Das wird ein bisschen wehtun

Cover

It’s a god-awful small affair

To the girl with mousy hair

 

David Bowie, Life On Mars

Mein Leben verlief lange ziemlich vorhersehbar. Ich bekam genau die Frau, die ich mir gewünscht hatte, und ich bekam zu Weihnachten genau die Geschenke, die ich zuvor auf die Liste geschrieben hatte. Nicht einmal das Bleigießen zu Silvester beschert mir den Kitzel des Unvorhersehbaren. Ich gieße seit zwanzig Jahren dasselbe. Eine Art Bombe mit Zündschnur. Dutzende Male habe ich meine Bleigießtechnik verändert. Ich habe das flüssige Blei geworfen, gekippt, vorsichtig hineinfließen lassen. Das Ergebnis war immer gleich: Bombe mit Zündschnur. Die Kinder stöhnten schon vor Langeweile. Meine Frau behauptete, das wäre doch irgendein Trick. Aber das war es nicht. Es war das Ewiggleiche in Form einer Bombe. Das Vorhersehbare mit Zündschnur.

Das hätte mich stutzig machen sollen. Im Leben wechseln sich das Vorhersehbare und das Unvorhersehbare ja normalerweise ständig ab. Aber in meinem Leben hielt sich das Unvorhersehbare höflich zurück, bis ich fünfundvierzig Jahre alt war.

Genauer gesagt, begann das Unvorhersehbare in jener Nacht, in der ich schlaftrunken zur Toilette tappte und den Lichtstreifen unter der Tür sah. Es ist nämlich noch nie nachts ein Lichtstreifen unter der Toilettentür gewesen. Ich weiß das, denn ich bin der einzige, der zu diesen Zeiten unterwegs ist. Wahrscheinlich hat meine Blase beschlossen, nicht mehr zu wachsen, als ich drei war, und treibt mich seitdem zuverlässig mitternachts hinaus, was meine Frau einmal zu der bitteren Sentenz veranlasste, die Kinder würden ja Gott sei Dank endlich durchschlafen, nur bei ihrem Mann sei es noch nicht so weit.

Der Lichtstrahl unter der Tür war daher so unvorhersehbar und außergewöhnlich, dass ich gar nicht begriff, was er bedeutete. Deshalb ignorierte ich ihn. Ich tappte schlaftrunken auf die Tür zu und machte sie auf.

«Hi!», sagte das Wesen, das auf der Toilette saß, die «Gala» auf den Knien. Dann hob es die Zeitschrift blitzartig vors Gesicht. Zwischen den Knien spannte sich ein Slip mit herzigen Schäfchen drauf.

«Ich hab nix gesehen!», zwitscherte es.

In diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich Nacktschläfer bin. Ich schaute an mir herab und tatsächlich: nackt. Ich zog die Tür zu, murrte eine Entschuldigung und ging – wieder ins Bett.

Ich kroch zu Dorit, meiner Frau, unter die Decke, sie nahm mechanisch meine Hand und legte sie auf ihren Bauch, damit ich nicht herumrappeln konnte.

«Da ist jemand in unserer Wohnung», flüsterte ich.

Dorits Kopf drehte sich schläfrig herum.

«Ich wollte gerade aufs Klo und da saß da schon jemand …»

Dorit wandte sich komplett zu mir. Jetzt wurde sie wach.

«Wie? Jemand?»

Ich stand auf und winkte ihr mit dem Zeigefinger, mitzukommen. Dorit zögerte, deutete mit einem Blick aufs Telefon, um die Polizei zu rufen, aber ich schüttelte den Kopf. Unsicher, mit finsterer Mine, erhob sich Dorit und schlich mir nach. Der Lichtstrahl unter der Toilettentür war verschwunden, stattdessen drang aus dem Zimmer unseres Sohnes Konrad Gegiggel und Gekicher.

Dorit sah mich an, und ich sah Dorit an. Nach Konrad klang es jedenfalls nicht, der war eher Bariton. Konrad war siebzehneinhalb, und er hatte wirklich noch nie auch nur eine halbe Freundin gehabt. Wir zehenspitzten näher.

«Ich habe deinen Papsi nackig gesehen!», giggelte das Stimmchen.

«O, der isso peinlich, so rennt der dauernd rum, voll ostig, der Alte», hörten wir Konrad brummen, dann machte er meine etwas nasale Stimme nach, «Badehosen? Ha! So was kannten wir früher gar nicht!»

Das Stimmchen prustete. Konrad marschierte offenbar im Zimmer auf und ab.

«Schnidelwutz und Mumu – heraus zum Ersten Mai!»

Dorit grinste im Dämmerlicht, das von der Straßenlaterne durch die offen stehende Tür des Wohnzimmers in den Flur fiel. Ich schüttelte stumm die geballte Faust in Richtung Jugendzimmer, und es war nicht nur Spaß dabei. Okay, er wollte das junge Ding beeindrucken. Aber es war dann doch das erste Mal, dass ich ihn derart über mich reden hörte. Es war überhaupt das erste Mal, dass ich ihn über mich reden hörte. Der naive Glaube, dass mich mein Sohn ein Leben lang so sehen würde, wie ich mich selber sah – vorbei. Aber Parodie hin oder her: Hatte ich denn nicht recht? War die heutige Jugend nicht entsetzlich verklemmt?

«Soll ich dir mal meine Mumu zeigen?», flüsterte das Stimmchen jetzt. Man hörte sie quasi mit den Augen blinkern. Erst herrschte Stille. Dann Geraschel.

Die heutige Jugend war offenbar doch nicht so entsetzlich verklemmt. Dorit, die dem nicht weiter lauschen mochte, stemmte beide Hände gegen meine Brust und schob mich zurück ins Schlafzimmer. Wir legten uns hin, zogen die Bettdecken unter das Kinn, starrten an die Decke und seufzten synchron. Vor zehn Stunden hatte sich Konrad zum Mittelalterfest auf der Festwiese verabschiedet, um bei der Bastelstraße zu helfen. Bei der Bastelstraße! Konrad, das große Kind. Konrad, der dankend ablehnte, wenn man ihm ein Glas Cidre mit zwei Prozentchen Alkohol anbot.

«Das ist mir echt ein bisschen übergangslos», klagte ich plötzlich, «Ich meine, er kann doch nicht gleich mit so was hier aufkreuzen und sie auch noch übernachten lassen?»

Dorit meinte, für irgendein Elternhaus müsse sich ein junges Liebespaar ja entscheiden. Die des Fräuleins sei offenkundig nicht so liberal. Apropos liberal.

«Hast du ihn eigentlich aufgeklärt?», fragte Dorit, «Ich glaube, da passiert gerade was.»

