann mit den vielen Taschen an, und stand für die nächsten zwölf Stunden nicht auf, es sei denn um pinkeln zu gehen. Um sechs Uhr abends zog er den Blaumann aus, spuckte ins Waschbecken die restlichen Partikel der Taschentücher aus, und nachdem er die Schnürsenkel seiner Schuhe doppelt gebunden hatte, eilte er hastig nach Hause.

Um sieben Uhr öffnete er mit einem tiefen Seufzer der Zufriedenheit seine Haustür, zog seine Schuhe in der Diele aus und legte sich für genau eine Stunde aufs Sofa, um auszuruhen. Um eine Minute nach acht stand er vom Sofa auf, ging unter die Dusche, putzte zweimal seine Zähne und zog anschließend seinen grauen Anzug und die orangefarbene Krawatte an. Danach breitete er die Tischdecke mit den Herzmustern über dem Tisch aus, machte eine Flasche Bordeaux auf, und nachdem er zwei Leonardo-Kristall-Gläser auf den Tisch gestellt hatte, schaute er unruhig zur Küchenuhr hinauf, um sicher zu sein, dass er nicht zu spät dran war. Um viertel vor zehn würde, wie jeden Abend, seine Liebste kommen.

All dies wäre für den Leser, der niemals etwas über das Leben von George Klosé erfahren hätte, belanglos, wenn der Vorarbeiter der Taschentuchfabrik nicht beschlossen hätte, Georges Arbeitszeit zu ändern und ihn statt in der Früh- in der Spätschicht einzusetzen.

»Herr Klosé, die Bedürfnisse der Fabrik erfordern eine Änderung Ihrer Arbeitszeit. Ich weiß, dass es für Sie schwer sein wird, aber es geht nicht anders«, sagte der Vorarbeiter zu George und gab ihm deutlich zu verstehen, dass er keine andere Möglichkeit hatte.

»Bis acht Uhr abends und keine Minute länger!« schrie George und verlieh seiner Stimme einen solchen Ton der Entschlossenheit, dass Verhandlungen ausgeschlossen waren.

Der Vorarbeiter wusste von Georges Schwierigkeiten und versuchte gelassen, eine Kompromisslösung vorzuschlagen: »Aber Herr Klosé, die Spätschicht geht bis zehn Uhr, ich kann Sie doch nicht zwei Stunden früher gehen lassen. Ich könnte eine Ausnahme machen, wenn Sie mit neun Uhr einverstanden wären. Was meinen Sie? Immerhin eine Stunde früher!«

»Um Acht! Und keine Minute länger! Ich werde doch meine Beziehung nicht wegen der Taschentücher aufs Spiel setzen!« schrie George außer sich, und seine Halsschlagadern schwollen an und sahen wie zwei Schiffstaustränge aus.

»Können Sie denn nicht Ihrer Freundin sagen, sie möchte etwas später kommen? Um zehn, beispielsweise! Dann kann sie auch zwei Stunden länger bleiben. Nicht wie jetzt, wo sie um Viertel vor zehn kommt und um viertel nach zehn geht, als sei sie bestellt!«, schrie der Vorarbeiter zurück, verärgert über Georges rigorose Ablehnung seines Kompromissvorschlags.

»Meine Freundin, du Blödmann, arbeitet hart. Nicht wie deine Quasseltante, die den ganzen Tag zu Hause herumsitzt und mit ihren Freundinnen Romme spielt. Meine Freundin ist gebildet und kann nur um viertel vor zehn kommen«, sagte George und kehrte an die Maschine mit den Taschentüchern zurück, ohne eine Antwort abzuwarten.

Der Vorarbeiter sah, dass er keine Chance bei George hatte und rief ihm zu: »Sie haben eine Woche Zeit, sich zu entscheiden, Herr Klosé. Sonst bin ich gezwungen, Sie zu entassen. Eine Woche und keinen Tag länger!« sagte er und ging in sein Büro zurück.

