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Horizonte der Psychiatrie und Psychotherapie – Karl Jaspers-Bibliothek

 

Herausgegeben von Matthias Bormuth, Andreas Heinz und Markus Jäger

Markus Jäger

Konzepte der Psychopathologie

Von Karl Jaspers zu den Ansätzen des 21. Jahrhunderts

Verlag W. Kohlhammer

Das Buch ist meiner Frau Stephanie und meinen Kindern Anna und Jakob gewidmet.

 

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1. Auflage 2016

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-029780-7

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-029781-4

epub:    ISBN 978-3-17-029782-1

mobi:    ISBN 978-3-17-029783-8

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Vorwort zur Reihe

 

 

 

 

Psychiatrie und Psychotherapie nehmen im Kanon der medizinischen Fächer eine besondere Stellung ein, sind sie doch gleichermaßen auf natur- wie kulturwissenschaftliche Methoden und Konzepte angewiesen. Bereits vor hundert Jahren wies der Arzt und Philosoph Karl Jaspers darauf hin, dass man sich im psychopathologischen Zugang zum Menschen nicht auf eine einzige umfassende Theorie stützen könne. So warnte er entsprechend vor einseitigen Perspektiven einer Hirn- bzw. Psychomythologie. Viel mehr forderte Jaspers dazu auf, die verschiedenen möglichen Zugangswege begrifflich scharf zu fassen und einer kritischen Reflexion zu unterziehen. Diese Mahnung zur kritischen Pluralität gilt heute ebenso, werden sowohl auf neurobiologischem als auch auf psychotherapeutischem bzw. sozialpsychiatrischem Gebiet nicht selten dogmatische Positionen vertreten, ohne dass andere Sichtweisen in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung ausreichend berücksichtigt würden.

Die Reihe »Horizonte der Psychiatrie und Psychotherapie – Karl Jaspers-Bibliothek« möchte die vielfältigen Zugangswege zum psychisch kranken Menschen in knappen Überblicken prägnant darstellen und die aktuelle Bedeutung der verschiedenen Ansätze für das psychiatrisch-psychotherapeutische Denken und Handeln aufzeigen. Dabei können viele Probleme im diagnostischen und therapeutischen Umgang mit den Menschen nur vor dem Hintergrund der zugrundeliegenden historischen Konzepte verstanden werden. Die »Karl Jaspers-Bibliothek« möchte den Leser dazu anregen, in solch pluralistischer und historisch weiter Horizontbildung den drängenden Fragen in Psychiatrie und Psychotherapie nachzugehen, wie sie die einzelnen Bandautoren entfalten werden. Ziel der Reihe ist hierbei auch, ein tieferes Bewusstsein für die begrifflichen Grundlagen unseres Wissens vom psychisch kranken Menschen zu entwickeln.

Oldenburg/Berlin/Günzburg

Matthias Bormuth, Andreas Heinz, Markus Jäger

Inhalt

 

 

 

 

