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Ihr Flieger landete gegen sechs Uhr abends und es dauerte ein paar Stunden, bis sie bei uns in der Wohnung waren, aber da sahen die Neuankömmlinge schon wie freie Menschen aus.

»Wie wäre es mit einem Bier, die Herren?«, fragte ich auf Persisch, als ich ihnen mit den Koffern geholfen hatte. Sie setzten sich an den Küchentisch und ich holte uns ein paar Eisgekühlte aus dem Kühlschrank.

»Euer erstes Bier in Amerika!«, rief ich.

Wir tranken ein, zwei und rauchten einen Joint, dann waren sie locker genug und konnten reden. Ich wusste noch ganz genau, wie völlig wirr im Kopf ich vor vielen Jahren bei meiner Ankunft in den Staaten gewesen war. Unsere neuen Freunde waren jetzt hier, und sie würden nicht in den Iran zurückkehren, dafür würden wir sorgen. Diese Leute waren hier, weil sie, wie schon manche vor ihnen, für ihre Kunst ihr Leben riskiert hatten.

»Ihr seid am richtigen Ort«, beruhigte Koli sie. »Jetzt wird es lustig.«

Wir liefen kurz mit ihnen durch unser Viertel in Brooklyn und redeten dabei die ganze Zeit über ihre Reise. Die Nacht war warm und frisch. Die Straßen waren voller Menschen. Ihre Flucht war nicht einfach gewesen, wenn ich alles richtig verstand. Offenbar waren sie alle ins Gefängnis geworfen und dann rechtzeitig zur Ausreise wieder entlassen worden.

»Das ist gut … Gefängnis ist gut. Das macht das Asylverfahren einfacher«, sagte ich auf dem Weg in eine Bar.

# Brooklyn

Manchmal erscheinen die Antworten, wenn du am Rand eines großen Canyons stehst, manchmal reicht als Katalysator auch der billige Herrenduft eines Taxifahrers; der Taxifahrer plappert von Mohammed und dessen Prophezeiungen, aber über Mohammeds vierzig Frauen wollen sie nie reden oder darüber, warum wir glauben sollen, dass Gott ihm einen Mittelsmann in die Höhle geschickt hat, der ihm das Alte Testament und die Bibel in die Hand drückt und sagt: »Da hast du, Sonnyboy, jetzt bist du dran, auf sie mit Gebrüll!«

Allison wurde in einem Vulkan auf den Osterinseln geboren, an einen Samstag, als alle gerade Statuen gucken gegangen waren. Sie ist Widder, wie meine liebe maman. Es ist Sonntag und Allison macht uns unser Lieblingsfrühstück: gedünsteten Grünkohl mit Knoblauch, Zwiebeln und Pilzen. Dazu Maisgrütze mit Butter und frischen Jalapeos, Veggie-Würstchen und französisches Vollkorn-Sauerteigbrot.

In unserer neuen Wohnung riecht es heimelig. Die Sonne scheint durch die Holzjalousien und aus der Klimaanlage im Fenster bläst es kalt. Im Radio spielen sie Duke Ellington. Ich komme mir vor wie ein ganzer Mann. Mein zweiter Tag der Nüchternheit, und diesmal werde ich nicht rückfällig werden.

»Ich liebe dich, Baby«, sagt sie und lächelt mich aus strahlenden, quicklebendigen blauen Augen an. Ratternd erzittert unter uns die Erde, weil gerade der Expresszug die 4th Avenue rauf- oder runterdonnert. Sie steht am Herd und ich rutsche zu ihr, packe sie von hinten an der Hüfte, ziehe sie an mich und küsse sie in den Nacken. Sie stöhnt entzückt auf und schmilzt kurz dahin, dabei stellt sie den Grünkohl auf kleine Flamme. Ich lasse die Hände an ihr herabgleiten und drücke ihr absichtsvoll den Arsch. Sie rührt die Würstchen um. Ihre ganz kurzen kurzen Hosen betonen ihre langen samtigen Beine. Ich habe Lust, Allison auf die Küchendielen zu legen und von Kopf bis Fuß zu untersuchen, aber der Hunger siegt. Heute sind wir glücklich, wie schon seit ein paar Wochen. Davor hatten wir trübselige Zeiten ohne Sex, ohne Liebemachen. Wenn es in der Liebe stimmt, gibt es nichts Besseres.

Als wir einander begegnet sind, lauerten wir beide in den dunklen Ecken der Nacht, schwammen in den kalten Wassern des New Yorker Singlelebens. Als sie mit einem Mitbewohner von mir und ein paar anderen Leuten hereinkam, war ich sofort in sie verknallt. Ziemlich schnell artete alles zur Party aus. Ich musste sie haben, aber ich musste auch aufpassen. Man spannt einem Mitbewohner/Freund nicht einfach das Mädchen aus, so ganz ohne Takt und Eiertanz. Eine Stunde nach dieser ersten Begegnung waren wir beide zugekokst und am Saufen. Sie setzte sich einfach hin, fragte, ob sie die Musik übernehmen könne, und legte genau die richtigen Stücke auf.

