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Barbara Mürmann (Hg.)

Weihnachtsgeschichten am Kamin 28

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

Über Barbara Mürmann (Hg.)

Barbara Mürmann, geboren in Goslar, lebt heute als Autorin mit Mann und Hund in Hamburg. Dort leitet sie den Arezzo Musikverlag (E-Mail: weihnachtsgeschichten@winbot.de).

Über dieses Buch

Das schönste Weihnachtsgeschenk: eine vorgelesene Geschichte

 

Kinder spielen draußen im Schnee. Die Häuser sind geschmückt, und in der Luft hängt der Duft von frischen Plätzchen. Die Weihnachtszeit ist da! Nun beginnt das gemütliche Beisammensein. Alle warten gespannt auf das Christkind. Ob es das perfekte Geschenk dabeihat? Mit diesen herzerwärmenden, lustigen und nachdenklich stimmenden Weihnachtsgeschichten ganz bestimmt!

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, November 2013

Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung any.way, Cathrin Günther

(Foto: mauritius images/André Pöhlmann)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Printausgabe 978-3-499-26715-4 (1. Auflage 2013)

ISBN E-Book 978-3-644-50441-7

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-50441-7

Vorwort

Erinnern Sie sich noch daran, wie es in diesem Jahr zu Ostern aussah? Nicht nur in Hamburg mit Schnee und Kälte sehr weihnachtlich. Das, was viele am Ostersonnabend ärgerte, kam mir sehr gelegen. Mit einer Kanne Tee, Keksen und einer brennenden Kerze zog ich mich an den «Weihnachtsgeschichtentisch» zurück und begann, Ihre Beiträge für dieses Buch zu lesen. Nach einer Weile las ich in einer der Geschichten von weißen Christbaumkugeln. «Eier!», schoss es mir durch den Kopf. Ich hatte versprochen, für den Ostersonntag Eier zu färben. Im Stillen dankte ich dem Autor und kochte Eier, um sie dann irgendwann im Laufe des Abends zu färben. Ich wollte mich wieder den Weihnachtsgeschichten widmen, guckte aber vorsichtshalber noch einmal auf die Verpackung des Eierfärbemittels. «Halten Sie die Eier im Wasser heiß und beginnen Sie mit dem Färben», stand dort. Und schon war das weihnachtliche Osterchaos perfekt.

 

Auf dem Weihnachtsgeschichtentisch, auf dem noch wacker die Kerze brannte und der Tee dampfte, landeten nach und nach in einem Körbchen die gefärbten Ostereier neben dem Teller mit den Keksen, während es draußen wieder anfing zu schneien.

 

Dass Weihnachten und Ostern eng zusammengehören, konnte ich auch an meinen buntgefärbten Fingern feststellen, als ich endlich wieder zu meiner weihnachtlichen Lektüre zurückkehrte, die mir jedes Jahr wieder viel Freude bereitet und die Auswahl erschwert. An dieser Stelle ein Dankeschön an all diejenigen, die sich die Mühe machen, ihre Weihnachtsgeschichte aufzuschreiben und an mich zu senden.

 

Barbara Mürmann

Der kleine krumme Weihnachtsbaum

Marina Herbrik

Heiligabend fiel in diesem Jahr auf einen Montag. Zum Glück für alle, die erst am späten Morgen des 24. Dezembers loszogen, um einen Weihnachtsbaum zu kaufen.

Entweder, weil sie es schlicht vergessen hatten, oder weil sie – wie der Vater der kleinen Sophie – von ihren Partnern und Kindern doch noch überzeugt wurden, dass ein Christbaum einfach ein absolutes Muss war.

Eigentlich hatte Sophies Vater beschlossen, dieses Jahr keinen Weihnachtsbaum zu kaufen, sie hatten doch jedes Jahr einen. Außerdem war er teuer, nadelte und musste nach Heiligabend irgendwo entsorgt werden.