«O Gott, hör auf!», stöhnte ich ertappt. Ja, ich hatte gekniffen. Ich hatte es nie über mich gebracht, ihn wie ein viktorianisches Familienoberhaupt ins Herrenzimmer zu bitten und ihn über den Gebrauch des Weibes an und für sich zu unterrichten. Wahrscheinlich hätte er sich das auch verbeten. Väter sollen ja nach der Geburt des Kindes ihre Sexualität möglichst an sich halten wie einen nassen Mantel. «Was sollte ich ihm denn sagen? Die haben doch mit zwölf schon mehr im Internet gesehen, als ein Mann in seinem ganzen Leben ausprobieren kann!»

Wir lauschten kurz, aber es war nichts zu hören. Ich stöhnte noch einmal.

«Was, wenn das irgend so ein leichtes Mädchen ist und er sich was einfängt?»

Dorit legte ihre Hand auf meine.

«Oder sie sich?»

Dorit ging ganz langsam unter der Bettdecke ins Hohlkreuz, sodass sich ihr Bauch nach oben wölbte.

Ich sprang aus dem Bett.

«Ich geh dazwischen!»

«Bleib mal lieber hier, du nackiger Papsi!», sagte Dorit.

Sie setzte sich auf, seufzte, stieß sich von der Bettkante hoch und schlurfte tatsächlich zu Konrads Zimmer. Sie klopfte. Dann klopfte sie noch einmal, etwas energischer, bis Konrad herauskam und sie sich leise vor der Tür unterhielten. Ich konnte nur Konrads «Ja» und «Nein» und jenen einschüchternd sachlichen Verhandlungsführerton hören, den Dorit immer auflegte, wenn sie keine längeren Diskussionen wünschte. Aber ich kannte meinen Sohn. Er würde ihr doch jetzt alles versprechen. Sogar Enthaltsamkeit. Strengste Enthaltsamkeit. Natürlich. Geradeliegen bis zum Morgengrauen. Mit einem Mädchen, nackt unter einer Bettdecke. Mit einem Mädchen, das ihm gerade eben noch unaufgefordert ihre Mumu gezeigt hatte. Gab es denn nichts, was ich dagegen …

Als sie wieder ins Schlafzimmer kam, stieß Dorit mit mir zusammen.

«Hier!», sagte ich hastig und hielt ihr ein silbernes Tütchen vor die Nase, «Gib ihm das Kondom!»

Dorit machte große Augen.

«Ist das noch in Ordnung?»

«Ja, es ist», ich riss die Arme auseinander, «noch nicht sooo alt, wenn du es genau wissen willst!»

Etwas verwirrt nahm sie das Kondom aus meinen Fingern.

«Darüber reden wir noch …» sagte Dorit und verschwand wieder in Richtung Jugendzimmer.

Ich schmiss mich ins Bett und köchelte leise vor mich hin. Alles wegen dieser blöden Tussi. Schäfchen-Schlüpper, da weiß man doch gleich Bescheid!

Freilich hatte Dorit das Recht, nach dem Alter des Kondoms zu fragen. Schließlich war jedes Kondom, das nicht seit achtzehn Jahren irgendwo herumstaubte, einigermaßen erklärungsbedürftig. Dorit nahm die Pille und hatte sie nur zweimal – der Wunschkinder wegen – abgesetzt. Nun sind zwar das Besitzen und das Benutzen eines Dinges zweierlei. Viele Frauen kaufen ja auch Klamotten, die sie nie anziehen – aber ich wusste schon, dass sich Dorit in dieser Kondom-Frage nicht in irgendwelche heiteren, alltagspsychologischen Analogien verwickeln lassen würde. Ich hatte mir dieses Kondom ja auch bewusst und mit voller Absicht gekauft. Wie ein Bauarbeiter seinen Helm kauft, ein Bodyguard seine Schutzweste, nüchtern, arbeitsschutzmäßig. Ich hatte es gekauft, um gewappnet zu sein, und wenn Nergez nicht diesen Anfall gekriegt hätte, wäre das Kondom schon lange nicht mehr da.

Dorit kam zurück. Ich setzte mich auf und wollte noch was zu dem Kondom sagen, aber Dorit schüttelte den Kopf, drückte mich ins Kissen und strich mir über den Kopf wie einem fiebernden Kind.

«Nicht jetzt! Schlafenszeit!»

Dann drehte sie mir den Rücken zu. Ich drehte ihr auch den Rücken zu. Wenn man einander vertraut, dreht man sich den Rücken zu.

Am nächsten Morgen, einem Samstagmorgen, waren Dorit, Mascha und ich schon fast mit dem Frühstück fertig, als Konrad mit dem Mädchen in die Küche kam. Sie war klein, etwas pummelig, und hatte tiefschwarzes Haar mit einer breiten, knallroten Strähne in der Stirn, als wäre sie nicht beim Friseur, sondern bei einer Autolackiererei gewesen. Pausbäckchen und ein Paar Schmolllippen, über denen links ein kleiner Strassstein eingepierct war. Sie trug ein verwaschenes blaues T-Shirt mit dem Aufdruck «Heul doch!» und auf dem rechten Unterarm eine Tätowierung, die einen mexikanisch geschmückten Totenkopf zeigte. Mascha sah sie an und rutschte instinktiv etwas näher an ihre Mutter. Konrad, schlank und schlaksig in seinen Boxershorts, wirkte müde wie immer, nur anders, irgendwie körperlicher. Er sagte nichts, hob nur kurz die Hand. Jungs, die schon echten Sex hatten, richtige Checker also, sagen nicht «Guten Morgen!» Dafür sagte die Kleine etwas.

«Hi, ich bin die Naddi!»

Dorit zurrte sich ein Grinsen ins Gesicht. Wir tauschten einen Blick: Na toll. Ein Mädchen mit einem bestimmten Artikel davor!

«Ich bin die Mammi. Das ist der Pappi. Das ist die Mascha.»

Ich fuhr fort: «Hier ist der Tisch und das sind die Stühle!»

Konrad schaute Naddi an und machte eine lässig-entschuldigende Geste.

«Nimm’s ihnen nicht übel. Meine Eltern machen immer Witze, wenn sie unsicher sind.»

Dorit registrierte die Präzision dieser Parade mit einem feinen Zucken ihres Mundes. Bisher hatte Konrad bei den überaus geistreichen Sarkasmen seiner Eltern immer nur genervt gestöhnt, was wir für rhetorische Unterlegenheit gehalten hatten. Aber dem war wohl nicht so. Er hatte nur verschmäht, es uns mit gut beobachteten Wahrheiten heimzuzahlen.

Ich bat sie noch einmal zu Tisch. Sie setzten sich. Konrad an seinen Platz, die Naddi neben ihn und rieb sich – «O super Familienfrühstück!» – die Hände. Mascha tuschelte mit Dorit und zeigte versteckt auf das Totenkopf-Tattoo. Konrad spähte über die Tafel.

«Keine Salami mehr da?»

«Soll ich dir ein paar Eier machen?»

