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Peter Godazgar
Der tut nix, der will nur morden!

Vom Autor bisher bei KBV erschienen:

Ruhe sanft in Sachsen-Anhalt (Hg.)

Peter Godazgar, geb. 1967, studierte Germanistik und Geschichte und besuchte u. a. die Henri-Nannen-Journalistenschule in Hamburg. Er arbeitet als Redakteur bei der Mitteldeutschen Zeitung in Halle (Saale) und schreibt Kriminal-, aber auch andere Romane. Peter Godazgar ist Mitglied der Krimiautorenvereinigung Das Syndikat und gehört aktuell auch deren Sprecherteam an. www.peter-godazgar.de

Peter Godazgar

Der tut nix,
der will nur morden!

Schwarze Stories

Originalausgabe

Inhalt

Vorwort

OHNE TOTE

Das Jobangebot

Helga sorgt für Ordnung

Bennis großer Coup

Karsunke kocht Kaffee

Die Geiselnahme

Muffe küsst Langschwanz

Ein Dichter rastet aus

Wir kriegen dich!

EIN TOTER

Der Vorfall

Manni fährt zum Horizont

Jupp ante portas

Der Aufschneider

Der Auftrag

Der Blättersammler

Vom Fischer und seiner Frau

Dirty Talk in Bergkamen

ZWEI BIS DREI TOTE

Achtzehn, zwanzig, tot

Dörte ruht sich aus

Aller guten Dinge sind drei

Bei Mutti schmeckt's am besten

GANZ DUMM GELAUFEN

Alter Schwede

Überleben für Anfänger

Hubis Heimkehr

Merci Chérie, in Unna

Alles im Fluss

Endlich Ruhe!

Nachweis

Vorwort

Manchmal denke ich, eigentlich bin ich gar kein Krimi-Autor. Die ganzen armen Leichen, ach, das tut mir immer in der Seele weh. Ich möchte, dass wir Menschen uns lieb haben. Warum können wir uns nicht umarmen, drücken, knuddeln? Sie werden sagen: Umarmen, drücken, knuddeln – da hat sich doch schon eine große Industrie drauf spezialisiert, aber das ist ja nicht ganz das, was ich meine. Was ich meine: Warum können wir uns nicht an den Händen halten und über Blumenwiesen laufen? Wäre das nicht viel schöner? Ja, das wäre es!

Die Frage ist natürlich: Will das jemand lesen? Zweihundertachtzig Seiten – oder meinetwegen auch nur zwölf – über Uschi und Ulf, die glücklich über Blumenwiesen laufen? Gut, es könnten natürlich immer verschiedene Blumenwiesen sein, aber trotzdem …

Hinzu kommt: Manchmal geht es nicht anders. Manchmal muss es eben Mord sein. Indes gibt es im vorliegenden Band immerhin in acht Geschichten am Ende keine Leiche. Ist das nicht schön? In einigen Fällen ist es freilich nur reine Glückssache, dass alle am Leben bleiben durften, in anderen Fällen liegt der Schwerpunkt schlicht auf anderen Verbrechen. Denn, ja, es gibt doch so viele andere Straftaten, die auch begangen werden wollen. Diebstahl, Überfall, Einbruch …

»Der tut nix …« – dieser erste Teil des Buchtitels trifft wahrlich auf so gut wie sämtliche Protagonisten dieser Stories zu: Auf Manni, den größten Udo-Lindenberg-Fan der Welt, und auf Valentina mit der hochromantischen Ader, auf den Klopapier sammelnden Bert, und auf Dörte, die rotbunte dänische Protestsau, sowieso.

Dass am Ende doch der eine oder andere auf der Strecke bleibt – in einem Fall, es ist mir richtiggehend peinlich, sind es sogar gleich 24 Personen – das ist, nun ja, wie sagt man so schön: dumm gelaufen. Und zumindest jene 24, also, die waren alle echt total böse.

Eine mörderisch vergnügliche Lektüre wünscht

Ihr
Peter Godazgar

OHNE TOTE

Das Jobangebot

Die Frau sah ihr Gegenüber ein paar Sekunden mit fast schon mitleidiger Miene an, dann schnaufte sie kurz und sagte: »Mensch, Sie sind aber auch ein schwieriger Fall.«

Der Mann auf der anderen Seite des Tisches hob entschuldigend die Schultern.

Die Frau winkte ab. »Ja, ja, der Rücken, hören Sie auf, ich weiß doch.« Wieder starrte sie ihr Gegenüber eine Weile an, dann entließ sie ein gedehntes »Mmmh« aus ihrem Mund, drehte sich zu ihrem Computer und fing an, auf der Tastatur herumzutippen. »Oder wir probieren mal was ganz anderes«, murmelte sie eher in sich hinein als zu dem Mann.

»Wobei: So ganz was anderes ist das wahrscheinlich gar nicht.« Sie lächelte betont aufmunternd. »Hier ist diese Woche was reingekommen, das könnte was für Sie sein.« Ihre Finger huschten über die Tastatur, ihre Augen über den Bildschirm. »Da! Arbeitgeber aus dem Ausland. Mit einigen Zweigstellen in Deutschland. Will expandieren.«

»Ich will aber nicht weg aus Deutschland«, sagte der Mann ängstlich.

»Nein, nein, Ihr Arbeitsgebiet ist Deutschland. Allerdings mit wechselnden Orten. Sie müssten schon immer mal ein bisschen rumfahren.«

»Na ja, wenn‘s nicht so oft ist.«

»Also wollen Sie nun überhaupt einen neuen Job?«, sagte die Frau streng.

Der Mann senkte den Blick.

Die Strenge im Blick wurde von einem gewissen Maß an Güte abgelöst: »Nun seien Sie doch nicht gleich wieder so pessimistisch. Wenn ich das hier so lese: Das passt eigentlich genau auf Ihre Qualifikation als Gebäudereiniger.«

»Ja, und um was geht es nun?«

»Cleaner«, sagte die Frau.

»Cleaner?«

»Ja. Cleaner. Ist englisch. Heißt quasi ›Reiniger‹. Hat aber ein etwas anderes Anforderungsprofil. Deutlich anspruchsvoller! Ziemlich neues Berufsbild.« Sie schüttelte den Kopf. »Die immer mit ihren neumodischen Berufsbezeichnungen.«

»Und was ist das für eine Firma?«

»Ich lese es Ihnen mal vor. Also: Für unser traditionsreiches, mittelständisches Familienunternehmen mit Stammsitz in Sizilien/Italien suchen wir zum nächstmöglichen Zeitpunkt einen Cleaner/eine Cleanerin.«

Der Mann wollte etwas sagen, aber sie hob die Hand und brachte ihn damit zum Schweigen. »Hören Sie doch erst mal zu. Also: Ihr Aufgabenbereich: Sie erwartet eine vielseitige und interessante Aufgabe im Bereich des Personalmanagements. Sie unterstützen persönlich die Geschäftsführung sowie die darunter liegende ausführende Leitungsebene. Hierzu gehört vor allem die Nachbereitung von Geschäftstreffen und anderen Veranstaltungen.

