Menschen sind rechtfertigende Wesen; sie orientieren sich an Gründen. Die Regeln und Institutionen, denen sie sich fügen, beruhen auf historisch entstandenen Rechtfertigungsnarrativen und bilden insgesamt eine – spannungsreiche und dynamische – normative Ordnung. Jenseits der überkommenen Alternative von »idealen« und »realistischen« Theorien zeigt Rainer Forst in diesem Buch, wie eng die Begriffe der Normativität und der Macht zusammenhängen: Macht beruht auf dem Vermögen, den Raum der Rechtfertigungen für andere beeinflussen, bestimmen und eventuell abschließen zu können. Eine kritische Theorie der Rechtfertigung muss daher Verhältnisse der Macht auf ihre Begründungen hin befragen und von dort aus über gerechte Ordnungen nachdenken.

Rainer Forst ist Professor für Politische Theorie und Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Co-Sprecher des Exzellenzclusters »Die Herausbildung normativer Ordnungen« sowie der Kollegforschergruppe »Justitia Amplificata«. 2012 wurde er mit dem Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft ausgezeichnet. Im Suhrkamp Verlag sind u. a. erschienen: Toleranz im Konflikt (stw 1682), Das Recht auf Rechtfertigung (stw 1762) und Kritik der Rechtfertigungsverhältnisse (stw 1962).

Rainer Forst

Normativität und Macht

Zur Analyse sozialer
Rechtfertigungsordnungen

Suhrkamp

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Der folgende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2132.

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Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-73858-0

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Inhalt

Vorwort

Einleitung: Ordnungen der Rechtfertigung.
Zum Verhältnis von Philosophie, Gesellschaftstheorie und Kritik

I.
Vernunft, Normativität und Macht

1. Kritik der rechtfertigenden Vernunft. Die Erklärung praktischer Normativität

2. Noumenale Macht

II.
Rechtfertigungsnarrative und historischer Fortschritt

3. Zum Begriff eines Rechtfertigungsnarrativs

4. Der Begriff des Fortschritts

III.
Religion, Toleranz und Recht

5. Religion und Toleranz von der Aufklärung bis zum postsäkularen Zeitalter: Bayle, Kant und Habermas

6. Ein Gericht und viele Kulturen. Rechtsprechung im Konflikt

IV.
Gerechtigkeit, Demokratie und Legitimität

7. Gerechtigkeit nach Marx

8. Legitimität, Demokratie und Gerechtigkeit. Zur Reflexivität normativer Ordnungen

V.
Transnationale Gerechtigkeit

9. Realismen in der internationalen politischen Theorie

10. Transnationale Gerechtigkeit und Demokratie. Zur Überwindung von drei Dogmen der politischen Theorie

Nachweise

Literatur

Namenregister

Vorwort

Wir sind daran gewöhnt, die Begriffe »Normativität« und »Macht« als Gegensatzpaar zu verstehen: Ersterer ist durch rechtfertigende Gründe für unser Denken und Handeln gekennzeichnet, Letzterer durch deren Abwesenheit und die Herrschaft purer Faktizität. So scheint es jedenfalls. Aber genauer betrachtet, muss Normativität auch Macht entfalten, um uns bewegen zu können – und soziale Macht muss, um wirksam zu sein, die Normativität des gesellschaftlichen Lebens, unseres Denkens und Handelns, durchdringen, auch dann, wenn sie nicht gut begründet ist. In diesem Buch unternehme ich den Versuch, diese Zusammenhänge mit Hilfe des Begriffs der Rechtfertigung bzw. der Rechtfertigungsordnung zu analysieren, wobei der Hauptgedanke der ist, Rechtfertigungen sowohl normativ als auch deskriptiv zu betrachten. So ergibt sich die Möglichkeit einer nichtreduktionistischen Verbindung philosophischer und sozialwissenschaftlicher bzw. historischer Perspektiven. Der Schwerpunkt der Arbeiten liegt freilich auf philosophischen Analysen.

Die Texte in diesem Band verdanken sich einer Reihe von wissenschaftlichen Kontexten, die mein Denken in vielerlei Hinsicht inspirieren und prägen. An erster Stelle ist der Frankfurter Forschungscluster »Die Herausbildung normativer Ordnungen« zu nennen, der mich immer wieder dazu anhält, die Perspektiven anderer Disziplinen als der Philosophie zu berücksichtigen. Anders lässt sich über normative Ordnungen nicht sinnvoll reden. Stellvertretend für viele sei hier Klaus Günther gedankt, mit dem es stets eine Freude ist, über diese Fragen nachzudenken, auch wenn bisweilen das Schreiben von Anträgen damit verbunden ist. Des Weiteren ist die Kollegforschergruppe »Justitia Amplificata«, schwerpunktmäßig am Forschungskolleg Humanwissenschaften in Bad Homburg angesiedelt, eine große Bereicherung für meine Arbeit. Dafür danke ich insbesondere Stefan Gosepath, mit dem ich diese Gruppe leite, auch über die Distanz nach Berlin hinweg. Schließlich hat mich der Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis 2012 in die äußerst angenehme Lage versetzt, eine Forschungsgruppe zu Fragen der transnationalen Gerechtigkeit ins Leben zu rufen, in der es gelingen soll, nichtwestliche Perspektiven auf diese Problematik umfassend einzubeziehen. Für all diese Förderzusammenhänge bin ich der Deutschen Forschungsgemeinschaft sehr zu Dank verpflichtet.

Daneben verdanke ich meinem dienstäglichen Forschungskolloquium, das ich gemeinsam mit Darrel Moellendorf anbiete, eine Vielzahl von Anregungen und Kritik. Die Beiträge der Gäste und Teilnehmer sind von unschätzbarem Wert, um den State of the Art der politischen Philosophie zu kennen. Sehr produktiv war zudem ein Fellowship am Jean Monnet Center der New York University Law School 2013; hierfür danke ich besonders Mattias Kumm und Joseph Weiler.

Neben den Genannten verdanke ich mehr Kolleginnen und Kollegen wertvolle Hinweise, als ich hier aufzählen könnte, die Kritiken verfassten, Repliken und Kommentare schrieben, mich zu Vorträgen einluden bzw. diese besuchten. Ich habe versucht, dies an den jeweiligen Stellen der einzelnen Texte zu vermerken. Hier aber möchte ich ausdrücklich die wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dankbar erwähnen, mit denen ich in den letzten Jahren an meiner Professur, im Cluster, in der Kollegforschergruppe und der Leibniz-Gruppe zusammenarbeiten durfte: Ayelet Banai, Mahmoud Bassiouni, Thomas Biebricher, Eva Buddeberg, Julian Culp, Dorothea Gädeke, Malte Ibsen, Mattias Iser, Tamara Jugov, Anja Karnein, Heike List, Jekaterina Markow, Miriam Ronzoni, Martin Saar, Christian Schemmel, Johannes Schulz.