George füllte die beiden Gläser mit Wein und wartete. Pünktlich um viertel vor zehn nahm seine Freundin ihm gegenüber am Tisch Platz, die, wie man später erfuhr, Ann Ewill hieß. Mit einem bezaubernden Lächeln auf den Lippen wünschte sie ihm »Guten Abend« und begann, ihm zu erzählen, was sie in allen Kaffeehäusern der Welt gehört hatte. Sie erzählte ihm von Irakkrieg und dem Sterben kleiner Kinder, vom genmanipulierten Mais, dessen Produktion die Menschen aus ihrem Unglück retten wird, indem er sie seinerseits in Hühner umwandeln werde. Sie sprach pausenlos und berührte dabei mit ihrem warmherzigen Lächeln Georges Seele. Pünktlich um viertel nach zehn hörte sie mit dem Erzählen auf, erneuerte ihre Verabredung für den nächsten Tag um die gleiche Zeit und verschwand anschließend genauso geräuschlos wie sie gekommen war. George hatte keine Zeit, irgendein Wort zu sagen. Er schaute nur mit offenem Mund auf die Bewegungen ihres Körpers, auf ihre Lippen, die sich jedes Mal berührten, wenn sie ein Wort aussprach, schaute auf die Fenster ihrer Augen, die sich in der Mitte ihres Gesichts rhythmisch öffneten und schlossen. Bei jedem ihrer Treffen schwor er sich, ihr die Liebe zu gestehen, die sich in seinem Herz eingenistet hatte, und ihr von den Träumen zu erzählen, die er hatte, wenn sie endlich für immer beisammen sein würden; aber auch von dem Feuer, das sich in seinem Körper ausbreitete, durch die Sehnsucht, sie endlich die Seine nennen zu können. Er wollte es, konnte aber nicht. Am Ende, ermüdet von der abgrundtiefen Stille, ließ er sich aufs Sofa fallen und schlief bis fünf Uhr morgens des nächsten Tages.

All dies hätte für den Leser keine weitere Bedeutung, und er hätte niemals etwas über die Beziehung George Klosés zu Ann Ewill erfahren, hätte George nicht vor Ablauf der Frist, die ihm sein Vorarbeiter gesetzt hatte, beschlossen, Ann Ewill zu bitten, seine Frau zu werden.

An jenem Tag also stand George Klosé wie an jedem anderen Tag um fünf Uhr morgens auf, trank eine Tasse schwarzen Kaffee, spuckte den Traum der Nacht diesmal nicht aus, schnürte doppelt seine Schuhe, ging ganz ruhig die Stufen einzeln hinunter und schlug die Richtung ›Taschentuchfabrik‹ ein. Eine Minute vor sechs stempelte er seine Karte. Er zog aber nicht seinen Blaumann mit den vielen Taschen an, sondern ging direkt zum Büro des Vorarbeiters, klopfte zweimal an die Tür und trat dann entschlossen ein.

»Herr Klosé? Was kann ich für Sie tun? Haben Sie endlich eine Entscheidung getroffen?« kam ihm der Vorarbeiter zuvor.

»Ich möchte mir heute frei nehmen», erklärte George dem verwunderten Vorarbeiter, »ich habe beschlossen, ihr einen Heiratsantrag zu machen. Und morgen wird dann auch das Problem mit der Arbeitszeit gelöst sein«, sagte er und gab seiner Stimme einen Ton der Entschlossenheit, der keine Zweifel zuließ. Der Vorarbeiter war über die positive Wendung gerührt, denn im Grunde schätzte er Georges Arbeit – war dieser doch noch nie auch nur einen einzigen Tag der Fabrik ferngeblieben – erhob sich von seinem Sessel, und nachdem er George zweimal auf beide Wangen geküsst hatte, gab er ihm seinen Segen und wünschte ihm alles Gute.

»Bringen Sie sie doch mal mit, Herr Klosé, damit ich sie auch kennen lernen kann. Seit einem Jahr höre ich so viel über Ihre Freundin«, sagte der Vorarbeiter ein wenig vorwurfsvoll und mit geheimem Neid über das Glück seines Arbeiters.