Ihr Profil: Neben organisatorischem Talent und einer schnellen Auffassungsgabe, einer ausgeprägten Fähigkeit zu strategischem Denken und der Fähigkeit, mit komplexen Situationen umzugehen, sind Kreativität und Flexibilität gefragt. Für den Umgang mit unterschiedlichen Geschäftspartnern in der internen wie externen Kommunikation sind soziale und fachliche Kompetenz sowie Überzeugungskraft unumgänglich. Sie sollten grundlegende Kenntnisse in den Bereichen Waffenkunde und Ballistik besitzen, mit den neuesten Produkten auf dem Reinigungsmarkt vertraut sein und außerdem keine Angst vor hartnäckigen Verschmutzungen haben. Führerschein Klasse 3 wird vorausgesetzt.«

Die Frau blickte auf und lachte: »Das versteht sich ja wohl von selbst.«

Der Mann lächelte schüchtern.

»Weiter im Text: Wir bieten: Eine spannende Tätigkeit an der Schnittstelle von Handel und Industrie. Sie sind viel unterwegs und lernen interessante Orte kennen. Wir bieten regelmäßige Fortbildungsseminare, ausgeführt von langjährigen Profis der Branche. Wir bieten …«, die Frau hob den Zeigefinger: »Jetzt wird‘s interessant: Wir bieten eine außertarifliche Vergütung inklusive diverser Zuschläge. Reisespesen und Ausrüstungskosten werden selbstverständlich von uns übernommen.«

Sie schwiegen eine Weile. »Und?«, fragte die Frau.

»Ich weiß nicht«, sagte der Mann. »Meinen Sie, das wäre was?«

»Warum denn nicht? Sie als ehemaliger Gebäudereiniger bringen da doch ideale Voraussetzungen mit.« Sie sah wieder auf den Bildschirm. »Die Stelle ist allerdings befristet. Zunächst befristet, steht hier, sechs Monate Probezeit, ist ja klar. Und, ja, auch klar: »Bei gleicher fachlicher Eignung erhalten Schwerbehinderte den Vorzug. Das trifft jetzt auf Sie zwar nicht zu, aber, äh …«

»Mmmmh ... Ich kann‘s ja mal versuchen.«

»Das ist die richtige Einstellung. Ich druck‘s Ihnen aus.«

Sie schob die Computermaus hin und her, klickte, dann machte der Drucker Geräusche und schob zwei Blätter heraus.

Nachdenklich sah sie dem Mann hinterher, wie er mit hängenden Schultern aus dem Büro schlich.

Sie schüttelte den Kopf. »Das wird nie was«, murmelte sie.

Im selben Moment klingelte das Telefon. Sie nahm den Hörer ab: »Arbeitsamtsagenturbehörde für Arbeit, sie sprechen mit Frau Mielke, was kann ich für Sie tun?« Sie lauschte, dann hellte sich ihre Miene auf. »Herr Schlegel! Wie geht es Ihnen? Wie ist es gelaufen?« Sie lauschte erneut, dann breitete sich ein Strahlen auf ihrem Gesicht aus. »Nein! … Wirklich? … Das ist ja toll. Und ab wann? … Aha … Oho! … Mensch, ein Wahnsinn ist das, mein Herr Schlegel wird Logistikfachkraft für bewusstseinserweiternde Stoffe! … Und wie lange haben wir gesucht, was? Das heißt, Sie ziehen jetzt also um? … Aha, aha, toll … Jaaaa. Und Kolumbien soll ja wirklich schön sein. Herr Schlegel, ich wünsche Ihnen alles, alles Gute. Ja … nichts zu danken.«

Helga sorgt für Ordnung

Am ersten frühlingshaften Tag nach einem zähen Winter wackelte Helga Kleinschmidt mit ihrem leicht entenhaften Gang die Straße entlang. Trotz des Sonnenscheins war sie missgelaunt.

Sie wusste selbst nicht warum. Drei Wochen noch, dann würde alles vorbei sein, der ganze blöde Job, der Ärger, die dummen Sprüche. Helga hätte allen Grund gehabt, etwas beschwingter zu sein.

Sie war es nicht. Vielleicht lag es daran, dass sie – bei aller Vorfreude auf das Ende ihrer Berufstätigkeit – nicht genau wusste, was sie danach erwartete?

Genau diese Frage hatte man ihr oft gestellt in den vergangenen Wochen und Monaten. »Na, was machst du denn, wenn du in Rente bist?«

Tja, was? Eine gute Frage, auf die Helga bislang keine überzeugende Antwort gefunden hatte. Einen Töpfer-Kurs belegen? Spanisch lernen? Oder Yoga? Mit einem Gummiseil an den Füßen von Brücken springen? Sich einen dreißig Jahre jüngeren italienischen Freund zulegen? Einem Seniorenkabarett beitreten? Die Autobiografie schreiben? Helgas Miene hellte sich nun doch etwas auf. Eine Autobiografie, ja das wäre was. Arbeitstitel: »Hunderttausend Knöllchen – Mein Leben als Politesse« oder: »Ich und die Parkuhr – Eine Liebesgeschichte«. Oder doch gleich: »Schlampe, Zicke, dumme Kuh – Meine schönsten Beschimpfungen«.

Helga wackelte den halleschen Hansering entlang und warf lustlose Blicke in die Autoscheiben. Fehlanzeige. Nirgends ein abgelaufener, geschweige denn ein gar nicht existierender Parkzettel.

Sie blickte die Straße hinauf und hinunter. Wo war eigentlich ihre Kollegin? Gabi hatte am Landgericht in der Seitenstraße ein Opfer gefunden, und Helga war schon vorgegangen. Ob Gabi noch mehr Falschparker entdeckt hatte?

Reisen, das wär’s! Am besten gleich eine Weltreise, doch dafür würde die Rente gewiss nicht reichen. Aber zumindest dem Winter wollte Helga künftig entfliehen. Ein paar Monate Türkei während der kalten Jahreszeit, das würde auch den Knochen gut tun. Und sonst? Sie könnte ihre Tochter besuchen, die seit Jahren mit Mann und zwei Kindern in Süddeutschland wohnte. Ja, die würde sich bestimmt ein Loch in den Bauch freuen, wenn Mutti künftig alle paar Wochen antanzen würde. Wo das gute Kind es doch gerade hinbekam, zum Geburtstag anzurufen. Aber die Einsamkeit war es ja auch gar nicht, die Helga Angst machte. Nein, sie fühlte sich nicht allein, auch nicht, seit ihr Gatte vor vier Jahren das Zeitliche gesegnet hatte

Helgas Miene hellte sich auf. Da, am Leipziger Turm, stand einer mitten im absoluten Halteverbot. Halb auf dem Radweg, halb auf der Fahrspur. Sie kniff die Augen zusammen und näherte sich dem Heck des Fahrzeugs. Saß da noch jemand drin?