Es war nicht Dorits Stimme gewesen, denn Dorit hatte gerade von ihrem Brötchen abgebissen und folgte jetzt, das Viertelbrötchen im halboffenen Mund, ungläubig gaffend dem Naddi-Wesen, wie es Konrad auf die Wange schmatzte, aufsprang und an unseren Kühlschrank eilte, ihn tatsächlich öffnete, unsere Eierpackung herausnahm, eine unserer Pfannen vom Haken am Sideboard nahm und unseren Herd andrehte. Dorits Blick kehrte fassungslos zurück und suchte meinen. Ich machte mit beiden Händen eine sachte Cool-down-Bewegung. Naddi fragte, ob Konrad drei oder vier Eier wolle. Er wollte vier.

«Naa, da muss wohl wieder Tusche auffen Füller …», kicherte Naddi und warf ihm einen koketten Blick zu. Dorits rechter Mundwinkel zuckte leicht angewidert nach oben, was sie seit Jahren nicht gemacht hatte. Das sittliche Durchschnittsniveau in diesem Raum schien ihr doch erheblich gesunken. Ich hob es wieder an.

«Wo hat denn der Herr die Dame aufgega… kennengelernt?», wandte ich mich an meinen Sohn.

Konrad kam nicht zum Antworten, weil die Naddi, Rührei rührend, unaufgefordert von hinten dazwischen plapperte, wie Konrad auf dem Mittelalterfest voll die geilen Muster auf die Holzschwerter für die Kiddies gemalt hätte, also sone, wo man richtig denkt, dass die echt eingraviert sind. Und das hätte sie, die zwar sonst an der großen Pilzpfanne stand, gesehen, als sie hinter der Bude mal kurz eine durchzog, und sie hätte ihm gesagt, wie geil das wäre, und sie wäre ja sowieso so total «addicted» mit so «Paint-Zeug». Konrad hätte nix gesagt, sondern nur total lieb geguckt, und da wäre sie schon ganz schön hin und weg gewesen. Und denn später, als von ihr die Schicht Schluss gehabt hätte, sei sie noch mal rüber zu ihm. Naja, sie hätten in der Bude schon ein paar Kurze abgebissen, und deswegen wäre sie etwas krass drauf gewesen, auch weil ihre allerbeste Freundin Nicole mit dabei war, und deshalb hätte sie Konrad gefragt, ob er ihr was auf den Bauch malen könne. Und Konrad hätte echt erst ein bisschen Schiss gehabt, so vor allen Leuten, aber sie hätte einfach ihr Shirt hochgekrempelt, so halt …

Naddi brachte Konrad die Pfanne mit dem fertigen Rührei, tat ihm auf, stellte sich neben ihn. Er grinste wie ein Honigkuchenpferd, und dann zog sie sich das Hemd hoch. Darunter kam ein – selbstverständlich – gepiercter Bauchnabel zum Vorschein, um den sich eine Rose wand. Die Rose war ziemlich verschmiert, was von einem anderen Bauch verursacht zu sein schien, aber man konnte noch erkennen, dass sie mal ein kleines Kunstwerk gewesen war.

… und dann hätte Konrad losgepinselt, und das wäre, ist ja klar, erstmal ein ganz komisches Gefühl ummen Bauch rum gewesen und sie hätte die ganze Zeit kichern müssen und dann, wo sie am Ende gesehen hätte, wie toll die Rose war, hätte sie ihn total küssen müssen, was er sich ja auch verdient hätte, und tja, denn hätte er so doll zurückgeküsst, dass daraus eine abendfüllende Veranstaltung geworden wäre.

«Siehste», sagte Konrad zu mir, «das blöde Pinseln ist doch nicht umsonst.»

«Das wird sich noch herausstellen», erwiderte ich.

Naddi stopfte sich das halbe Brötchen in den Mund und mummelte fröhlich:

«Oh, selbst gemachte Himbeermarmelade! Ich liebe selbst gemachte Himbeermarmelade! Wenn wir beide später einen Garten haben, mache ich auch Himbeermarmelade. Ist schon versprochen.»

Konrad sah mich triumphierend an, als wolle er mir bedeuten, dass ich mir zumindest über diesen Teil seiner Zukunft keine Sorgen machen müsse. Ich hingegen fühlte eher eine Sorge mehr.

Nach dem Frühstück verschwanden die beiden händchenhaltend in Konrads Zimmer, während die wieder ausgeschüchterte Mascha sofort auf Dorit eindrang, ihr doch zu erklären, was mit Tusche auffem Füller gemeint sei. Dorit wimmelte – ganz gegen ihre Art – mit einem «Ein andermal!» das drängelnde Kind ab. Offenbar war sie so geschockt, dass ihr gerade keine kindgerechte Erklärung einfiel. Überhaupt unterscheiden sich ja erfolgreiche Eltern von geplagten Eltern vor allem dadurch, dass ihnen immer eine passende Erklärung oder wenigstens eine geschickte Ablenkung einfällt. Die armen Phantasielosen dagegen müssen ihre Brut gegen einen unaufhörlichen Strom des Quengelns, Maulens und Gelangweiltseins aufziehen. Wenn das hier alles vorbei ist, dachte ich, werde ich mal ein Buch mit achthundert umwerfend kindgerechten Erklärungen nebst Ablenkungen schreiben und unter den Verdatterten und Ratlosen vertreiben, um diesem Elend abzuhelfen.

Mascha latschte unwillig davon. Dorit stützte ihren Kopf auf die Fäuste und sagte finster: «Ich möchte jetzt nicht hören, dass sich Männer ihre Frauen nach der Mutti aussuchen!»

Sie habe zwar nie damit gerechnet, dass Konrad etwas mit der hochedlen Judith aus seiner Klasse anfange (einer langhaarigen Klaviervirtuosin, deren elegante Milde alle Eltern bei Schulkonzerten mit verklärten Mienen in den Sitz sinken ließ), aber es gäbe doch nach unten hin Grenzen. Ich räumte das Geschirr ab und beruhigte sie.

«Okay, sie hat ihn aufgerissen, easy meat. Aber Konrad ist unser Sohn. Er ist nicht blöd, und wir haben ihn gut erzogen. Er hat unsere kulturellen und moralischen Standards zutiefst verinnerlicht. Die geht ihm doch spätestens in zwei Wochen auf den Wecker.»

Dorit wiegte skeptisch den Kopf. Für Dorit verinnerlichten Männer keine kulturellen und moralischen Standards. Für Dorit konnten Männer kulturelle und moralische Standards allenfalls auf Nachfrage benennen. Und ihr Sohn Konrad musste ab heute leider zu den Männern gezählt werden.