Bei der Herstellung des Gesamtmanuskripts hat mir Sonja Sickert wie stets große Hilfe geleistet; daneben haben Esther Neuhann und Marius Piwonka mir bei seiner Bearbeitung sehr geholfen. Eva Gilmer vom Suhrkamp Verlag danke ich für die sie auszeichnende Mischung aus Nachsicht und Umsicht, wenn es um die Realisierung einer Publikation geht.

Mechthild, Sophie und Jonathan verdanke ich mehr, als ich hier sagen kann.

Frankfurt am Main, im Mai 2015

Rainer Forst

Einleitung:
Ordnungen der Rechtfertigung
Zum Verhältnis von Philosophie, Gesellschaftstheorie und Kritik

Die in diesem Band versammelten Texte zielen auf die Realisierung eines umfassenden Programms einer philosophischen und sozialwissenschaftlichen, kritischen Analyse gesellschaftlicher Rechtfertigungsordnungen ab. Insgesamt einzulösen vermögen sie solch ein Programm freilich ebenso wenig, wie es ein einzelnes Werk oder auch nur ein Autor angesichts der Ausdifferenzierung heutiger Wissenschaften könnte.[1] Daher beschränken sich die Kapitel auf einzelne, wichtige Aspekte solch eines Unterfangens mit einem Schwerpunkt auf philosophischen Fragestellungen – und so seien in dieser Einleitung einige allgemeine Bemerkungen zum Zuschnitt einer solchen Theorie erlaubt, die auf die jeweiligen Kapitel verweisen. Ich konzentriere mich auf die Frage, was es hieße, solch eine Theorie als »kritische« zu betrachten.

1. Kritische Theorie

Kritische Theorie nennen wir eine Verbindung philosophischer und sozialwissenschaftlicher Reflexion mit emanzipatorischem Interesse, die nach der historisch möglichen und normativ geforderten, rationalen Form einer allgemein gerechtfertigten gesellschaftlichen Ordnung fragt und zugleich danach, weshalb eine solche Ordnung angesichts der Herrschaftsverhältnisse in einer Gesellschaft (bzw. jenseits von ihr) nicht entsteht. Dies stimmt damit überein, wie Horkheimer ursprünglich »die vom Interesse an vernünftigen Zuständen durchherrschte kritische Theorie der gegenwärtigen Gesellschaft«[2] verstanden hat.

Wie die Geschichte dieses Theorieprogramms zeigt, steckt in diesen Bestimmungen eine Vielzahl schwer zu bewältigender Probleme; etwa: Wie ist das »emanzipatorische Interesse« zu bestimmen? Welche Kooperation zwischen Gesellschaftstheorie und Philosophie ist dabei nötig – und kann es eine dafür geeignete umfassende Gesellschaftstheorie noch geben, nachdem das Vertrauen in die Erklärungskraft einer einheitlichen materialistischen Theorie geschwunden ist? Schließlich: Was heißt »historisch möglich« und »normativ gefordert«? Welcher Vernunftbegriff ist zu verwenden, wenn es um eine »rationale« Form der gesellschaftlichen Ordnung geht? Wie sind Modi der Rechtfertigung zu denken, die zwischen dem Anspruch auf rationale Begründung und gelebter sozialer Praxis vermitteln? Was für eine Theorie von Macht und Herrschaft, von Ideologie hilft dabei, die gegebene Rechtfertigungsordnung als eine zu verstehen, die Emanzipation verhindert – auch und gerade angesichts transnationaler Herrschaftsverhältnisse?

In meinen hier und auch anderswo[3] vorgelegten Arbeiten dient der Begriff der Rechtfertigung dazu, eine hinreichend komplexe, immanente Verbindung zwischen Philosophie, Gesellschaftstheorie und Gesellschaftskritik herzustellen. Im Zentrum steht dabei die Idee, dass eine kritische Theorie die Frage der Rechtfertigung zu einer theoretischen und praktischen macht und auf eine Analyse und Veränderung bestehender Rechtfertigungsordnungen bzw. Rechtfertigungsverhältnisse abzielt. Sie analysiert dabei solche normativen Ordnungen auf eine doppelte Weise: Sie nimmt einerseits Rechtfertigungen, die Normen, Institutionen und soziale Verhältnisse legitimieren und konstituieren, als »Material« bzw. soziale Tatsachen für eine kritische Untersuchung ihrer Entstehung (etwa im Kontext von Rechtfertigungsnarrativen), Stabilität und Komplexität, und sie nimmt andererseits dazu kritisch Stellung, indem sie die normative Qualität dieser Rechtfertigungen, die Weise, auf die sie zustande kommen, und die durch sie begründeten Strukturen hinterfragt. »Rechtfertigungen« und entsprechende »Ordnungen« sind also einmal der Gegenstand einer deskriptiv-kritischen Analyse und einmal der Gegenstand einer normativen Reflexion, der es darauf ankommt, die Frage der Rechtfertigung praktisch zu wenden, da sie letztlich die Frage der einer normativen Ordnung Unterworfenen selbst ist und keine, die anderswo zu entscheiden wäre – weder in den Rechtfertigungskomplexen, die sich in Gesellschaften diskursiv (u. a. in Foucaults Sinne) herausgebildet haben, noch in Experten- oder Stellvertreterdiskursen, wie Habermas in seiner Diskurstheorie kritisch hervorhebt. Wenn daher von »Rechtfertigungen« die Rede ist, sind damit nicht ausschließlich »gute Rechtfertigungen« gemeint, sondern auch solche, die sozial wirksam sind, selbst wenn (und vielleicht weil) sie einen ideologischen Zuschnitt haben. Wenn hingegen der Begriff der Rechtfertigung kritisch verwendet wird, verweist er auf eine Praxis diskursiver Begründung unter den Normadressaten, die zu Normautoren werden sollen. Bei einer kritischen Theorie kommt alles darauf an, diese Dimensionen recht zu unterscheiden und zusammenzuführen; so ergibt sich der Schlüssel für den Zusammenhang von Philosophie, Gesellschaftstheorie und Kritik.

Um diesbezüglich Fortschritte zu machen, ist es unabdingbar, eine De-Reifizierung konventioneller philosophischer Begriffsbestimmungen vorzunehmen, die deren praktischen, politischen Charakter verdrängen. Hier scheiden sich kritische und, wenn man so will, »traditionelle« Theorien. So bezeichnet Horkheimer Theorien, die nicht hinreichend auf die sozialen Dynamiken reflektieren, deren Teil sie selbst sind – in deskriptiver und normativer Hinsicht.