Schade, sie würde sich damit begnügen müssen, den Fahrer wegzuscheuchen.

Helga erreichte den Wagen, traf ans Beifahrerfenster und klopfte an die Scheibe.

Der Mann hinterm Steuer zuckte zusammen. Helga bedeutete ihm, die Scheibe herunterzulassen. Der Fahrer drückte einen Knopf und mit einem Surren sank das Glas hinab. Der Mann trug eine große Sonnenbrille.

»Hier können Sie aber nicht stehen bleiben«, sagte Helga.

»Ähm, bin gleich weg.«

»Nix gleich. Sofort. Hier ist absolutes Halteverbot.«

»Ich warte auf jemanden.«

»Meinetwegen. Aber nicht hier.«

Der Mann verzog den Mund. »Ich störe doch niemanden.«

»Na klar stören Sie. Sie stören alle Autofahrer, die an Ihnen vorbei wollen ...«

»Hier ist doch Platz.«

»... und die Radfahrer. Weiterfahren!«, sagte Helga streng.

»Ach, Menno. Eine Minute.« Der Mann blickte an Helga vorbei zum Tabak- und Lottoladen, der sich direkt an der Kreuzung befand. »Meine Kump…, meine Freundin kommt gleich zurück.«

»Nix da.«

»Meine Freundin ist hochschwanger.«

»Und was macht sie dann im Zigarettenladen?«

Der Mann setzte zu einer Antwort an, beließ es dann aber bei einem Stöhnen.

»Also gut«, sagte Helga und zückte ihren Block.

»Moment!«, rief der Kerl. »Okay, okay, ich fahr ja los. Mann, Mann, Mann, Sie haben ja echt eine Laune, Sie sind ja wirklich unheimlich freundlich.«

Helga schwieg.

Der Mann ließ die Scheibe hochfahren. Helga setzte sich langsam in Bewegung.

Na bitte, das lief doch noch ganz gesittet ab. Im ersten Moment hatte sie befürchtet, die Situation würde eskalieren, hatte erwartet, der Typ würde zu einer Schimpftirade ansetzen. Nicht, dass sie das gestört hätte. Es war schließlich mehr als unwahrscheinlich, dass irgendeinem Menschen auf dieser Welt noch was Neues einfiel. Helga ging in Gedanken ihre ganz persönlichen »Top 3« der Beschimpfungen durch: Platz 3 ging an: »Rhinozeros in Uniform«, was dem Fahrer ein Bußgeld in Höhe von sechshundertfünfzig Euro einbrachte, Helga aber einfach aufgrund des ausgefallenen Tiernamens gefiel. Dieses immer gleiche »blöde Kuh« war auf Dauer doch einfach nur langweilig und zeugte von mangelndem Erfindungsreichtum. Platz 2 war belegt von der Spontanschöpfung »dienstgeile Sumpfkuhschlampe«. Neunhundert Euro.

Platz 1 jedoch war eine hübsch in die Länge gezogene Dauerbeschimpfung, die am Ende wohl den Fahrer selbst überrascht hatte und aufgrund dessen auch grammatikalisch nicht ganz korrekt war. Helga hatte den Sermon noch gut im Ohr: »Frustrierte Fummeltrinenblödkuhpolitessenmiststück«, gefolgt von dem ebenso bekannten wie allgemein beliebten Hinweis auf den Zusammenhang von fehlender sexueller Befriedigung und penibler Pflichterfüllung im Dienst – letzteres natürlich in deutlich restringierterem Code. Der Ausbruch war auch bußgeldtechnisch bisher ungeschlagen: eintausenddreihundert Euro!

Helga verstand diese Falschparker nicht. Wenn der Parkschein abgelaufen war, dann war er abgelaufen. Letztlich war es doch egal, ob er seit zwei Stunden oder seit zwei Minuten abgelaufen war. Und überhaupt: Helga war alles andere als pingelig. Fand sie jedenfalls selbst. Manchmal, wenn laut Parkzettel nur noch eine kurze Restzeit blieb, wartete sie und räumte dem Fahrer noch großzügig eine volle Minute ein, um an seinem Auto zu erscheinen. Also bitte! Worüber beschwerten sich diese Idioten?

Helga spazierte noch ein paar Schritte, dann stutzte sie. Etwas stimmte nicht. Weil der Falschparker hier an dieser viel befahrenen Kreuzung unmöglich wenden konnte (und es auch nicht durfte), hätte er sie längst überholen müssen. Sie drehte sich um – und tatsächlich: Der Wagen stand immer noch im Halteverbot. Der Mann trommelte nervös mit den Händen auf dem Lenkrad und sah angespannt zum Tabakladen.

»Ts, ts, ts«, machte Helga und wackelte wieder an das Auto heran.

Sie klopfte an die Beifahrerscheibe und wartete, bis sich das Glas gesenkt hatte. »Na? Finden wir das Loch für den Zündschüssel nicht?«

Der Mann lächelte verkniffen. »Mann, können Sie nicht heute mal ausnahmsweise Ihre nette Seite hervorkehren? Ich bin doch gleich weg.«

»Ich kehre schon die ganze Zeit meine nette Seite hervor. Ist Ihnen aufgefallen, dass ich Ihnen kein Knöllchen verpasst habe.«

Der Mann brummte.

Helga zückte ihre Digitalkamera und trat vor den Wagen.

»Haaalt!«, schrie der Mann und fuchtelte mit den Armen. »Nicht! Ich bin ja … Mann, Sie sind aber auch …« Helga hob ihre Augenbrauen.

Im nächsten Moment hellte sich die Miene des Mannes auf. Er blickte an Helga vorbei und Helga drehte sich um. Zwei weitere Typen kamen mit zügigem Schritt auf das Auto zu, jeder trug einen Aktenkoffer in der Hand. Das Duo verlangsamte seinen Gang, als es Helga mit der Kamera in der Hand sah.

Helga blickte den Fahrer streng an. »Welcher von beiden ist denn Ihre schwangere Freundin?« Sie drehte sich um und sah gerade noch, wie einer der beiden in Richtung des Fahrers gestikulierte. Er hörte aber sofort auf, stand stramm wie ein Sechstklässler, der beim Rauchen erwischt worden war, und nestelte an seiner voluminösen Sonnenbrille.