»Weißt du, wer das ist?«, fragte sie mich schlitzohrig.

»Klar, das sind die 13th Floor Elevators. Super Wahl«, antwortete ich.

»Was willst du hören?«

»Was du willst.«

Wir teilten uns eine Zigarette, ließen sie hin- und hergehen, als würden wir uns schon ewig kennen. Blieben bis lange nach Sonnenaufgang wach. Irgendwann ging sie zusammen mit meinem Freund nach Hause und ich musste eine Zeit lang warten, bis ich sie wiedersah.

#

Von dem Loft, in dem ich damals wohnte, waren alle schwer beeindruckt; nicht dass ich dort allein gewohnt hätte oder dass ein paar Leute, die sich in Brooklyn ein Loft teilten, etwas Ungewöhnliches gewesen wären, aber dieser Ort war etwas Besonderes. Schon die Lage in Williamsburg war sehr begehrt. Lange hatte ich versucht, mich von Williamsburg fernzuhalten, aber nach kurzem Exil in Texas ging gerade irgendwie nichts anderes, als in diesem Loft zu wohnen, mit fünf oder sechs anderen und massig Leuten, die rund um die Uhr kamen und gingen. Das Loft war in dem einzigen älteren Haus, das in diesem Teil des Viertels noch stand. Trotzig hielt es inmitten der toten glitzernden neuen Ekelarchitektur aus, wie ein Schiffsriese, der auf die anrückenden Abwrackcrews wartet.

Man musste vier Stockwerke hoch, durch ein riesiges Treppenhaus, das einem nachts unheimlich vorkommen konnte, selbst uns Bewohnern, weil ein paar Etagen leer standen. Im vierten Stock öffnete sich ein schweres Eisengatter auf einen langen Flur mit drei Loftwohnungen auf jeder Seite, mal größer, mal kleiner, aber alle groß genug für mehr als vier Bewohner gleichzeitig. Unsere war die größte. Schon aus den Fenstern war der Ausblick atemberaubend, aber dazu kam man durchs Badezimmerfenster auch noch auf ein Dach in Fußballfeldgröße, von dem aus man das ganze Panorama der Stadt vor sich hatte, unter einem fünfzehn Meter hohen Wasserspeicher und einem fünfundzwanzig Meter hohen Schornstein, die man beide von Manhattan aus sehen konnte, wenn man nach ihnen Ausschau hielt. Die Rohrleitungen waren ziemlich hinüber, das Warmwasser wurde nie warm, wenn man sich einen Kaffee kochen wollte, sah man eine Maus über die Herdplatten hüpfen. Wenn man den Toaster einschaltete, war oft im ganzen Haus der Strom weg, und wenn die Nachbarn oben auf und ab gingen, rieselte uns der Putz auf die Köpfe. Richtig sauberhalten ließ sich die Wohnung nicht.

Bei meinem ersten Besuch wusste ich sofort, dass ich hier eine Zeit lang wohnen musste, um mein Leben wieder geregelt zu kriegen. Der Ort war ein klasse Versteck, und ich war ja auch so etwas wie ein Flüchtling, der einen Neuanfang brauchte. Keine Adresse, kein Telefon, keine Verbindung zu den Menschen aus meiner Vergangenheit, und meine neuen Mitbewohner, alles Neuankömmlinge aus dem Iran, Rockmusiker, die es nach draußen geschafft hatten, kannte ich kaum. Aber sie kannten mich, sie hatten mich daheim in Teheran im Fernsehen gesehen, auf dem Sender Voice of America, den man illegal über Satellit empfangen kann.

Diese Typen waren viel jünger als ich, aber das war kein Problem, ich kam mir nicht sehr alt vor. Im Gegenteil, ich fühlte mich lebendiger denn je, und im folgenden Jahr würden wir wilde Zeiten ohne Ende erleben. Sie gaben mir ein Sofa zum Schlafen, es war Hochsommer, sehr heiß. Ich besaß ein paar T-Shirts, zwei Paar Jeans, drei Paar Socken und meine geliebten schwarzen Lederstiefel. Hatte kaum Geld und keine Jobangebote. Ich war glücklich. Diese Kids waren nett zu mir, und bald würde ich mich dafür erkenntlich zeigen können. Erste Geschäftshandlung war, mit ihnen auf eine zweimonatige Tournee durchs ganze Land zu gehen, als Vorgruppe. Ich sollte dreizehn Dollar am Tag zum Leben bekommen, ein karger Tagessatz, wie man es auch dreht und wendet.