Konrad und das Mädchen mit dem bestimmten Artikel davor blieben den ganzen Tag über in seinem Zimmer. Das war ein, zwei Stunden lang erstmal nichts Ungewöhnliches, aber nach ein paar Stunden mehr veränderte es irgendwie die Atmosphäre in der Wohnung. Es war nicht so sehr die Anwesenheit einer Fremden, sondern die Tatsache ihres ununterbrochenen Zusammenseins in Konrads kleinem Zimmer, die langsam einen seltsamen Kontrast erzeugte. Mir fiel auf, dass Dorit und ich niemals soviel Zeit in einem Zimmer verbracht hatten. Wir hatten nie so miteinander rumgehangen. Wir hatten nie miteinander rumgelegen. Wir waren irgendwie immer schon strukturierte, tätige Menschen gewesen. Wenn wir uns näher gekommen waren, dann mit konkreten Absichten. Wir hatten, als wir uns kennenlernten, geradezu einen Katapultstart in die Normalität hingelegt. Liebe, Küsse, auch Gebalge und Beischlaf, aber alles zeitlich befristet. Paarbildung unter Berufstätigen eben. Ich versuchte, mir vorzustellen, was die Naddi und Konrad die ganze Zeit in diesem Zimmer machten, aber natürlich machten sie nichts, was den Namen des Machens verdient hätte. Vielleicht schliefen, vielleicht dösten sie umschlungen – die Nacht war kurz und aufregend gewesen –, vielleicht lasen sie Comics, vielleicht sahen sie sich irgendwas auf Youtube an, vielleicht hingen sie auch nur quer über der Matratze und malten mit den Fingern Muster in den Staub unterm Bett. Jedenfalls waren sie seit acht, neun Stunden keinen Meter voneinander getrennt. Ich konnte mich nicht erinnern, irgendwann so lange einfach nur in Dorits Dunstkreis herumgewohnt zu haben. In Reichweite, in Rufweite wohl, aber nie sinnlos mit ihr in einem Zimmer, nur um den Tag vergehen zu lassen. Ein unwirsches Gefühl, eine Abart von Neid kroch in mir rum. Ich merkte es daran, dass ich Lust verspürte, bei Konrad anzuklopfen und hineinzuschnauzen: «Habt ihr nichts zu tun?» Das verkniff ich mir, dafür begann ich aber plötzlich unnötigerweise das Plattenregal im Arbeitszimmer von einer Wand an die andere zu räumen, was mit einer Mischung aus äußerster Vorsicht sowie Reinstraumgehabe, was die Platten betraf, und lautstarkem Scharren und Akkuschrauberlärm, was das Möbel anging, und alles in allem überhaupt ganz unsonntäglich vonstatten ging.

Am Abend dann hatte Dorit dann tatsächlich anlässlich des Abendbrots die Tür geöffnet, die beiden schlafend vorgefunden und in Ruhe gelassen. Eine Stunde später tauchten sie im Wohnzimmer auf. Mit einem Teller belegter Brote und einer Tüte Chips, die Konrad noch irgendwo gefunden hatte. Mascha war schon im Bett, Dorit und ich sahen im Fernsehen eine Doku über ein Trappistenkloster. Ich hatte mich auf der Couch lang gemacht und mir schon schön ein Kissen zurechtgeboxt, eine Lage, die mir von einem Moment auf den anderen völlig unpassend erschien. Nicht nur, weil nun ein dritter Platz auf der Couch nötig wurde, sondern auch, weil Naddi definitiv nicht die Sorte Mensch war, die mich in ein Sofakissen geschmiegt sehen durfte. Dorit rückte zu mir und überließ Konrad ihre Ecke. Naddi schmiss sich in den Sessel, warf die Beine über die Armlehne und rutschte auf der Suche nach der perfekten Lage immer wieder unruhig hin und her. Alcantara ist ein schöner, strapazierfähiger, aber preislich nicht ganz unerheblicher Bezugsstoff, und ich ertappte mich bei dem Gedanken, dass der blaue Abrieb der Jeans, den sie da gerade in den Sessel rappelte, uns länger erhalten bleiben würde als ihre Trägerin. Konrad machte es sich so bequem, wie es ging, ohne seiner Mutter zu nahe zu kommen. Die Chipstüte lag zwischen seinen Beinen, damit Naddi vom Sessel aus herankam.

«Müssen wir das gucken?» Er reckte sich nach vorn zur Fernbedienung auf dem Couchtisch. Ich nahm die Fernbedienung weg.

«Ihr nicht. Wir schon.»

Konrad flunschte und warf ein paar Chips ein. Die Trappistenmönche auf dem Bildschirm versammelten sich im Refektorium zum Mittagessen. Naddi hörte den Sprecher vom Schweigegebot reden und klinkte sich ein, einen krachenden Rest Chips im Mund. «Oh, ich könnt’ das nicht, so den ganzen Tag schweigen. Ich muss immer quasseln. Sagen auch meine Freundinnen, dass ich die totale Schnattertante bin. Meine Lehrer waren auch immer voll genervt, dass ich die ganzen Stunden immer geschwatzt habe. Aber ich kann da echt nichts machen, ich hab einfach so ein Plappermaul.»

Dorit, die etwas aufrechter in der Couch saß als sonst, warf ein stählernes «Tatsächlich?» in den Raum. Naddi, die sich über die Anteilnahme freute, bestätigte noch einmal in etwa zehn Sätzen, wie redselig sie sei. Als die Trappistenmönche nach dem Nachtgebet im antiphonischen Gesang der Gottesmutter dankten, flammte kurz ein Licht im Sessel auf, und gleich danach schwebte eine kleine Trompete aus Rauch vor das Fernsehbild.

Ich sah Dorit an, und Dorit sah mich an. Fassungslosigkeit purzelte uns aus den Gesichtern. Naddi reichte die Zigarette Konrad, aber der wollte nicht. Sie klopfte die erste Asche auf dem leeren Teller zu ihren Füßen ab und nahm noch einen tiefen Zug. Dorit holte ebenso tief Luft.

«Es sind Nichtraucher im Raum, junges Fräulein!»

Naddi verschluckte sich am Rauch, rief, hektisch mit der Zigarette herumfuchtelnd, «Sorry, sorry, sorry! Reine Angewohnheit!» und wuppte sich aus dem Sessel. Während die Trappistenmönche, jeder in seiner Zelle, auf einer kleinen Kniebank zur Nacht beteten, schlurfte Naddi mit der Zigarette und dem Teller zum Fenster, riss es auf und blies den Rauch hinaus. Konrad spitzte die Lippen und küsste sie durch die Luft. Braves Mädchen.

«Was meine Frau sagen wollte», setzte ich hinterher, «in dieser Wohnung wird überhaupt nicht geraucht.»

«Ich blase aber raus!», betonte Naddi unschuldig und scheuchte eine paar widerspenstige Rauchfetzen mit der Hand aus dem Fenster. Es war sinnlos. Im Rahmen einer bürgerlichen Konversation war Naddi nicht Bescheid zu geben. Dorit, die ungewohnt nah bei mir saß, lehnte den Kopf leicht an meine Schulter, und ich tätschelte ihre Hand. Es geht vorbei. Das geht bestimmt vorbei.