Der dritte Mann, ein langer Typ, ebenfalls mit Sonnenbrille, aber dafür auch noch mit Vollbart, versuchte ein Lächeln. »Guten Tag, gnädige Frau, was kann ich für Sie tun?«

Statt zu antworten, fragte Helga: »Im wievielten Monat sind Sie denn?«

Der Mann guckte verständnislos.

»Oder ist etwa Ihr Freund in Hoffnung?«, insistierte Helga.

Der Fahrer war inzwischen aus dem Wagen geklettert und machte beschwichtigende Gesten in Richtung seiner Begleiter. »Blödes Missverständnis.«

»Wer ist schwanger?«, fragte der Bebrillte.

»Ja das würde mich auch interessieren.« Helga fand langsam Gefallen an der Situation. Was waren das denn für Dumpfbacken? Sie zeigte auf die Aktenkoffer: »Na? Schön Zigaretten gekauft?«

Der Brillenträger und der Bartmann starrten gleichzeitig auf ihre schwarzen Taschen. Helga bemerkte nicht, wie das Trio versuchte, sich mit verschämten Gesten Zeichen zu geben, die doch alle nur Ausdruck einer kompletten Überforderung waren.

Der Bartmann fand als erster die Sprache wieder. »Tja, ähm, wir müssten dann jetzt auch mal los.« Entschlossen marschierte er auf das Auto zu, sein Kompagnon folgte ihm mit etwas zögerlicheren Schritten.

Helga stellte sich dem Bartmann in den Weg. »Immer langsam, Meiner1.« Mit euch bin ich noch nicht fertig, dachte sie. Sie spürte Wut in sich aufsteigen. Wut auf all die dreisten Falschparker, auf all die dummen Ausreden! Sie würde ein Exempel statuieren. Hier und jetzt! Sie baute sich vor dem Bartmann auf.

Der sagte: »Gute Frau, ich bin sicher, dass wir uns irgendwie einigen können.«

»Guter Mann, und wie?«

»Na ja …« Der Typ drehte sich zu seinen Kumpanen um, aber die stierten ihn nur ausdruckslos an. Eine Pause entstand.

»Wir müssen los!«, zischte der Fahrer dann.

»Wir nehmen sie einfach mit«, meinte die Sonnenbrille.

»Idiot«, schnauzte der Bart.

»Die Kuh hat uns gesehen!«, argumentierte die Sonnenbrille. »Die kann uns beschreiben!«

Kuh, dachte Helga. Vierhundert Euro. Und was sollte das heißen: Wir nehmen sie einfach mit?

Der Fahrer sprang ins Auto: »Scheiße, ich hau jetzt ab!«

Helga hob die Digitalkamera und drückte ein paar Mal ab.

»He!«, rief der Fahrer. »Was machen Sie da? Hören Sie auf damit!«

Helga richtete die Kamera auf das Nummernschild des Autos und betätigte erneut den Auslöser.

Die Sonnenbrille trat einen Schritt auf Helga zu, stoppte dann aber. »Schluss jetzt!«

Helga hielt ihre Kamera der Sonnenbrille entgegen und drückte schon wieder ab.

Der Bärtige meldete sich zu Wort: »Also, jetzt reicht’s aber wirklich!«

Helga schoss auch ihn ab.

Das Trio stand konsterniert herum und glotzte sich ratlos an.

Ein Radler fuhr vorbei und schimpfte: »Ey, fahrt Eure Karre mal aus dem Weg. Ihr steht auf dem Radweg, Ihr Trottel!«

Helga grinste. »Sag ich doch.«

Der Fahrer schien einen Entschluss gefasst zu haben. Er kam mit eiligen Schritten um das Auto herum.

»Sie bleiben hier. Ich verpasse Ihnen jetzt einen Strafzettel. Und eine Anzeige gibt es auch. Wegen der Kuh. So!«

Der Fahrer blieb stehen und sah Hilfe suchend zu seinen Kollegen.

»Was machen wir denn jetzt?«, rief er.

»Das hätten Sie sich früher überlegen müssen«, sagte Helga. »Ich weiß ja nicht, aus was für einem Haushalt Sie stammen, aber Sie sollten wissen, dass es unfreundlich ist, fremde Menschen als Kühe zu bezeichnen. Ich habe wirklich Geduld bewiesen mit Ihnen, aber Sie wollen es ja offenbar nicht anders.« Es war eben doch zwecklos nachsichtig zu sein, Großzügigkeit walten zu lassen. Gab man einem Falschparker den kleinen Finger, nahm der gleich die ganze Hand.

Von irgendwoher meinte Helga, das Geräusch einer Polizeisirene zu hören.

Sie hob ihr Erfassungsgerät und begann darauf herumzutippen.

Im nächsten Moment spürte sie einen Stoß. Sie taumelte, stieß gegen den Seitenspiegel des Autos, verlor endgültig das Gleichgewicht und stürzte. Sie lag nun vor der Hintertür auf der Beifahrerseite.

Aus den Augenwinkeln sah sie, wie der Bartmann auf den Beifahrersitz sprang, während die Sonnenbrille über sie hinwegzuklettern versuchte, um ebenfalls ins Fahrzeug zu gelangen.

Am Boden liegend, trat Helga dem Mann mit aller Kraft, die sie in dieser Haltung aufzubringen vermochte, zwischen die Beine.

Der Mann stöhnte auf und ließ seinen Aktenkoffer fallen. Im gleichen Moment bewegte sich das Auto ein Stück vorwärts, blieb aber sofort wieder stehen. Der Mann hechtete ächzend auf die Hinterbank. Mit offener Seitentür startete der Wagen erneut, schoss nach vorne, musste aber nach ein paar Metern schon wieder bremsen, weil die Ampel rot war.

Helga starrte dem Fahrzeug entgeistert nach. Die hintere Seitentür war immer noch sperrangelweit offen. Der Fahrer verlor nun offenbar die Geduld, scherte nach links auf die Gegenspur aus, um an den wartenden Fahrzeugen vorbeizukommen. Die offene Tür knallte gegen das Heck eines anderen Fahrzeugs; man hörte Metall knirschen, doch das Auto fuhr weiter. Allerdings nur noch ein kleines Stück. Ein entgegenkommender Fahrer konnte mit seinem Wagen nicht rechtzeitig ausweichen. Es kam zur Kollision.

Helga rappelte sich mühsam auf. Sie starrte den Koffer an, der neben ihr lag. Sie bückte sich und hob ihn hoch.

Im selben Moment schoss ein Polizeiwagen an ihr vorbei und kam an der Kreuzung mit einer Vollbremsung zum Stehen. Polizisten sprangen heraus, Menschen fingen an zu schreien. Ein zweiter und ein dritter Polizeiwagen näherten sich aus der anderen Richtung der Kreuzung. Helga ging instinktiv in Deckung, als sie einen Schuss hörte.