An erster Stelle muss der Begriff der Vernunft – im Anschluss an, aber auch in Abhebung von Habermas – diskurs- bzw. rechtfertigungstheoretisch verstanden bzw. »verflüssigt« werden.[4] Die Vernunft ist das Vermögen, sich an Gründen bzw. Rechtfertigungen zu orientieren; und dieses Vermögen bestmöglich einzusetzen heißt zu wissen, wie welche Rechtfertigungen zu prüfen sind. So gilt allgemein als Vernunft- bzw. Rechtfertigungsprinzip, dass die Normen vernünftig sind, die ihren Geltungsanspruch auf die Weise einlösen können, die diesem Anspruch implizit ist – also etwa, dass allgemein-reziproke Verbindlichkeit im Modus allgemein-reziproker Rechtfertigung eingelöst werden muss.

Dabei muss festgehalten werden, dass keine Theorie als »kritische« auftreten kann, die sich ihres Vernunftbegriffs nicht explizit vergewissert und diesen nicht auch selbst der Kritik unterwirft.[5] Denn sosehr die kritische Theorie sich gegen die »Pathologien der Vernunft« in der Moderne wendet, unterwirft sie doch stets, wie Honneth betont, »das Allgemeine, das durch soziale Kooperation zugleich verkörpert und realisiert werden soll, den Maßstäben rationaler Begründung«.[6] Keine anderen Begriffe, etwa solche des »Guten«, können folglich an die Stelle des Imperativs und der Kriterien rationaler Rechtfertigung treten. Entgegen solchen Ethisierungen kritischer Theorie ist darauf zu bestehen, dass sich alle Kandidaten für das »Gute«, wenn es allgemein und reziprok gelten soll, reziprok-allgemeiner Begründung stellen müssen und nicht umgekehrt aus sich heraus, etwa vermittels anthropologischer Überlegungen, Geltung beanspruchen können. Das unterscheidet einige Theorien, die direkt auf ethische Begriffe (wie solche der »Resonanz« etwa)[7] zugreifen, von solchen, die ethische Lebensformen bewerten wollen, dabei aber nach ethisch enthaltsamen, formalen Kriterien einer diesbezüglichen Problemlösungsrationalität suchen.[8]

Das skizzierte Verständnis von Vernunft erlaubt es nicht nur zu verstehen, was deskriptiv gesehen in gesellschaftlichen Diskursen als »vernünftig« (also gerechtfertigt) gilt, ohne es bei kritischer Betrachtung zu sein. Es lässt auch die Frage, ob das Vernunftprinzip transzendentalen, abstrakten oder demgegenüber historischen, kontextgebundenen Charakter hat, als falsch (bzw. in klassisch Frankfurter Begriffen: nichtdialektisch) gestellt erscheinen. Denn die Frage der Rechtfertigung stellt sich stets in konkreten Kontexten und verweist ebenso über diese hinaus, indem sie eine Dynamik in Gang zu setzen vermag, die gerade auch »sittlich vernünftige« Standards der Rechtfertigung hinterfragt – in einer reflexiven Aufstufung, die nicht nur die Immanenz eines Rechtfertigungszusammenhangs betrifft, sondern diesen auch generell kritisch betrachten kann, wenn auch nicht von einem Standpunkt vollständiger Objektivität aus. Man kann eine praktische, normative Frage nach den eingelebten Sitten und Institutionen bestmöglich beantworten, man kann aber ebenso gut diese eingelebten Sitten und Institutionen grundsätzlich in Frage stellen – ob immanent (erfüllen sie ihren Zweck?) oder radikal (welches ist ihr Zweck, und ist dies ein geeigneter und allgemein gerechtfertigter?). All diese Fragen beginnen in der Immanenz, aber die Forderung nach reziprok-allgemeiner Begründung lässt sich nicht mit dem Verweis auf »vorgängige Sittlichkeit« begrenzen. Die Vernunft ist das immanenteste und zugleich transzendierendste Vermögen, das Menschen besitzen, und sie gehört damit weder der Immanenz noch der Transzendenz alleine an. Sie bezieht sich stets kontextuell und rekursiv auf das, was als gerechtfertigt gilt und gelten darf. Dazwischen liegt der Raum der Kritik, der auch zur Utopie hin geöffnet werden darf.[9]

Es kann daher kein historisches Apriori geben, das dem Imperativ reziprok-allgemeiner Rechtfertigung geltungstheoretisch so vorgelagert wäre, dass es determinieren könnte, was als echter Fortschritt zählt und was nicht. Die »normative Rekonstruktion« der »Freiheitsversprechen«[10] moderner Gesellschaften, wie Honneth sie durchführt, setzt voraus, dass die »moralische Vernunft«,[11] die dabei in der Realisierung individueller Freiheit wirksam werden soll, geltungstheoretisch gesehen über die etablierten Institutionen hinausweist; diese Vernunft muss daher »freistehender« Natur sein. Dann ist aber der Reflexions- und Rechtfertigungsdruck, den Personen und Gruppen auf gesellschaftliche Institutionen ausüben, nicht an eine »gegebene« Sittlichkeit bzw. ein Versprechen gebunden, und die Kritik der Ungerechtigkeit kann nicht nur, wie Honneth im Anschluss an Hegel ausführt, »knapp über den Horizont der existierenden Sittlichkeit«[12] hinausschauen, sondern so weit, wie reziprok-allgemeine Rechtfertigung es erlaubt bzw. fordert. Daher ist es normativ gesehen nicht der Fall, dass »soziale […] und historische […] Voraussetzungen […] erst festlegen, was jeweils als ›gerechtfertigt‹ gelten kann«.[13] Dies kann niemand und keine Institution festlegen, sondern muss in kollektiver diskursiver Praxis bestimmt werden. Die Bedingungen, die soziale Bildungsprozesse ermöglichen, können diese nicht geltungstheoretisch begrenzen.[14] Das verkehrte das Verhältnis von Genese und Geltung, und so schlüge Freiheitsermöglichung in Freiheitsbegrenzung um; eine Dialektik der (Un-)Freiheit.[15] Die normative Möglichkeit der Freiheit steht höher als deren normative Wirklichkeit.

