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Arnold Benz / Samuel Vollenweider

Würfelt Gott?

topos premium
Eine Produktion des Matthias Grünewald Verlags

Für Betty und Elisabeth, die uns mit ihren guten Wünschen
und gespannten Erwartungen so manches Mal
in die Abgeschiedenheit der Sphäre Saturns begleiteten.

Arnold Benz /
Samuel Vollenweider

Würfelt Gott?

Was Physik und Theologie einander
zu sagen haben

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

INHALTSVERZEICHNIS

VORWORT DER AUTOREN

DIE SATURNMISSION HERMES: REDAKTIONELLES GELEITWORT

ERSTES BUCH: FRÜHLING AUF SATURN

Ein Orkan am Osterfest

Am achten Schöpfungstag

In der Sphäre Saturns

Treffpunkt Staunen

Saturns abgründige Weisheit

Vom alten Kosmos zum modernen Universum

Die Zeit hat zwei Töchter

Ein Hymnus auf den kosmischen Christus

Im Schatten Babylons

Gekreuzigt im Kosmos

Wahrnehmen als Mitspielen

Pan taucht aus der Finsternis auf

Room with a View

Vorstoss in eine mythische Vergangenheit

Ein Ungeheuer regt sich! Ein Kartengruß

Die Sprache der Bilder

An den Grenzen der Welt

ZWEITES BUCH: UND EWIG WOGT DER QUANTENOZEAN

Jenseits von Newton

Die Schattenwelt wird wirklich

Quanten klopfen an: Ein Kartengruß

Im Quantenozean

Tanz mit den Fluten

Grenzverkehr mit dem Nichts

Schöpfung ohne Unterbrechung

Warum so unbestimmt?

Physik oder Mystik?

Unsere Mutter, die du bist in der Tiefe

Im Anfang war das Vakuum

Titanengeburt

Das Epos vom Ursprung

Am Strom der Zeit

Die Geburt der Zeit

Kronos alias Chronos

Würfelt Gott?

Spiel mit dem Zufall

Zwischen Raum und Zeit

DRITTES BUCH: DEM LEBEN AUF DER SPUR

Auf der Suche nach der wirklichen Welt

Ein Modell der Wirklichkeit: Ein Kartengruß

Modelle – Konstrukte oder Stellvertreter der Wahrheit?

Die Zukunft ist offen

Mitten im Chaos

Chaotische Aussichten

Im Schatten von Katastrophen

Die schöne Welt der Saturnmonde

Krisenmanagement

Tasten in der Tiefe

Im Haus der Wahrheit: Zelt, Kathedrale oder Labyrinth?

Landung auf Titan

Außerirdische Intelligenzen und ihre Religion

Pfingsten ist nahe

Schöpfung live

Leben – das schönste Kind des Universums

Eine Titanvision

Gottes zwiefaches Antlitz

»Siehe, es war sehr gut«? Die Schöpfung wird evaluiert

Mächtiger König oder armer Wanderer?

Die beste aller möglichen Welten?

Von der Menschenfreundlichkeit des Universums

Garten Eden in Gefahr

Heimweh nach dem Paradies

Menschheitsdämmerung

Titans Schatten über der Menschheit

Im Anbruch der Endzeit

Ein apokalyptischer Traum

Apokalypse zwischen Physik und Theologie

Descendit ad Inferna

DER AUSGANG DER TITANMISSION, ODER: ODYSSEE IM WELTRAUM 2021

Die wichtigsten Abkürzungen und Akronyme

Anmerkungen

Namen- und Sachverzeichnis

VORWORT DER AUTOREN

Liebe Leserin, lieber Leser,

Sie halten ein ungewöhnliches Buch in den Händen. Es erzählt von einer Weltraummission, die sich überraschend auf eine Spurensuche nach Gott begibt. Zwei Astronauten, die im fernen System des Planeten Saturn und seines Mondes Titan gestrandet sind, tauschen darin ihre Gedanken über Gott und das Universum aus.

Dabei wollten wir Autoren, ein Physiker und ein Theologe, ursprünglich ein nüchternes Sachbuch schreiben. Als wir uns vor mehr als fünfzehn Jahren kennen lernten, verblüffte und verwirrte uns die Verschiedenheit unserer beiden Wissenschaftskulturen. Der einstige Konflikt zwischen Theologie und Naturwissenschaft, der sich mit den Namen Galilei und Darwin verbindet, ist im 20. Jahrhundert einer zunehmenden Entfremdung gewichen. Umso mehr hat uns die Neugier auf das ganz Andere gepackt.

Unsere Gespräche kreisten immer wieder um eine grundlegende Frage: Lassen sich im Universum der heutigen Naturwissenschaften Gottes Spuren entdecken? Gibt es Brücken von der alten theologischen Kosmologie zu den modernen physikalischen Theorien über Geschichte und Strukturen des Weltalls? Oder noch knapper formuliert: Was bedeutet es heute, vom Universum als Schöpfung zu reden?

Nur zu bald mussten wir uns die Unmöglichkeit eingestehen, auf diese Fragen mit einer fachübergreifenden Theorie zu antworten. Physik und Theologie unterscheiden sich erheblich in ihrem Wirklichkeitsverständnis und in ihren Methoden. Dieser eigentümlichen Lage möchten wir durch eine besondere literarische Form Rechnung tragen: Der Kern unseres Buches besteht nicht aus einer systematischen Abhandlung, sondern aus einem weit ausgreifenden Gespräch zwischen einem Physiker und einem Theologen. Beide lassen sich auf einen intensiven Lernprozess ein, auch wenn sie oft nicht zu gemeinsamen Positionen finden. Diesen Dialog haben wir in eine Erzählung eingebettet, die auf ihre Weise eine Grenzwanderung mit offenem Ende inszeniert. Präsentiert wird das Ganze schließlich von einer fiktiven Redaktion, welche die einzelnen Gesprächsgänge mit der Rahmenhandlung verknüpft.

Entstanden ist so ein Sachbuch im Gewand einer Science-fiction-story! Es verlangt von Ihnen als Leserin und Leser immer wieder, zwischen Fiktivem und Wirklichem zu unterscheiden. Erzählung und Redaktion sind selbstverständlich erfunden, allerdings nicht ohne augenzwinkernde Blicke auf den heutigen Wissenschaftsbetrieb. Dagegen orientieren sich die Dialoge samt den eingestreuten Exkursen und Meditationen durchwegs an unserer zeitgenössischen Realität und Wissenschaft. Die fortlaufenden Anmerkungen vermitteln hier die elementarsten Informationen; sie sind natürlich so wenig Teil des fiktionalen settings wie die beigegebenen Abbildungen. Wir hoffen, dass die Lust, am Abenteuer dieser kosmischen Spurensuche teilzunehmen, im Lauf der Lektüre auch auf Sie übergreift …

Herzlich danken möchten wir Olaf Wassmuth und Elisabeth Benz für viele wertvolle Verbesserungsvorschläge. Wir danken auch den Biologen Prof. Dr. Thomas Seebeck und Dr. Hans Peter Weinmann für ihre kritische Lektüre einzelner Teile unseres Buches.