Ich fahre einen VW Passat, aber ich bin kein VW Passat-Fahrer. Ich habe eine ausgeprägte, facettenreiche, geradezu schillernde Persönlichkeit, auf die ein Ford Mustang Hatchback mit Feuerlackierung, ein offener Tschaika, ein nobler Humber Super Snipe von 1946 oder auch ein Enzmann 506 passen würde – aber nein, ich möchte niemand mit meiner Individualität belästigen. Darum fahre ich einen schwarzen VW Passat Combi, den Durchschnitt auf vier Rädern. Ein Auto, das man schon vergisst, während man es anschaut.

Dieser wohlerwogene Effekt war verschwunden, als ich am nächsten Morgen das Haus verließ und auf mein Auto zuging, das ein paar Meter weiter an der Straße parkte. Über die Motorhaube, die Kotflügel und die Türen zogen sich große, geschwungene Kratzer bis tief in die weiße Grundierung hinein. Das Auto sah aus wie eine Signierwand, auf der Promiboxer ihre ungelenken Krakel hinterlassen hatten. Hass brodelte in mir hoch. Autonome Penner! In der Straße standen Mercedesse, Audis und sogar ein aufreizender Porsche herum. In dieser Gegend einen fünf Jahre alten Passat Combi zu zerkratzen, war ungefähr so, als würde jemand eine Bank überfallen, um sich mit vorgehaltener Knarre Überweisungsvordrucke aushändigen zu lassen. Es war von so sinnloser Gemeinheit, dass mir trotz Vollkasko beinahe die Tränen kamen. Es war ja auch nicht so sehr der Umstand, dass mein Auto beschädigt worden war. Nein, seine perfekte Durchschnittlichkeit war weg, seine Tarnung war aufgeflogen. Ich würde heute an jeder Ampelkreuzung begafft werden, Finger würden auf mein Auto zeigen. Nachbarn würden sich in Mutmaßungen ergehen, ob es eine verlassene Geliebte in meinem Leben gäbe.

Aber nicht mit mir! Die Grundanspannung, die mich seit Naddis Aufkreuzen nicht verlassen hatte, hatte sich durch dieses unbegreifliche Attentat auf mein Auto zu Energie und Tatkraft gewandelt. Wenn das hier eines dieser berühmten «Broken Windows» war, mit dem irgendwelche Halunken testen wollten, ob in unserem Viertel Kriminalität geduldet würde, dann wusste ich, was zu tun war. Das Verbrechen entmutigen! Sauberkeit und Ordnung wiederherstellen! Und zwar sofort! Ich setzte mich ins Auto und fuhr zu meiner Werkstatt.

Der Meister ging um meinen Wagen herum mit dem skeptischen Blick eines Mannes, der gleich von Anfang an klar machen will, dass es so etwas wie preiswerte Schadensregulierungen nicht gibt. Wahrscheinlich musste man die Räder mit austauschen, weil durch die Kratzer die Auswuchtung nicht mehr stimmte oder so was.

«Du musst bezahlen!», sagte der Meister langsam und finster, und ich wunderte mich ein bisschen, weil ich ihm nie das Du angeboten hatte. Aber vielleicht sackte man ja durch so eine Lackschändung in der Kundenhierarchie weit nach unten. «Du musst bezahlen!», sagte der Meister noch einmal, und weil ich das dann doch etwas dreist fand, beschloss ich, ihn einfach zurück zu duzen.

«Aber du musst erstmal den Schaden reparieren!» Und weil mir das zu schwach schien, setzte ich noch ein lässiges «Baby!» hinterdrein.

Der Meister erwachte aus seiner Finsternis. «Haben Sie das nicht gelesen? Das sind nicht irgendwelche Kratzer. Hier hat jemand was auf ihr Auto geschrieben. Und zwar: Du» Er wies auf die Schwünge auf der Motorhaube. «Must» Er folgte mit dem Finger den Linien, die über die rechten Türen gekratzt worden waren. «Bezalen!» Er zog mich auf die andere Seite und deutete auf die fast unlesbar auseinander gerissenen Silben, die vom Kotflügel über die Fahrertür bis zum Kofferraum in den Lack geritzt waren. Ich hatte es schlichtweg nicht erkannt, weil es so falsch geschrieben war.

«Ich mach Ihnen das weg, aber vielleicht zeigen Sie es vorher der Polizei?»

«Was sollen die damit machen? Eine Rechtschreibprüfung? Einen Schriftvergleich in allen Förderschulen der Stadt?»

Der Meister hob die Hände und zuckte mit den Schultern.

«Vielleicht ist es ja … ein … Ausländer gewesen?»

«Sehe ich so aus, als ob ich irgendwelche Geschäfte … mit Ausländern machen würde?»

«Das ist jedenfalls nicht mit einem Schlüssel reingeritzt worden, sondern mit einem scharfen Gegenstand. Ich würde mal tippen: Messer!»

Ich schüttelte ratlos den Kopf. Ich kannte überhaupt keine Ausländer. Nein, das war eine Verwechslung. Da hatten Leute, die Buchstaben krakelten, die so ähnlich aussahen wie deutsche Worte, sich ein Auto ausgesucht, das so ähnlich aussah wie dasjenige, dessen Besitzer, was auch immer, bezahlen sollte.

Für den Meister war die Dämlichkeit des Anschlags allerdings eher ein Warnzeichen.

«Überlegen Sie es sich. Wer so dumm ist», er zeigte noch mal auf den Wagen, «macht vielleicht noch schlimmere Dummheiten.»

Ich winkte ab und sagte ihm, er solle den Lack einfach wiederherstellen. Dann ging ich sinnend und grübelnd zur Straßenbahnhaltestelle, um mit der Bahn zum Sender zu fahren. Ich kannte niemanden, der so schlecht Deutsch sprach. Es war sicher eine Verwechslung.

Das zerkratzte Auto sollte nicht die einzige Überraschung dieses Tages bleiben.

«Lass uns mal ein paar Schritte gehen», hörte ich eine Stimme hinter mir, als ich mit zwei Latte-Macchiato-Bechern in den Händen – einen für meine wundervolle türkische Kollegin Nergez – und einem Schoko-Cookie zwischen den Zähnen aus der Cafeteria trat. Es war Chef.

Chef stand am Ascher neben der Tür, in einem trotz des heißen Sommertages vollständig zugeknöpften, scharf gebügelten weißen Kurzarmhemd, das aussah als wäre es aus Zeichenkarton, und drückte eine nur halb aufgerauchte Zigarette aus. Diese verblüffende Fähigkeit, nie irgendwoher zu kommen, sondern einfach plötzlich da zu sein, kostete Chef viel Zeit und Kraft, die anderswo fehlten, aber er war sehr stolz auf sie. Ein Chef sollte immer wissen, wo seine Mitarbeiter sind, aber nicht umgekehrt.