So ist nur eine sich an rationalen Maßstäben orientierende Kritik eine, die den Namen verdient, da sie sich der diskursiven Begründung stellt und sich verpflichtet weiß, ihre Gesellschaftsanalyse auszuweisen. Dass sie in dem Sinne stets »immanent« ist, dass sie am Bestehenden ansetzt, ist trivial; nicht selbstverständlich hingegen ist die Forderung, sie solle sich an »eingelebten«, »gegebenen«, »akzeptierten« oder »inhärenten« Normen orientieren.[16] Es gibt Formen der Kritik, für die dies gilt, da sie eine Rechtfertigungsordnung immanent auf ihre expliziten oder impliziten Widersprüche hinweisen und dies mit guten Gründen tun – aber dass diese Gründe gut sind, ergibt sich nicht aus der Tatsache, dass man sich auf akzeptierte oder inhärente Normen beruft. Wer im Sinne des Libertarismus den Kapitalismus dafür kritisiert, dass er nicht konsequent genug das Marktprinzip verfolgt und sich dadurch in systemische Widersprüche verstrickt, argumentiert auch immanent-systemisch, kann aber seine Kritik nicht denen gegenüber rechtfertigen, die als Freie und Gleiche die Autoritäten darüber sein sollen, welche Wirtschaftsform politisch rechtfertigbar ist, sofern Marktprozesse diese Autorität untergraben (was in einer Gerechtigkeitsanalyse zu zeigen ist).[17] Die Immanenz der Kritik kann somit kein Grund und auch kein Kennzeichen ihrer Berechtigung sein. Eine radikale Kritik hingegen, die ein bestimmtes Marktverständnis, das sich historisch ausgebildet hat, insgesamt verwirft, kann viel mehr für sich haben. Und eine Kritik, die ein liberales Marktverständnis in ein sozialistisches zu transformieren sucht, wird dies auch kaum rein »immanent« begründen können – und auch nicht müssen.

Überdies: Wer will die Kritikerin des indischen Kastenwesens, die dieses komplett zurückweist, darauf hinweisen, doch bitte »immanent« vorzugehen? Oder die Kritik des Patriarchats in einer Gesellschaft, in der dieses kaum je herausgefordert wurde, daran erinnern, keine »fremde Sprache« zu sprechen? Hieße das nicht, solche Kritiker(innen) aus sozialen Diskursen auszubürgern?[18] Wer Kritik als autonome Praxis der Herausforderung gegebener Rechtfertigungsordnungen versteht, wird keinen künstlichen Gegensatz zwischen interner oder immanenter und externer Kritik formulieren, sondern allein sich an der Qualität der Gesellschaftsanalyse und der Einforderung von Reziprozität und Allgemeinheit orientieren – auch dort, wo dies »unerhört« ist und weit über die eingespielten Verständnisse von Rechtfertigbarkeit oder Sittlichkeit hinausgeht. Radikale Kritik kann immanent oder transzendierend vorgehen oder so, dass nicht mehr klar ist, wo das eine endet und das andere anfängt – etwa wenn Luther den Papst als den eigentlichen »Antichrist« bezeichnet, die Levellers den König von »Gottes Gnaden« zum Diener und Knecht des Volkes erklären oder Marx die bürgerliche Gesellschaft als Ort des modernen Sklaventums sieht. Die eingelebte Sittlichkeit ist der Gegenstand der Kritik, nicht ihr Grund oder ihre Grenze. Kritische Theorie kann auf die transzendierende Kraft der Vernunft, die möglicherweise ins Unerhörte vorstößt, nicht verzichten. Um hier an Adorno zu erinnern: »Immanente Kritik hat ihre Grenze daran, daß schließlich das Gesetz des Immanenzzusammenhanges eins ist mit der Verblendung, die zu durchschlagen wäre.«[19]

Diese Bemerkungen betreffen eine weitere Problematik, nämlich die der Geschichtlichkeit der normativen Grundlagen der Kritik. Dass diese eine historische Gestalt haben, ist wieder trivial; nicht trivial hingegen ist die Frage, ob die Vernunft- bzw. Normativitätskriterien als »historisch kontingent« anzusehen sind, wie etwa Seyla Benhabib argumentiert, die das Recht auf Rechtfertigung als »kontingentes Erbe von Kämpfen gegen Sklaverei, Unterdrückung, Ungleichheit, Entwürdigung und Erniedrigung über Jahrhunderte hinweg« ansieht und entsprechend als historische »Errungenschaft« (achievement).[20] Wie ich in meinem Buch über die Herausbildung der Praxis der Toleranz in ihren vielen verschiedenen Formen und Begründungen historisch zu zeigen versucht habe, müssen wir solche Begriffe in der Tat aus konkreten historischen Prozessen heraus verstehen, deren Teil wir sind. So lässt sich sehen, wie die Einforderung reziprok-allgemeiner Rechtfertigungen eine historische Dynamik generiert(e), die gegebene Konzeptionen und Begründungen über sich hinaustreibt – stets dialektisch, mit neuen Versuchen der Abschließung dieser Dynamik.[21] Wenn wir historisch situiert emanzipatorische von nichtemanzipatorischen Kämpfen unterscheiden wollen und bestimmte Entwicklungen als »Errungenschaften« oder »Lernprozesse« ansehen, können wir nicht davon ausgehen, sie seien bloß »kontingenter« Natur. Wir können allerdings, in Ermangelung eines Äquivalents für den Hegelschen absoluten Geist, auch nicht sagen, sie seien »notwendig« – denn der endlichen Vernunft ist weder ein »weltloser« Standpunkt gegeben, ihre eigenen Normen als »bloß kontingent« distanziert zu betrachten, noch einer, der aus göttlicher Höhe geschichtliche Notwendigkeit erkennt. Aus der Perspektive der endlichen Vernunft, die sich als praktische versteht, ist das Rechtfertigungsprinzip das Prinzip der Vernunft und das Recht auf Rechtfertigung seine moralische Implikation – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Die Perspektive, dies noch einmal hinsichtlich Kontingenz oder Notwendigkeit zu transzendieren, gibt es nicht, ist aber auch nicht nötig. Denn uns ist nur die Teilnehmerperspektive gegeben, keine der überhistorischen Beobachtung. Wir nehmen also als Teil dieser Geschichte Stellung, und wenn wir von moralischen Errungenschaften sprechen, meinen wir, sie seien tatsächlich moralische Errungenschaften, und verhalten uns so dazu mit Gründen – und wissen selbstverständlich, dass weitere Lernprozesse uns korrigieren könnten.