  1. Vorwort zur Reihe
  2. Vorwort
  3. 1 Einführung und Begriffsbestimmung
  4. 2 Psychopathologische Methodenlehre von Karl Jaspers
  5. 2.1 Entstehung der Allgemeinen Psychopathologie
  6. 2.2 Methodische Grundlagen der Psychopathologie
  7. Gegenstand der Psychopathologie
  8. Überlegungen zum Leib-Seele-Problem
  9. Vorurteile in der Psychopathologie
  10. Methodologische statt theoretische Ordnung
  11. 2.3 Methoden der objektiven Psychopathologie
  12. Erfassen der objektiven Symptome
  13. Kausales Erklären
  14. 2.4 Methoden der subjektiven Psychopathologie
  15. Statisches Verstehen (Phänomenologie)
  16. Genetisches Verstehen
  17. 2.5 Beispiele für die Anwendung der Methoden
  18. Differenzierung von Wahnphänomenen
  19. Unterscheidung zwischen Prozess und Entwicklung
  20. 2.6 Überlegungen zu Nosologie und Diagnostik
  21. Skepsis gegenüber den traditionellen Krankheitsmodellen
  22. Einführung des Typuskonzeptes in die Psychopathologie
  23. Entwurf eines Diagnoseschemas
  24. 2.7 Bedeutung sozialer Faktoren
  25. 2.8 Veränderungen in der 4. Auflage der Allgemeinen Psychopathologie
  26. Überlegungen zur Methode des Verstehens
  27. Auseinandersetzung mit theoretischen Vorstellungen
  28. Veränderungen im Diagnoseschema
  29. Frage nach dem Wesen des Menschen
  30. Überlegungen zum Krankheitsbegriff
  31. 2.9 Weiterführung der Psychopathologie Karl Jaspers’
  32. 3 Klinische Psychopathologie bei Kurt Schneider
  33. 3.1 Entstehung der Klinischen Psychopathologie
  34. 3.2 Konzept eines empirischen Dualismus
  35. 3.3 Systematik der Klinischen Psychopathologie
  36. Krankheitsbegriff bei Kurt Schneider
  37. Somatosepostulat der endogenen Psychosen
  38. 3.4 Entwurf einer Typologie psychopathischer Persönlichkeiten
  39. 3.5 Konzept der abnormen Erlebnisreaktionen
  40. 3.6 Körperlich begründbare Psychosen
  41. 3.7 Differenzialtypologie zwischen Schizophrenie und Zyklothymie
  42. Herausarbeitung von charakteristischen Symptomen
  43. Symptome 1. und 2. Ranges
  44. 3.8 Überlegungen zur Psychopathologie der Triebe und Gefühle
  45. 3.9 Verhältnis zur Psychopathologie von Karl Jaspers
  46. Subjektive Psychopathologie und Symptome 1. Ranges
  47. Somatosepostulat und Diagnoseschema
  48. Anwendung des Typuskonzeptes
  49. 3.10 Weiterführung der Psychopathologie Kurt Schneiders
  50. 4 Tübinger Schule der Psychopathologie
  51. 4.1 Paranoialehre von Robert Gaupp
  52. 4.2 Konzept des sensitiven Beziehungswahns von Ernst Kretschmer
  53. Charaktertypen und spezifische Reaktionsformen
  54. Reaktive Wahnbildung und sensitiver Beziehungswahn
  55. Bedeutung eines mehrdimensionalen Ansatzes
  56. 4.3 Unterschiede zwischen Heidelberger und Tübinger Psychopathologie
  57. 4.4 Weiterführung der Tübinger Schule
  58. 5 Wernicke-Kleist-Leonhard Schule
  59. 5.1 Psychopathologische Konzepte bei Carl Wernicke
  60. Modell des psychischen Reflexbogens
  61. Anwendung auf die Ordnung psychopathologischer Symptome
  62. 5.2 Gehirnpathologie bei Karl Kleist
  63. 5.3 Psychopathologische Konzepte bei Karl Leonhard
  64. Psychologische Grundannahmen bei Leonhard
  65. Aufteilung der endogenen Psychosen
  66. Akzentuierte Persönlichkeiten
  67. 5.4 Wernicke-Kleist-Leonhard Schule im Vergleich zur Heidelberger Psychopathologie
  68. Bedeutung der verstehenden Psychopathologie bei Karl Leonhard
  69. Anwendung des Typuskonzeptes bei Karl Leonhard
  70. 5.5 Weiterführung der Wernicke-Kleist-Leonhard Schule
  71. 6 Gestaltpsychologischer Ansatz bei Klaus Conrad
  72. 6.1 Kritik an der Assoziationspsychologie
  73. 6.2 Gestaltanalyse am Beispiel des Wahns
  74. Trema, Apophänie und Apokalypse
  75. Konsolidierung und Residualzustand
  76. Verlaufstypen schizophrener Psychosen
  77. 6.3 Folgerungen für die psychiatrische Nosologie und Diagnostik
  78. 6.4 Primat von naturwissenschaftlichen Ansätzen
  79. 7 Psychopathologie in der Nachfolge von Kurt Schneider und Klaus Conrad
  80. 7.1 Strukturdynamik von Werner Janzarik
  81. Grundlagen der Strukturdynamik
  82. Strukturdynamik und neurobiologische Ansätze
  83. Bedeutung der Strukturdynamik für die forensische Psychiatrie
  84. 7.2 Psychopathologische Ansätze bei Gerd Huber
  85. Konzept der substratnahen Basisstörungen
  86. Verlaufstypologie schizophrener Psychosen
  87. Weiterführung des Basisstörungskonzeptes im Rahmen von Früherkennungsprogrammen
  88. 8 Psychopathologie unter dem Einfluss des logischen Empirismus
  89. 8.1 Psychiatrie und logischer Empirismus
  90. Philosophische Grundlagen des logischen Empirismus
  91. Eingang des logischen Empirismus in die Psychiatrie durch Carl Gustav Hempel
  92. Auseinandersetzung mit den methodischen Grundproblemen der Psychiatrie
  93. 8.2 Reliabilitätsprobleme in der psychiatrischen Diagnostik
  94. 8.3 Entwicklung von standardisierten Untersuchungsinstrumenten
  95. Befunderhebung mit dem AMDP-System
  96. Befunderhebung mit der Positive and Negative Syndrome Scale (PANSS)
  97. Befunderhebung mit der Hamilton Depression Scale (HAMD)
  98. Arbeiten mit quantitativen psychopathologischen Daten
  99. 8.4 Bemühungen um eine Operationalisierung der Diagnostik
  100. Diagnosen als Konventionen
  101. PSE/CATEGO-System
  102. Neo-Kraepelinismus und Entwicklung von diagnostischen Kriterien
  103. Operationalisierte Diagnostik im DSM-III
  104. Entwicklung zu DSM-5 und ICD-10
  105. 8.5 Kritische Betrachtung von Ratingskalen und operationalisierter Diagnostik
  106. 9 Psychopathologie im Zeichen der Neurobiologie
  107. 9.1 Dekade des Gehirns
  108. 9.2 Validierungsparadigma im Sinne von Emil Kraepelin
  109. 9.3 Abschied vom Validierungsparadigma
  110. 9.4 Verbindung von neurobiologischen und psychopathologischen Ansätzen
  111. Psychopathologie und neuronale Netzwerkmodelle
  112. Ansätze einer funktionellen Psychopathologie
  113. Konzept einer biologischen Psychopathologie
  114. Psychopathologie als Lückenfüller?
  115. 9.5 Phänomenologisch-ökologische Konzeption als Gegenbewegung
  116. Einfluss der philosophischen Strömung der neuen Phänomenologie
  117. Überlegungen zur Psychopathologie von Leib und Raum
  118. Weiterentwicklung zu einem phänomenologisch-ökologischen Ansatz
  119. 10 Zukunftsperspektiven der Psychopathologie
  120. 10.1 Rückblick auf wesentliche Konzepte der Psychopathologie
  121. 10.2 Psychopathologie als Grundlagenwissenschaft
  122. 10.3 Bedeutung von anthropologischen Aspekten
  123. 10.4 Verbindung von quantitativen und qualitativen Ansätzen
  124. 10.5 Verbindung von neurobiologischen und psychopathologischen Aspekten
  125. 10.6 Möglichkeiten einer psychopathologischen Verlaufsforschung
  126. 10.7 Ausblick auf die zukünftige Psychopathologie
  127. Literatur
  128. Stichwortverzeichnis
  129. Personenverzeichnis

