2. Wie man Menschen zerstückelt

Der Karzek muss total durchgedreht sein, abgedriftet in die phantastische Welt des Krimis, zu viel Fernsehen, gepaart mit der Langeweile des Rentnerdaseins. Ich stelle mir vor, wie er abends vor seinem Fernseher sitzt und schrumpft, seine vier Bier trinkt, damit sich der Bauch bläht, und sich langsam von der Wirklichkeit verabschiedet. Bestimmt denkt er sich Horrorgeschichten aus, indem er die Programme durcheinandermischt, dabei wahrscheinlich seine graue Perücke abnimmt … Oder er hat sich die Geschichte ausgedacht, um mich zu beeindrucken. Es ist seine Form der Kontaktaufnahme mit einem außerirdischen Wesen wie mir.

Nein, der Mann ist krank, krank, krank. Es ist die Idee eines verwirrten Geistes, sich selbst als Entführer auszugeben. Wie werde ich den wieder los? Wie kriege ich den Irren aus meiner Küche?

Karzek lächelt noch immer. »Sie glauben mir nicht, was?«

Vielleicht ist der Mann sogar gefährlich. Wie verhält man sich so einem Menschen gegenüber? Er sieht sich um. Sein Blick bleibt an der Sammlung scharfer Messer über dem Herd hängen. Was denkt er sich jetzt aus? Vielleicht fällt ihm als nächstes eine Geschichte ein, in der er nicht der Entführer, sondern gleich der Mörder ist.

»Doch, doch, ich glaube Ihnen, selbstverständlich. Ganz bestimmt.« Einfach immer nur zustimmen.

»Nein, tun Sie nicht.« Sein Blick bleibt bei den Messern. »Ich denke, ich werde Ihnen einen Beweis bringen. Ich werde Andreas ein Ohr abschneiden. Ohren sind ja unverwechselbar, wie Fingerabdrücke. Das ist überhaupt das Beste, dann werden die Neumanns zahlen.«

»Ja, sicher, tun Sie das. Das ist wirklich eine gute Idee. Hervorragend, ganz hervorragend.«

Geisteskranken muss man zustimmen und sie langsam zur Tür bugsieren. Im Treppenhaus warten bestimmt schon die Pfleger mit der Zwangsjacke.

Er sieht mich stirnrunzelnd an, geht durch die Küche und lehnt sich an das Fensterbrett.

»Sie glauben mir nicht. «

Es klingt bedrohlich. Er geht langsam durch die Küche. Ich weiche ihm aus.

»Sie glauben mir nicht.«

Jetzt klingt es enttäuscht.

Ich beschließe, aus der Rolle zu fallen. »Und ich habe keine Lust, Sie glauben zu machen, ich würde Ihnen glauben.«

Mutig greife ich nach seinem Arm, schiebe ihn zur Tür und öffne sie. Petermann sitzt noch immer auf der Matte und knurrt seinen Herrn an. Der tickt auch nicht richtig.

In diesem Moment öffnet sich über uns die Tür zur Dachgeschosswohnung. Der ehemalige Dreher und umgeschulte arbeitslose Bürogehilfe springt trotz seines deprimierenden Daseins und seines kaputten Fußes schwungvoll die Treppe hinunter. Er hat eine neue Lederjacke an. Ein silbernes Kichern folgt ihm Stufe für Stufe wie ein Gummiball. Karzek, Petermann und ich erstarren in der Bewegung. Jeder von uns will die Verursacherin des Kicherns sehen, und einer will sie sogar riechen. Als sie uns bemerkt, kneift sie spöttisch den Mund zusammen und reckt den Kopf etwas höher. Ich schätze sie auf Ende Zwanzig, aber in ihrem rosafarbenen Jogginganzug wirkt sie jünger. Das Blond ihres Haares ist nicht echt. Dem Hund gefällt sie. Er wedelt heftig mit dem Schwanz, stupst sie in die Knie und will ihr hinterher. Aber Karzek hat ihn fest am Halsband.

Als im Treppenhaus wieder Ruhe eingekehrt ist, wendet sich Karzek kopfschüttelnd zu mir, aber er sagt nichts. Eine halbe Treppe tiefer dreht er sich jedoch noch einmal um.

»Ich bringe Ihnen dann das Ohr«, sagt er.

»Warten Sie ruhig ein bisschen damit.«

Vielleicht ist er ja wirklich ein gefährlicher Irrer, und ich rede mal mit seinen Nachbarn, ob wir ihn in die Psychiatrie einweisen lassen.

Ich beuge mich über das Treppengeländer: »Ihre Geschichte hat übrigens zwei Fehler.« Schnell springe ich zurück, schließe die Tür und warte dahinter, bis ich das bekannte Hecheln höre, dann öffne ich. Petermann und Karzek stehen auf meiner Fußmatte.

»Ich weiß«, sagt er, und der Hund nickt dazu. »Sie fragen sich, wie ich mit dem Geld entkommen will, wo doch jeder weiß, dass ich es war.«

Ich schüttle den Kopf. »Das ist richtig und zweitens: das Geld!«

»Ist da!«, sagt er triumphierend.

»Wieso? Woher?«

»Gehen Sie runter, fragen Sie die Neumanns. Ich hab das Sparbuch gesehen. Ist die Neumann ja ganz stolz drauf. Das zeigt sie jedem.«

»Und wie wollen Sie entkommen?«

»Sie werden verstehen, dass ich Ihnen das nicht sagen kann. Geschäftsgeheimnis.«

Er und Petermann ziehen mit erhobenen Nasen davon.

Ich glaube es nicht. Nichts davon.

Ich will endlich unter die Dusche gehen, da klingelt es an der Tür. Ich komme heute aus dem Nachthemd nicht mehr raus.