Da hatte der Vater die Rechnung aber ohne seine Familie gemacht. Seine Frau und vor allem seine kleine Tochter hatten ihn am Weihnachtsmorgen hartnäckig bearbeitet, dass Heiligabend ohne Christbaum einem Weltuntergang nahekäme. Also fuhr Papa los und klapperte die umliegenden Baumärkte ab, auf der Suche nach einem übrig gebliebenen, günstigen Tannenbaum.

Die Baumärkte waren wie leergefegt, es gab nur noch wenig Weihnachtsdekoration und erst recht keine Tannenbäume mehr. Zunehmend genervt, unter anderem wegen des Gedränges auf den Parkplätzen, steuerte der Vater die Eingangstür des letzten Baumarkts an und hatte Glück: Dort stand noch ein einziger Tannenbaum, ein rotes Band mit dem Preis hing an einem Zweig.

Zugegeben, er war nicht gerade ein Prachtstück; eine Nordmanntanne von kleinem unregelmäßigem Wuchs, deren Spitze etwas krumm war. Aber wenn man sich erst am Morgen des 24. Dezembers auf die Suche nach einem Weihnachtsbaum machte, musste man eben das nehmen, was die anderen übrig gelassen hatten. Immerhin war die Tanne günstig, dachte der Vater, als er den in ein Netz verpackten Baum ins Auto packte.

Daheim angekommen, lud er ihn aus, bugsierte ihn durch die Terrassentür und stellte ihn mit seiner Frau in den steinernen Christbaumständer. Seine Frau musterte beide, ihn und den Baum, stirnrunzelnd. «Na ja, schön ist er nicht mit der krummen Spitze, aber mit Christbaumschmuck wird’s schon gehen.»

Ihr Mann legte sich auf den Boden unter den Baum und zog die vier Schrauben im Ständer fest. «Mir wäre eine größere Tanne auch lieber gewesen. Ist sie gerade so?», brummte er durch die unteren Zweige.

«Ja, sieht so aus», sagte seine Frau, die den Stamm festhielt.

Da hüpfte die sechsjährige Sophie ins Wohnzimmer und sprang auf Papas Rücken, als der gerade unter dem Baum hervorkroch. Er stemmte Sophie ein paarmal hoch in die Luft, dass sie vor Vergnügen kreischte, und setzte sie wieder ab. Das Mädchen betrachtete die Tanne mit großen Augen. «So viele dünne Zweige, schade, dass ich nicht darauf sitzen kann.»

«Dieses Jahr wird es eben ein weniger prachtvoller Baum, Schatz», sagte die Mutter zu ihr.

«Aber besser als gar keiner.» Der Vater war schon ganz mit der Lichterkette beschäftigt, die sich einfach nicht entwirren ließ, während die Mutter eine rote Glaskugel nach der anderen in die Hand nahm und goldene Schnüre zum Aufhängen daran band.

Sophie ließ einen der unteren Zweige durch die Finger gleiten. «Wie weich der ist, der pikst gar nicht.» Sie steckte ihre Nase in die Zweige und atmete tief ein. «Und wie gut der riecht!»

Das Mädchen trat einen Schritt zurück, schlang die Arme um sich und sagte: «Ich find unseren Baum schön, so wie er ist.»

Sie drehte sich um zum Wohnzimmertisch und steckte sich eines von Mamas feinen Kokosplätzchen in den Mund. Plötzlich konnte man ein leises Ächzen und Knacken hören, als gerate etwas in Bewegung. Als Sophie sich wieder umdrehte, vergaß sie vor Erstaunen, das Plätzchen zu kauen. «Schaut nur!» Das Kind zeigte mit offenem Mund auf den Baum.

Da staunte die Familie nicht schlecht! Vor ihnen stand der schönste Nadelbaum, den sie jemals gesehen hatten. Aus der kleinen krummen Nordmanntanne war ein aufrechter Weihnachtsbaum geworden, mit kräftigen Zweigen und einer kerzengeraden Spitze bis knapp unter die Zimmerdecke. Sophies Vater blickte vollkommen ratlos zu seiner Frau, die ihm einen genauso überwältigten Blick zuwarf. Dann sahen sie beide zu ihrer Tochter.