Dies heißt konsequenterweise, dass wir erkennen müssen, dass die Vorreiter emanzipatorischer Entwicklungen ihre oben »unerhört« genannten Positionen in Gesellschaften entwickelten, in denen sie als unmoralisch oder verrückt angesehen wurden – etwa die erwähnten radikalen Levellers oder Pierre Bayle, der die zu seiner Zeit verpönte These vertrat, auch Atheisten seien zur Moral fähig.[22] Sollen wir im historistischen Sinne sagen, diese Positionen seien erst und dadurch wahr geworden, dass sie sich historisch durchgesetzt haben – und dass sie somit zu der Zeit, in der diese Radikalen lebten, nicht wahr und nicht gerechtfertigt waren? Sollen wir also mit jenen, die Bayle und andere verurteilten, »Ketzer« rufen, da dies der damals gültigen Rechtfertigungsordnung entsprach? Können wir so jemals emanzipatorisch-radikale Kritik verstehen und würdigen – die Kritik derer, die zu ihrer Zeit eine Sprache sprachen, in der sie Sklaverei ein Verbrechen nannten und nicht eine Form der Fürsorge, in der Tyrannei so bezeichnet wurde und nicht als Gottesgnadentum, in der Intoleranz nicht länger als Gottesdienst galt, sondern als brutale Gewalt? Wenn wir diese Sprachen als Errungenschaften ansehen, können wir dies weder als kontingent noch als notwendig ansehen, sondern nur als moralischen Fortschritt, als ein Fortschreiten unseres moralischen Selbstverständnisses durch moralisch begründete Innovation, aber nicht durch historischen »Erfolg«. Das wäre eine Form des moralischen Darwinismus, nach der die Sieger über moralische Wahrheit befinden – und nichts, was mit kritischer Theorie zu tun hätte.[23] Historisches »Durchsetzen« kann nicht die Kriterien dafür bestimmen, was wertend als Erfolg gilt, sondern allein die kritische Vernunft vermag dies. Dabei überhebt sich die Vernunft aber auch nicht zur suprahistorischen Macht – sie ist nur hier und jetzt davon überzeugt, was als vernünftig galt und gilt. Die doppelte Analyse von Rechtfertigungsordnungen als historisch vorfindbare soziale Tatsachen und als Ordnungen mit dem Anspruch auf Rechtfertigung, der diese für Kritik öffnet, erlaubt zu sagen, dass bestimmte Kritiken zu ihrer Zeit als ungerechtfertigt galten und doch aus einer normativen Perspektive gerechtfertigt waren, da sie das Rechtfertigungsprinzip selbst zur Geltung brachten.[24] Nebenbei: Die Behauptung, die Geschichte bestimmter Gesellschaften sei vom historischen Erfolg emanzipatorischer Bewegungen geprägt, ist allzu häufig überoptimistisch und übersieht die vielen Weisen, in denen sich Beherrschungsformen reproduzieren.

Aus der skizzierten Perspektive lässt sich ein Begriff des Fortschritts bestimmen, der sich nicht dem Verdacht aussetzt, hinter diesem Anspruch Ethnozentrismen zu verbergen.[25] Denn unter Fortschritt können nur Prozesse verstanden werden, die Rechtfertigungsordnungen so aufbrechen, dass neue Formen der reziprok-allgemeinen Rechtfertigung möglich werden, damit die Betroffenen selbst bestimmen können, in welche Richtung sich ihre Gesellschaft entwickeln soll. Nur so kann verhindert werden, dass »Autonomiegewinn« zu einem Instrument wird, mit dessen Hilfe soziale und politische Autonomie verloren geht, etwa indem andere, mit ökonomischer oder politischer Macht ausgestattete Gesellschaften oder Institutionen einer Gesellschaft diktieren, wie sie sich zu entwickeln hat. Wahrer Fortschritt ist dort zu verzeichnen, wo neue Niveaus der Rechtfertigung erschlossen bzw. erkämpft werden, die die Subjekte überhaupt erst zu Rechtfertigungsautoritäten machen. So besteht der umfassende Fortschritt nicht schon dann, wenn besser gerechtfertigte Verhältnisse existieren (etwa solche mit einem höheren Lebensstandard), sondern wenn die Rechtfertigungsverhältnisse in einer Gesellschaft selbst so gestaltet sind, dass eine Grundstruktur der Rechtfertigung besteht bzw. angezielt wird. Diskursive Autonomie realisiert sich nur in internen Prozessen und Verfahren, nicht in Zuständen, die extern herbeiführbar wären. Ein solcher Begriff von Fortschritt ist für eine kritische Theorie unverzichtbar.[26]

Vor dem Hintergrund dieser vernunfttheoretischen Weichenstellungen sind eine Reihe anderer Grundbegriffe der praktischen Philosophie zu entreifizieren bzw. zu repolitisieren;[27] oder, anders gesagt, »dialektisch« zu interpretieren, die Begriffe in ihrem gesellschaftlichen Prozesscharakter verstehend.

Dies gilt insbesondere für den Begriff der Gerechtigkeit, der ebenso essenziell für eine kritische Theorie ist. Wie ich verschiedentlich herausgestellt habe,[28] ist die Frage der Gerechtigkeit nicht apolitisch innerhalb eines falschen Bildes zu beantworten, das auf Güterpakete, Mindeststandards der materiellen Versorgung und andere Wohlergehenseinheiten blickt, die auch ein wohlmeinender Diktator, eine recht programmierte Verteilungsmaschine bzw. eine Wohlfahrtsinstitution den »Bedürftigen« zukommen lassen könnte. Politische und soziale Gerechtigkeit ist vielmehr ein autonomer kollektiver Prozess, soziale und politische Verhältnisse herzustellen, die nicht nur reziprok-allgemein gerechtfertigt werden können, sondern selbst auf dem Wege der Rechtfertigung etabliert werden und darauf abzielen, eine Grundstruktur der Rechtfertigung zu realisieren. So erscheint die Frage der Macht, als gesellschaftliche und politische, kollektiv gestaltende Macht, im Zentrum der Gerechtigkeit. Reifizierte, unpolitische Gerechtigkeitsvorstellungen hingegen sondern diese im Modus des Empfänger- und Güterdenkens von politischer Autonomie ab, was zu verkürzten Vorstellungen führt. Eine unverkürzte Vorstellung folgt wiederum Horkheimer, der auf die Reflexivität des Begriffs verweist: »Das ist der allgemeine Inhalt des Gerechtigkeitsbegriffs; nach ihm bedarf die jeweils herrschende soziale Ungleichheit rationaler Begründung. Sie hört auf, als Gut zu gelten, und wird etwas, das überwunden werden soll.«[29]