Vorwort

 

 

 

 

Psychopathologie ist eine ganz wesentliche Grundlage des Faches Psychiatrie und Psychotherapie. Dies trifft sowohl für den klinischen Alltag als auch für die Forschung zu. Psychopathologie ist mehr als die bloße Auflistung von bestimmten Symptomen. Psychopathologie ist vielmehr eine grundlegende Methodenlehre und beinhaltet auch recht kontroverse Ansätze, welche sich in einem stetigen Wandel befinden. In diesem Sinne sollen die folgenden Ausführungen in bedeutende Konzepte der Psychopathologie einführen. Das Ziel ist hierbei, den Leser zum Nachdenken und zur kritischen Reflexion anzuregen.

Der vorliegende Band der Reihe »Horizonte der Psychiatrie und Psychotherapie – Karl Jaspers-Bibliothek« geht maßgeblich auf eine kleine Vorlesungsreihe zurück, die von mir im Rahmen meiner Karl Jaspers-Gastprofessur im Sommersemester 2014 in Oldenburg gehalten wurde. Darüber hinaus baut das Buch auch auf früheren Publikationen von mir in verschiedenen Fachzeitschriften auf und fasst diese zusammen. Der Fokus der Ausführungen liegt auf der deutschsprachigen Psychopathologie.

Mein Dank gilt zunächst Herrn Prof. Dr. Thomas Becker aus Günzburg/Ulm und Herrn Prof. Dr. Matthias Bormuth aus Oldenburg. Ihnen verdanke ich die Möglichkeit, im Sommersemester 2014 als Karl Jaspers-Gastprofessor tätig gewesen sein zu dürfen. Gerne denke ich an die Diskussionen zu grundsätzlichen Fragen der Psychiatrie zurück. Herrn Prof. Becker möchte ich darüber hinaus für die jahrelange Unterstützung danken, die er mir in Form von Ermutigungen, Anregungen und kritischen Hinweisen zukommen ließ. Mein Dank gilt auch allen Kollegen aus Günzburg/Ulm, wobei Herr Dr. Fabian Lang, Herr Priv.-Doz. Dr. Karel Frasch und Herr Prof. Dr. Reinhold Kilian namentlich erwähnt werden sollen. Mein Interesse an der Beschäftigung mit psychopathologischen Themen wurde jedoch bereits im Rahmen meiner Dissertation in München geweckt und dort auch durch meine Habilitation weiter gefördert. Für die damalige Unterstützung möchte ich mich insbesondere bei Herrn Prof. Dr. Hans-Jürgen Möller, bei Herrn Priv.-Doz. Dr. Ronald Bottlender und vor allem auch bei Herrn Dr. Anton Strauß bedanken. Mein Dank gilt auch der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), welche bereit war, ein psychopathologisches Forschungsprojekt zur Identifizierung von Verlaufstypen schizophrener Psychosen zu fördern. Schließlich möchte ich mich bei meinen Mitherausgebern der vorliegenden Buchreihe sowie beim Kohlhammer-Verlag mit Herrn Dr. Ruprecht Poensgen und Frau Ulrike Döring bedanken, welche das Buch schließlich ermöglicht haben.