Die strahlte übers ganze Gesicht, klatschte in die kleinen Hände und rief: «Ich hab ja gesagt, er ist schön. Jetzt ist richtig Weihnachten!»

 

Diese Geschichte zeigt, was aus manch einem werden kann, wenn er nur einen einzigen Menschen hat, der fest an ihn glaubt.

 

In diesem Sinn: Frohe Weihnachten!

Frau Holle in Neuseeland

Inge Holtbuer

Wenn im Advent die heiße Sonne um die Mittagszeit auf das Ziegeldach des kleinen Kolonialhauses prallte, flüchtete der neunjährige John gern unter die Dielen des auf Pfählen errichteten Hauses, wo es schön kühl war. Hier fand ihn selbst die Großmutter nicht, auch wenn sie noch so laut «Hans! Hans!» rufen mochte. Sie war die Einzige, die ihn mit diesem Namen rief, der die deutsche Übersetzung des englischen Namens John war.

Durch die Ritzen der Dielen konnte der Junge sehen, wie sie mit der Arbeit aufhörte, die Fensterläden schloss und sich aufs Bett legte, um für ein paar Minuten auszuruhen.

John hörte, wie die alte Frau mit sich selbst sprach. Sie erzählte sich Geschichten aus ihrer Kindheit in Deutschland, redete von Kälte und Frost, von Schlitten und Schnee. Das alles waren Wörter, die der kleine John wohl schon gehört hatte, unter denen er sich jedoch nichts Rechtes vorstellen konnte. Besonders das Wort «Schneeflocken» faszinierte ihn, denn oft hörte er die Großmutter seufzen: «Einmal möchte ich noch Schneeflocken sehen!»

John hätte der alten Frau diesen Wunsch gern erfüllt, denn er liebte seine Großmutter sehr, die als Kind aus Ostpreußen an die Nordspitze Neuseelands gekommen war. Sie las ihm oft Märchen vor, bei ihr hatte er Deutsch gelernt, denn in der Schule sprachen sie nur Englisch. Von allen Märchen hatte er das von Frau Holle, der Goldmarie und der Pechmarie am liebsten. Er nahm sich oft das Märchenbuch mit, wenn er sich unter den Dielen verkroch.

Eine Stelle in dem Märchen gefiel ihm besonders gut, und er kannte sie fast auswendig:

«Frau Holle sagte zu dem Mädchen: Du musst darauf achten, dass du mein Bett gut aufschüttelst, sodass die Federn fliegen, dann schneit es in der Welt. Darum sagt man in Deutschland, wenn es schneit: Frau Holle macht ihre Betten.»

Es gab ein Bild in dem Buch, auf dem über einer Wolke ein Mädchen ein Bett ausschüttelte, aus dem viele weiße Flocken und Sterne fielen. Darunter lagen die Erde und Häuser, Felder und Wälder; und alles war mit einer weißen Schicht – wie aus Zucker – bestreut. So sah es jedenfalls aus, aber von der Großmutter wusste er, dass es kein Zucker war, sondern Schnee. Die Erde sah dort drüben in Ostpreußen im Winter aus wie ein verwunschenes Zauberland.

Je näher das Weihnachtsfest rückte, desto mehr redete die alte Frau von Kälte, Frost und Schnee. Sie litt am meisten unter der Hitze. Dem kleinen John machte die Hitze nicht viel aus, obwohl er einen ziemlich langen Schulweg hatte. Doch er ging gern in die Schule und jetzt ganz besonders, da der Pastor mit den Kindern ein Krippenspiel einübte, das am Heiligabend vor der Gemeinde aufgeführt werden sollte, und John durfte den Verkündigungsengel singen, weil er eine schöne Stimme besaß.

Während des Krippenspiels musste er sich hinter der Altarwand versteckt halten. Wenn dann die Hirten kamen und auf den Altarstufen einschliefen, kletterte er eine Leiter hoch, erschien plötzlich über dem Altarbild und sang: «Vom Himmel hoch, da komm ich her!»