Zwischen der Cafeteria und dem Funkhaus lag ein zu Erholungszwecken angelegter Kleinpark, eine Art Zen-Garten aus gehobenem Gewerkschaftsgeist, mit einem Wasserbecken, Kiesweg und Betonbänken, dem unvermeidlichen Rostkunstmonstrum und ein paar sinnlos vor sich hin akzentuierenden Felsenbirnenbüschen. Ein Stück Land, in dem einen nie ganz die Lust verließ, wieder an den Arbeitsplatz zurückzukehren. Chef bat zum Rundgang. Wir knirschten über den Kies.

Bert Stern, der Moderator, sei plötzlich erkrankt, sagte Chef, und es sei nicht abzusehen, wann er wieder auf dem Posten wäre. Ogoddogodd, erwiderte ich, wassadder denn? Chef nahm mir den Schoko-Cookie aus dem Mund und ich erkundigte mich noch einmal nach Sterns Krankheit.

«Das ist doch erstmal egal», sagte Chef etwas unwirsch und wollte mir den Cookie schon wieder in den Mund zurückstecken, besann sich jedoch und schob ihn mir in die Brusttasche. «Er ist krank und ich brauche Ersatz.» Er putzte mir ein paar Krümel vom Hemd. «Juliane Nestroy übernimmt für die nächsten zwei Wochen seinen Part bei ‹Hier sind wir zuhaus!›. Guiseppe Balderini wird bei ‹Sterns Stunde› einspringen. Bliebe noch ‹Ihnen kann geholfen werden!›. Dafür könnte ich mir Alexander Friebe vorstellen …»

Chef schwieg kurz. Alexander Friebe, der Nachrichtensprecher, war der Ersatzmann schlechthin. Wohlgefällige Einsfünfundachtzig, roch er immer frisch, sprach und scherzte in drei europäischen Sprachen und schien außer Dentalhygiene keine wirklichen Interessen zu haben. Wenn er in den Achtzehn-Uhr-Nachrichten von etwa dreißigtausend Überschwemmungstoten in Bangladesh sprach, hatte man den Eindruck, dass alle mit diesem Ergebnis zufrieden sein konnten.

«Nur … was?»

«Du weißt, wie er ist», wedelte Chef sein Unbehagen davon, «Friebe ist so … glatt. Das passt nicht ganz zu so einer Sendung. Immerhin geht es um Schicksale.»

Das stimmte natürlich. Der alte Dampfplauderer Stern war schon die beste Besetzung für eine Hilfe-Sendung. Bert Stern, grauer Bürstenschnitt, ein klobiges Gesicht mit einem Kinn wie ein Kinderknie, griff gern nach den Leuten, führte sie herum, tätschelte im Sitzen auch mal Oberschenkel und konnte so betroffen wirken, dass er manchmal sogar von den wirklich Betroffenen zurückgetröstet wurde.

Chef blieb stehen. «Ich möchte, dass Du die Sendung ‹Ihnen kann geholfen werden!› als Redakteur übernimmst.»

«Warum kann das nicht Petra machen? Die ist die Unterhaltungstante.»

«Petra wäre perfekt. Aber ich brauche jemanden, der nicht so durchorganisiert ist.»

Was war das jetzt? Hatte Chef ein neues Seminar besucht? ‹The Power Of Improperty – Fachliche Uneignung als Kreativreserve›? Oder wollte er einfach mal jemanden so richtig scheitern sehen? «Klingt erst mal nicht so schmeichelhaft, Chef.»

«Ich brauche Jazz.»

«Jazz?»

«Du bist ein Chaot, das weiß jeder. Jeder. Außer dir natürlich. Du bist der am längsten unprofessionell arbeitende Journalist, den ich kenne. Alle knabbern sich die Fingernägel ab, wenn sie mit dir eine Sendung machen müssen.»

«Ich bin unverkrampft. Das ist alles.»

«Das meine ich mit Jazz. Du arbeitest gar nicht. Du dallerst nur rum. Termine, Ablaufpläne, Karteikarten, Stichworte. Interessiert dich alles nicht. Ich möchte, dass Alexander Friebe ‹Ihnen kann geholfen werden!› moderiert, so lange Bert Stern krank ist, aber er soll das nicht wie ein Nachrichtensprecher tun, sondern wie ein Mensch. Er soll aufgewühlt und auch mal verstört wirken. Und deswegen möchte ich, dass du Friebe dabei als Redakteur zur Hand gehst.»

«Als Bremsklotz für den aalglatten Ansager.»

«Das hast du gesagt.»

«Als Sandsack, damit der aufgeblasene Typ nicht abhebt.»

«Wenn dir solche Bilder helfen …»

«Als Bleischürze für den Strahlemann.»

«Hast du schon mal überlegt, dich als Wortspieler selbständig zu machen?»

«Chef, das wird doch nix! Du hast schließlich schon alles verraten. Wenn du mich benutzen willst, darfst du mir nichts davon sagen. Wie soll ich denn schlampig und chaotisch sein, wenn ich weiß, dass du genau das von mir erwartest?»

«Ich glaube nicht, dass das bei dir eine Rolle spielt. Deine Schlampigkeit ist so etwas wie deine Blutgruppe. Nichts, was du mit Absicht ändern könntest.»

«Gut, okay. Ich mache es. Aber nur, wenn du mir verrätst, was Bert für eine Krankheit hat.»

Chef sah sich um.

«Aber das bleibt unter uns. Stricktliest offse rekortts!»