Im Jahr davor, während meines selbst auferlegten Exils, fern von New York, hatte ich eine Art Wandlung durchgemacht. Ich war als Mensch nicht mehr heil oder heilig gewesen, hatte betteln und mir alles zusammenkratzen müssen. Meine Musikerkarriere und meine Beziehung mit meiner festen Freundin hatten damals ein unvermitteltes und hitziges Ende gefunden, und plötzlich war ich wieder in Dallas gewesen, hatte bei meinen Eltern gewohnt und als Kellner in einem Frühstückslokal gejobbt.

Ein paar Monate, bevor alles den Bach runterging, saß ich noch ganz auf Wolke sieben. Der Anfang vom Ende war eine kleine England-Tournee gewesen, als Vorgruppe eines legendären alten Sängers, während an den letzten Vorbereitungen für ein neues Album bei meinem Label gefeilt wurde, und ich gehörte zu so einer Art Supergroup, dabei hing schon dicker Verwesungsgeruch in der Luft. Der Traum war ganz klar und schön gewesen, was den Absturz umso schmerzhafter machte. Man hätte viele Lügen schlucken müssen, um die Scharade fortzuführen. Die ganze Sache war faul bis ins Mark. Ich hatte nicht das Zeug für die große Karriere.

Vielleicht lag es auch an den Drogen und den Visionen. Vor Jahren hatte ich mit psychedelischen Halluzinationen an einem großen Fluss gesessen. Er floss so mächtig vorüber wie der alte Tigris oder der Nil, und sein Name war »Fluss der künstlerischen Schöpferkraft«. Mir wurde klar, dass man nur am Ufer dieses großen Flusses sitzen konnte, einen Fuß hineintauchen, darin schwimmen, zu ihm beten, Menschen an seine Ufer führen, dass man ihn aber nie besitzen, nie aufstauen oder verschmutzen durfte. Man musste ihn um jeden Preis schützen. Zumindest musste er, wie der große Ganges, ein geheiligter Ort bleiben, denn alle mächtigen Flüsse spielen im Kreislauf des Lebens eine hochwichtige Rolle. Sie verbinden alles. Sie tragen dich. Sie sind im Universum ein Symbol für Unbeständigkeit, dafür, dass alles immer im Fluss ist, für die höchste Form der Freiheit.

#

Dann, im Loft, war ich klug genug, die Philosophie eine Weile für mich zu behalten und mit dem Strom zu schwimmen. Wir gingen auf Tour, einfach war es nicht, aber ich fand es schön, wieder etwas vom Land zu sehen. Mit der Rückkehr nach New York war es mit meinem Tagegeld vorbei, und in den ersten drei Tagen aß ich nicht viel. Hatte ich dieses Leben wirklich schon hinter mir? Wahrscheinlich nicht, Ausgeglichenheit ist schwer zu haben.

# Manhattan

»Ich werde ganz ruhig und langsam reden, damit du alles verstehst, was ich sagen will«, denke ich mir, als ich zu Mana aufsehe. Sie sitzt mir am Tisch gegenüber und blickt mir direkt in die Augen. Ihre Minestrone ist heiß und der Dampf steigt ihr ins Gesicht. Sie sitzt mit dem Rücken zum Fenster. Ich will gerade etwas sagen, aber bevor ich den Mund aufbekomme, kommt eine Harley Davidson mit orangefarbenem Benzintank an den Bordstein gedonnert, rüttelt mir das Hirn durch und wirbelt meine Gedanken durcheinander. Ich gucke dem Fahrer zu, wie er den Motor abdreht und absteigt.

»Und?«, fragt Mana nach. »Was wolltest du gerade sagen …?«

»Ach, eigentlich nichts. Klar, ein paar gab es schon. Na und? Nichts Besonderes, da gibt es eigentlich nichts zu erzählen.«

Mana hatte am Morgen angerufen, ganz unerwartet, und wollte mit mir lunchen gehen. Ich sei pleite, hatte ich ihr gesagt, und sähe aus wie ein Schlafwandler. Sie sagte, ich solle duschen und mir um das Geld keine Sorgen machen. Ich freute mich und konnte ein vertrautes Gesicht gut gebrauchen.

Als ich am Union Square ankam, saß sie schon auf einer Stufe an einem der U-Bahn-Eingänge mit ihren blauen Kuppeln, und ihre großen braunen Augen leuchteten beglückt. Wir hatten uns immer hier verabredet, von Anfang an. Wir spazierten in der Kälte Richtung Süden und rauchten ihre Camel-Importzigaretten, dann suchten wir uns einen gemütlichen Laden zum Essen.

»Erzähl schon«, sagt sie.