Bei den Proben klappte alles ganz toll, wenn auch der Text manchmal nicht ganz genau war, aber der Pastor meinte, die Hauptsache sei, dass die Kinder mit großer Freude bei der Sache wären. John gingen diese Worte sehr zu Herzen, wollte er doch so gern seiner Großmutter eine Freude bereiten, und überlegte, wie er es anstellen könnte, dass die alte Frau noch einmal Schneeflocken zu sehen bekäme.

Und dann hatte er eine Idee. Am Heiligen Abend war es besonders heiß, aber John beschwor seine Großmutter, unbedingt zum Krippenspiel zu kommen. Er ging zum Pastor und bat ihn, sie doch mit dem Auto abzuholen. Der Pastor war von dem Eifer des Jungen so gerührt, dass er ihm den Gefallen tat. John lief zu Fuß, denn er hatte das weiße Nachthemd vergessen, das er als Engel brauchte. Auf dem Rücken trug er einen großen Rucksack, sodass er wie ein Weihnachtsmann aussah.

Das Krippenspiel begann, und John versteckte sich mit seinem Rucksack hinter der Altarwand. Die Hirten kamen herein und sagten ihren Spruch auf. Als sie fertig waren, gähnten sie laut und legten sich auf die Stufen. Nun begann Johns Auftritt als Verkündigungsengel. Er krabbelte die Leiter hoch und erschien mit seinem blonden Haarschopf über dem Altar, sodass er von den geschnitzten Engelsköpfen kaum zu unterscheiden war. Seine helle Stimme schallte durch den Raum, als er sang: «Vom Himmel hoch, da komm ich her».

Alle hörten andächtig zu, und die Großmutter in der ersten Reihe weinte vor Freude und seufzte laut, denn sie dachte wieder an ihre Kindheit in Ostpreußen.

John schien nur auf das Seufzen gewartet zu haben, denn kaum hatte er sein Lied beendet, riss er den Rucksack auf, der neben ihm stand, und holte sein Daunenbett hervor, das ihm die Großmutter selbst genäht hatte. Er schnitt das Inlett mit einer Rasierklinge auf und schüttelte das Bett über der Altarwand aus. Dabei dachte er immer an die Worte von Frau Holle: «Du musst fleißig schütteln, dann schneit es in der Welt.»

Nun schneite es plötzlich am Heiligabend nicht nur in Deutschland, sondern auch im heißen Neuseeland, denn die Daunen und Federn wirbelten auf die Hirten hernieder, die vor dem Altar lagen. Verblüfft starrten die Hirten nach oben und glaubten an ein Wunder. Die Kinder saßen mit offenen Mündern da, denn so etwas hatten sie noch nie gesehen. Erst als die Großmutter rief: «Es schneit! Es schneit!», da wussten alle, was es war. Sie versuchten, das neue ungewohnte Wort nachzusprechen, und sprangen auf, um nach den «Schneeflocken» zu greifen.

Der Pastor wollte gerade losschimpfen, als er in Johns Gesicht sah. Er ahnte, was in dem Kopf und dem Herzen des kleinen Jungen vorging, und ließ ihn gewähren. Als das Krippenspiel längst zu Ende war und der Pastor seine Predigt hielt, flogen immer noch ein paar Flocken durch die Luft, und man sah nur fröhliche Gesichter. Mehrere Male musste der Pastor ein Lachen unterdrücken, wenn er in die mit weißen Daunen bedeckten Mitglieder seiner Gemeinde sah.

Als am Schluss des Gottesdienstes das Lied Leise rieselt der Schnee erklang, da wünschten sich wohl alle, dass Frau Holle noch einmal käme und es ordentlich schneien ließe, gerade so, wie es im Geburtsland von Johns Großmutter am Heiligabend geschah.

Doch John besaß nur ein Daunenbett und konnte seinen Auftritt leider nicht wiederholen.

Hans …, damals …

Joachim Frank

«Hans», sage ich, «Hans!», und dabei umfasse ich seine Hand so innig, wie man die Hand eines lieben Menschen nur umfassen kann. Ich bin völlig überrascht, geradezu überwältigt, Hans hier zu treffen, ja, ihn überhaupt noch einmal in meinem Leben wiederzusehen.