Helga spürte, wie ihre Knie weich wurden. Sie stellte den Koffer an eine Hauswand – und erbrach sich.

Sie schreckte hoch, als sie ihren Namen hörte. »Helga?« Gabi stand vor ihr und sah sie besorgt an. Dann sah sie in Richtung Kreuzung, wo die Polizisten das Unfallauto ins Visier genommen hatten. Helga sah, wie sich die Fahrertür öffnete und der Fahrer mit erhobenen Händen ausstieg.

Helga verstand die Welt nicht mehr. »Das ist jetzt aber ein bisschen übertrieben«, murmelte sie.

»Was?«, fragte Gabi.

»Ein Knöllchen hätte doch gereicht.«

»Helga? Was ist mit dir? Alles okay?«

Helga deutete ratlos auf die Szene, die sich da auf der Kreuzung abspielte. Immer mehr Polizeiwagen kamen angefahren. Auch ein Krankenwagen fuhr vor. Polizisten trieben die Schaulustigen weg. Staus bildeten sich. Diejenigen Fahrer, die nicht erkennen konnten, was die Ursache für den Stillstand war, fingen an zu hupen.

»Ein Knöllchen hätte doch völlig gereicht«, murmelte Helga erneut.

Irgendwann kam ein Polizist auf sie zu und stellte ihr seltsame Fragen. Sie musste noch einmal den »genauen Tathergang« beschreiben. »Tathergang?«, fragte Helga. »Na ja, der Mann stand im Halteverbot und ich wollte ihm einen Strafzettel …«

Nein, nein, meinte der Polizist. Es gehe ihm eher um den Überfall.

»Überfall?«, fragte Helga.

Von irgendwoher kam auf einmal ein Fotograf und machte Fotos von Helga, noch bevor sie sich dagegen wehren konnte. »Sie sind doch jetzt eine Heldin!«, rief der Mann und stürmte wieder davon.

»Heldin?«, fragte Helga.

Es dauerte eine Weile, bis Helga Kleinschmidt verstand. Irgendwann hatte niemand mehr Fragen an sie und so stand sie noch eine Weile da und starrte auf die Szenerie. Dann fiel ihr der schwarze Aktenkoffer auf, der immer noch unbeachtet neben ihrem Erbrochenen stand. Helga nahm ihn gedankenverloren und trug ihn nach Hause. Sie würde ihn morgen bei der Polizei vorbeibringen, dachte sie.

Nachdem sie den Koffer allerdings geöffnet hatte, entschied sie sich um. Der Koffer war voller Geldscheine. Erbeutet in einem kleinen Tabakladen am Hansering in Halle. Am Vorabend der großen Lottoziehung, die die ganze Republik in Atem hielt. Der Jackpot hatte einen absoluten Rekordwert erreicht; die Boulevardpresse befeuerte das Thema seit Tagen, mehr Menschen denn je versuchten ihr Glück. Im ganzen Land und auch in Halle. So war der Termin für den Überfall in der Tat günstig gewählt. Und es wäre ja auch alles glatt gelaufen, wenn, ja wenn Helga Kleinschmidt nicht zufällig den Weg des Gaunertrios gekreuzt hätte.

Helga hatte später noch mal ein schlechtes Gewissen, als sie von der Oberbürgermeisterin und dem Polizeipräsidenten eingeladen wurde und für ihren Mut und ihre Tapferkeit ausgezeichnet wurde. Kurzzeitig hatte sie sogar daran gedacht, den Koffer doch noch abzugeben, ihn einfach irgendwo zu hinterlegen und dann der Polizei einen Tipp zu geben. Oder so ähnlich. Andererseits: Sechstausenddreihundertvierundzwanzig Euro. Also, das war ja nun wirklich nicht die Welt.

In der Presse wurde eine Weile gerätselt, wo der zweite Koffer abgeblieben war. Am Ende hielt man die These am wahrscheinlichsten, dass irgendein Passant die Gelegenheit genutzt haben dürfte. Irgendein unehrlicher Mensch, der einen kleinen, schnellen Profit aus einer schrecklichen Situation herausgeschlagen hatte. Der Kommentator der Lokalzeitung schüttelte empört den Kopf.

Helga nahm den Artikel nicht zur Kenntnis. Als er erschien, war sie schon in der Türkei – und schon wieder missmutig, obwohl sie an einem Swimmingpool lag und die erste Piña Colada ihres Lebens schlürfte. Am Vorabend war ihr etwas Doofes passiert und zugleich eine echte Premiere. Sie hatte einen Ausflug gemacht. Und als sie zu ihrem Mietwagen zurückkam, musste sie feststellen: Irgendeine blöde Kuh hatte ihr doch tatsächlich ein Knöllchen verpasst.

1) freundlich-liebevolle Kurzform für Mein Lieber/Mein Guter. Übrigens: Ein eher raubauzig veranlagter Hallenser spricht mit dieser Wendung auch ihm völlig unbekannte Menschen an.

Bennis großer Coup

Der Tag der Entscheidung hatte begonnen und im Moment sah alles ganz prima aus, mal davon abgesehen, dass Benni sich vor einer Stunde vor lauter Aufregung übergeben hatte.

Jetzt strampelte er mit Höchstgeschwindigkeit den Berg von Heimbach nach Hasenfeld hinauf, wobei »Höchstgeschwindigkeit« in diesem Fall etwa neun Stundenkilometer bedeutete, denn die Steigung hatte es wirklich in sich. Schweiß sammelte sich unter Bennis gelber Wollmütze, die er sich zum Zwecke der Tarnung aufgesetzt hatte. Die Beute, die er im Rucksack verstaut hatte, schien zu glühen, manchmal hörte Benni es leise klackern. Das waren die Goldstücke. Er hatte keine Zeit gehabt, sie zu zählen, aber es mussten mindestens zehn sein.

Benni war ziemlich außer Atem, als er auch Hasenfeld hinter sich gelassen und den Scheitelpunkt seines Fluchtwegs erreicht hatte. Er war übern Berg – von jetzt an ging’s nur noch bergab.

Ein rotes Auto fuhr an ihm vorbei, ein Mann streckte einen Arm aus dem Fenster. »Hallo Benni!«, rief der Fahrer.

Benni winkte zurück, auch wenn er den Mann nicht erkannt hatte. Man muss freundlich sein zu den Leuten. Das hatte ihm seine Mutter immer wieder eingebläut.

Er trat in die Pedale. Vor ihm lagen rund anderthalb Kilometer Schussfahrt bis zum Schiffsanleger in Schwammenauel. Die Straße war zwar breit, aber zwischendurch warteten ein paar haarige Kurven, da musste Benni gut aufpassen. Schließlich wollte er nicht so enden wie damals Jan Ullrich bei der Tour de France.