A.B./S.V., Zürich, Ostern 2000

Die vorliegende Ausgabe ist gegenüber ihren Vorgängerinnen nur geringfügig verändert worden. Neben einigen kleinen Korrekturen wurden die Ergebnisse der Cassini-Huygens-Mission 2004/05 mitberücksichtigt, die viele der in diesem Buch getroffenen Theorien über den Saturnmond Titan bestätigt haben.

A.B./S.V., Zürich, Juli 2015

DIE SATURNMISSION HERMES: REDAKTIONELLES GELEITWORT

Im Frühling des Jahres 2021 erreichte die Mission HERMES mit sieben Astronautinnen und Astronauten den Planeten Saturn in den äußeren Regionen unseres Sonnensystems. Die auf insgesamt sieben Jahre konzipierte interplanetare Expedition sollte sich vor allem der Erforschung des Saturnsystems mit seinen spektakulären Ringen und seinen Monden Titan und Japetus widmen.

Bereits zuvor hatten unbemannte Sonden die Saturnwelt eingehend erkundet, unter ihnen Cassini-Huygens im Jahr 2004. Besondere Aufmerksamkeit galt Titan als dem einzigen Mond innerhalb unseres Sonnensystems, der von einer dichten Atmosphäre umgeben ist und die Ausmaße eines kleineren Planeten erreicht. Trotz der enormen Kälte scheinen auf ihm zahlreiche organische Moleküle zu existieren und chemische Reaktionen abzulaufen, wie sie auf der frühen Erde vor rund vier Milliarden Jahren eine Voraussetzung zur Entstehung des Lebens waren.1 Obschon die wissenschaftlichen Betreuer der bemannten Expedition jegliche Erwartungen, in diesem präbiotischen Laboratorium auf archaische Lebensformen zu stoßen, entschieden zurückwiesen, hat sich das öffentliche Interesse doch hartnäckig an diesem Punkt entzündet. Andere Zielsetzungen, wie etwa die Abklärung einer möglichen Ausbeutung der riesigen Vorräte an Kohlenwasserstoffen auf Titan und bodennahem flüssigem Wasser auf dem Eismond Japetus, verbunden mit der späteren Einrichtung einer permanenten Station, traten dahinter ganz zurück.

Eine ungewöhnliche Astronautencrew

Ungeachtet des Einsatzes leistungsstarker Ionentriebwerke dauerte der Flug von der Erde bis zum Saturn fast drei Jahre. Angesichts dieser enormen Distanz mussten die Astronauten anders als bei den früheren Mond- und Marsflügen in der Lage sein, völlig selbstständig zu handeln. Die IASA (International Aeronautical and Space Administration) hatte deshalb die sieben jungen, technisch gut ausgebildeten Wissenschaftler, zwei Frauen und fünf Männer aus verschiedenen Ländern, ausnehmend strengen und langwierigen Eignungstests unterworfen. Neben Physikern, Biochemikern und Informatikern zählte zur Crew auch ein Theologe. Die IASA akzeptierte nämlich ein von der Participatory Experimental Perception (PEP) Society in San Francisco vorgeschlagenes religionspsychologisch-theologisches Forschungsprojekt, das die zahlreichen Berichte über angebliche religiöse Erfahrungen im Weltall seit den Anfängen der Astronautik testen wollte.2 Der vehemente Einspruch des naturwissenschaftlichen Ausschusses der IASA gegen dieses als inexakt apostrophierte Projekt erzwang allerdings eine gruppenpsychologische Erweiterung des Auftrags: Der humanwissenschaftlich ausgebildete Theologe wurde auch als Kommunikationsspezialist eingesetzt, da auf einer derart langen Reise mit enormen zwischenmenschlichen und psychischen Problemen zu rechnen war. Die internationale Presse hat diese zweite Aufgabe des Astronauten zum Ärger des Ausschusses kaum zur Kenntnis genommen.

»Houston, we have a problem«

Als die Raumfahrer endlich das Saturnsystem erreichten, schwenkte das Hauptschiff, die HERMES TRISMÉGISTOS (HTM), mittels komplizierter Bahnmanöver in eine Warteposition am Librationspunkt zwischen Saturn und Titan ein, wo die Schwerkräfte beider Himmelskörper entgegengesetzt sind und sich zusammen mit der Fliehkraft die Waage halten. Gemeinsam mit dem Mond kreiste es nun in 16 Tagen um den riesigen Gasplaneten. Anfang April starteten fünf der Besatzungsmitglieder mit einem Abstiegsmodul zum Titan, um eine Bodenstation zu errichten, während die restlichen zwei auf dem Mutterschiff zurückblieben.

Nachdem der lange interplanetare Flug weitgehend störungsfrei verlaufen war, begannen sich nun die Probleme zu türmen. Zunächst zögerte sich die Landung wegen der schwierigen Feinerkundung der Mondoberfläche erheblich hinaus. In der Folge erlitt der Kontakt zwischen dem Hauptschiff und dem Kontrollzentrum auf der fernen Erde eine empfindliche Beeinträchtigung. Schließlich geriet die auf Titan gelandete Expeditionscrew infolge eines Defekts an der primären Energieversorgung in eine gefährliche Situation. Ihre letzten Signale gaben Anlass zu den ernsthaftesten Befürchtungen. Die beiden zurückgebliebenen Besatzungsmitglieder stiegen deshalb am 22. Mai mit einem zweiten Landegefährt auf Titan ab, ohne die Zustimmung der IASA abzuwarten. Das baldige Verstummen auch ihrer Lebenszeichen schien den Schluss unausweichlich zu machen, dass ihre Rettungsaktion nicht erfolgreich verlaufen war. Am 4. Juni fasste die Bodenkontrolle den Beschluss, die black box und alle Computerspeicher der HERMES TRISMÉGISTOS vollständig zu kopieren, um so weitere Informationen über das Schicksal der Saturnexpedition zu erhalten. Die Auswertung dieses Materials ist derzeit noch im Gang.

Gesprächsfragmente mitten in kosmischer Einsamkeit

Unter den zahllosen bordtechnischen und wissenschaftlichen Daten fanden sich auch längere digitale Gesprächsaufzeichnungen und Tagebücher jener zwei Astronauten, die während des Fortgangs der Titanmission an Bord des Mutterschiffs geblieben waren. Ihre Wartezeit vertrieben sich die beiden, der Theologe und ein Physiker, unter anderem mit theoretischen Gesprächen, die auf einen interdisziplinären Dialog zwischen ihren Wissenschaften hinauslaufen. Themen wie die Entstehung des Universums aus dem »Nichts«, die Schöpfertätigkeit Gottes, die Evolution des Lebens, aber auch die Dimensionen der Zeit, die Bedeutung des menschlichen Bewusstseins im Kosmos und mögliche Zukunftsszenarien kommen darin eingehend zur Sprache.