Ein bisschen kühl ist seine Hand, und die Knochen wirken zerbrechlich, aber sein Händedruck hat immer noch Festigkeit. Und während ich noch ganz verwirrt in seine klaren stahlblauen Augen schaue, die mich aus tiefen Augenhöhlen unter der vollen, schlohweißen Haarpracht mustern, weiß ich sofort, dass Hans mich nicht vergessen hat.

«Setz dich!», sagt Hans mit einer Stimme, die noch immer keinen Widerspruch zulässt.

 

Das letzte Mal hatte ich ihn vor mindestens zwanzig Jahren gesehen, als er sein Amt als Jugendtrainer des Traditionsvereins in die Hände eines Jüngeren gelegt hatte. Damals musste er bereits um die siebzig Jahre alt gewesen sein, und ich mit meinem jugendlichen Temperament und mit meiner Naivität war richtiggehend erleichtert gewesen, «den Alten», wie wir Hans hinter seinem Rücken nannten, endlich los zu sein und durch einen modernen Trainer ersetzt zu wissen.

 

Jetzt also, auf der diesjährigen Weihnachtsfeier unseres Vereins sitzt da plötzlich Hans, ein bisschen verloren inmitten üppiger Dekorationen und festlich geschmückter Tafeln, umschwirrt von emsigem Personal und modisch gekleideten Clubmitgliedern, von denen ihn nur noch wir alten Hasen kennen. Ich muss an Hans’ Abschied damals denken, an seinen letzten flammenden Appell, mit dem er nochmals nachdrücklich, geradezu vehement Tugenden anmahnte, die wir für längst überholt hielten. Seitdem hatte ich ihn nie mehr gesehen, denn zu keinem unserer Spiele war er je gekommen und auch zu keiner Jahreshauptversammlung oder Weihnachtsfeier. Und so war die Erinnerung an ihn allmählich verblasst, zu Anekdoten geronnen, wenn wir Spieler der «Alten Herren» uns beim Bier an frühere Zeiten erinnerten.

 

Und wie aus dem Nichts sitzt da dieser längst – längst! – tot geglaubte Mensch leibhaftig vor mir, und weil mir so gar nichts Sinnvolles einfallen will und ich ja auch nicht sagen kann: «Dass du noch lebst …», stammle ich immer noch ganz durcheinander: «Mensch, Hans … Wie geht’s dir denn?»

Hans hält immer noch meine Hand in seiner und sagt: «Warst ’n Guter – aber ’n Querkopf. Genauso wie der da …», und dabei deutet er mit einem leichten Lächeln auf Holger, meinen ewigen Rivalen damals auf der Königsposition, hinten links. In diesen Sekunden zieht mein ganzes Handballerleben an mir vorbei. Aber weil mir immer noch nichts Passendes einfallen will, frage ich Hans verlegen:

«Kann ich dir irgendetwas holen?»

«Setz dich einen Augenblick.» Er geht gar nicht auf meinen Unsinn ein und mustert mich mit seinen unglaublichen eisblauen Augen, vor denen ich sofort wieder zu seinem Schüler geworden bin.

«Siehst gut aus», befindet er. «Hast du Familie, Kinder?»

Knapp skizziere ich meine Situation.

«Gut so», sagt Hans.

 

Hans hat diese Weihnachtsfeier früh verlassen, was man bei seinem Alter ja nur zu gut verstehen kann, aber natürlich bleibt er das Gesprächsthema des Abends. Ganz automatisch kommen wir auf die Weihnachtsfeiern von früher zu sprechen.