Atemlos, mit rotem Gesicht steht die asthmatische Witwe Weser aus dem ersten Stock vor meiner Tür. Sie hat so wenig Luft, dass sie noch eine Weile braucht, bis sie sprechen kann.

»Woran fehlt's?«, frage ich .

Sie versucht vergebens, tief Luft zu holen. Ich kenne das und habe Geduld.

»Broncho-Spray«, röchelt sie schließlich. »Hab nicht gemerkt, dass es alle ist.«

»Wieder geraucht, was?«

Ich gehe ins Bad und bringe ihr mein Spray.

»Es ist Brycanyl. Broncho hab ich nicht.«

Sie nickt.

»Können Sie behalten, hab noch mehr davon.«

Sie geht nicht, sondern benutzt es gleich, hebt den Kopf und sprüht es sich in die Luftröhre. Es geht ihr überraschend schnell besser. Vielleicht war die Bitte nur ein Vorwand. Gegenüber öffnet sich die Tür. Gönül schickt ihre Tochter zur Schule. Wir grüßen freundlich und warten, bis sie weg ist.

»Was wollte denn der Karzek?«, fragt Frau Weser mit gedämpfter Stimme.

»Gelauscht?«

»Sie wissen doch, wie hellhörig es ist.«

»Und Sie wohnen über ihm. Sie müssten mehr wissen als ich.«

»Er hat den ganzen Tag den Fernseher an. Da hört man nicht viel. Aber letzte Woche hatte er jeden Abend Besuch. Ein Mann. Jetzt Sie!«

»Er hat sich was ausgedacht. Einen Krimi. Er spinnt. Zu viel Fernsehen, Sie sagen es.«

»Und was war da oben los?« Sie zeigt in Richtung Dachwohnung.

»Tja, das überrascht mich auch.«

»Woher hat der denn das Geld?«

»Welches Geld?«

»Na, das war doch so eine.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Ich bin alt, aber nicht vom anderen Stern.« Sie dreht sich um, geht, nimmt mein Aerosol mit. »Ich bringe es Ihnen zurück.«

»Nicht nötig.«

Endlich stehe ich im Bad und reguliere die Wassertemperatur, doch bevor ich unter die Dusche steigen kann, klingelt es erneut. Ich komme heute wirklich nicht aus dem Nachthemd heraus.

Frau Neumann steht im dunkelblauen Mantel vor der Tür. Sie hat die Form einer Pflaume. Ihr ratloses Gesicht mit den faltigen Augen und dem entsetzten Blick wird von einem schmalen silbernen Pelzkragen eng gerahmt. Die braune Einkaufstasche baumelt hilflos an ihrer Hand. Ich ahne es schon: Alles, was Karzek erzählt hat, stimmt. Natürlich komme ich gleich nach dem Frühstück zu den beiden hinunter.

4. Stürzt das Haus ein?

Ich bekomme Andreas' Siegelring zu sehen, den Karzek als Beweis der Entführung mit der Lösegeldforderung überbracht hat. Ihr Sparbuch mit den Dreihunderttausend will mir Gertrud Neumann auch gern zeigen, aber einen Blick in das Zimmer ihres Sohnes verweigert sie mir mit entsetztem Aufschrei. Es muss also noch schlimmer sein, als in die Gemüsesuppe zu pinkeln. Ich flüchte mich für einen Moment in betretenes Schweigen und nehme einen neuen Anlauf mit dem Argument, dass der Charakter des Entführten oft auf den Entführer schließen lässt und ich deshalb das Zimmer sehen muss.

Es zieht nicht, denn Herbert Neumann antwortet schlagfertig, dass der Entführer ja bereits bekannt sei. In meinem Geist sehe ich Andreas' Zimmer vor mir, vollgestellt mit Suppentöpfen, die er als Zielscheiben genutzt hat.

»Gut«, sage ich, »dann überlassen wir die Sache der Polizei.«

»Sie wollen das Zimmer polizeilich durchsuchen lassen?«

Frau Neumann sieht verunsichert ihren Mann an.

»Die ganze Entführung«, sage ich.

»Das haben wir doch alles schon durchgespielt.«

Herbert Neumann erhebt sich und zwängt sich zum Ausgang des Wohnzimmers. »Wenn wir denen erzählen, unser Nachbar hätte unseren Sohn entführt, halten die uns für bekloppt. Und selbst wenn sie Karzek befragen, bestätigt der doch nur, dass wir bekloppt sind.« Er bleibt an der Tür stehen und winkt mir. »Ich zeige Ihnen den Grund, warum wir die Polizei nicht holen können.«

»Herbert!« Seine Frau will aufspringen.

»Wir dürfen keine Geheimnisse vor ihm haben, sieh es ein«, versucht er sie zu beruhigen.

»So eine Schande«, murmelt sie.

Die Schande ist dreifach. Erstens stapeln sich in Andreas' Zimmer gleich mehrere originalverpackte und wahrscheinlich geklaute Stereoanlagen. Zweitens sind die beiden halben Zimmer mit einem nicht genehmigten Mauerdurchbruch verbunden, der nicht einmal durch einen Eisenträger abgefangen wurde (irgendwann stürzt das Haus ein!). Drittens sind die Zimmer kaum zu betreten, weil überall Papier-, Zeitschriften- und Müllberge den Boden bedecken. Der Sohn scheint einer jener Menschen zu sein, die alles sammeln.

»Ich durfte ja nicht saubermachen«, jammert Gertrud Neumann. »Er hat es nicht erlaubt. Er drehte richtig durch, wenn ich es versuchte.«

Einer der wenigen freien Plätze ist ein Sofa, auf dem er wohl geschlafen hat. Ich drehe auf einem Stapel die oberste Zeitschrift herum – ein Schwulenmagazin.

»Oh«, sage ich.