Bert Stern war eine Legende. Nicht nur seit seiner Sendung «Sterns Stunde». Der Mann war eine Legende, weil es legendär war, wie er mit Legenden umging. Wer seine Reportage «Der Herr Bowie wäre eigentlich mit dem Treppenhaus dran» nicht kannte, durfte sich in Deutschland nicht ernsthaft Fernsehjournalist nennen. 1977 hatte Stern eine Beinahe-Homestory aus der Wohnung unterhalb der Wohnung von David Bowie in Berlin-Schöneberg gesendet, wo er den Zuschauern den Schnitt und die Raumaufteilung der Wohnung erläuterte, die der von Bowie exakt entspräche. Die Wohnung gehörte einer älteren Dame mit einer kobaltblau gespülten Dauerwelle. Diese zeigte dem Kamerateam – zögernd, ob sowas denn statthaft wäre – sogar das Badezimmer mit der Toilette, während Bert Stern mit seiner seidigen Moderatorenstimme in die Kamera plauderte. «Genau so ein altmodisches Wasserklosett wie dieses hier benutzt der illustre Gast über uns, es ist der so genannte Restroom, wie die Engländer sagen. Ich werde jetzt mal die Spülung betätigen, und ich kann Ihnen sagen, liebe Zuschauer, es ist schon ein bisschen ein seltsames Gefühl, sozusagen rohrtechnisch am selben Strang wie David Bowie zu ziehen». Dann fragte Bert Stern die ältere Dame, ob sie denn David Bowie manchmal Gitarre spielen hören könne, was sie bejahte: «Jaja, den kann man manchmal hören, da spielt er was, aber jetzt nicht so richtige Melodien», war ihre Antwort, und Enttäuschung über die Entwicklung der Populärmusik seit dem Krieg klang darin mit. «Wir wollen jetzt alle mal ganz leise sein», flüsterte Bert Stern in die Kamera, «vielleicht hören wir ihn ja Gitarre spielen.» Dann lauschten Bert Stern und die Nachbarin in Richtung Decke. Aber es war nix zu hören. Es war elf Uhr morgens. Wahrscheinlich lag David Bowie direkt über ihnen breit wie tausend Mann auf der Matratze und träumte nicht mal, dass unter ihm ein Typ vom Lokalfernsehen auf die Decke unter seinem Hintern starrte. Die Reportage war ein spektakulärer Erfolg. Bert Stern erhielt dafür im selben Jahr den Werner-Kallenbach-Preis der BOFA, später dann noch den Tele-Kobold des Zweiten Kinderfernsehens und irgendeinen Kristallwürfel, auf dem eine Fernsehantenne eingraviert war. Er hatte es verdient. Bert Stern hatte eine neue Art Fernsehen erfunden, das er Surrounding Journalism oder Umkreisen nannte. Er befragte nie Prominente, sondern immer Leute, die mit Prominenten zu tun hatten, mal mehr, mal weniger, mal so gut wie gar nicht. Und irgendwie hatte man hinterher immer das Gefühl, mehr über den Promi zu wissen als der Promi über sich selbst.

Überdies war Bert Stern dafür bekannt, dass er vor den Sendungen völlig ins Skript versunken seine Texte auswendig lernte. Doch niemand hätte es je für möglich gehalten, dass er eines Tages nicht mehr aus dieser Versenkung auftauchen würde. Natürlich hatte es schon mal solche Situationen gegeben, etwa, dass Bert Stern in der Kochnische neben dem Studio dabei angetroffen wurde, wie er abwesend «Tja, liebe Zuschauer, da gieße ich mir jetzt mal einen Kaffee ein» murmelte. Manch einer hielt es für Humor. Manch einer für Erschöpfung. Stern arbeitete viel. Er moderierte neben ‹Ihnen kann geholfen werden!› nicht nur ‹Hier sind wir zuhaus!› und ‹Sterns Stunde› fürs Fernsehen, er saß auch bei Ärztekongressen, Mittelstandstagungen und Pudelschauen am Mikrofon, und durchplauderte jeden Sonntag die ‹Wunschmusike unterwegs› im Radio. Zwei Eigentumswohnungen hatte ihm das eingebracht, dazu ein Segelboot auf dem Großen Pliersee. Zu diesem Boot gehörte seit längerem Vicky Döscher, was Frau Stern, die schon seekrank wurde, wenn sie Kinder im Matrosenanzug sah, allerdings nicht wusste. Es galt jedoch als ausgemacht, dass Bert Stern auch den Pilotenschein gemacht hätte, wenn seine Frau ihm mit irgendwelchen Anzeichen von Flugangst den Weg ins Freie gewiesen hätte.

Jedenfalls, erzählte Chef, war Bert Stern nach der gestrigen Sendung mit Vicky Döscher an lauschiger Stelle vor Anker gegangen. Nach ein, zwei Schoppen Weißweinschorle sei man unter Deck verschwunden und kurz darauf hätte das Boot kleine Wellen in die ruhige Abendsee geschickt, deren zunehmende Frequenz und Amplitude nur den durchs Schilf nickenden Blesshühnern ein Rätsel blieben. Eben inmitten dieser Verrichtung sagte Bert Stern nun plötzlich: «Vielleicht haben Sie es ja schon selbst gemerkt, liebe Zuschauer, ich rackere mir hier, salopp gesagt, einen ab, aber es sieht mir auch heute nicht danach aus, dass es noch zu einem Höhepunkt kommt.» Vicky Döscher hätte innegehalten und vor sich auf die glänzende Täfelung der Kabine geblickt. Im Spiegel des lackierten Buchenfurniers hätte sie hinter sich Bert Stern gesehen, der, tatsächlich ein Mikrofon in der Hand, herumschaute und mit imaginären Zuschauern dieses Geschlechtsaktes kommunizierte. «Berti?», hätte Vicky Döscher verwirrt gefragt, doch Bert Stern hätte in seiner Moderation fortgefahren. «Das Problem, liebe Zuschauer, ist nämlich, dass ich seit Jahren schon kaum noch genug Erregung aufbauen kann, um zu einem befriedigenden Ende, sprich Samenerguss, zu kommen. Der eine oder andere mag sich da an den großen Hit der Rolling Stones von 1965 erinnern, ‹I can’t get no satisfaction› hieß er», presste Stern zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, wobei er jede Silbe mit einer wütenden Bewegung seiner Lenden betonte. «Und um zu Satisfaction zu kommen, müsste ich hier ein Tempo vorlegen, zu dem ich aus Altersgründen leider nicht mehr imstande bin. Aber wissen sie was? Lassen sie mich Ihnen diesen Teufelskreis einmal kurz demonstrieren!» Vicky Döscher, immer noch fassungslos auf allen vieren, musste erleben, wie Bert Stern mit der freien Hand ihren Hintern nun etwas derber griff und wie ein Irrer losrammelte, während er ins Mikrofon keuchte: «Ungefähr bei diesem Takt spüre ich, dass sich etwas in mir tut – aber das, ich habe es einmal bei anderer Gelegenheit durchgezählt, sind nur neunzig Friktionen pro Minute, und hier ist, liebe Zuschauer, für meiner Mutter Sohn absoluter Feierabend und das Ende der Fahnenstange. Ich kann fühlen, dass bei etwa 120 Friktionen pro Minute ein Orgasmus drin wäre, aber da macht meine Pumpe nicht. Das Glied sagt ja, das Herz sagt nein. Ich bin so abgestumpft. Wer hätte das gedacht, liebe Zuschauer …?» «Berti, o Gott, Berti!», hätte Vicky nun gerufen und sich ihm endlich entzogen, während Bert Stern sie schließlich mit einem letzten Satz ins Mikrofon traurig fragte: «Möchtest Du vielleicht noch jemand grüßen?»

Er kann nicht mehr aufhören zu moderieren, weil er nicht mehr zum Höhepunkt kommt?», fragte ich Chef ungläubig.