An die primitive Sporthalle mit dem Fußboden aus Stein war ein karger Raum angeschlossen, in dem Besprechungen abgehalten wurden. Zu Weihnachten dekorierte Hans ihn mit ein wenig Tannengrün und ein paar Kerzen. In der Mitte stand ein großer Topf mit dampfendem Kakao, umgeben von Plattenkuchen und Puffer. Und jeder von uns Jungen bekam einen Beutel mit Äpfeln, Mandarinen und ein paar Süßigkeiten. Für uns war das damals schon etwas Besonderes. Doch bevor wir uns über die Leckereien hermachen durften, musste zu unserem Leidwesen gesungen werden. Drei oder vier Lieder. Vorsorglich hatte Hans überall Zettel mit den Texten ausgelegt, und wehe, wenn wir nicht laut genug sangen, dann wurde gnadenlos wiederholt, bis er zufrieden war. Ja, und schließlich las er uns auch immer noch eine Geschichte vor. Komischerweise jedes Jahr die gleiche, was ich natürlich entsetzlich langweilig fand, aber das mussten wir über uns ergehen lassen, wenn bereits der Duft von Kakao und Kuchen unwiderstehlich in die Nasen stieg.

Diese Geschichte handelte von einem Seemann, der durch die Wirren des Krieges seine Familie verloren hatte und wohl deshalb zur See fuhr, weil er nirgends ein Zuhause hatte. Dem war es egal, auch zu Weihnachten über die Meere zu fahren. Und statt unter einem Tannenbaum zu sitzen, hörte der am Heiligen Abend bloß Radio. Da gab es nämlich eine Sendung, die hieß Gruß an Bord und war speziell für Seeleute, die zu Weihnachten fern der Heimat waren. Und ganz plötzlich und obwohl das doch eigentlich gar nicht möglich war, riss diesen Seemann in dem Moment eine halb verrauschte Stimme aus seiner Einsamkeit, weil sie seinen Namen nannte und ihn von einer Schwester suchen und ganz, ganz herzlich grüßen ließ, wenn er sie denn nur hören könnte.

An dieser Stelle der Geschichte bekam Hans jedes Mal feuchte Augen, während wir uns ein Grinsen kaum noch verkneifen konnten – so jung waren wir damals. Nur mit Mühe konnte er die Geschichte zu Ende lesen, weil ihm die Stimme zu versagen drohte, während wir nur sehnsüchtig nach Kakao und Kuchen gierten.

 

Holger und ich erinnern uns mit Lachen und Wehmut an diese Weihnachtsfeiern. Beiläufig frage ich in die Runde:

«Mir ist nie klargeworden, warum Hans uns immer die gleiche Geschichte vorgelesen hat. Da hätte es doch so viele andere gegeben …»

Holger guckt mich verdutzt an und zögert noch einen Moment, bevor er antwortet: «Ja, weißt du denn nicht …, dass das seine Geschichte ist?»

Leise rieselt der Schnee

Ingo Paulußen

Sarah summte die Melodie des Weihnachtsliedes Leise rieselt der Schnee vor sich hin und ließ dabei ihre Blicke über den zugefrorenen Bach wandern. Eigentlich sah man von ihm nur noch eine von Büschen und Trauerweiden gesäumte Rinne, die sich in weiten Bögen durch die verschneite Winterlandschaft schlängelte, um sich irgendwo in der Ferne zu verlieren. Nur hier und da plätscherte Wasser unter den schneebedeckten Eisschollen hervor, so auch unter der Brücke.

Ja, er rieselte leise, der Schnee. Ganz still schwebte er in dicken Flocken aus dem grauen Himmel herab, um auch die Bachbrücke und ihr Geländer wie mit Zuckerwatte zuzudecken. Alles sah so geheimnisvoll aus. Die Büsche, die Bäume, selbst die Schilfhalme bogen sich unter mächtigen Schneemützen.

 

Sie liebte diese Brücke und den Bach, der im Sommer wie ein glitzernder Pfad in eine Märchenwelt zu führen schien. Dann wurden seine Ufer zu einem Reigen bunter Träume voller Leben, die sich in weiter Ferne mit dem Blau des Himmels vermischten. Im Winter war ihr Lieblingsplatz ein Ort geheimnisvoller Stille, an dem das Plätschern des Baches Geschichten aus einer anderen Welt erzählte. Wenn sie wie jetzt seinem Plätschern lauschte, erzählte er ihr die Geschichte von Mama und Papa. Die waren, wie auch der alte Hausmeister des Kinderheimes ihr bestätigt hatte, irgendwann an einem Sommertag an diesem Bach entlanggegangen und hatten wohl unbemerkt die Linie zum Horizont überschritten. Von dort aus, so meinte er, gebe es keinen Weg zurück in diese Welt.