Er hatte ordentlich Tempo drauf, als er das Ortseingangsschild von Schwammenauel passierte. Benni bremste scharf und sah auf seinen Fahrradtacho.

2,54 Kilometer.

Benni schüttelte den Kopf. Dieses Geheimnis würde er nun nicht mehr lüften können: So oft war er in den vergangenen zwei Jahren vom Ortsschild Heimbach zum Ortsschild Schwammenauel geradelt – und jedes Mal war die Entfernung eine andere gewesen!

Benni zückte sein schwarzes Notizbuch, löste das Band und schlug es auf. In langen Zahlenkolonnen hatte er jede Fahrt, jedes Datum und vor allem jede Entfernung notiert.

Nun schrieb er langsam, konzentriert, die Zunge zwischen die Lippen geklemmt und mit ungelenker Handschrift, in eine neue Zeile: 10. September 2010.

Er warf einen Blick auf seine Uhr und notierte: 11.43 Uhr.

Er sah erneut auf den Tacho: 2,54 Kilometer. Immer noch.

Es war wirklich seltsam. 2,54 Kilometer war Mittelmaß, wenn man so wollte. Am längsten war die Strecke am 24. März 2008 gewesen: 2,61 Kilometer, ein Ausreißer nach oben, den sich Benni bis heute nicht erklären konnte! Am kürzesten war die Strecke am 14. Mai 2009, damals hatte er das Ortsschild nach 2,49 Kilometern erreicht.

Alle, die er gefragt hatte, wie es sein kann, dass dieselbe Strecke unterschiedlich lang ist, hatten ihm geantwortet, er sei selbst schuld daran. Er mache kleine Bewegungen, fahre vielleicht den einen oder anderen Schlenker. Benni wusste es besser: Er hatte es oft genug getestet, hatte sein Rad manchmal sogar geschoben, immer direkt über den weißen Randstreifen.

Nein, Tatsache war: Die Streckenentfernung änderte sich! Aber den Grund dafür würde er nun nicht mehr herauskriegen. Wenn er erst mal in Amerika war. »Bald bist du achtzehn«, hatte seine Mutter stolz zu ihm gesagt. Mit achtzehn war man volljährig. Benni wusste das, auch wenn er das Wort »volljährig« komisch fand. Mit achtzehn kann man machen, was man will, sagte Herr Friedrichs immer – darunter konnte sich Benni schon eher was vorstellen. Nun war er seit ein paar Tagen wirklich achtzehn. Dabei hatte Benni schon vor zwei Jahren ausgesehen wie zwanzig, zumindest von der Statur her. Benni war groß wie ein Baum. Und tapsig wie ein Tanzbär.

Er steckte sein Notizbuch zurück in die Innentasche seiner Jacke.

Ein Schrecken durchfuhr ihn; er sah auf die Armbanduhr. 11.46 Uhr! Wann kam das Schiff noch mal? Benni sprang aufs Rad und fuhr die letzten Meter bis zur Anlegestelle, wo er sein Gefährt mit dem Schloss an einem Gitterstab festmachte.

Er hastete die Treppen zum Anleger hinunter – und erschrak ein zweites Mal. Kein Schiff! Er blickte abermals auf seine Uhr. 11.48 Uhr.

War das Schiff gerade weg oder kam es bald? Benni konnte sich die Abfahrtszeiten partout nicht merken. Klar, die Schiffe fuhren ganz regelmäßig, zumindest zwischen Ende März und Ende Oktober, aber wann genau fuhren sie noch mal? Irgendwas mit zehn Uhr soundso. Oder neun Uhr soundso? Erneut tastete er nach seinem Notizbuch. Er schlug die letzte Seite auf. Da stand es, und als er die Zahlen sah, wackelte er mit dem Kopf vor und zurück. Genau! Das war es: 10 Uhr, 11 Uhr, 12 Uhr, 13 Uhr und so weiter. Abfahrt immer zur vollen Stunde.

Benni ärgerte sich. Wieso konnte er sich das nicht endlich merken? Egal, er hatte es sich ja notiert – und wie sagte Herr Friedrichs immer: »Man muss nix wissen, man muss nur wissen, wo’s steht.«

Benni bekam ein schlechtes Gewissen, als er an Herrn Friedrichs dachte. Der Schreinermeister Friedrichs war immer gut zu ihm gewesen. Und jetzt hatte Benni ihm die Goldmünzen abgenommen.

Benni schaute über den See, er nahm seine Mütze ab, und der Wind fuhr durch seine Haare. Und dann sah er es, das Schiff. Weiß, majestätisch, glitt es übers Wasser. Noch so ein Rätsel, das er bisher nicht hatte lösen können: Warum schwimmt so ein riesiges Ding, wenn doch schon ein kleiner Kieselstein in Sekunden in die Tiefe sinkt. Klaus Blumberg, Blumberg ohne »en«, der Kapitän, hatte es ihm zwar schon ein paar Mal erklärt, aber Benni hatte es nie richtig verstanden.

Benni versuchte zu erkennen, welches Schiff da kam. Die »Aachen« oder die »Stella Maris«. Benni war stolz, weil er sogar den komplizierten Namen »Stella Maris« nie vergaß.

Das Boot kam näher.

Benni konzentrierte sich. Jetzt hieß es: nur nicht auffallen.

»Na Benni, alter Räuber!«, rief Johann, als Benni die »Stella Maris« enterte.

Benni erschrak. Alter Räuber? Wusste Johann was? War Bennis Coup vielleicht schon aufgeflogen? War die Polizei hinter ihm her? Benni schaute ängstlich die Straße Richtung Heimbach hinauf, aber er konnte nichts erkennen.

»Wieder mal Bötchen fahren?«, fragte Johann.

Benni nickte mit unschuldiger Miene.

»Na, dann geh schon mal hoch.«

Benni tappte durch den Salon am Tresen und den Tischen vorbei, kletterte eine Etage höher und passierte das Zwischendeck, das heute geschlossen war. Er gelangte nach draußen und über die letzten zwölf Stufen aufs Freideck, wo er eine Weile unschlüssig herumstand. Er war der einzige Gast hier.

Er setzte sich nacheinander auf verschiedene Bänke, zunächst ganz am vorderen Ende, dann wählte er eine Bank direkt vor der Brücke. Alles lief glatt. Rauschhafte Verzückung durchfuhr ihn. So musste sich Robin Hood gefühlt haben, wenn er von seinen siegreichen Diebestouren zurückkehrte. Doch der Enthusiasmus hielt nicht lange an. Vor Bennis geistigem Auge tauchte Herr Friedrichs auf, wie er in seiner Schreinerwerkstatt nach der Kiste suchte: erst verwirrt, dann unruhig, schließlich verzweifelt.