Ich fange an, meine Spaghetti dampfen, und der Duft nach Kapern und grünen Oliven versetzt mich zurück in die Zeit, als mein Vater Mitbesitzer eines italienischen Restaurants in Dallas war, des Sweet Basil Italian Ristorante an der Südostecke der Kreuzung Trinity Mills Lane und Midway Road.

»Wir können ja was trinken«, platze ich plötzlich heraus.

»Ich dachte, du willst noch warten«, sagt sie mit diesem süßen mütterlichen Unterton.

»Ich brauche was, damit mein Herz nicht mehr so rast«, antworte ich und versuche dem Kellner zu winken.

»Und? Was war jetzt mit diesen Frauen?«, sagt Mana.

Ich versuche, die Polarität des Ganzen zu erklären, so gut ich kann, und wie ungeeignet ich dafür war, auf der Fleischpiste herumzukrauchen, diesem monströsen gottverlassenen Korridor zwischen East River und Brooklyn-Queens-Expressway, voller moderner Unabhängigkeitskämpfer und Nymphen mit halbsynthetischen Seelen, Armen, Beinen, Mösen, Schwänzen und lutschbereiten Mündern, mit zinn-gepanzerten Herzen, die Nervengifte ausspien; Tausende Schwänze und Mösen im Wiegeschritt zu den Melodien von damals und heute, alles voller Körpersäfte, Schleim, Müll, Ratten, Pisse und Kotze, klebrig und geheimnislos.

Sie hört zu, isst ihre Suppe und ich merke, wie viel besser es ihr geht als nach unserer Trennung vor achtzehn Monaten. Noch nicht wieder richtig gut, aber so gut, dass sie es erträgt, wenn ich von anderen Frauen erzähle. Als sie an der Reihe ist, berichtet sie sofort von ihren gescheiterten Versuchen mit einem guten Typen. »Ganz normal«, in ihren Worten. Irisch-italienische Abstammung, ein alter Schulfreund aus der Zeit an der Brooklyn Tech, Deserteur, arbeitsloser Tankwagenfahrer, der bei seinen Eltern in der Upper West Side wohnt, schwerer Trinker, Kettenraucher … so weit, so gut.

Sie hatten sich auf einer Beerdigung wiedergetroffen, hingen zusammen ab, eines Nachts war sie auf seinem Bett eingeschlafen, und als sie gegen sieben Uhr morgens wieder wach wurde, war er im Wohnzimmer mit zwei Männerfreunden am Koksen. Eigentlich hatte er ihr geschworen, dass er keine Drogen nahm.

»Du bist wenigstens Musiker, aber er ist einfach ein arbeitsloser Trucker. Er hat eine nackte Frau im Bett liegen und kokst die ganze Nacht mit zwei Männern durch?« Vielleicht hat er damals keinen hochgekriegt, denke ich. Noch ein bisschen Märchenstunde, dann braucht sie auch was zu trinken und bestellt eine Bloody Mary. Ich bestelle ein Bier. Nach ein paar Schlucken rast mein Herz nicht mehr so. Ich strecke meine Hand aus, um zu sehen, ob das Zittern aufgehört hat, und das hat es.

Nach einer Weile ist alles aufgegessen und ausgetrunken, sie zahlt und wir treten in die beißende Kälte hinaus. Ich bin am Erfrieren. Noch ein paar Straßen, dann kommt der hypothermische Schock, ganz bestimmt.

»Es ist nicht mehr weit bis zur U-Bahn, komm schon!«, drängt sie mich.

Wir gehen schneller, laufen die Treppe hinunter, springen in den Waggon, suchen uns einen Platz und kuscheln uns aneinander. Wir fahren zu ihr, in unsere alte Wohnung, wo alles kaputtgegangen war. Wo wir verzweifelt versucht hatten, uns an die letzten Reste der Liebe zu klammern, die es zwischen uns noch gab und die schließlich verreckt war, an einem finsteren, kühlen Oktobermorgen.

An der 86th Street steigen Mana und ich in den Bus durch den Park zur York Avenue um, dort gehen wir nach Süden. Sie besorgt ein Sixpack in einem Deli, ich warte draußen und rauche. Ich war lange nicht mehr in der Upper East Side gewesen, aber es macht mir nichts aus, wieder im alten Viertel zu sein. Wo sie aufgewachsen ist, wo ich mich in sie verliebt hatte, ein junges Mädchen von einundzwanzig Jahren frisch vom College, das bei ihren Eltern wohnt, lebhaft und verwirrt, liebeskrank und auf der Suche nach einem erfüllteren Leben. Wo ich ihr in die Augen sah und ihr meine Gefühle und Absichten gestand. Wo wir ihrer Familie von uns erzählten, endlos oft zum Mittag- und Abendessen waren, mit ihrem Neffen und ihrer Nichte spielten. Wo ihre Mutter und Schwester nebenan eine Kindertagesstätte leiteten. Die Schwester und der Schwiegersohn wohnten dort, bis sie sich schließlich in der Nähe eine eigene Wohnung kauften. Wo wir in einem Anfall von Verzweiflung beschlossen, unsere Wohnung in Park Slope, Brooklyn, aufzugeben, die mit dem Blick auf die Grabsteine, Obelisken und Mausoleen des Greenwood-Friedhofes, und bei ihnen einzogen, weil es billig war und ich kein Geld verdiente.