Sarah konnte sich nicht an ihre Gesichter erinnern, sehnte sich aber sehr nach ihnen. Sie stellte sich die Welt, in der sie nun lebten, ganz anders als diese vor. Vielleicht schwebten sie nun wie Vögel zwischen all den bunten Träumen des Sommers, dem Himmelsblau und wunderschönen weißen Wolken. Ob es wirklich so war, konnte ihr auch der Bach nicht sagen, aber auf jeden Fall sollten sie in einer schöneren Welt leben.

 

Sie stützte seufzend ihr Kinn auf die Ärmel der warmen Winterjacke und blickte voller Sehnsucht auf die im Schnee verschwimmende Linie, an der Himmel und Erde zusammentrafen. Dicke Tränen rollten an ihren Wangen hinunter. Warum nur hatten Mama und Papa sie allein hier zurückgelassen? Dort, wo sie jetzt waren, mochte es ja wunderschön sein, aber konnte es wirklich etwas so Schönes geben, dass man sein Kind darüber vergaß? Wie oft hatte sie hier gesessen, ihre Füße ins Wasser gehalten und geweint, wenn der Bach ihr von den beiden erzählte, während sie blinzelnd zum Horizont starrte und nach dem Weg forschte, den sie gegangen sein mussten.

Nun hielt sie die Ungewissheit nicht mehr aus. Gestern Nacht hatte sie sich nach langem Zögern dazu entschlossen, nach ihnen zu suchen. Der Heilige Abend war der richtige Tag dafür. Zumindest hatte der Hausmeister behauptet, vor langer Zeit sei an diesem Tag ein großes Wunder geschehen, und würde sie nur fest genug daran glauben, könne heute auch für sie eines geschehen. O ja, sie glaubte fest daran, denn sie hatte davon geträumt, dass der Bach ihr am Heiligen Abend den Weg in die andere Welt weisen würde. Darauf wartete sie nun fiebernd. Ihn zu drängen, nützte nichts. Er gab nur Antworten, wenn er wollte.

 

Sarah kroch in sich zusammen, denn allmählich wurde ihr trotz der langen Unterwäsche, zwei Pullovern und der gefütterten Stiefel kalt. Handschuhe besaß sie leider nicht, dafür aber eine wärmende Wollmütze. Sie musste sich bewegen, musste rennen, um sich wieder aufzuwärmen, und sie würde auch nachher noch lange rennen müssen, denn der Weg zu Papa und Mama war bestimmt sehr weit.

Endlich, nach langem Betteln und nachdem sie ihm ihre Plätzchen überließ, die sie gemeinsam mit den anderen Kindern gebacken hatte, verriet der Bach ihr, welchen Weg sie gehen musste. Immer an seinem rechten Ufer entlang, bis dahin, wo Himmel und Erde zusammenstießen. Na ja, eigentlich hatte er nur bestätigt, was sie von den Erzieherinnen zufällig gehört hatte, aber denen traute sie nicht so recht. Ganz am Ende des Baches sollte diese Welt zu Ende sein und eine andere beginnen. Sobald sie dort angekommen war, würde sie unter zwei hohen Zäunen hindurchkriechen und dabei sehr vorsichtig sein müssen, denn zwischen ihnen sollten große, böse Hunde herumlaufen. Vor denen fürchtete sie sich jetzt schon, aber Mama und Papa würden sie ganz gewiss trösten, wenn sie auf der anderen Seite angekommen war.