Die routinemäßig vom Bordcomputer aufgezeichneten Gesprächsgänge zwischen den beiden Astronauten haben natürlich durch die schicksalhaften und bis heute noch weitgehend ungeklärten Vorkommnisse auf Titan an dokumentarischem Wert gewonnen. Angesichts des regen Interesses einer breiteren Öffentlichkeit hat uns die IASA vor einem Jahr mit der Aufgabe betraut, die Aufzeichnungen zu publizieren. Durch unsere redaktionelle Bearbeitung -Glättung der Syntax, Eliminierung von Sprachmüll und Redundanz – ist aus den spontanen Diskussionen ein literarischer Dialog geworden, den wir hier als Buch vorlegen.

Bei den beiden Astronauten, deren Namen wir im Folgenden abgekürzt wiedergeben, handelt es sich um den Naturwissenschaftler Niek van der Wielen (NW) aus Amsterdam und um den Theologen Thomas Haubensak (TH) aus Berlin. Ihre Gesprächsfragmente haben wir durch unsere eigenen Kommentare in den jeweiligen Kontext an Bord des Raumschiffs eingebettet: Oft waren es äußere Anlässe, welche bestimmte Gesprächsthemen angeregt haben. So führte etwa die Beobachtung eines Wirbelsturms auf Saturn zu einem Diskurs über Selbstorganisation und Ostern, während der plötzliche Verlust einer Mond-Erkundungssonde zur Erörterung von Katastrophentheorien einlud.

Nicht selten beziehen sich die Gesprächspartner auf bestimmte Sachzusammenhänge oder Problemstellungen, die wir bei der Leserschaft nicht ohne weiteres voraussetzen zu können glauben. In solchen Fällen haben wir Experten gebeten, in gedrängter Form die hierfür notwendigen Sachkenntnisse zu vermitteln. Manchmal kommt in diesen Exkursen auch eine Reserve gegenüber den interdisziplinären Brückenschlägen der Astronauten zum Ausdruck, wofür wir den Experten ausdrücklich Raum gelassen haben. Sie signalisieren der Leserschaft, wo Einsichten, die im exotischen Kontext der Sphäre Saturns plausibel scheinen, in physikalischen Laboratorien und akademischen Seminaren der irdischen Nordhalbkugel für Diskussionsstoff sorgen.

Dialoge sind nicht die einzige Form der »naturphilosophischen« Hinterlassenschaft der Astronauten. Besonderes Interesse verdienen ihre persönlichen elektronischen »Nacht-« bzw. »Tagebücher«, deren Einträge wir in größerem Umfang abdrucken. Ihre Diktion kommt manchmal poetischer Sprache nahe und arbeitet mit vielen mythologischen Elementen – ein Hinweis darauf, dass naturwissenschaftliche Erkenntnisse durch das freie Spiel der Metaphern für religiöse Aussagen transparent werden können.

Die Konzentration auf das Sachthema hält uns verständlicherweise davon ab, auf die Privatwelt der Astronauten näher einzugehen. Die Boulevardpresse hat so delikate Angelegenheiten wie sex in space, Beziehungsdramen, persönliche Konflikte, Verdauungsbeschwerden, Machtkämpfe mit der Bodenstation und ergreifende Ferngespräche mit Angehörigen bereits ausgiebig dokumentiert. All dies wollen wir hier nicht wieder ausbreiten. Unsere Aufzeichnungen vermitteln deshalb das Bild einer mönchischen Klause draußen in der kosmischen Wüste, wo sich Einsiedler über Gott, Welt und Seele ihre Gedanken machen. Umso mehr weisen wir die Leserschaft darauf hin, dass uns eine stattliche Anzahl von bezaubernden poetischen Texten erhalten ist, die von beiden Astronauten für ihre auf der fernen Erde zurückgebliebenen Lebens- bzw. Lebensabschnitt-Partnerinnen (LAPs) geschrieben wurden. Diese Liebesgedichte aus dem Reich der Sterne werden, nachdem die Einwilligung der LAPs nunmehr vorliegt, auf Büttenpapier separat veröffentlicht.

Titans Geheimnis

Bei der Auswertung der vom Bordcomputer abgerufenen Datenmenge zeigte sich recht deutlich, dass die letzten Lebenszeichen der Expeditionsmitglieder in zumindest indirektem Zusammenhang mit den aufgezeichneten Gesprächen stehen. Das Herausgeberkomitee hat es deshalb für sinnvoll erachtet, dem noch immer gelegentlich aufflackernden Bedürfnis der Öffentlichkeit nach einer Klärung dieser letzten Stunden und Minuten so weit nachzukommen, als es der Vermeidung ausufernder Spekulationen über die nach wie vor rätselhaften Vorkommnisse auf Titan dienlich ist. Das Redaktionsteam schließt sich in der Beurteilung dieser Frage dem jüngsten Ausschussbericht der IASA vorbehaltlos an: Es gibt nur ein einziges akzeptables Modell, das die seltsamen Botschaften hinreichend erklären kann, welche die beiden Weltraumfahrer während der letzten Minuten ihres Abstiegs auf Titan übermittelten: die Visionshypothese. Sie besagt, dass die Astronauten infolge von extremen Außenbedingungen und Überreizung einer Wahrnehmungsstörung zum Opfer fielen. Allein diese Hypothese kann den gemeinhin anerkannten wissenschaftlichen Standards genügen. Sämtliche weiteren phantastisch anmutenden Schlüsse, welche die Schlagzeilen der Presse dominiert haben, tragen nur zur Vernebelung des Geschehenen bei. Die Sensationsmeldung, wonach die Saturnmission intelligentes Leben auf Titan entdeckt habe, muss als unseriöse Berichterstattung bezeichnet werden.

Mehr Recht kann die Frage einiger nüchterner Beobachter beanspruchen, ob die beiden Astronauten in ihrer offenkundigen Verwirrung unbewusst den Schlussteil von Stanley Kubricks Filmklassiker »2001 – A Space Odyssey« aus dem Jahr 1968 inszeniert haben könnten.3 Hier wie dort gerät eine Weltraum-Expedition in enorme Schwierigkeiten und »produziert« ein symbolträchtiges offenes Ende. Der in die Jahre gekommene Film wurde zwar von den Verantwortlichen für Wellness and Gaiety at IASA (WAGI) ziemlich gedankenlos in die umfangreiche elektronische Videothek des Raumschiffs aufgenommen. Mittlerweile ist aber bekannt geworden, dass er wenige Stunden vor dem Start aufgrund einer dringlichen Intervention des renommierten Astropsychiatrischen Verbands der USA wieder diskret gelöscht worden ist. Der Film hat unseren beiden Titanauten also die fraglichen Visionen nicht suggeriert.