George verließ um sieben Uhr die Taschentuchfabrik in Richtung Stadtzentrum. Um acht saß er in Francois’ Café-Bar und trank noch einen schwarzen Kaffee, während er wartete, dass die Geschäfte ihre Pforten öffneten. Eine Minute vor neun betrat er Noirs Juwelierladen und kaufte einen Damenring mit zwei Smaragden, die wie zwei leuchtende Sterne funkelten. Eine Minute vor zehn kaufte er in Jaquelines Blumenladen Dutzende roter Rosen, und pünktlich um elf Uhr öffnete er seine Wohnungstür in der Birkenstraße. Eine Minute vor zwölf legte er sich aufs Sofa und schlief, an diesem Tag ausnahmsweise drei ganze Stunden lang. Um eine Minute nach drei ging er unter die Dusche, putzte zweimal seine Zähne und zog anschließend seinen grauen Anzug und die orangefarbene Krawatte an. In feierlicher Andacht deckte er den Tisch: Er überzog ihn mit der Herzmuster-Tischdecke, stellte darauf die beiden Leonardo-Kristall-Gläser und die Rosen in einer Vase, machte eine Flasche Bordeaux auf, setzte sich dann hin und wartete auf den großen Augenblick. Da es aber noch sehr lang war bis viertel vor zehn, begann er laut zu denken, was er seiner Freundin sagen würde, wenn sie in seine Wohnung käme und ihm von all den merkwürdigen Dingen erzählen würde, über die sie draußen in der Welt gehört oder die sie selbst gesehen hatte.

Meine liebste Ann. Es ist ein Jahr verstrichen seit jener Herbstnacht, in der ich dich kennen gelernt habe. Erinnerst du dich? Du warst scheu, mit deinen nassen schwarzen Haaren, die deine Schulter umflossen und glichst einer Träne am Rand eines Platanenblattes. Ich wusste nicht, wie ich mich dir annähern sollte, ich hatte auch Angst, dass dein Körper bei einer Berührung zerbrechen würde; ich wusste nicht, welche Worte ich an dich richten sollte, hatte Angst, dass die Wörter wie Nadeln die zarten Konturen deiner Augen durchstechen würden; ich wusste nicht, wie ich dich ansehen sollte, hatte Angst, dass sich dein Blick mit deinen Lippen verschwören und mich verraten würde. Und da hast du mich angelächelt. Ein bezauberndes Lächeln, das bewirkte, dass meine Liebe auf einmal wie ein Tautropfen zu Boden rollte. Seit jenem Augenblick wusste ich, dass ich für immer mit dir zusammen sein wollte. Bis gestern traute ich mich nicht, es dir zu sagen. Es hat sich auch nicht ergeben. Was soll man sich außerdem alles innerhalb einer Dreiviertelstunde erzählen? Über die Kriege und die toten Kinder, über die genveränderten Pflanzen und die Kernreaktoren, über die Börse und den Rinderwahn, über die Mutter, die ihr Kind getötet, das Kind, das seinen Vater umgebracht und den Vater, der seine Tochter vergewaltigt hat? Aber nun ist es an der Zeit, über uns zu reden. Über unsere Zukunft und unsere Träume. Meine liebste Ann, willst du meine Frau werden?

Bei diesem letzten Satz kam George aus seinem Delirium zu sich und schaute erschrocken auf die Uhr. Es war neun Uhr und vierundvierzig Minuten.

Eine Minute vor dem großen Treffen, dachte er, schloss die Augen und zählte von sechzig ab rückwärts. Neunundfünfzig … neunund … achtundzwanzig … Pünktlich um viertel vor zehn öffnete er sehnsuchtsvoll seine Augen. Aber, herrjemine!

Ihm gegenüber saß, anstelle von Ann, ein Mann mittleren Alters mit zerfurchtem Gesicht, schwarzem Anzug und einer solchen zur Schau gestellten Herablassung in den Augen, dass sie in Georges Körper Übelkeit hervorrief, die als Schweiß aus seinen Hautporen hervorbrach – so groß war seine Überraschung.

»Wer bist du denn? Und wie bist du in meine Wohnung gekommen? Wo ist Ann?« brüllte George und sprang von seinem Sitz auf.

Der Typ schien sich absolut nicht an Georges Reaktion zu stören, und nachdem er ihm einen guten Abend gewünscht hatte, sagte er: »Ich heiße Ulrich von Ickert und vertrete heute Ann Ewill, die plötzlich erkrankt ist«.

Trübseligkeit senkte sich auf Georges Gedanken.

Wer war dieser Herr, der ungeladen in seine Wohnung gekommen war und so frech zu denken wagte, er könne jemals seine Liebste vertreten?