In diesem Zusammenhang sei ein Wort zu dem oft gebrauchten und immer wieder missverstandenen Begriff der »ethischen Neutralität« einer reflexiven Gerechtigkeitskonzeption hinzugefügt. Es gehört zu den Lernprozessen der Moderne, dass in einer Gesellschaft, die eine Vielzahl religiöser bzw. kultureller Gemeinschaften aufweist, für die Rechtfertigung von allgemein verbindlichen Gerechtigkeitsnormen ein Rechtfertigungsmodus gefunden werden muss, der nicht die nicht allgemein teilbaren Wertvorstellungen einer Gemeinschaft verabsolutiert und damit die der anderen dominiert. Dafür bietet sich allein der diskursive Begründungsmodus an, der darauf abzielt, reziprok-allgemein nicht zurückweisbare Normen auszumachen, und dafür die Grundlage fundamentaler Gerechtigkeit, einer Grundstruktur der Rechtfertigung unter Freien und Gleichen, als unabdingbar erachtet.[30]

Wie relevant diese Idee einer »Neutralität der Rechtfertigung« in der gesellschaftlichen Realität ist, zeigen die vielen Debatten über die Diskriminierung von Lebensformen, die sich etwa in Berufsverboten für Frauen niederschlagen, die aus religiösen Gründen Kopftücher tragen.[31] Damit ist keinesfalls gemeint, wie Jaeggi[32] vermutet, dass Lebensformen nicht kritisiert werden können oder sollen. Denn wie in der Neutralitätsdebatte stets betont wurde,[33] sind die Grundlagen dieser Rechtfertigungsneutralität selbst substantieller Natur, und die entsprechende Gerechtigkeitskonzeption verhält sich kritisch zu allen Lebensformen, die mit ihr nicht kompatibel sind. Eine »Neutralität der Auswirkungen« war nie gemeint; ohne Zweifel sind Lebensformen Teil der sozialen Verhältnisse, die kritisiert werden: ökonomische Verhältnisse und Institutionen, soziale Institutionen der Bildung, auch die patriarchale Familie oder neuere medizinische Techniken, um nur einige zu nennen, die Jaeggi vor Augen hat.[34] Aber dass ethische Lebensformen Objekt der Kritik sind, heißt nicht, dass die Kritik ethisch fundiert sein muss – es liegt ein Unterschied darin, ob man eine Erziehungspraxis moralisch verwerflich findet (weil bspw. Gewalt ausgeübt wird) oder ethisch falsch (etwa aus religiösen Gründen). Beide Kritikformen sind möglich, aber in Bezug auf die Gründe und mögliche Konsequenzen (etwa ein Einschreiten des Rechts) ist es hochrelevant, welche Kritik vorgebracht wird. Hier die Grenzen, die in der Tat nicht immer leicht zu ziehen sind und sich historisch verändern, zu verschleifen,[35] ist problematisch, da es ein wichtiger Freiheitsgewinn ist, in seinen Grundrechten vor den ethischen Verurteilungen durch andere (auch und gerade Mehrheiten) geschützt zu werden, denkt man etwa an gleichgeschlechtliche Lebensformen. Davon unbenommen bleiben freilich ethische Formen der Kritik, seien sie wertbasiert oder rationalitätsbegründet (wie bei Jaeggi). Die Theorien, die für Gerechtigkeitskonzeptionen – und nur für diese – reziprok-allgemeine Rechtfertigungen einfordern, sehen ethische Diskussionen und Kritiken keinesfalls als irrational an; schon der Begriff des »reasonable disagreement« (Rawls) spricht dagegen.[36] Ob schließlich die Auffassung, Lebensformen insgesamt als »Experimente«[37] aufzufassen, dem Charakter etwa religiöser Lebensformen gerecht wird, sei dahingestellt; jedenfalls ist diese Sichtweise, die für einen »experimentellen Pluralismus von Lebensformen«[38] eintritt, John Stuart Mills Plädoyer für eine Pluralität von »different experiments of living«[39] sehr nahe.

In neueren Diskussionen, die auf eine Ethisierung der Sozialphilosophie[40] abzielen, bleibt einer der Grundbegriffe kritischer Theorie weitgehend unberücksichtigt: der der Macht. Auf ihn kann solch eine Theorie aber keinesfalls verzichten. Wie schon die Gerechtigkeit, so muss freilich auch der Begriff der Macht de-reifiziert werden. Macht ist prozessual als das Vermögen zu begreifen, den Raum der Gründe für andere bestimmen oder gegebenenfalls sogar verschließen (oder auch aufschließen) zu können, ob durch ein gutes Argument, eine ideologische Rechtfertigung oder eine Drohung. Soziale Macht »sitzt« nicht in irgendwelchen Mitteln oder Institutionen oder Strukturen, sondern im noumenalen Raum, in dem um Hegemonie gestritten wird.[41] So ist der Begriff der Macht weder positiv noch negativ besetzt, sondern neutral;[42] nur die Modi ihrer Ausübung von einem »empowerment« bis hin zu Beherrschung und Unterdrückung, ob interpersonal oder strukturell, sind zu unterscheiden und zu bewerten. So ist Macht stets »diskursiver« Natur, aber nicht immer »kommunikativer« in Habermas’ Sinne oder ausschließlich Teil subjektkonstitutiver, disziplinierender »Episteme« wie bei Foucault. Wieder zeigen sich hier die Vorteile einer variablen Verwendung des Begriffs der Rechtfertigung zwischen deskriptiven und normativen Verständnissen. So lässt sich soziale Macht häufig nur erklären, wenn die Rechtfertigungsnarrative[43] rekonstruiert werden, die eine normative Ordnung prägen und mitkonstituieren. Eine Genealogie in Foucaults Sinne schafft dabei eine normative Distanzierung;[44] doch damit ist das kritische Geschäft noch nicht getan. Zunächst muss sich erweisen, ob dieses Narrativ (epistemisch oder normativ) falsche oder widersprüchliche Rechtfertigungen enthält. So lässt sich auch, wie bereits angedeutet, ein Verständnis von Ideologie entwickeln, das nicht mit problematischen Konstruktionen »wirklicher Interessen« operiert, sondern auf der Grundlage eines Rechts auf Rechtfertigung verfährt, das durch Ideologien fälschlicherweise als nicht vorhanden oder bereits erfüllt dargestellt wird.

Ein weiterer wesentlicher Begriff, der zu entdinglichen ist, ist der der Demokratie. Sie bezeichnet kein feststehendes Institutionenmodell, sondern ist als Prozess der Kritik und der Rechtfertigung, innerhalb und außerhalb von Institutionen, zu verstehen, in dem es darum geht, dass die Herrschaft Unterworfenen die Koautoren ihrer Ordnung werden. So gesehen ist Demokratie die politische Form der Gerechtigkeit.[45] Innerhalb einer normativen Ordnung kann kein Modus des »Problemlösens« legitim sein, ohne eine demokratische Form anzunehmen bzw. demokratisch legitimiert zu sein. So bleibt der Begriff auch nicht »sittlichen« Vorverständnissen oder nationalstaatlichen Rahmungen verhaftet, sondern greift auf transnationale Verhältnisse aus. Das ist insbesondere dort wichtig, wo ein realistisches Bild gegebener Herrschafts- und Beherrschungsverhältnisse nötig ist, um den Ort demokratischer Gerechtigkeit innerhalb, zwischen und jenseits der Staaten zu bestimmen.[46] Dabei ist die Zusammenarbeit mit den Sozialwissenschaften unabdingbar.