Wir wissen bis heute nicht wirklich, was sich im Jahr 2021 auf dem Saturnmond Titan zugetragen hat. Nur eine Erkundung vor Ort könnte eine Klärung der seltsamen Vorfälle versprechen. Insofern möchte unsere Publikation auch ein kleines Stück Aufklärung betreiben und die Planungsstäbe der IASA ermutigen, eine neue Mission in das Saturnsystem zu projektieren, um Titans Geheimnis zu lüften.

San Francisco, den 17. Juli 2022
Das Redaktionsteam: Peggy, Astraia, Eric

ERSTES BUCH: FRÜHLING AUF SATURN

Das dreiteilige Hauptschiff der Saturnexpedition, die HERMES TRISMÉGISTOS, befindet sich seit dem 26. März 2021 am Librationspunkt zwischen Saturn und seinem Mond Titan. Am Freitag, 2. April, 15:00 WZ (Weltzeit), hatte das große Landegefährt ORPHEUS mit fünf Besatzungsmitgliedern das Mutterschiff verlassen, um am Sonntag eine tiefe Umlaufbahn um Titan zu erreichen. Die in der Einsamkeit des Saturnsystems zurückgebliebenen beiden Astronauten nutzten die Zeit zunächst zum Aufbau eines optischen Großteleskops von 30 Metern Durchmesser, des Arrayed Reflector Geometry for Optical Studies (ARGOS). Daneben oblagen ihnen Aufgaben im Zusammenhang mit zwei ferngesteuerten Erkundungssonden im Saturnsystem und mit Routinearbeiten.

Ihre Freizeit verbrachten die beiden Astronauten gern mit dem Kochen von Menüs, die zum Teil recht ausgefallen anmuten, aber meist nur in Kombinationen von bordgezüchteten Nahrungsmitteln und hochkonzentriertem Proviant bestanden. Das Essen war oft begleitet von angeregten, ausführlichen Gesprächen. Koch-, Ess- und Aufenthaltsraum war die »Aussichtskuppel«, eine fensterreiche, ziemlich aufwendig ausgestaltete Kabine im sonst sehr funktionellen Raumschiff. Der dunkel getäfelte Boden, die hellen Wände, die Halogenlampen und das kuppelförmige Panoramafenster an der Decke gaben der Crew ein Gefühl für »oben« und »unten«. Astronauten schweben ja in völliger Schwerelosigkeit und in beliebigen Positionen wie Embryos im Mutterleib. Gelegentlich halten sie sich beim Essen an einem Fußgriff fest. Die Luft ist angenehm warm, sodass die Raumfahrer lockere Kleidung tragen. Die gelöste Esshaltung und der freie Blick ins All haben ihre Gespräche bestimmt beflügelt.

EIN ORKAN AM OSTERFEST

Saturn wartete den irdischen Besuchern gleich bei ihrer Ankunft mit einer sensationellen Überraschung auf: Seit dem 28. März hatte sich ein Großer Weißer Fleck zu bilden begonnen. Auf der gasförmigen Oberfläche des Riesenplaneten tobte ein gewaltiger, auf über 20’000 Kilometer Durchmesser anwachsender Wirbelsturm!4 Die blendend weiße Farbe stammt von Eiskristallen aus gefrorenem Ammoniak. Sie werden von einer kräftigen Aufwärtsströmung weit über die gelbliche Dunstschicht, die scheinbare Saturnoberfläche, hinaus getragen. Das unerwartete Phänomen war Anlass zu einem morgendlichen Gespräch der beiden Besatzungsmitglieder über das Entstehen von Neuem.

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Abb. 1: Im Jahre 1994 bildete sich auf Saturn ein Großer Weißer Fleck aus Eiskristallen von Ammoniak, der etwa den Durchmesser der Erde hatte. Im Bild des Hubble-Teleskops liegt er genau in der Mitte des Planeten, etwas links unterhalb des Rings. (Foto: NASA)

NW: »Der weiße Wirbelsturm auf der Saturnoberfläche zieht mich gewaltig in seinen Bann. Vorhin habe ich ihn durch unser Bordteleskop bewundert. Welch ein Schauspiel! Jedes Mal wenn ihn die rasche Umdrehung des Planeten wieder ins Gesichtsfeld bringt, begrüße ich ihn wie einen Hauch von Frühling in der Winterkälte.«

TH: »Zumal wir einen exzellenten Logenplatz haben. Der Orkan muss ungeheure Kräfte entfesseln. Auch mir kommt er vor wie ein Lebenskeim in einer Welt des Todes.«

NW: »Am meisten fasziniert mich die Geschwindigkeit, mit der sich der Sturm vor unseren Augen aufbaut. Hier ist fast schlagartig etwas Neues entstanden. Eine dynamische Struktur bildet sich plötzlich heraus.«

TH: »Was löst ein derartiges Wirbelsystem in der Saturnatmosphäre so unverhofft aus? Wie kann eigentlich etwas Neues entstehen?«

NW: »Auf diesem Planeten gibt es keine Meere, Berge oder Vulkane, ja überhaupt keine eigentliche Oberfläche. Sein fester Kern ist verschwindend klein. Saturn besteht praktisch nur aus Gas, das viel gleichförmiger ist als etwa die irdische Luft. Trotzdem ist seine Atmosphäre kein geschlossenes, im Gleichgewicht ruhendes System. Das Innere des Planeten ist viel wärmer als die äußere Schicht. Kleine, zufällige Strömungen in der Atmosphäre können dieses gewaltige Energiepotenzial anzapfen und sich selbst verstärken. Ammoniakreiches Gas aus der Tiefe wird in große Höhen geschleudert und gefriert dort zu weißen Eiskristallen aus, die wie eine irdische Eiswolke den Weißen Fleck erzeugen. Ein Orkan ist entstanden – ein typisches Beispiel von Selbstorganisation in der Natur.5 Weil sich eine zufällige Anfangsfluktuation im Gewoge der Wärmebewegungen laufend verstärkt, bildet sich von selbst ein Wirbel.«

TH: »Ich staune darüber, dass eine scheinbar tote Wolkenschicht die Fähigkeit hat, spontan einen großflächigen Wirbelsturm hervorzubringen. Aus einem brodelnden Meer bilden sich geordnete Strukturen heraus. Nicht einmal ihr Physiker könnt es voraussagen.«

NW: »Die Naturwissenschaft hat sich tatsächlich dafür sensibilisieren lassen, dass das Morgen ganz anders sein kann als das Gestern und Heute, obwohl durchweg die Gesetze von Ursache und Wirkung gelten. Es war eine große Entdeckung des 20. Jahrhunderts, dass gerade aus einer thermischen Unordnung Strukturen entstehen können, wenn sie durch einen Rückkoppelungseffekt aufgeschaukelt werden.«