Hier, in dieser reizenden Wohnung mit ihrem herrlichen Hinterhofgarten, ging unsere Liebe in die Brüche. In der Endphase häuften sich dort die stürmischen Zusammenstöße, und dann zerstob die ganze Scharade fast wie nach Plan zu interplanetarischem Staub und die Trümmer wurden in alle Himmelsrichtungen in unsere kollektive Zukunft geblasen.

Der Schlüssel dreht sich im Schloss, die Tür öffnet sich, Madam und Monsieur treten ein. Drinnen ist es düster und es riecht nach Vergangenheit, tiefer finsterer Vergangenheit, eingefrorener Vergangenheit, eingeschrieben in Zellen und Atome, eine Vergangenheit, aus der es kein Entrinnen gibt, voller Dramen, Magie, Leid, Verlust, Glück, Sex, heimlichen Sehnsüchten, Zehennägeln, Hautcreme, Badeschaum, Kontaktlinsen, Zigaretten, Lachen, kindischen Spielchen, Onanie, Fastfood, Fernsehen, toten verwesenden stinkenden Mäusen, Schmerz, Schmerz und Liebe, unsterblicher und ewiger Liebe. Sie lässt sich Zeit beim Stiefelausziehen, dann geht sie zum Lichtschalter und beleuchtet das Schlachtfeld von einst.

Ich spaziere durch die alte Wohnung. Es hat sich nicht viel verändert. Sie geht aufs Klo. Ich sehe mir die alten Bücher im Regal an, jedes mit einer Zeit und einem Ort verbunden. Jeder Buchtitel steht für eine ganz bestimmte Erinnerung, zum Beispiel an gemeinsames Lesen im Bett oder allein auf dem Nachhauseweg in der U-Bahn oder daran, wie ich das Buch weglege, um sie an der Tür in Empfang zu nehmen, sie zu umarmen und leidenschaftlich zu küssen, ihr die Stiefel auszuziehen, die Beine zu massieren und sie eine Weile im Arm zu halten. Dann kommt sie herein und fragt, ob ich ein Bier will.

Wir nehmen das Bier mit in ihr Zimmer. Sie setzt sich auf den Fußboden und ich sehe mir ihre Bilder und Zeichnungen an, die auf einem Tisch ausgebreitet liegen. Nach unserer Trennung hat sie mit Malen und Zeichnen angefangen und sie ist gar nicht schlecht, aber blöderweise verschenkt sie das meiste unsigniert. Ich tätschele die Möbel wie zur Begrüßung. Da bist du ja wieder, Schublade, hallo Schrank, hallo Tisch, hallo Stuhl.

Ich setze mich neben sie auf den Fußboden und fahre mit den Fingern das Boteh-Muster auf dem alten Perserteppich ab. Schönes Gefühl, aber ich sitze nicht gern auf dem Fußboden, mein Arsch ist so knochig. Es dauert nicht lange, da reden wir über »uns«, die Vergangenheit, das Verlassenwerden, unsere besten Jahre haben wir hingegeben, warum, wo, wann? Es wird heftig, bleibt aber im Rahmen. Ich bin ihr noch immer böse, dass sie mich nicht angehimmelt hat, mir nicht genug das Gefühl gegeben hat, ein richtiger Mann zu sein, sich nach einem tollen Fick nicht an mich geklammert hat, der Sorte Fick, die andere Frauen dahinschmelzen lässt, ihr aber kaum ein Lächeln entlocken konnte. Mana sagt, das sei ihr jetzt klar, heute wisse sie, wie schön es war.

»Das soll jetzt kein Geständnis sein«, sage ich, »aber ab und zu muss ein Mann sich ein paar Sachen beweisen, und, na ja …« Sie weiß Bescheid. Sie weiß alles.

Die Zeit vergeht, und wir liegen da und trinken und hören Miles Davis, erst Sketches of Spain, dann Kind of Blue, dann E.S.P. Nach einer Weile werden wir schlapp und beschließen, beim Vietnamesen Essen zu bestellen. Sie zieht mich aufs Bett und legt sich neben mich. Im nächsten Augenblick halten wir uns fest umklammert. Es passt. Unglaublich. Ich wische ihr die langen schwarzen Haare aus dem Gesicht und streichele ihr mit dem Handrücken sanft die Wange, dann lege ich ihr die Hand auf den Hinterkopf und ziehe sie an mich. Sie stützt sich auf und küsst mich auf den Mund. Ich streichele ihr erst den Rücken, dann die Beine.