Nach einem letzten Blick zurück gab sie sich einen Ruck und lief los. Immer am Bachufer entlang, an Bäumen und Büschen vorbei, die manchmal wie schneebedeckte Tiere aussahen. Einer könnte ein Elefant sein, ein anderer eine Ziege, sogar einen Igel entdeckte sie. Möglicherweise war es aber auch ein Stachelschweinbaby.

 

Wie weit sie gelaufen und wie oft sie dabei hingefallen war, wusste sie nicht, und sie fror entsetzlich, aber im Moment machte es ihr nichts aus, denn sie hatte den Zaun endlich erreicht. Fast wäre sie dagegengerannt. Der Schnee fiel mittlerweile so dicht, dass sie den Zaun erst im allerletzten Moment bemerkte und sich beim Stoppen auf den Po setzte. Den zweiten Zaun konnte sie zwischen den Flocken kaum erkennen. Beide zu überklettern wagte Sarah nicht, denn sie waren wirklich sehr hoch, und ganz obenauf ließ sich unter den Schneepolstern Stacheldraht erkennen. Da würde sie wohl kaum drübersteigen können, ohne sich furchtbar weh zu tun. Am unteren Ende musste man die Zäune tief im Boden befestigt haben, denn sie ließen sich selbst mit größter Anstrengung nicht hochziehen. Suchend tastete sie sich an den Maschen entlang. Ihre Finger fühlten sich vor Kälte schon richtig steif an. Für einen Augenblick hielt sie inne und steckte ihre Hände tief in die Jackentaschen. Viel nützte das leider nicht. Seufzend suchte sie weiter. Irgendwo musste es doch eine Möglichkeit geben, unter dem Zaun durchzukriechen. Ihrer Erfahrung nach gab es keinen Zaun ohne ein Loch.

 

Sie sollte mit ihrer Vermutung recht behalten, aber es dauerte noch lange, bis sie tatsächlich eine Stelle fand, an der mehrere Bodenbefestigungen nachgaben. Es schien, als hätte sie jemand absichtlich mit einem Werkzeug gelöst. Leicht würde das Durchkriechen dennoch nicht sein, denn der Draht war sehr stramm gespannt.

Sarah hauchte auf ihre brennenden Finger, bevor sie damit begann, sich wie eine Schlange unter den Zaun zu schieben. Die Fingerspitzen schmerzten fast so schlimm wie damals, als ihr in der baufälligen Scheune neben dem Kinderheim ein Balken auf die Hände gefallen war. Fast schon bereute sie ihren Entschluss, im Winter nach ihren Eltern suchen zu wollen, und wünschte sich nichts sehnlicher, als jetzt in einer warmen Badewanne zu sitzen. Mehrmals blieb sie hängen und zerriss letztlich auch noch ihre Jacke, bis sie es endlich geschafft hatte und schwer atmend auf dem Bauch liegen blieb, um zu horchen.

Von irgendwoher meinte sie, tatsächlich Hundegebell zu hören, und raffte sich keuchend auf. Hoffentlich fand sie auf der anderen Seite auch einen Durchschlupf. Mehr wankend als gehend erreichte sie den zweiten Zaun und begann mit der Suche nach losen Befestigungen. Diesmal jedoch hatte sie weniger Glück, und die Angst kroch ihr den Rücken herauf, denn nun war sie sicher, das Kläffen von großen Hunden zu hören. Vielleicht waren es ja auch böse Wölfe, wie der im Märchen von Rotkäppchen. Sie konnten nicht mehr weit entfernt sein, denn ihr Gebell wurde schnell lauter.

 

Auch andere Geräusche kamen näher. Es klang, als spräche jemand durch ein langes Rohr und würde mit seinem Mund zwischendurch immer mal wieder «Pft!» machen, bevor eine ähnliche Stimme antwortete. Auch die machte «Pft!», als sie zu Ende gesprochen hatte.

Hastig suchte Sarah weiter und wurde endlich fündig. Diesmal waren es jedoch nur wenige lose Maschen, deren Halterungen durchgerostet sein mussten. Sie zerrte mit aller Kraft an ihnen, aber die Öffnung wurde nicht groß genug, um auch nur den Kopf hindurchzubekommen.