Günzburg/Ulm im Oktober 2015

Markus Jäger

1          Einführung und Begriffsbestimmung

 

 

 

 

Psychopathologie als Lehre von den krankhaft veränderten bzw. abnormen Erlebnis- und Verhaltensweisen ist eine wichtige Grundlage des Faches Psychiatrie und Psychotherapie. Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts scheint die Psychopathologie jedoch immer mehr an Bedeutung zu verlieren. So war bereits vor Jahrzehnten von einer Krise der Psychopathologie die Rede (Janzarik 1976). Diese Tendenz dürfte maßgeblich auch mit der zunehmenden Standardisierung von Befunderhebung und Diagnostik in der Psychiatrie sowie mit dem Fortschritt der neurobiologischen Forschungsmethoden zusammenhängen. In den letzten Jahren scheint das Interesse an psychopathologischen Fragestellungen jedoch wieder zuzunehmen (Andreasen 2007, Stanghellini und Broome 2014). Insbesondere setzten sich zum hundertjährigen Jubiläum der Allgemeinen Psychopathologie von Karl Jaspers zahlreiche Beiträge mit diesem epochalen Werk auseinander (Häfner 2013, Jäger et al. 2015, Wiggins und Schwartz 2013).

Immer wieder wurde versucht, den Begriff »Psychopathologie« zu definieren. So bezeichnete beispielsweise Werner Janzarik »Psychopathologie« als das

»Gesamt der zu allgemeinen Aussagen und Folgerungen vordringenden Bemühungen, jene Besonderheiten des Erlebens und Verhaltens zu erfassen, die psychiatrische Kompetenz ansprechen und durch somatische Befunde nicht hinreichend zu definieren sind« (Janzarik 1982, 1).

Von Christin Scharfetter stammt hingegen der folgende Definitionsversuch: »Gegenstands-Gebiet der Psychopathologie sind zur Dysfunktionalität führende […], meist leidvolle Erlebnis- und Verhaltensweisen des wachbewussten Menschen« (Scharfetter 2010, 47). Psychopathologie ist in diesem Sinne auch als Grundlagenwissenschaft (Janzarik 1982) und Methodenlehre (Saß 1994) anzusehen. So wurde beispielsweise von Henning Saß davor gewarnt, Psychopathologie lediglich als Sammelbezeichnung für den psychopathologischen Befund aufzufassen (Saß 1994). Beschränkt man sich nämlich auf eine solche Sichtweise, so droht die Beschäftigung mit den methodischen Problemen in Vergessenheit zu geraten, welche sich beispielsweise im Rahmen der Befunderhebung ergeben. Außerdem können auf diese Weise die verschiedenen Konzepte und Ansätze aus dem Blickfeld geraten, die die auftretenden Phänomene in eine sinnvolle Ordnung bringen wollen. So wurde von der amerikanischen Psychiaterin Nancy Andreasen auch beklagt, dass man inzwischen eher die Kriterien der verschiedenen Diagnosemanuale auswendig lernt, anstatt sich mit den bedeutenden Psychopathologen auseinanderzusetzen (Andreasen 2007).

Eine solche Auseinandersetzung mit wesentlichen Konzepten der Psychopathologie ist der Gegenstand der folgenden Ausführungen. So möchte das vorliegende Buch in die Lektüre von wichtigen psychopathologischen Ansätzen einführen. Die hierbei vertretene Kernthese lautet, dass eine voraussetzungslose psychopathologische Befunderhebung nicht möglich ist. Vielmehr wird in verschiedenen psychopathologischen Konzepten eine Auswahl von bestimmten Phänomenbereichen getroffen, was zu unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen führt. Insbesondere sind alle empirischen Untersuchungen im Bereich der Psychopathologie immer auch von theoretischen Vorannahmen geleitet, was jedoch häufig nicht ausreichend thematisiert und reflektiert wird.

In diesem Sinne soll nun eine Auswahl von grundlegenden Konzepten der Psychopathologie dargestellt und in Hinblick auf ihre wechselseitigen Bezüge erläutert werden. Darüber hinaus soll schließlich auch die Bedeutung der verschiedenen Ansätze für die aktuelle Psychiatrie zur Sprache kommen. Im Einzelnen wird hierbei auf folgende Aspekte eingegangen:

•   Kapitel 2 befasst sich mit der psychopathologischen Methodenlehre, die von Karl Jaspers in seinem erstmals 1913 erschienenen Buch Allgemeine Psychopathologie entworfen wurde. Hierbei wird insbesondere der von Jaspers eingeführte Methodendualismus aufgezeigt, der zwischen Erklären und Verstehen unterscheidet, was am Beispiel des Wahns sowie anhand der Unterscheidung von Prozess und Entwicklung verdeutlicht wird. Anschließend wird auf die Überlegungen von Jaspers zu diagnostischen und nosologischen Fragen eingegangen. Schließlich werden noch die umfangreichen Veränderungen dargestellt, die das Buch im Rahmen der 4. Auflage aus dem Jahre 1946 erfahren hat.

•   Kapitel 3 beschäftigt sich mit der Klinische Psychopathologie von Kurt Schneider. Dieser bemühte sich darum, die Methodenlehre von Karl Jaspers für den klinischen Alltag nutzbar zu machen. Die Konzepte Schneiders werden unter anderem am Beispiel der Persönlichkeitstypologie, des Konzeptes der abnormen Erlebnisreaktion sowie der Differenzialtypologie von Zyklothymie und Schizophrenie veranschaulicht. In diesem Zusammenhang werden nicht nur die Übereinstimmungen zwischen Schneider und Jaspers, sondern auch Gegensätze und Widersprüche aufgezeigt.