»Gott, wie klein du bist«, sage ich.

»Du bist klein! Wo bist du denn? Du bist so dünn. Haut und Knochen«, sagt sie und klopft mir auf die Hüfte.

Sie küsst mich wieder, diesmal leidenschaftlicher.

»Komm … gleich ist das Essen da«, bettele ich.

»Ich habe eben erst bestellt.«

»Diese Chinesen sind schnell. Deshalb gehört ihnen die Welt, Baby«, scherze ich in altväterlichem Ton.

»Das sind Vietnamesen.«

»Die Charlies sind noch schneller. Damals, als wir im Dschungel in der Scheiße saßen …«

»Komm schon … küss mich …«

»Damals in Nam … da haben wir dauernd Vietnamesisch bestellt.«

»Küss mich.«

»Ich krieg das einfach nicht aus dem Kopf … Die verdammten Vietcong!«

Es klingelt an der Tür. »Siehst du?«, sagte ich.

»Mein Gott, wie kriegen die das so schnell fertig?«

»Die übernehmen die ganze Welt, habe ich doch gesagt!«

Sie ging das Essen bezahlen und blieb kurz in der Küche, stellte alles auf ein Tablett und holte noch Bier.

Ich dachte wieder über meinen großen Plan nach: wie ich alles hinter mir lassen und in den Süden gehen wollte, in den tiefen Süden, das Amerika hinter dem Äquator. Ich wälzte die Idee jetzt schon eine ganze Weile in meinem Hirn und Endoskelett. Ich wurde sie einfach nicht los. Ich musste Geld sparen und dann ab in die Freiheit. Eine Überfahrt mit dem Schiff an einen Ort wie Buenos Aires buchen, das Schiffshorn hören und eine Runde in See stechen. Die Taue kappen und sich losreißen, die Vergangenheit von sich abspülen, sich reinwaschen, erlösen, alles hinter sich lassen, abreißen, neu aufbauen. In stillem Bemühen wollte ich über die ganze Erde streifen.

Mana kam mit dem Tablett zurück, und ich schloss meine Gedanken so rasch wieder weg, wie ich sie aus dem Käfig gelassen hatte. Es hatte keinen Sinn, sich im Kreis zu drehen. Es gab noch viele offene Fragen.

»Können wir vor der Glotze essen? Ich habe so lange nicht mehr ferngesehen«, bat ich.

»Klar, wenn du willst«, sagte sie.

Wir saßen auf dem Fußboden, aßen und sahen fern. Als wir fertig waren, räumte sie alles weg, wir glotzten noch ein bisschen, dann gingen wir zu Bett. Wir hielten einander nur in den Armen, mehr nicht, und das war mir ganz recht.

#

Prädynastisches Ägypten, Keilschrifttafeln, niedere Achämeniden, Josephine tanzt vor einer großen Menschenmenge wie Esmeralda auf einem Podest. Sie sieht mich in der Meute stehen. Unsere Blicke treffen sich. Sie hört auf zu tanzen und sieht ängstlich aus. Sie fängt an zu schreien, aber tonlos. Sie streckt die Arme nach mir aus, die Handflächen nach oben gewendet. Ganz plötzlich hält sie ein Neugeborenes; sie sind noch über die Nabelschnur miteinander verbunden, alles ist voller Blut, eine Riesensauerei. Das Baby atmet nicht. Es ist tot.

Der Handywecker reißt mich aus dem Schlaf. Ich schalte ihn aus. Mana schläft fest. Ich wasche mir im Bad das Gesicht und betrachte es kurz mit durchtriebener Zufriedenheit im Spiegel. »Nicht schlecht, nicht schlecht«, sage ich laut und spiele Dustin Hoffman als »Ratso« Rizzo in Asphalt-Cowboy. »Schön bist du, Baby … richtig schön. Kannst du nicht versuchen, dich selbst zu lieben? Kannst du das nicht für mich tun?«, fahre ich fort. »Du hättest in L.A. bleiben und dich richtig reinhängen sollen, du Idiot. Ein Star hättest du werden können, ein Star, sag ich dir … nee … Scheiß auf L.A.«

Ich wecke Mana zum Abschied nicht auf, stehe aber kurz da und betrachte ihren schlummernden Leib. In was für Träume sie sich auch verstrickt haben mag, sie wird es beim Aufwachen nicht mehr wissen, denn sie ist wie ausgezählt. Kein einziges Mal hat sie sich in den sechs Jahren unserer Beziehung an einen ihrer Träume erinnert. Im Schlaf erlischt sie und gibt sich jener fernen Endgültigkeit hin, enthebt sich der Sphäre des Bewusstseins ganz und gar, ist nicht mehr von dieser Welt und auch nicht von jener anderen. Schön für sie! Für mich gehören die Träume zu meinen Erinnerungen und begleiten mich in meinem Leben als wacher Mensch. Wir sind einander vermählt, verbunden, verbündet, wir sind Alliierte, meine Träume und ich. Volltönende Träume sind es, von schäbigen kleinen Erlebnissen zumeist, manchmal melodisch, oft aber auch misstönend, voller tonaler Modulationen und dämonischer Visionen, teuflisch und schuldbeladen.