Benni schüttelte den Gedanken ab. Er sah sich ein paar Mal um, dann öffnete er vorsichtig den Rucksack, den er die ganze Zeit so fest in den Händen gehalten hatte, dass die Knöchel seiner Finger ganz weiß geworden waren. Sein Herz schlug schneller, als er die Holzkiste berührte. Er versuchte, sie im Rucksack zu drehen, um sie öffnen zu können, aber sein Proviant war im Weg. Also packte er die Tüte Gummibären und eine Halbliterflasche Mineralwasser aus und stellte beides auf den Tisch. Dann kramte er die Landkarte hervor, seinen Geldbeutel, die beiden Funkelsteine, die er immer bei sich trug, einen Tannenzapfen und eine Murmel.

»Willste die Glocke läuten?«

Benni zuckte zusammen.

Neben ihm stand Herr Blumberg ohne »en« und sah ihn freundlich an.

»Was haste denn da in deinem Rucksack?«, fragte Herr Blumberg ohne »en«, und Benni murmelte etwas Unverständliches.

»Komm, wir legen gleich ab.« Herr Blumberg ohne »en« machte eine auffordernde Geste, und Benni stellte den Rucksack beiseite und erhob sich. Er musste bimmeln, er musste sich ganz normal benehmen, sonst könnte Herr Blumberg ohne »en« Verdacht schöpfen.

»Na, dann mach mal ordentlich Krach«, sagte Herr Blumberg ohne »en« und verschwand auf der Brücke.

Benni stand unschlüssig da. »Jetzt?«, fragte er, aber Herr Blumberg ohne »en« hörte ihn nicht.

»Herr Blumberg ohne e-ähänn!«, rief Benni.

Herr Blumberg ohne »en« drehte sich um.

»Jetzt?!«, schrie Benni.

Herr Blumberg ohne »en« nickte. Und Benni hielt sich mit einer Hand ein Ohr zu und zog mit der anderen Hand kräftig an dem kurzen, dicken Seil, das aus der goldenen Glocke heraushing.

Herr Blumberg ohne »en« grinste ihm zu und hob einen Daumen. »Willste reinkommen?«

Benni schüttelte den Kopf. Einmal hatte ihn Herr Blumberg ohne »en« sogar an das große Steuerrad gelassen. Aber nur kurz. Benni war sehr aufgeregt gewesen und hatte plötzlich angefangen, das Steuer in eine Richtung zu drehen. Herr Blumberg ohne »en« war sofort dazwischen gefahren. »Ruhig, Brauner, ruhig!«, hatte er gesagt.

Ob er das Schiff zum Kentern gebracht hätte? Benni wurde heute noch nervös, wenn er an die brenzlige Situation dachte. Sie hätten alle untergehen können! Und das Wasser hier war bis zu sechshundert Meter tief. Oder waren es sechzig? Noch so eine Zahl, die sich Benni nicht merken konnte.

Das Schiff legte ab. Benni atmete tief ein und aus.

Die Landschaft begann sich langsam zu bewegen. Das Schiff wendete und glitt gemächlich auf den See hinaus.

Benni betrachtete gedankenverloren die tiefgrünen Wälder, die an ihm vorbeizogen. Sie erreichten Eschauel, aber das Schiff legte nicht an, weil niemand ein- oder aussteigen wollte. Im Sommer, wenn es richtig heiß war, sah man oft Leute, die vom Ufer in den See sprangen. Und einmal – Benni musste bei dem Gedanken kichern – hatte ein Mann seinen nackten Hintern dem Schiff entgegengestreckt.

Benni schreckte auf, als er ein Klackern hörte. Die Murmel war vom Tisch gerollt. Hektisch bückte sich Benni und kroch ihr hinterher. Dann packte er die Murmel und all die anderen Schätze wieder in den Rucksack.

Das Schiff glitt ruhig übers Wasser. Herr Blumberg ohne »en« sagte mit sonorer Stimme die einzelnen Stationen an. Kermeterufer, Woffelsbach.

Benni mochte die Durchsagen sehr. Es klang toll, wenn Herr Blumberg ohne »en« durchs Mikrofon sprach. So musste es auch auf Flughäfen sein. Oder in Amerika. »Nächste Station: Amerika. Fahrgäste mit dem Ziel Amerika bitte zum Ausgang. Nächste Station: Amerika.«

Das Schiff näherte sich dem letzten Halt. »Nächste Station: Rurberg. Rurberg Endstation. Nächste Abfahrt 13 Uhr. Sie haben Anschluss an die Schiffe vom Obersee um 13.30 Uhr. Hier ist Rurberg. Rurberg Endstation.«

Jetzt war es also so weit. Benni packte seinen Rucksack und ging zum Ausgang. Noch einmal sah er sich auf dem Schiff um. Wie oft war er schon mitgefahren! Ob er es jemals wieder tun würde? Aber sein Plan stand fest. Und sein Ziel auch.

»Steigste hier aus?«, fragte Johann überrascht, der am Ausgang stand.

Benni nickte nur. Er trat vorsichtig auf die türkisfarbenen Stahlplatten der Anlegestelle.

»Na, dann mach’s mal gut, Benni«, rief Johann. »Und denk dran: 17 Uhr letzte Fahrt zurück!« Der Matrose lächelte.

Benni ging an Land. Ein kleiner Wegweiser zeigte die Routen zur Schifffahrt Obersee (nach links) und zum Minigolf (nach rechts). Minigolf hatte er schon lange nicht mehr gespielt, dachte Benni. In Heimbach gab es auch eine Anlage. Er musste Herrn Hensen vom Wohnheim fragen, ob sie nicht mal wieder einen Ausflug dorthin machen könnten, dachte Benni. Aber im selben Moment fiel ihm ein, dass er Herrn Hensen ja vermutlich nie mehr sehen würde.

Er sah sich um. Suchend. Wo war denn eigentlich sein Fahrrad? Benni wurde unsicher. Wie sollte er ohne Fahrrad nach Amerika kommen?

Ihm wurde heiß und kalt zugleich, als es ihm einfiel: Er hatte sein Fahrrad in Schwammenauel stehen gelassen! Benni kratzte sich hinterm Ohr.

Er blickte zum Schiff. Johann stand auf dem Bootsanleger und sah freundlich zu ihm hinüber. Benni drehte sich um und sah wieder zu dem Wegweiser. Schifffahrt Obersee nach links, Minigolf nach rechts. Amerika stand nicht drauf. Langsam setzte er sich in Bewegung.

Johann trat wortlos und mit irritiertem Blick zur Seite, als Benni das Schiff betrat. »Fährste doch wieder mit zurück?«, fragte der Matrose, aber Benni antwortete nicht. Er schlurfte hoch aufs Oberdeck und ließ sich auf eine Bank fallen.