•  Nach der Darstellung der sogenannten »Heidelberger Psychopathologie« im Sinne von Jaspers und Schneider werden in den folgenden Kapiteln wichtige Gegenentwürfe aufgezeigt. So wird in Kapitel 4 in einem ersten Schritt auf die »Tübinger Psychopathologie« mit Robert Gaupp und Ernst Kretschmer eingegangen. Es werden vor allem deren Beiträge zum Wahnproblem dargestellt, wobei das Konzept des sensitiven Beziehungswahns und die Forderung nach einer mehrdimensionalen Diagnostik im Mittelpunkt stehen.

•  In Kapitel 5 werden die psychopathologischen Konzepte der Wernicke-Kleist-Leonhard-Schule dargestellt. Der früh verstorbene Carl Wernicke war seinerzeit von Jaspers scharf kritisiert worden. In Hinblick auf die Psychopathologie Wernickes steht das Modell des psychischen Reflexbogens im Zentrum der Ausführungen. Im Anschluss wird gezeigt, wie das Modell von Störungen unterschiedlicher neuronaler Systeme bei Karl Kleist und Karl Leonhard weitergeführt wurde. Hinsichtlich Leonhard wird vor allem auf die Einteilung der endogenen Psychosen eingegangen.

•  In einem scharfen Gegensatz zur Wernicke-Kleist-Leonhard-Schule steht das gestaltpsychologogische Konzept von Klaus Conrad, welches in Kapitel 6 behandelt wird. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Auseinandersetzung mit Conrads Buch »Die beginnende Schizophrenie. Versuch einer Gestaltanalyse des Wahns« und der hierin geäußerten Kritik am elementaristischen Ansatz der Psychopathologie im Sinne von Jaspers.

•   Kapitel 7 beschäftigt sich mit der Psychopathologie in der Nachfolge von Kurt Schneider und Klaus Conrad. Nach der Darstellung des strukturdynamischen Konzepts von Werner Janzarik wird auf den psychopathologischen Ansatz von Gerd Huber eingegangen, wobei hier das Konzept der substratnahen Basisstörungen eine zentrale Rolle einnimmt.

•  In Kapitel 8 wird die Psychopathologie unter dem Einfluss des logischen Empirismus behandelt. Hierbei werden zu Beginn die philosophischen Grundlagen und deren Bezüge zur Psychopathologie dargestellt. Daran schließen sich Ausführungen zur standardisierten Befunderhebung und operationalisierten Diagnostik in der aktuellen Psychiatrie an. Den Abschluss bildet eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Ansätzen.

•   Kapitel 9 setzt sich mit den psychopathologischen Konzepten im Zeichen der Neurobiologie auseinander. Der Schwerpunkt liegt hier auf den verschiedenen möglichen Ansätze einer funktionellen Psychopathologie. Als Gegenbewegung werden Konzepte einer phänomenologisch-ökologischen Psychopathologie vorgestellt.

•  Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen wird schließlich in Kapitel 10 nach den Zukunftsperspektiven der Psychopathologie gefragt. Hierbei wird auch auf die Möglichkeiten der psychopathologischen Verlaufsforschung eingegangen.

Die Auswahl der dargestellten Konzepte ist sicherlich subjektiv und spiegelt auch die eigenen Präferenzen wider. Zudem liegt der Fokus auf der deutschsprachigen Psychopathologie, da sich das vorliegende Buch an den deutschsprachigen Leser wendet. Trotz dieser Einschränkung wird aber versucht, ein möglichst umfassendes Bild mit sich zum Teil widersprechenden Ansätzen zu geben. Der Leser ist hierbei aufgefordert, sich mit den verschiedenen Konzepten auseinanderzusetzen und sich schließlich ein eigenes Urteil zu bilden.

Die folgenden Ausführungen wollen aber auch dazu anregen, sich mit der hier angeführten Originalliteratur zu beschäftigen und auch einige der vorgestellten Bücher zu lesen. Dies mag vielleicht angesichts der zunehmenden Digitalisierung unserer Lebens- und Arbeitswelt und der damit verbundenen Flut an kurzen Informationen, wie sie nicht zuletzt auch in Krankenhausinformationssystemen und elektronischen Krankenakten zum Ausdruck kommt, unzeitgemäß erscheinen. Psychopathologie lebt jedoch ganz erheblich von der Kompetenz, psychische Phänomene in klare sprachliche Ausdrücke zu bringen. Zur Pflege dieser Kompetenz ist es unerlässlich, sich auch einmal auf längere Texte einzulassen und diese aufmerksam zu lesen. Das trifft insbesondere auch für die in der psychopathologischen Literatur zumeist zahlreich enthaltenen Fallbeschreibungen zu.