TH: »Eine neue Ordnung entsteht aus dem Chaos! Die Schöpfung ist nicht auf den Anfang beschränkt, sondern geht noch heute weiter.«

NW: »Ich kann deine Begeisterung teilen. Aber mir ist es dabei nicht ganz geheuer. Ich befürchte, dass du nun dem Zauber des Neuen verfällst. Wirklich ›neu‹ ist in der Welt der Physik gar nichts. Wirbelsysteme bilden sich auf Saturn in ziemlich regelmäßigen Zeitabständen. Sie entstehen keineswegs aus dem Nichts. Kein Atom ist neu, keine zusätzliche Energie tritt auf.«

TH: »Jetzt schreckst du vor dem Neuem zurück und ebnest es wieder in die Vergangenheit ein. Alles ist schon einmal da gewesen.«

NW: »Der Begriff ›neu‹ erscheint in keiner physikalischen Formel. Es ist aber durchaus sinnvoll, dort von Neuem zu sprechen, wo sich spontan ein bestimmtes Muster bildet; ganz besonders dort, wo es zum ersten Mal in der Geschichte des Universums geschieht. Nur: All dies entsteht durch selbst organisierende Prozesse. Ich vermute aber, du jagst dem Neuen nach, weil du in ihm die Hand des Schöpfergottes suchst.«

TH: »Dein Verdacht trifft zu. Wenn ich nach dem Ursprung des Neuen frage, geht es mir um einen Berührungspunkt von Physik und Religion.«

NW: »Das Neue, das die Naturwissenschaft beobachtet, bedarf aber keiner speziellen Anfangsbedingungen, keiner externen Kräfte und schon gar keiner extraphysikalischen Faktoren. Die Kausalität wird nicht unterbrochen, und wenn der Zufall mitspielt, ist er ziellos.«

TH: »Ich bin jetzt gar nicht auf unerklärliche Mirakel aus. In ganz ›natürlich‹ verlaufenden Prozessen geschieht etwas Neues und Wunderbares. Ein Kind wird geboren. Ein Mensch erfährt unerwartet Rettung aus Todesgefahr. Es gibt Tage, an denen man die Welt wie am ersten Schöpfungsmorgen sieht. Offenbar bekommt hier eine andere Art der Wahrnehmung Raum.«

NW: »Ich befürchte, wir sprechen nicht mehr vom selben. Das Neue, das du im Sinn hast, ist doch ganz subjektiv.«

TH: »Das ist die Frage. Du selbst gibst zu, dass es im streng physikalischen Sinn kein Neues gibt. Der Begriff impliziert ein Subjekt, das einem Neuen, noch nie Dagewesenen begegnet. Im Neuen durchdringen sich ›Subjektives‹ und ›Objektives‹. Dies macht seinen enormen Reiz verständlich. Aber lass uns später darauf zurückkommen. Jetzt bin ich gespannt, was uns in der Biozone alles an Neuem erwartet. Ich glaube, wir können heute die ersten Früchte der Ambrosia, unserer neuen Kreuzung von Passionsfrucht und Granatapfel, ernten.«

Anscheinend wandten sich die Astronauten den üblichen landwirtschaftlichen Arbeiten in der Experimental Division for Ecology and Nutrition (EDEN), der Biozone des Raumschiffs, zu. Gern wüßten wir, ob sie auch in dieser künstlichen Lebensoase mitten im Weltraum ihre Gedanken über das Entstehen von Neuem und von göttlichen Kräften hinter dem Pflanzenwachstum weiterverfolgt haben. Immerhin erinnert ein vereinzeltes Nachtbuchfragment von TH daran, dass im weitgehend automatisierten EDEN das Goldene Zeitalter unter Saturns Herrschaft wiederkehre, wo »ganz von selbst die kornspendende Erde Frucht in Hülle und Fülle trug«.6

Am achten Schöpfungstag

Zum Mittagessen genehmigte sich das Team offenbar einen Fruchtcocktail aus der nur in Schwerelosigkeit züchtbaren Ambrosia-Frucht. Die Bereicherung des kulinarisch eher eintönigen Speisezettels aus den Aquakulturen scheint etwas Feststimmung erzeugt zu haben. Der Stimmenrekorder hielt die folgende Aufzeichnung fest.

TH: »Heute wird auf der Erde das Osterfest gefeiert. Da steigt in mir eine eigenartige Assoziation zu unserem Gespräch über Saturns Wirbelsturm auf. Mich erinnert diese aus dem Chaos spontan entstehende Ordnung an die Osterbotschaft vom Leben, das aus dem Tod hervorgeht.«

NW: »Ein wahrhaft kühner Sprung von der Atmosphärenphysik in die Theologie! Wie kommst du darauf?«

TH: »Ich möchte etwas irdische Osterstimmung in unsere Raumschiffkabine zaubern und taste nach einem inneren Zusammenhang: Zur Ostersymbolik gehört seit alters der Übergang vom Karfreitag zum Ostermorgen, vom Tod zur Auferstehung, von der Finsternis zum Licht.«

NW: »Leider weiß ich kaum etwas über Ostern. Was du andeutest, klingt reichlich vage. Gibt es überhaupt objektive Fakten?«

TH: »Die Evangelien erzählen davon, dass die Anhänger einer religiösen Gruppe durch die Hinrichtung ihres Meisters und Lehrers in eine tiefe Krise stürzen. Mitten in dieser Krise machen sie eine überwältigende Grenzerfahrung, die ihnen eine tragende Hoffnung und eine dauerhafte neue Orientierung schenkt. Ihrer Aussage zufolge ist der gekreuzigte Jesus auferstanden; das Leben hat damit den Tod unwiderruflich überwunden.«

NW: »Die Beobachtungslage erscheint mir, gelinde gesagt, etwas dürftig. Unser Teleskop ARGOS kann zwar in die Vergangenheit des Universums, aber leider nicht in jene der Erde zurückblicken. Sonst hätte ich unser Gespräch gern durch einige Messungen präzisiert.«

TH: »Die Ostergeschichte übermittelt keine Beobachtungsdaten. Aber sie zeugt von intensiven Erfahrungen, die einen prägenden Einfluss auf das künftige Leben dieser Menschen hatten. Auch dies ist Wirklichkeit! Aus der zerstreuten Schar wurde eine lebendige Gemeinschaft, aus der Verzweiflung bildete sich Hoffnung.«

NW: »Dies sind die subjektiven Erfahrungen einer antiken Sekte. Es lässt sich darin beim besten Willen keine objektive Wahrheit finden.«

TH: »Religiöse Erfahrungen entziehen sich deinen Kriterien von Objektivität. Dies gilt aber auch für viele andere menschliche Erfahrungen. So lebt die Kunst von Wahrnehmungen, die auf ein Subjekt angewiesen sind und die Grenzen des Objektivierbaren sprengen. Auch religiöse Wahrheiten erschließen sich nur, indem Menschen bestimmte Erfahrungen miteinander teilen. Sie stehen uns auch heute offen.«