Ich gehe hinaus und wappne mich gegen die bittere Kälte. Was war das nur für ein Winter! In diesem Jahr sind alle Schneerekorde gebrochen worden. Ich beschleunige meine Schritte und erinnere ich an meinen Traum von vorhin. Ich frage mich, was Josephine so treibt. Sie denkt bestimmt an mich. Schon zum dritten Mal in dieser Woche ist sie mir in einem Traum erschienen. Ob sie hier in New York ist? Ob sie wohl diesen reichen Araber aus den Emiraten geheiratet hat? Hat er ihr das Apartment an der Avenue Montaigne in Paris geschenkt oder hat er sie mit nach Dubai genommen?

Ich versuchte, Josephine zu vergessen und mich auf meine Magenbedürfnisse zu konzentrieren. Das Wichtigste zuerst. Kaffee, aber nicht den teuren, den ich so liebe. Nein, wir halten uns an Billigware. Warum hatte ich Mana nicht gebeten, mir etwas Geld zu leihen? Ich war wieder mal pleite. Wie sollte ich über den Monat kommen? Das Wichtigste zuerst, Kaffee, dann nach Hause und ein bisschen was kiffen, dann Carter anrufen und ihn um meinen alten Job anbetteln. Wieder Nachtschicht. Wieder die ganze Nacht in diesem glitzernden Büroturm verschimmeln.

Der erste Schluck Kaffee zauberte mir ein Lächeln ins Gesicht, und dann liebäugelten auf dem U-Bahnsteig ein paar Frauen mit mir, was bei mir auch einen positiven Eindruck hinterließ. Scheiß drauf, dachte ich mir. Was soll denn bitteschön das Problem sein? Gar nichts. Musstest du etwa hungern? Leidest du an einer unheilbaren Krankheit? Alles nur Geld. Probleme? Was für Probleme? Ein Fuß vor den anderen, Ali, Schritt für Schritt für Schritt. Eins zwei drei vier, zwei zwei drei vier. Was du jetzt brauchst, ist eine heiße Dusche und ein dicker fetter Joint. Ein paar Stunden Musik machen, und hastdunichtgesehen ist es Abend.

# Brooklyn

Auf meiner Wanderung hinunter zur Williamsburg Bridge bekam ich einen Anruf von Michael. Ich war ihm vor ein paar Wochen auf einer öden Party voller Juppiebolzen begegnet. Eine dieser Partys, auf die ich gehe, wenn alte Freunde mich mal wieder sehen wollen, weil ich weiß, dass es endlos Alk für lau gibt, um mich bei Laune zu halten. Meine Freundin Lexi hatte mich eingeladen, eine alte Freundin aus meinen Theatertagen in Dallas, klasse Frau, hübsche Grübchen, wohlgeformte Schenkel, Spätentwicklerin. Von den Wänden hallte dumpfes Gelaber wider.

Michael stellte sich mir vor und sagte, er sei Maler, komme gerade von einer Einzelausstellung in Berlin zurück, reiche Eltern, nach dem bisschen, was ich aufschnappte, Sommer in Südfrankreich, Winter in den Schweizer Alpen und so weiter. Er mochte mich, vielleicht weil ich so scheiße drauf war. Manchmal finden Leute mein besoffenes, griesgrämiges Rumgeätze lustig, besonders die ganz oben, die sonst den ganzen Tag lang die Füße geküsst bekommen. Jedenfalls sagte er, Lexi habe ihm von mir erzählt und er habe gehört, ich sei ein irre toller Sänger und was nicht alles. Ich glaube, er ist bi, was ich ja okay finde, solange er nicht glaubt, er könne ihn mir hinten reinschieben. Er ist reich und ich brauche was zu fressen. Ein echter Glücksfall.

Ich melde mich beim Pförtner an und nehme den Fahrstuhl rauf zu Michael. Er wohnt in einem dieser brandneuen Hochhäuser am Hudson. Diese Dinger finde ich zum Kotzen. Würde ich nicht mal geschenkt nehmen. Die Tür geht auf und ich werde von einer großen, perfekt gekleideten Frau empfangen, die in ihr Handy spricht.