2          Psychopathologische Methodenlehre von Karl Jaspers

 

 

 

2.1        Entstehung der Allgemeinen Psychopathologie

Karl Jaspers wurde 1883 in Oldenburg geboren. Er arbeitete nach seinem Medizinstudium von 1908 bis 1915 als Volontärassistent an der psychiatrischen Universitätsklinik in Heidelberg unter der Leitung von Franz Nissl (1860–1919). Hier hatte er intensiven Kontakt zu seinen psychiatrischen Fachkollegen, wie beispielsweise Karl Wilmanns (1873–1945), Hans Walther Gruhle (1880–1958) und Willy Mayer-Gross (1889–1961). Durch die Vermittlung von Gruhle lernte Jaspers in dieser Zeit auch den Nationalökonomen, Soziologen und Philosophen Max Weber (1864–1920) kennen und nahm an dessen regelmäßigen Gesprächskreisen teil. 1916 wurde Jaspers zum außerordentlichen Professor in Heidelberg ernannt und verließ die psychiatrische Klinik. Im Jahr 1922 erhielt er schließlich einen Lehrstuhl für Philosophie in Heidelberg. Die dortige Lehrtätigkeit war von 1937 bis 1945 unterbrochen, da er aufgrund seiner jüdischen Ehefrau in den vorzeitigen Ruhestand versetzt wurde. 1948 verließ Jaspers Deutschland und folgte einem Ruf nach Basel. Dort starb er im Jahre 1969.

Noch während seiner Zeit als Volontärassistent in der Heidelberger Klinik erschien 1913 die 1. Auflage seines wegweisenden Werkes Allgemeine Psychopathologie (Jaspers 1913), das er später als Habilitationsschrift in der philosophischen Fakultät bei Wilhelm Windelband (1848–1915) einreichte. Das Buch war auf Anregung des Springer-Verlags sowie von Karl Wilmanns entstanden, der damals Oberarzt an der Heidelberger Klinik war. Die Allgemeine Psychopathologie baut unter anderen auf den zuvor erschienenen Monographien Eifersuchtswahn. Ein Beitrag zur Frage: »Entwicklung einer Persönlichkeit« oder »Prozess« (Jaspers 1963a), Die phänomenologische Forschungsrichtung in der Psychiatrie (Jaspers 1963b) und Kausale und verständliche Zusammenhänge zwischen Schicksal und Psychose bei der Dementia praecox (Jaspers 1963c) auf.

Die 2., nur geringfügig veränderte Auflage der Allgemeinen Psychopathologie erschien 1920. Für die 1923 herausgegebene 3. Auflage wurden weitere kleinere Ergänzungen und Überarbeitungen vorgenommen (Jaspers 1923). Die 4. Auflage aus dem Jahre 1946 wurde hingegen eingehend überarbeitet und zugunsten von philosophischen Reflexionen erheblich erweitert (Jaspers 1946). Zur Zeit dieser umfangreichen Überarbeitung und Erweiterung war Karl Jaspers bereits 30 Jahre lang nicht mehr in einer psychiatrischen Klinik tätig. Im Weiteren erschien das Werk unverändert in der Version von 1946.

Der Fokus der folgenden Ausführungen liegt zunächst auf der 1. Auflage der Allgemeinen Psychopathologie. Dieses 338 Seiten umfassende Werk, welches so nachhaltig auf die damalige Psychiatrie einwirkte, zeichnet sich vor allem durch die Nähe zur klinischen Praxis aus. So empfahl beispielsweise Kurt Schneider (1887–1967) auch später als Direktor der Heidelberger Klinik seinen Assistenten, vor allem die 1. Auflage der Allgemeinen Psychopathologie zu lesen (Janzarik 1974). Im Weiteren wird dann aber auch Bezug auf die 4. Auflage genommen. In diesem auf 748 Seiten angewachsenen Werk ragen vor allem die umfangreichen theoretischen und philosophischen Reflexionen hervor. Insbesondere sind hier auch Jaspers existenzphilosophische Anschauungen eingeflossen.

2.2        Methodische Grundlagen der Psychopathologie

Gegenstand der Psychopathologie

Karl Jaspers bemüht sich in der Allgemeinen Psychopathologie zunächst darum, den Gegenstand dieser Disziplin einzugrenzen und auf diese Weise zu einer Definition zu kommen. Er trifft hierbei eine klare Unterscheidung zwischen dem praktischen psychiatrischen Beruf auf der einen und der Psychopathologie auf der anderen Seite. Während der Psychiater als Praktiker immer den einzelnen individuellen Patienten vor Augen hat, sucht der Psychopathologe nach allgemeinen Begriffen, Zusammenhängen und Gesetzmäßigkeiten. Psychopathologie ist für Jaspers kein bloßes Hilfsmittel für die Psychiatrie, das nach der Brauchbarkeit ihrer Erkenntnisse in der Praxis beurteilt wird, sondern eine eigenständige und unabhängige Wissenschaft. Als solche ist die Psychopathologie auf ein begriffliches Denken angewiesen, »das mitteilbar und systematisch ist« (Jaspers 1913, 2). Hierdurch unterscheidet sich die Psychopathologie als Wissenschaft von bloßer Kennerschaft oder Kunst.