Das Gespräch wurde kurz durch das Aufwärmen des Hauptgerichts unterbrochen. Die Astronauten essen zur Vermeidung von wegschwebenden Krümeln im schwerelosen Zustand ohne Besteck. Sie drücken sich die in Portionenbeutel abgefüllten Speisen und Getränke direkt in den Mund. Ihren Bemerkungen zufolge steigert diese Rückkehr zur frühkindlichen Nahrungsaufnahme den Essgenuss, nachdem einmal die ersten Widerstände überwunden sind – möglicherweise als mütterliches Gegengewicht zur Kälte und Funktionalität ihrer Raumstation. Ob die Stille der entvölkerten HERMES TRISMÉGISTOS oder das festliche Essen NW gesprächiger als sonst machten, wissen wir nicht. Anscheinend kam ihm das ungewöhnliche Gesprächsthema in der neuen Zweisamkeit sehr gelegen.

NW: »Schau! Die Sonne geht in der feinen, blauen Dunstschicht über der orangen Sichel von Titan wie ein Brillant auf. Wie du sagst: Wir gelangen aus der Finsternis ins Licht. Ich kann aber nicht verstehen, welche Brücke du nun zwischen Ostern und dem Wirbelsturm in Saturns Atmosphäre schlagen willst.«

TH: »Betrachte es als ein Experiment, entstanden unter den außerordentlichen Bedingungen im Reich Saturns. Voraussetzung meines Gedankenspiels ist eine urchristliche Überzeugung: Die Ereignisse von Kreuz und Auferstehung haben eine kosmische Dimension. Mitten in der alten Welt ereignet sich überraschend eine Neuschöpfung.7 Taucht dieses Muster nicht wieder auf in jenen Naturvorgängen, wo sich inmitten von wachsenden Turbulenzen sprunghaft ein neuer, relativ stabiler Zustand etabliert? Das Kreuz steht für den Prozess der Auflösung von Strukturen; die bestehende Ordnung zerfällt oder zerbricht. Dagegen markiert die Auferstehung eine neue Struktur, eine Ordnung, die sich spontan aus dem Chaos heraus bildet.«

NW: »Du versuchst also, alte religiöse Überzeugungen und modernes Wissen aufeinander zu beziehen. Kannst du schon eine Hypothese formulieren?«

TH: »Meine Vermutung ist die folgende: Die Ostergeschichte gibt uns wie durch einen schmalen Spalt, wie durch ein Schlüsselloch einen Blick frei auf das Wirken Gottes in der Welt. Sie zeigt sozusagen die Innenseite der Welt, das Geheimnis ihrer Herkunft und ihrer Zukunft. Im Kreuz versinkt die alte ›Raumzeit‹, in der Auferstehung spannt sich die neue ›Raumzeit‹ auf. Wenn man sich von diesem Gedanken leiten lässt, so wird man überall im Universum wieder auf österliche Spuren stoßen. Die Bewegungen des gesamten Kosmos spiegeln dann jenes einzigartige Geschehen wider.«

NW: »Lassen sich von der Ostergeschichte her überhaupt kosmologische Aussagen formulieren? Hier geht es doch eher um Fragen des menschlichen Heils und der Erlösung. Dies war jedenfalls mein Haupteindruck von der christlichen Verkündigung.«

TH: »Tatsächlich verfolge ich eine Linie abseits des Hauptstroms theologischen Denkens. Immerhin haben bereits die antiken Christen Kreuz und Auferstehung als zentrale kosmische Sinnbilder gedeutet. So erkannten die ersten christlichen Philosophen das Kreuz in Platons Weltseele wieder, die sich in Form eines X um die Erde spannt, nämlich in den zwei Kreisen der Ekliptik und des Äquators.8 Um Golgatha drehte sich der Kosmos, das Kreuz reichte vom höchsten Himmel bis in die Unterwelt und verband alle Dimensionen der Welt. Noch viel offensichtlicher verwiesen die rhythmischen Vorgänge in der Natur auf die Auferstehung. Diese umfassende Symbolik ist für uns neuzeitliche Menschen leider nicht mehr leicht zu verstehen. Wenn ich auf die Thermodynamik und die Evolution ausgreife, versuche ich, den alten Impulsen ein neues Feld aufzutun.«

NW: »Deine Deutung von Ostern erinnert mich daran, wie der Kreislauf der Natur von vielen Religionen rituell und mythisch vergegenwärtigt wird: Aus dem Tod entspringt neues Leben, etwa mit dem Ende des Winters oder in heißen Gegenden nach der alles versengenden Sommerhitze.«

TH: »Sicher: Karfreitag und Ostern greifen die universale Symbolik des Stirb und Werde auf. Aber zugleich setzt die Auferstehungsbotschaft einen besonderen Akzent: Es geht hier um etwas fundamental Neues, das vor dem noch nicht da war. Der Durchbruch des Lebens aus dem Tod hat endgültigen Charakter; er führt aus dem unaufhörlichen Kreislauf von Tod und Leben heraus. In dieser Hinsicht unterscheidet sich das Ostergeschehen von den zyklischen Vorstellungen vieler alter Religionen. Für die Christen wird Jesu Auferstehung zum Brennpunkt eines neuen Schöpfungsgeschehens mitten in der Geschichte: An Ostern ereignet sich der achte Schöpfungstag!«9

NW: »Der achte Tag? Ich kann dir so weit folgen, als in der Evolution des Universums und des Lebens immer wieder neue Strukturen entstehen, die es zuvor nicht gegeben hat. Insofern hat die Wissenschaft die alten zyklischen Vorstellungen hinter sich gelassen. Aber damit sind wir noch längst nicht bei deiner wunderbaren unvergänglichen Welt angelangt, die du offenbar mit Ostern assoziierst.«

TH: »Zugegeben: Die Neuschöpfung, die mit Ostern beginnt, weist über die gegenwärtige Raumzeit hinaus. Aber zugleich sensibilisiert sie mich für all die Prozesse in der Natur, wo sich neue Strukturen und Ordnungen herausbilden. Bereits in der gegenwärtigen Welt schafft Gott immer wieder Unerwartetes und Neues.«

NW: »Ostern scheint für dich also so etwas wie ein Musterfall für das neue Schöpfungswirken Gottes zu sein. Als empirischer Wissenschaftler bin ich mit einem einzigen Test nicht zufrieden. Kannst du mir noch andere Stichproben anbieten?«