Das Schiff legte ab und Benni sah zu, wie der Schiffsanleger von Rurberg kleiner und kleiner wurde. Sie kamen an einem weiteren Anleger vorbei, an dem zahlreiche Segelboote verankert waren. Herr Friedrichs hatte ihn mal auf seinem Boot mitgenommen. Das war toll gewesen. Manchmal hatte sich das Segelboot so sehr auf die Seite gelegt, dass Benni vor Aufregung angefangen hatte zu quietschen.

Eine Hand erschien in Bennis Blickfeld und stellte einen Teller ab. »Hier, Benni, Stückchen Apfelkuchen. Magste doch so gern.«

Er blinzelte in die Sonne und erkannte Sabine, die Frau, die immer hinter dem Tresen stand.

»Danke«, murmelte er und griff zur Gabel.

Er kaute, dann hielt er inne, weil er merkte, dass Sabine immer noch neben ihm stand und ihn ansah. »Alles okay, Benni?«, fragte sie.

»Mhmh.« Benni nickte.

Der Kuchen war wirklich lecker. Natürlich war er lecker. Er war immer lecker.

Benni legte die Gabel auf den Teller und ließ den Blick schweifen. Die »Aachen« zog vorbei, und Benni winkte, aber offenbar hatte ihn niemand gesehen, denn niemand winkte zurück.

Wie schön es hier war. Benni öffnete eine Seitentasche des Rucksacks und zog ein mehrfach gefaltetes Blatt heraus. Er faltete es auseinander und betrachtete das Bild. New York City, von einem Wolkenkratzer aus aufgenommen. Keine Frage, das war schon was anderes als Heimbach. Aber so viel Grün wie hier gab’s dort nicht, dachte er und empfand fast so was wie Stolz.

Vom Ortsschild Schwammenauel bis zum Ortsschild Heimbach schob Benni sein Rad so exakt wie möglich über die weiße Linie am Straßenrand.

Am Schild in Heimbach schaute er auf den Tacho: 2,53 Kilometer. Er zückte sein Notizbuch und verglich die Zahlen. Bei der Hinfahrt waren es 2,54 Kilometer gewesen. Er schrieb die Zahlen untereinander auf seine Hand, rechnete eine Weile und besah sich sein Ergebnis: 0,01 Kilometer. Wie viele Meter waren das? Zehn oder hundert? Er war sich nicht sicher. Er würde gleich Herrn Friedrichs fragen.

»Zehn Meter«, sagte Herr Friedrichs. »0,01 Kilometer sind zehn Meter, Benni.«

Benni brummte.

»Du hast aber lange Mittagspause gemacht. Biste Boot gefahren?«, fragte Herr Friedrichs.

Erneut beschränkte sich Benni auf ein Brummen.

Herr Friedrichs zog eine Augenbraue hoch. Nur eine.

Das konnte er wirklich gut. »Schlechte Laune, Benni?«

»Nöö.«

»Na, dann mach doch mal noch ein bisschen weiter. Vielleicht kannste noch die Schrauben einsortieren, die heute früh gekommen sind. In einer Stunde kommt doch auch schon der Bus und holt dich ab.«

Benni stand zögernd da. Er atmete den Geruch des Holzes ein. »Hier riecht’s immer so gut«, sagte er dann, und ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.

»Ja«, sagte Herr Friedrichs. »Find ich auch.«

In Benni breitete sich ein seltsames Gefühl aus: Er fand, dass es eigentlich ein großes Glück gewesen war, das Fahrrad in Schwammenauel vergessen zu haben.

Herr Friedrichs riss Benni aus seinen Gedanken: »Ich bin mal kurz weg.«

Durch einen Spalt in der Hintertür beobachtete Werner Friedrichs, wie Benni seinen Rucksack ausräumte. Wie er schließlich die Kiste zutage beförderte, wie er sie zurück aufs oberste Regelbrett stellte und ganz nach hinten schob. Dorthin, wo sie heute früh gestanden hatte. Unser Benni, dachte Werner Friedrichs warmherzig. Wie oft hatte er die Kiste schon geklaut in den vergangenen beiden Jahren?

Das Lächeln verschwand aus Werner Friedrichs Gesicht. Was, wenn Benni eines Tages nicht mehr umkehrte? Wenn er weiter wollte? Noch war er bekannt – und beliebt – wie der sprichwörtliche bunte Hund. Noch hatten alle einen Blick auf ihn.

Kommt Zeit, kommt Rat, dachte Werner Friedrichs und wartete, bis sich Benni den Schrauben zugewandt hatte. Dann betrat er die Werkstatt mit einem fröhlichen »Bin wieder da!«.

Er ging zum Regal und holte die Kiste hervor.

Benni beobachtete ihn.

»Freitag, Benni. Zahltag«, sagte Herr Friedrichs, öffnete die Kiste und nahm eine der Holzmünzen heraus, die er für Benni angefertigt und mit Goldspray veredelt hatte.

Benni strahlte, als er die Münze entgegennahm und sorgfältig in seiner Hosentasche verstaute.

Und dieses Strahlen, fand Herr Friedrichs, war eigentlich unbezahlbar.

Karsunke kocht Kaffee

Schwer zu sagen, wann der Schwachsinn begonnen hatte. Der Tag X war nicht mehr zu bestimmen, Knut Karsunke wusste nur, dass es ihn gegeben haben musste, irgendwann. Jenen Tag, an dem zum allerersten Mal eine junge Frau sein Café betreten und, vermutlich mit unschuldigstem Augenklimpern, die folgende Bitte geäußert hatte: »Könnte ich einen Milchkaffee haben?«

Knut Karsunke erinnerte sich nicht mehr an seine Antwort, es wird irgendwas gewesen sein, wie: »Wat? Milchkaffee? Kaffee mit Milch oda wat?«

Ja, so ungefähr hatte wahrscheinlich alles angefangen, der ganze Quatsch.

Irgendwann war dann die erste Frau reingekommen und hatte eine Latte macchiato2 bestellt, und wenig später brachen alle Dämme. Man bestellte Espresso, gerne auch mal einen »Expresso« oder gleich zwei »Expressi«, man bestellte Espresso macchiato, man bestellte »Caffè corretto«, man bestellte Caffè Latte und Caffè Mocha – kurzum, Knut Karsunkes Gäste bestellten alles, nur keinen Kaffee mehr. Ganz normalen Kaffee, klassischen Filterkaffee, aufgebrüht mit heißem Wasser. Irgendwann kam so ein Vogel in den Laden und fragte nach einem Frappuccino – Knut Karsunke hatte den Typen mit einer wedelnden Handbewegung, mit der man Fliegen vom Kuchen vertreibt, herauskomplimentiert.