»So ein Desaster wollen wir ja alle nicht nochmal erleben. Um unbeliebt geht es hier, meine Liebe … warum sollte er das tun? Das ist doch kein Grund … Na, dann versuchen wir eben, bei allen … Er muss einfach den richtigen Vorschuss kriegen … und … und … die PR muss top sein. Alles andere ist nicht unser Problem …«, sagt sie.

Ich laufe der Frau durch die große Wohnung hinterher, alles ultrahip eingerichtet, die Wände voller moderner Kunst. Im Wohnzimmer macht Michael Fotos von zwei jungen Frauen, die kaum was anhaben. Ein Sommerabend bei den alten Griechen vielleicht oder »Ophirs Kinder bringen Salomo das Gold«, das wird nicht ganz klar. Die Mädchen sind hübsch, Typ Model, statuenhafte Schönheiten in lila gefärbten Umhängen. Michael hört kurz mit dem Fotografieren auf und begrüßt mich.

»Hallo, alter Freund, wie geht’s? Barbara hast du schon kennengelernt?«, sagt er mit einer Handbewegung zur Telefondame.

»Hallo, nein, habe ich nicht. Hallo, Barbara«, sage ich, aber Barbara ist ganz in ihr Gespräch vertieft.

»Na, wie findest du das? Nett, oder?«, sagt er mit einem Nicken in Richtung der Mädchen, die Kamera fest in der Hand.

»Mhmm … hallo«, sage ich zu den Mädchen, die aber nicht aus der Rolle fallen. Die meinen es ernst, diese beiden, aus denen wird noch was im Modelwesen.

»Na, fühl dich wie zu Hause, nimm dir was zu trinken, ein Bier, was du willst – ich weiß, du trinkst gerne, also nimm dir, was du willst, mach, was du willst. Wir sind hier gleich fertig, dann können wir lunchen gehen.«

»Okay, danke, mach ich.« Ich gehe in die Küche, mach den Kühlschrank auf, da ist alles vom Feinsten, und ich suche mir ein schönes tschechisches Bier aus.

Kurz darauf sitzen wir alle an einem reich gedeckten Tisch. Michael erzählt, wie er Warhol kennengelernt hat. Ist mir egal, ob es stimmt und was er da redet.

»Nein, richtig gekannt habe ich ihn nicht, ich war noch ein Kind. Das muss kurz vor seinem Tod gewesen sein, erzähle ich sonst nie … wenn er sonst bei uns war, war ich wohl immer gerade nicht zu Hause oder so. Jedenfalls, ich habe bloß gesagt: Mami, mit den Haaren von dem Mann stimmt was nicht, die finde ich toll, und sie hat das so weggelacht, na ja.«

»Was hat er gesagt?«, will eines der Models wissen.

»So was wie: Also wirklich, Elaine, eine Nervensäge, dein Junge, aber sehr hübsches Gesicht, oder so. Na ja, das war’s schon«, sagt Michael, dessen Stimme mit jedem Schluck weibischer wird. Er dreht die Musik ganz auf, nach ein paar Takten weiß ich Bescheid, ausgerechnet Ravels »Bolero«. Er spielt Fangen mit einem der Mädchen. Sie verschwinden, kommen ein paar Minuten später mit einer großen Truhe wieder, machen sie auf und probieren alle möglichen Kostüme an. Barbara hängt noch immer am Telefon und ignoriert das Ganze völlig. Ich sitze auf einem Sofa, trinke, und das andere Model labert mich schnellfeuermäßig zu. Wir haben uns über das Koks hergemacht, das Michael uns auf den Couchtisch gestellt hat.

»In Milano hatte sie es richtig lustig, ein paar Tage durchgefeiert. He! Aufpassen, ihr zwei, das ist mein Lieblingskleid. Gott, sind die ein hübsches Paar, was? Und wenn sie ihm erst die Peitsche und die Ketten zeigt, dem armen Schwein. Sie steht auf Schmerzen, weißt du, aktiv und passiv. Weißt du, was ich meine? Mir hat sie neulich auch ein paar Tricks beigebracht, für Anfänger. Reiche Männer auspeitschen, davon kann man ziemlich gut leben, weißt du? Nicht dass wir das machen würden. Was ich nicht verstehe, ist dieses Ball-Stomping-Ding. Wo ist da der Witz? Mal nett den Hintern versohlen oder auspeitschen, das ist ja schön und gut, aber mit High Heels an die Eier?«

So geht das immer weiter und ich versuche verzweifelt mich an ihren Namen zu erinnern. Ich beschließe, sie Waste Land Eyes zu nennen. Wüstenauge. Sie hat einen ganz weichen Teint, erinnert mich an Gene Tierney, als sie jung war, ihre Stimme ist sardonisch, trocken und monoton, ihre rote Zinnoberseele gruselt mich. Ich habe keine Lust, hier den ganzen Abend zuzugucken, wie diese Idioten mir ihr Lebensdesign vorspielen.