TH: »Ostern steht nicht isoliert: Die Geschichte Jesu verdichtet nämlich die gesamten Geschichtserfahrungen Israels. Das Alte Testament gibt davon Zeugnis, wie sich Gott gerade in kritischen Situationen immer wieder neu wahrnehmen lässt. So führt er Israel aus Ägypten in eine ungewisse Zukunft hinaus, mitten in die Wüste hinein. Später wird das Gottesvolk im Elend des babylonischen Exils überrascht vom Erlass des Perserkönigs, der ihm die Heimkehr ermöglicht.10 Immer wieder stellen die Propheten Israel vor seinen drohenden Untergang und versuchen seine Augen dafür zu öffnen, dass Gott in einer gänzlich unerwarteten und neuen Weise Leben und weiten Raum gibt. Es kommt mir sehr gelegen, dass Saturn, unser Gastgeber, in der Antike auch als Stern der Juden galt.«11

NW: »Mit dem Entstehen von Neuem in der Natur hat das alles aber nichts zu tun.«

TH: »Du hast zwar Recht: Die biblische Tradition nimmt das Neue primär im Feld der menschlichen Geschichte wahr. Aber man erkennt hier das Wirken desselben Gottes, der die Welt ins Sein rief und fortan erhält. Die Rettung Israels aus Babylon wird gefeiert, als hätte sich eine neue Schöpfung ereignet.«

NW: »Auch wenn sich bestimmte geschichtliche Ereignisse mit den dynamischen Entwicklungssprüngen des Universums vergleichen lassen, bleibt die Frage: Was bringt es, religiöse Vorstellungen bis in die Natur hinein auszudehnen? Der Erfolg der modernen Naturwissenschaften besteht doch gerade im Verzicht darauf, die Natur von mythologischen Mustern her zu deuten. Wir müssen diese Diskussion ein anderes Mal fortführen. Eben sehe ich, dass sich unsere Kollegen wieder melden. Sie schwenken jetzt in eine Umlaufbahn um Titan ein.«

Das Stichwort der Mythologie gibt uns Anlass zu einer Bemerkung über die Doppelnamen vieler Weltraumgefährte. Das Hauptschiff der Saturnmission heißt sowohl HERMES TRISMÉGISTOS, nach dem griechisch-ägyptischen »Dreimalgrößten Hermes-Thot«, dem Gott der Schrift, der Zahlen und der Bücher, wie auch Human Transfer Module (HTM). Die doppelte Namengebung spiegelt einen denkwürdigen Generationenkonflikt in der IASA-Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit. Die älteren technocrats verfechten konsequent Akronyme, d.h. Abkürzungen funktionaler Bezeichnungen. Sie wollen damit an die Begeisterung der Steuerzahler für Neuentwicklungen in der Weltraumtechnik appellieren. Die neoclassicals machen demgegenüber auf das abnehmende Technikinteresse aufmerksam. Sie empfehlen Namen aus der griechischen Mythologie, um an die Urbilder der menschlichen Psyche anzuknüpfen. So galt der Götterbote Hermes als Schutzherr der Reisenden, als Erfinder der Astronomie, als geflügelter Geleiter in die Unterwelt und schließlich als Offenbarer verborgener Weisheit. Die technocrats wiederum stemmen sich mit aller Kraft gegen diese angeblich verstaubten Relikte aus der antiken Mottenkiste. Die IASA als weltanschaulich neutrale und durch Geldknappheit arg bedrängte Institution entschied sich schließlich, mittels Doppelnamen ein größtmögliches Publikum anzusprechen.

Unterdessen hatten die beiden Astronauten ihr Mittagessen beendet und ließen sich für einige Zeit schwerelos in der Aussichtskuppel herumtreiben. Obschon sie sich längst an den ungewöhnlichen Zustand gewöhnt hatten, scheint ihr absichtsloses Gleiten, befreit von der Erdgravitation, öfter einen intensiven Zustand körperlicher und emotionaler Entspannung ausgelöst zu haben, der mit den während ihres langen Flugs häufig auftauchenden Empfindungen von Monotonie und Verlassenheit markant kontrastierte.

NW: »Du hast von der Auferstehung gesprochen. Mir ist ziemlich schleierhaft, was an Ostern wirklich geschah. Außer den Jüngern schien den meisten Bewohnern von Jerusalem an diesem Tag nichts Nennenswertes aufgefallen zu sein.«

TH: »Historisch gesehen wissen wir leider fast nichts über die Oster-Erfahrungen des Jesuskreises. Aber so viel lässt sich erschließen: Während der Passion Jesu geraten seine Anhängerinnen und Anhänger zunehmend in eine tiefe Krisenerfahrung. Alles scheint für sie zusammenzubrechen; verstört kehren sie in ihre Heimat zurück, nach Galiläa. Dort aber geschieht etwas Umstürzendes: Viele von ihnen werden von einer einzigartigen Vision überrascht, in der sich ihnen Jesus in einem Leib aus Licht offenbart, strahlend in himmlischer Herrlichkeit. Dies verändert ihre Perspektiven und ihr Leben völlig. Der vordem so hoffnungslos verriegelte Raum steht offen.«

NW: »Offenbar gehst du nicht davon aus, dass Jesus nach seiner Kreuzigung sein Grab wieder verlassen hat, sondern sprichst vorsichtiger von einer Vision. Ich habe vor vielen Jahren einmal mit einem Gläubigen eine heftige Diskussion darüber geführt, ob ein wirklich Verstorbener wieder körperlich in unsere Welt zurückkehren kann. Das wäre ja ein besserer Vampir! Vor allem konnte mir mein Gesprächspartner damals nicht erklären, wohin denn der Wiederbelebte auf seiner Himmelfahrt gereist sei. Als Astronaut wollte ich darüber etwas Präzises wissen!«

TH: »An diesem Punkt rennst du bei mir offene Türen ein! Eine Videokamera hätte den auferstandenen Jesus nicht filmen können. Mit dem Leib aus Licht meine ich keine Photonenwolke. Bei den Erscheinungen muss es sich also um eine besondere Art von Vision gehandelt haben.«

NW: »Visionen?! Hier stellt sich für mich ein Problem: Warum bekommen ausgerechnet Halluzinationen eine derartige Bedeutung für eine ganze Weltreligion? Das Muster ›Strukturbildung aus dem Chaos‹ lässt sich ebenso gut auf psychotische Zustände anwenden. Auch Geisteskranke haben sich schon in einem derartigen Ordnungsmuster situiert. Halluzinationen können hier eine gewisse Rolle spielen. Haben die Jesusjünger ihre Krise mit Hilfe von Halluzinationen verarbeitet?«

TH: »Ich ziehe es vor, von Visionen anstatt von Halluzinationen zu sprechen, auch wenn es von außen gesehen fast unmöglich ist, sie zu unterscheiden. In einer echten Vision kommt es zu einer Art von Wahrnehmung, worin sich eine sonst verborgene Dimension der Wirklichkeit enthüllt. Eine Vision verdankt sich der Öffnung eines inneren Auges, entsteht also in einem höheren Bewusstseinszustand.«