Chef nickte und erklärte, dass es auch in der Klinik nicht besser geworden sei. Die Ärzte kämen überhaupt nicht zu ihm durch, weil er dauernd mit seinem «Ja, hallo, liebe Zuschauer, ich bin hier bei Dr. Gerold Klampen, so steht es jedenfalls auf seinem Schild, in der berühmt-berüchtigten» – er machte Gänsefüßchen mit den Fingern «‹Psychiatrischen›, und an ihn geht jetzt auch meine erste Frage: Was ist eigentlich dieses, ich lese mal laut, Chlor-pro-mazin, dass Sie da gerade auf die Spritze ziehen?» jede Kommunikation verhindere. Wir scharrten über den Kiesweg langsam zum Funkhaus zurück.

«Schon komisch», sagte ich, «der Beruf hat ihn aufgefressen.»

«Hast du eigentlich ein Hobby?», fragte Chef.

«Ja, aber nur ab und zu.»

«Hobbies sind wichtig», murmelte Chef gedankenverloren, «Was machst du denn?»

«Ich föne Frauen mit extremen Weltanschauungen. Ich bin ein Extremföner.»

Chef nickte nachdenklich. Aber er hatte es nicht verstanden. Ich hätte auch eine beliebige Buchstabenfolge aufsagen können. War ja auch wirklich kein ganz gewöhnliches Hobby.

«Man darf sich nicht so vom Job vereinnahmen lassen», sagte Chef, «es muss auch noch was anderes geben.»

Ich sah Chef an, wie er neben mir in seinem steifen weißen Hemd und seiner dunkelblauen Anzughose mit der perfekten Bügelfalte ging, erst sehr konzentriert, dann klopfte er mir schließlich mit einer kumpelhaften Geste verlegen lächelnd auf die Schulter. Er hatte schon immer Chef sein wollen, nichts anderes. Sogar eine strenge Nasenfalte hatte er sich dafür zugelegt. Jetzt hatte er wohl zum ersten Mal ein bisschen Angst, es für immer zu bleiben.

«Woher weißt du das eigentlich alles so genau? Das mit der Unfähigkeit zum Höhepunkt zu kommen und überhaupt die ganze Geschichte», fragte ich, plötzlich irritiert.

Chef griff in seine Hosentasche und holte einen Speicherchip hervor, wie er in den Mikrofonen von Radioreportern zum Einsatz kommt.

«Das Mikrofon, in das er die ganze Zeit gesprochen hat, war Eigentum des Senders. Und vor allem war es angeschaltet. Die Klinik hat es uns zurückgegeben. Sie wussten ja nicht, was drauf war.»

Als ich wieder in den Großraum kam, war der Latte Macchiato kalt. Und Holger, der Polizeireporter, hatte Nergez schon einen Kaffee aus dem Flurautomaten gezogen. Unaufgefordert. Nergez konnte nicht mit Holger. Sie nippte aus Höflichkeit gerade an der heißen Instantbrühe, als ich reinkam. «Endlich, meine Latte! Musstest du die Bohnen mit der Hand rösten?»

«Chef hat mich abgefangen, der alte Abfangjäger. Ist jetzt leider Eiskaffee.» Nergez schob die Automatenplörre von sich weg, Richtung Holger, der ein sichtlich beleidigtes Gesicht machte.

«Was wollte er denn von dir?», fragte Nergez.

«Darf ich nicht sagen. Geheim.»

«Geheimer Anschiss, nehme ich mal an.»

Holger griff nach dem hellbraunen Becher und betrachte den Rand, auf dem ein Rest von Nergez’ Lippenstift geblieben war. Dann – zu meiner kleinen Überraschung – setzte er den Becher genau an dieser Stelle an und trank.

Ich ging zur Sekretärin und ließ mir die Post geben. Die Aufgabe in der nächsten Sendung von ‹Ihnen kann geholfen werden!› war eigentlich ein Klacks. Es ging um eine Badewanne für Vroni. Ihre Mutter hatte der Redaktion geschrieben, dass Vroni, achtzehn Jahre, sich so sehnlich wünsche, wieder einmal ein Wannenbad zu nehmen, was ihr aber derzeit verwehrt sei, da sie krankheitsbedingt keine normale Wanne mehr benutzen könne. Nun, sie hatte es etwas einfacher ausgedrückt und in einer sehr autonomen Orthografie, aber das war bei Briefen vom Lande nicht ungewöhnlich.

«Klarer Fall!», sagte ich. Eine junge Frau mit Behinderung braucht ein handicapgerechtes Badezimmer. Wir kommen hin, lassen Vroni einmal hin und her humpeln, traurig in die Ferne gucken, dann Auftritt Alexander Friebe. Er setzt sich traulich zu ihr auf die Chaiselonge und lässt Vroni erzählen – wie schön es wäre und dass sie früher immer gern und dass es ihr ganz großer Traum ist, einmal wieder usw. Dann ein paar Einstellungen vom muchtigen alten Bad mit der rostigen Löwenfußbadewanne. Friebe macht Handshake, sagt «Ihnen kann geholfen werden!» in die Kamera, dann wuppt er seinen Daumen hoch, und Schnitt zu ein paar total hilfsbereiten lokalen Sanitärfritzen. Dann Ärmelaufkrempeln in Naheinstellung, Fliesenabklopfen von links und von rechts, neue Wanne samt Träger rein mit Stopptrick, Griffe und Geländer angeschraubt, was weiß ich, hydraulischer Badewannensitz, und fertig hat sich der Lack.

Ich telefonierte mit Vronis Vater, der mir der Wortkargen einer zu sein schien, er gab mir Vronis Mutter, die zu den schlichten Gemütern zu zählen ich die unbedingte Veranlassung hatte, und sie reichte mich an Vroni weiter, die zweifelsohne das Wesentliche von Mutter und Vater in ihrer Person vereinigte. Na gut, das würde vielleicht etwas herausfordernd. Aber das war ich gewöhnt. Gefühlezeigen muss sowieso vorher geübt werden. Wenn im Fernsehen etwas echt aussehen soll, muss es gestellt sein. Ich sagte, dass wir nächsten Dienstagvormittag bei ihnen aufkreuzen würden, am Nachmittag kämen die Handwerker zum Ausmessen, und dann würden wir noch mal am Donnerstag zu den Bauarbeiten vorbeischauen.

«Ich würde ja vorher mal hinfahren», sagte Petra, die heute eine Jeans trug, die ihr vor langer Zeit mal gepasst haben musste, dazu kleine Pinselzöpfe knapp vorm Anscheinsjugend-Paragraphen, und ein weißes Blüschen, das bei etlichen Bewegungen den Blick auf exquisites Bauchfleisch frei gab. Ich werde alt, dachte ich fröhlich, ich mag es langsam mollig.

Petra zuckte mit den Schultern. Na, dann mach mal.

Egal. Diese Sorte Drückeberger hat man immer dabei. Ich machte einen groben Ablaufplan und ließ es dabei. Wenn ich jetzt noch mehr Zeit und Grips in die Sendung investierte, würde ich Chef enttäuschen und das wollte ich keinesfalls. Ich – das Improvisationstalent. Der Jazzer unter den Fernsehjournalisten.