Von hier aus erschließen sich auch andere Begriffe, die repolitisiert werden müssen. Die Menschenrechte etwa sind keine Mittel für die Erfüllung von Hilfsbitten bedürftiger Wesen, sondern Rechte auf die vollständige Gestaltung der gesellschaftlichen und politischen Ordnung, der man unterworfen ist – was voraussetzt, dass man weiß, welcher Natur die Ordnungen sind, denen man angehört.[47] Der erste Ort der Menschenrechte ist und bleibt die normative Rechtsordnung, deren Mitglied man ist, denn hier beginnt die politische Selbstbestimmung, die im Zentrum der Idee der Menschenrechte steht. Diese Selbstbestimmung umfasst freilich nicht nur die aktive demokratische Partizipation, sondern die Ausgestaltung all der Rechte, die Personen einen Status als freie und gleiche Rechtsautoritäten sichern. Und sie endet auch nicht an den Grenzen der Nationalstaaten.

Vor diesem Hintergrund wird ein politischer Begriff der Entfremdung formulierbar, wie ihn Horkheimer skizziert (und wie er auch bei Marx[48] zentral ist):

Das Zusammenwirken der Menschen in der Gesellschaft ist die Existenzweise ihrer Vernunft, so wenden sie ihre Kräfte an und bestätigen ihr Wesen. Zugleich jedoch ist dieser Prozess mitsamt seinen Resultaten ihnen selbst entfremdet, erscheint ihnen mit all seiner Verschwendung von Arbeitskraft und Menschenleben, mit seinen Kriegszuständen und dem ganzen sinnlosen Elend als unabänderliche Naturgewalt, als übermenschliches Schicksal.[49]

Eine kritische Theorie, der es um die Wiedergewinnung politischer Autonomie geht, sieht in der Überwindung dieser Entfremdung ihr Ziel, d. h. der Entfremdung von der gesellschaftlichen Wirklichkeit und der politischen Eingriffsmöglichkeit als Form kollektiven Handelns. Die eigentliche Entfremdung ist die, sich und andere nicht als sozial, moralisch und politisch autonome Rechtfertigungswesen bzw. Autoritäten innerhalb einer normativen Ordnung zu sehen. Das ist eher kantisch als aristotelisch gedacht und nahe an Marx – und setzt wiederum keine Theorie des guten Lebens voraus.[50] Die Entfremdung verletzt die Würde eines Rechtfertigungswesens; ob sie es am »guten Leben« hindert, ist möglich, steht aber auf einem anderen Blatt.

Die entscheidende Differenz zu anderen Formen der politischen Theorie oder der Sozialphilosophie liegt darin, dass der kritische Ansatz einerseits die Rechtfertigungsfrage als eine politische ins Zentrum der Theorie stellt und somit die genannten Begriffe dialektisch zum Klingen bringt und andererseits von einer Analyse der realen Unterwerfungsverhältnisse ausgeht, um eine »geerdete« Konzeption kritischer Gerechtigkeit zu entwerfen. Wer demgegenüber eine »ideale« Theorie erdenkt, die mit diesen Verhältnissen unverbunden ist, kann immer noch einen produktiven Beitrag zu einer normativen Diskussion leisten. Wenn aber diese ideale Theorie so konzipiert ist, dass sie nur noch von einem deus ex machina »angewendet« werden muss, macht sie einen Fehler: Sie versteht nicht die Notwendigkeit, den Prozess der Realisierung der Gerechtigkeit als politisch autonomen Vorgang zu denken. Wer das übersieht, dem schlägt die Gerechtigkeitstheorie in ein technokratisches Programm um. Rawls ist für diese Kritik nicht der beste Adressat; andere, etwa glücksegalitäre Ansätze schon.[51]

Insbesondere sind solche Theorien der Gerechtigkeit zu kritisieren, die für die strukturellen Ungerechtigkeiten blind sind, die unser postkoloniales und globalkapitalistisches Zeitalter kennzeichnen. Sie malen entweder ein positives Bild der »Kooperation« auf internationaler Ebene[52] oder geben sich mit der Stärkung von »capabilities« zufrieden, wo es eigentlich um die Beendigung struktureller Ausbeutung gehen müsste. Am deutlichsten wird die Problematik, wenn Auswirkungen solcher Ungerechtigkeit im Modus des individuellen benevolenten Verhaltens kompensiert werden sollen. Dann wird eine politische in eine individual-moralische Frage umgemünzt.[53]

Eine kritische Theorie der Gerechtigkeit bedarf, wie gezeigt, einer sozialwissenschaftlichen Theorie struktureller Dependenz und Asymmetrie, und im Idealfall ist diese in eine umfassende Gesellschaftstheorie eingebettet. Dies ist ein hoher Anspruch, zumal die Analyse transnationaler Verhältnisse integraler Bestandteil solch einer Theorie sein müsste. Der Imperativ, eine kritische und zugleich realistische Theorie der Un-Gerechtigkeit zu verfolgen, lässt dazu aber keine Alternative zu.

2. Eine Soziologie der Rechtfertigung

Im Umkreis kritischer Gesellschaftstheorie ist die Theorie des kommunikativen Handelns von Jürgen Habermas nach wie vor der umfassendste Versuch, eine mit der normativen Perspektive immanent verbundene soziologische Gesamttheorie zu liefern. An ihrer Erklärungskraft müssen sich konkurrierende Theorien messen lassen.

Der Begriff der Rechtfertigungsordnung enthält das Potenzial, wichtige Schritte hin zu einer weiterführenden Theorie zu gehen, die – ganz in Habermas’ Sinne – die Doppelperspektive auf ein normatives und ein deskriptives Verständnis von Rechtfertigung behält und zum Zentrum des Ansatzes macht. Ein zentraler Unterschied zu Habermas besteht freilich darin, auch und gerade »systemische« Zusammenhänge der Ökonomie und des Staates in ihrer normativen Rechtfertigungsqualität zu erfassen und den Narrativen und Legitimationen nachzugehen, auf denen sie und ihre Machteffekte beruhen. Diese Systeme sind somit alles andere als »normfrei«.[54] Dabei ist wieder zu betonen, dass die Begriffe »Norm« oder »Rechtfertigung« nicht im Sinne von einer gut begründeten Norm oder einer reziprok-allgemeinen Rechtfertigung verwendet werden; auch ideologische Rechtfertigungen sind sozial wirksame Rechtfertigungen, die zu analysieren sind, wenn Rechtfertigungsordnungen betrachtet werden.