NW: »Du differenzierst mit Hilfe fragwürdiger Wertungen. Ich kann weder mit dem ›Höheren‹ noch mit der ›verborgenen Dimension‹ etwas anfangen. Visionen und Halluzinationen sind für mich dasselbe.«

TH: »Wahrscheinlich gibt das Leben selbst ein hilfreiches Kriterium für ihre Unterscheidung an die Hand: Visionen können Erleben und Verhalten von Menschen tief greifend beeinflussen, während Halluzinationen längerfristig kaum wirksame Folgen zeitigen. ›An ihren Früchten werdet ihr sie erkennend‹!12 Außerdem sind höhere Bewusstseinszustände nicht um ein letztlich defensives psychisches Muster organisiert wie bei manchen Psychotikern, sondern öffnen eine Fülle von Erfahrungsräumen, die in gewöhnlichen Bewusstseinszuständen nicht zugänglich sind. Der neue psychische Zustand, von dem ich gesprochen habe, gerinnt dann nicht zu einer starren Struktur, sondern bleibt im Fluss; er ist von Dynamik und Offenheit gezeichnet.«

NW: »Nun gut, die extremen und zugleich monotonen Außenbedingungen hier draußen versetzen auch mich manchmal in eigenartige Stimmungen. Vor den Gefahren von Wahrnehmungsstörungen und Realitätsverlust haben uns die astropsychiatrischen Trainer oft gewarnt.«

TH: »Was Wirklichkeit eigentlich ist, lässt sich bekanntlich sehr verschieden beurteilen. Sicher sensibilisiert uns dieser exotische Aufenthaltsort für die Möglichkeit von anderen Bewusstseinszuständen und für Grenzerfahrungen. Die Frage, ob es sich dabei um krankhafte Phänomene handelt oder um echte Wahrnehmungen dessen, was die Welt in der Tiefe trägt, können wir nicht an die Psychiatrie delegieren. Religion lässt sich nicht auf Psychopathologie reduzieren.«

NW: »Warum nicht? Du selbst hast von absonderlichen Bewusstseinszuständen und von Visionen gesprochen.«

TH: »Religion hat es nicht primär mit Derartigem zu tun. Sie gibt im alltäglichen Leben Orientierung und Sinndeutung, sie hat therapeutische und kulturelle Funktionen. Diese integrierende Kraft aber schöpft sie aus Grenzerfahrungen und Bewusstseinserweiterungen, wie sie besonders für Prophetie und Mystik typisch sind.«

NW: »Gewiss macht fast jeder Mensch Erfahrungen, in denen er etwa einer Harmonie innewerden kann, die im gesamten Kosmos widerhallt und die dem eigenen begrenzten Leben einen tieferen Sinn verleiht. Für mich ist die Empfindung der Schönheit und der Dynamik, die das Universum auszeichnet, eine elementare Triebkraft für mein wissenschaftliches Arbeiten und meine langen Ausflüge ins All. Offenbar verstehst du die Visionen der Jesusanhänger in einem ähnlichen Sinn.«

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Abb. 2: Ein Bild von Titan im optischen Licht aufgenommen, hier von Voyager 1, zeigt wenig Strukturen. Ein undurchsichtiger, orangefarbiger Schleier von Aerosolen umgibt den Mond auf einer Höhe von einigen hundert Kilometern. Es ist noch unklar, warum die Nordhemisphäre etwas dunkler ist. Titan ist der einzige Mond im Sonnensystem mit einer dichten Atmosphäre. (Foto: NASA)

Mit kosmischen Stimmungen hat auch der folgende Text zu tun. Seit der Trennung von den Titanauten pflegte TH vermehrt am späten Abend persönliche oder reflektierende Beiträge seinem digitalen »Nachtbuch« anzuvertrauen.

In der Sphäre Saturns: Aus dem Nachtbuch von TH (4. April)

Eben habe ich mich vom Observatorium in das Hauptmodul des Raumschiffes herübergehangelt. Durch das Bordfenster leuchtet Titan, eine scheinbar unbewegliche, orangefarbene Kugel, über zehnmal so groß wie unser irdischer Mond von der Erde aus gesehen. Er ist von einer dichten Atmosphäre umhüllt, die dem menschlichen Auge keine wahrnehmbaren Strukturen bietet. Auf welche Geheimnisse mag die Expedition dort drüben wohl stoßen? Die ferne heimatliche Erde vermag ich kaum noch auszumachen, und auch die Sonne gleicht nur noch einer hellen Glühbirne in tiefer, dunkler Nacht. Kein Laut dringt von außen in unsere geschützte Welt, nur das Lüftungssystem summt, und der Funkverkehr mit Titanlander ORPHEUS, gelegentlich auch mit der Erde, durchbricht das tiefe Schweigen.

Der etwas kleiner wirkende, ringgeschmückte Kugelkörper Saturns scheint durch das gegenüberliegende Bordfenster. Innert zehn Stunden dreht er sich um seine eigene Achse. Das Ringsystem mit seinen Millionen von Felsbrocken, das beim Anflug einen imposanten Anblick bot, sehen wir hier leider nur von der Seite. Da wir in derselben Ebene wie die Ringe und Monde kreisen, sind wir zu einem Teil des Saturnsystems geworden. Hell und glänzend schwebt der Riesenplanet im Raum, umstrahlt von einer kalten, eisigen Schönheit. So weit haben wir uns von der Erde entfernt, dieser von Leben geradezu überquellenden Insel inmitten einer gähnenden lebensfeindlichen Leere! Immer wieder staune ich, wie sich das Leben seinerzeit auf der Erde, einer abgelegenen Nische des tödlich kalten Weltraums, eingenistet hat, wie es dem Reich des Todes seine fragile Existenz immer wieder findig abtrotzen muss, ständig bedroht vom Vergehen. Die Lebensformen als kurz aufblitzende Funken mitten in den kosmischen Abgründen von Raum und Zeit …

Ich kann es noch kaum fassen, dass wir in der Sphäre Saturns weilen, also in jener Region, die für Antike und Mittelalter die Grenzzone bildete zwischen der planetaren Welt und derjenigen der Fixsterne und des Feuerhimmels, der höchsten Himmelskugel. Saturn – Hüter der Schwelle und Prinzip der Materie, Herr des Todes und Engel des Schicksals, Wächter über die Zeit und die karmischen Gesetze! Jenseits dieser Schwelle tat sich den Menschen einstmals die Sphäre des höchsten Gottes auf. Uns aber schwindelt angesichts der schieren Unermesslichkeit der Räume außerhalb unseres Sonnensystems, der Sternhaufen und der Galaxien. Die Ewigkeit des Himmels ist der Unermesslichkeit von Raum und Zeit gewichen.

Ein gestürzter Gott

Die Erinnerung an die wechselhafte Geschichte SaturnsKronos13