Der Gegenstand der Psychopathologie ist für Karl Jaspers das bewusste psychische Geschehen. Dies bedeutet, zu erfassen und zu beschreiben, »was und wie Menschen erleben« (Jaspers 1913, 2). So soll der Psychopathologe die »Spannweite der seelischen Wirklichkeiten kennen lernen« (Jaspers 1913, 2). Neben dem subjektiven Erleben sollte aber auch erfasst werden, wie sich dieses Erleben objektiv äußert. Im zweiten Schritt sollte die Psychopathologie dann über eine reine Deskription von subjektiven Erlebnisweisen und objektiven Erscheinungen hinausgehen. So sieht es Jaspers auch als Aufgabe der Psychopathologie an, nach den Bedingungen und Ursachen des menschlichen Erlebens zu suchen und die Beziehungen, in denen es steht, zu beachten. Zusammengefasst sind also die »wirklichen seelischen Vorgänge, deren Bedingungen und Ursachen und deren Folgen« der Gegenstand der Psychopathologie (Jaspers 1913, 4).

Für Jaspers ist keine klare Trennung zwischen Psychopathologie und Psychologie möglich. Ähnlich wie bei Pathologie und Physiologie sieht er hier eine enge Verbindung zwischen beiden Fächern, da diese oft mit den gleichen Begriffen arbeiten. Insbesondere hält Jaspers eine scharfe Grenzziehung aufgrund des Fehlens einer klaren Definition von pathologischen Erlebnisweisen für unmöglich. Dies habe nämlich, so Jaspers, immer auch mit einer Bewertung zu tun.

Überlegungen zum Leib-Seele-Problem

Im Anschluss an den Versuch einer Eingrenzung ihres Gegenstandes setzt sich Jaspers mit den erkenntnistheoretischen Grundlagen der Psychopathologie auseinander. Dies führt zunächst zu einer Beschäftigung mit dem Leib-Seele-Problem. Jaspers stellt hierbei fest, dass Körper und Seele »eine bis in jeden einzelnen Vorgang hinein unlösliche Einheit« bilden (Jaspers 1913, 4). Trotz dieser Einheit können psychische und somatische Vorgänge aber nur mit unterschiedlichen Methoden untersucht werden, zwischen denen immer eine unüberbrückbare Kluft bestehen bleiben wird:

»Es ist so, wie wenn ein unbekannter Kontinent von zwei Seiten her erforscht wird, aber die Forschungsreisenden sich nicht treffen, weil immer ein breites undurchdringliches Land zwischen ihnen bleibt. Wir kennen von den Kausalketten zwischen Seelischem und Körperlichem nur die Endglieder. Von beiden Seiten her dringt man weiter vor« (Jaspers 1913, 5).

Auf diese Weise nimmt Jaspers letztlich die Position eines erkenntnistheoretischen Dualismus ein. So weist er auch immer wieder auf die Grenzen einer sich ausschließlich auf somatische Untersuchungsmethoden berufenden Psychiatrie hin. Für viele Phänomene wie beispielsweise Wahnideen, Halluzinationen oder Affekte habe man bisher keine unmittelbar zugeordneten körperlichen Vorgänge finden können. Die Psychopathologie müsse sich deshalb bei der Untersuchung dieser Phänomene von den Methoden der Neurologie befreien und ihre eigenen Wege gehen. So fordert Jaspers die Psychopathologie dazu auf, sich methodisch von der Neurologie abzugrenzen:

»Außerdem macht sich dieses Buch prinzipiell frei von der Knechtschaft, in der sich die psychopathologische Begriffsbildung, Untersuchungs- und Anschauungsweisen noch vielfach – auf Grund des Dogmas »Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten« – gegenüber der Neurologie befindet« (Jaspers 1913, 6).

Jaspers geht es aber keineswegs darum, die enge Verbindung zwischen Neurologie und Psychiatrie in Frage zu stellen oder die Erforschung der Großhirnrinde durch Psychiater zu kritisieren. Seine Intention ist es vielmehr, auf die Grenzen dieser Methoden hinzuweisen und für ein eigenständiges Methodenbewusstsein in der Psychopathologie zu plädieren.