In der Landschaft soziologischer Theorien der letzten Jahrzehnte hat sich ein Ansatz herausgebildet, der diesem Gedanken sehr entgegenkommt, nämlich die »Soziologie der Kritik«, die insbesondere Luc Boltanski und Laurent Thévenot entwickelt haben. Im Unterschied zu einer »kritischen Soziologie«, die in Bourdieus Sinne Gesellschaften als von asymmetrischen Herrschaftsbeziehungen durchzogen sieht, die den Einzelnen nicht durchsichtig sind, schließt die pragmatische »Soziologie der Kritik« an den Alltagsperspektiven sozial Handelnder an und versucht, die normative Grammatik von sozialen Regeln und Institutionen als eine Grammatik der Rechtfertigung zu verstehen.[55] Boltanski und Thévenot konzentrieren sich dabei auf die unterschiedlichen Gerechtigkeitsvorstellungen, die in einer Gesellschaft anzutreffen sind und in sozialen Konflikten eine zentrale Rolle spielen. Sie unterscheiden sechs (bzw. erweitert sieben) Rechtfertigungssprachen oder -strukturen, im Original cité genannt, was in den Übersetzungen unterschiedlich als »Polis«, »Gemeinwesen« oder auch als »Rechtfertigungsordnung« wiedergegeben wird.[56] Diese Gerechtigkeitssprachen folgen sämtlich einem gesellschaftlichen »Rechtfertigungsimperativ«,[57] der fordert, dass sie eine allgemeine Interpretation des Gemeinwohls enthalten und die Leistungen und Beiträge der Einzelnen dazu – und somit ihren »Wert« oder ihre »Größe« (grandeur) – transparent bewerten. Konsequent wäre es demnach, zwischen zwei Verständnissen von »Rechtfertigungsordnung« zu unterscheiden: der Gesamtordnung, innerhalb deren die cités konkurrieren, und die einzelnen cités. Erstere zieht Boltanski und Thévenot zufolge für alle Vorstellungen ein im moralischen Sinne egalitäres und moderne Gesellschaften kennzeichnendes »Prinzip des gemeinsamen Menschseins«[58] ein, das von den unterschiedlichen Wertinterpretationen nicht in Frage gestellt werden darf. Die »gemeinsame Würde«[59] der Personen wird als »Axiom« betrachtet.

Vor diesem Hintergrund variieren die einzelnen Rechtfertigungsvorstellungen stark.[60] In der religiös definierten Ordnung der »Inspiration« wird der Wert Einzelner und ihrer Beiträge nach ihrem Glauben und ihrer Geisteshaltung bemessen, während in der Polis des »Hauses« persönliche Beziehungen und Abhängigkeiten, etwa einer Erbmonarchie entsprechend, entscheidend sind. Im Unterschied zu solch einer paternalistischen Ordnungsvorstellung hängt im Gemeinwesen der »Meinung« der Wert der Einzelnen von ihrem öffentlichen Ansehen ab. Anders in der »staatsbürgerlichen« Ordnung, in der es darauf ankommt, jenseits partikularer Eigeninteressen dem »Gemeinwillen« (Rousseau) zu folgen und ihn kollektiv zu realisieren. Das »industrielle« Gemeinwesen wiederum lokalisiert den Wert der Einzelnen gemäß ihrer wirtschaftlichen Produktivität; in der Ordnung des »Marktes« hingegen regeln Tauschverkehr und variable Preise, dem Profitstreben folgend, einzelne Wertigkeiten, die in ökonomischem Erfolg gemessen werden. Daran anschließend haben Boltanski und Chiapello den »neuen Geist« des zeitgenössischen Kapitalismus einer weiteren, siebten »Polis« entsprechend analysiert, die sie »projektbasierte Polis«[61] nennen. Hier zählen individuelles Engagement, Flexibilität, Mobilität und Vernetzungen als Wertigkeitskriterien.

Obwohl eine solche Lesart naheliegen könnte, sind die einzelnen Werteordnungen nicht bestimmten sozialen Sphären zuzuordnen, wie es Michael Walzers Spheres of Justice etwa entspräche. Sie konkurrieren vielmehr um die Bestimmung der ganzen Gesellschaftsordnung. Entsprechend entstehen kritische Diskurse dort, wo unterschiedliche Logiken und Prinzipien bzw. »Prüfungen« von Wertigkeit aufeinandertreffen,[62] und zwischen ihnen gibt es keine übergeordnete Rechtfertigungssprache oder Instanz, die diesen Streit noch einmal im Sinne der Gerechtigkeit bewerten könnte. Allenfalls können im Sinne des Gemeinwohls Kompromisse geschlossen werden.[63]

Von diesem Punkt aus lassen sich wichtige Parallelen und Differenzen zwischen diesem Ansatz und der Vorstellung von Rechtfertigungsordnungen, wie ich sie verwende, aufzeigen.[64] Gemeinsam ist den Ansätzen, dass sie darauf abzielen, die soziale Teilnehmerperspektive in ihrer normativen Qualität ernst zu nehmen und zu erschließen und dabei soziale Rechtfertigungen sowohl als soziale Fakten wie auch als normative Ansprüche zu verstehen – und in diesem Sinne Faktizität und Geltung zu vermitteln. Gesellschaftsordnungen werden als Rechtfertigungsordnungen verstanden, in denen stets ein Rechtfertigungsimperativ herrscht, der zu einer Sprache der Gerechtigkeit »nötigt«. Der Ansatz von Boltanski und Thévenot führt diesen Imperativ jedoch nicht auf eine Grundnorm des gesellschaftlichen Lebens zurück, die einem Recht auf Rechtfertigung entspräche.[65] Vielmehr kann ihre Theorie Normativität lediglich deskriptiv erschließen und bleibt so auch die Kriterien für gerechtfertigte Rechtfertigungen aus einer philosophischen Perspektive schuldig. Hier geht der von mir gewählte Ansatz weiter, denn er rekonstruiert die normative Grammatik des Gerechtigkeitsverlangens und des Gerechtigkeitsanspruchs selbst als eine moralische und auch moralisch gerechtfertigte, einschließlich der Kriterien von Reziprozität und Allgemeinheit. So erst ergibt sich eine nichtreduktionistische Einheit von Philosophie und Soziologie, die auch Boltanski und Thévenot anzielen,[66][67]begründet