Vorurteile in der Psychopathologie

Bei dem Versuch, die Psychopathologie als wissenschaftliche Disziplin zu konstituieren, muss Jaspers einräumen, dass man sich hier auf keine einheitliche Theorie stützen kann: »Die Naturwissenschaften beruhen auf umfassenden, wohlbegründeten Theorien, die der Auffassung der Tatsachen eine einheitliche Grundlage geben. Atomtheorie und Zelltheorie sind solche. In der Psychologie und Psychopathologie gibt es keine solche beherrschende Theorie« (Jaspers 1913, 8). Jaspers hält Theorien als persönliche Konstruktion oder Modellvorstellungen für durchaus hilfreich. Er warnt jedoch davor, dass Theorien den Erkenntnishorizont des Psychopathologen einengen können. So bringt die Unterordnung unter nur eine Theorie die Gefahr mit sich, Teile der vom Patienten gebotenen Symptomatik zu vernachlässigen, indem eine selektive Auswahl beim Erfassen der Phänomene getroffen wird. Jaspers ist insbesondere dann ein Gegner von Theorien, wenn diese einen holistischen Anspruch erheben. Dies entspringt seiner Überzeugung, dass das menschliche Seelenleben in seiner Gesamtheit nicht erfassbar ist. So hält er es für undenkbar, Psychopathologie unter einem einheitlichen Gesichtspunkt zu betreiben. Tue man dies doch, könne dies zu folgenden Vorurteilen führen:

•  Die somatischen Vorurteile beruhen auf der Auffassung, dass für alle seelischen Vorgänge ein somatisches Korrelat identifiziert werden kann. Als Beispiele werden die Arbeiten von Theodor Meynert (1833–1892) und Carl Wernicke (1848–1905) aufgeführt, welche Jaspers als Hirnmythologien bezeichnete. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich Jaspers später auch sehr lobend über die psychopathologischen Beschreibungen von Wernicke äußerte. So könne kein Psychopathologe darauf verzichten, Wernicke ernsthaft zu studieren.

•  Die philosophischen Vorurteile kommen demgegenüber aufgrund von Spekulationen ohne ausreichende empirische Fundierung zustande und sind oft mit einer »moralisierenden und theologischen Tendenz« verbunden (Jaspers 1913, 10). Hierbei besteht insbesondere das Problem, dass nicht ausreichend zwischen Erkennen und Werten unterschieden wird.

•  Schließlich wird von Jaspers eine Reihe von Vorurteilen ausgeführt, die aus der Verabsolutierung einzelner Gesichtspunkte entstehen. Beispiele sind die Bildvorurteile oder das diagnostische Vorurteil.

Methodologische statt theoretische Ordnung

Im Gegensatz zu einseitigen theoretischen Vorstellungen, wie sie beispielsweise in den Vorurteilen zum Ausdruck kommen, wird von Jaspers eine methodologische Ordnung der Psychopathologie gefordert:

» Statt mit einer Theorie den Gegenstand zu beherrschen und das Wissen zu ordnen, müssen wir uns begnügen, allein in der Ordnung unserer Gesichtspunkte und Methoden die Übersicht zu gewinnen, statt einer theoretischen Ordnung können wir nur eine methodologische Ordnung besitzen« (Jaspers 1913, 8).

Die Allgemeine Psychopathologie kann als ein Versuch einer solchen methodologischen Ordnung angesehen werden:

•  Nach einer allgemeinen Einleitung stellt Jaspers zunächst die Elemente der Psychopathologie dar, die sich in subjektive Erscheinungen des krankhaften Seelenlebens (Phänomenologie) und objektive Symptome und Leistungen des Seelenlebens unterteilen lassen.

•  Anschließend zeigt Jaspers die Zusammenhänge des Seelenlebens auf, bei denen zwischen verständlichen und kausalen Zusammenhängen unterschieden werden kann.

•  Schließlich bemüht sich Jaspers darum, Ganzheiten aufzuzeigen. Hierbei werden Intelligenz und Persönlichkeit, Synthese der Krankheitsbilder und soziologische Bezüge des abnormen Seelenlebens behandelt. Im Anhang seines Buches geht Jaspers dann abschließend noch kurz auf die Untersuchung der Patienten, Therapie und Prognose sowie die Geschichte der Psychiatrie ein.

Das krankhafte Seelenleben kann für Jaspers nur mit Hilfe von unterschiedlichen Methoden erfasst werden. Er differenziert zunächst einmal aufgrund der zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen zwischen objektiver und subjektiver Psychopathologie. Erstere bedient sich der sinnlichen Wahrnehmung, letztere der anschaulichen Vergegenwärtigung von Seelischem. Obwohl Jaspers eingestehen muss, dass diese Unterscheidung nicht immer eindeutig ist, macht er sie dennoch zum wesentlichen Ordnungsprinzip seiner Methodenlehre. Darüber hinaus trifft er noch eine weitere methodische Differenzierung, nämlich die Trennung zwischen der Erfassung von Elementen im Querschnitt und dem Aufzeigen von Zusammenhängen im Längsschnitt. So lassen sich schließlich vier verschiedene Methoden unterscheiden (Images Tab. 2.1).

Objektive Methoden (Erkenntnisquelle: sinnliche Wahrnehmung)Subjektive Methoden (Erkenntnisquelle: anschauliche Vergegenwärtigung des Seelischen)

Tab. 2.1: Methodische Gliederung der Psychopathologie (modifiziert nach Jäger et al. 2007)

Images

Mit Hilfe der sinnlichen WahrnehmungstatischeVerstehenPhänomenologiekausal erklärtAuseinanderhervorgehen von Seelischen aus SeelischengenetischenVerstehens