Cover

Über dieses Buch:

Clara Pauly wirkt als Statistin bei den Schwäbisch Haller Freilichtspielen mit, in der Produktion »DIE ZEHN GEBOTE – Das Musical«, die auf der Großen Treppe von St. Michael aufgeführt werden soll.

Prompt verliebt sie sich in den Hauptdarsteller, einen Tenor, der den Moses gibt. Die Liebe wird allerdings nicht erwidert, obwohl er ihr Hoffnungen zu machen scheint. Daraufhin greift Clara zu ungewöhnlich finalen Mitteln.

Über die Autorin:

Tatjana Kruse, Jahrgang 1960, ist in Schwäbisch Hall aufgewachsen, wohin sie nach 25 Jahren im außerhohenlohischen Exil auch wieder zurückgekehrt ist. Sie veröffentlicht in erster Linie Kriminalromane und -geschichten und wurde u. a. mit dem Marlowe und dem Nordfälle-Preis ausgezeichnet.

Die Website der Autorin: www.tatjanakruse.de

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Neuausgabe November 2015

Copyright © der Originalausgabe 2007 Tatjana Kruse, Schwäbisch Hall/Swiridoff Verlag, Künzelsau

Copyright © der Neuausgabe 2015 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Svetlana Zdenchuk

E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95824-381-1

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Tatjana Kruse

Vorsicht: Stufen!

Roman

dotbooks.

Ein Wort zum Geleit

Die Freilichtspiele Schwäbisch Hall stehen seit über achtzig Jahren für gute Sommerunterhaltung und erstklassige Theaterarbeit. Die Ereignisse in diesem Buch sind völlig frei erfunden, und obwohl Ihnen einige der Personen aus diesem Buch in den Straßen der Stadt tatsächlich begegnen könnten und alle genannten Orte real sind, dürfen Sie beim Lesen eines niemals vergessen: Alles, wirklich alles, ist pure Fantasie!

Dramatis Personae

Freilichtspiele Schwäbisch Hall

Intendant: Christoph Biermeier

Leitung Künstlerisches Betriebsbüro: Alexander Schmid

Öffentlichkeitsarbeit: Jutta Parpart

Chefdramaturg: Georg Kistner

DIE ZEHN GEBOTE – Das Musical

Regisseur: Lasker Schudrow, 32, angesagter Jungregisseur, je nach Auge des Betrachters entweder genial oder psychisch schwerst gestört

Regieassistentin: Liese von Bühlow, 28, schusselig, farblos, nicht glücklos

Ausstattung: Benno Bleibtreu, 25, nimmt seine Arbeit so ernst, wie es nur ein Schweizer kann

Choreografie: Igor Dugaschwili, 37, Ex-Tänzer, nicht schwul

Bühnenbildner: Mario Bottini, 30, Modelleisenbahnfan

DarstellerInnen

Moses: Ron Raimundo, 39, Tenor und – was auch sonst? – Frauenschwarm

Enkelin des Pharao: Mirabelle Gessner, 38, Diva von eigenen Gnaden, Tochter reicher Eltern

Aaron: Erhard Frühwirt, 41, »Ich toure auch mit Soloprogramm!«

Pharao: Gernot Haussmann, so, Bariton, ausgehaltener Ehemann

Josua: Franz Finck, 25, spielt seine Rolle nicht, lebt sie

Diverse Frauen 1: Marie Müllerschön, 23, ehemalige »Miss Mosel«, Besetzungscouchtalent

Diverse Frauen 2: Elisabeth von Wellenfels, 23, Tanzmaus

Stunt-Double für Moses: Jean Belmont, 33, Elsässer mit Film- und Fernseherfahrung

Die Rampensau: Hertha, 4½, Mutter, Nachwuchsschauspielerin, Schwäbisch-Hällisches Landschwein

Pawlow, der Hund: er selbst

Auch dabei:

Statisten und Statistinnen (namentlich Clara Pauly, 41, Spätpubertierende oder wahlweise Frühmenopausierende im Hormonrausch)

Tobias Klinghammer, 45, Theaterkritiker aus Stuttgart

Dietrich Birmer, 54, Intendant eines süddeutschen Staatstheaters

Carina Poppinga, 52, stellvertretende Tierschutzvereinsleiterin

Bürger und Bürgerinnen von Schwäbisch Hall

Angereiste Touristen und Touristinnen

Die Mumie

Recht und Ordnung:

Hauptkommissarin Gesine Bauer

Bauer zwo, Gesines Assistent

Und natürlich:

Die Große Treppe von St. Michael

Prolog

Mit einem gurgelnden Laut ging Moses zu Boden. Der jahrhundertealte Sandstein bohrte sich gnadenlos in sein Kreuz. Über sich sah er Schäfchenwolken und den kornblumenblauen Himmel. Und Pharao, der sich mit einem Wutschrei auf ihn kniete und ihm das Gewand über der Brust zerriss. Moses rächte sich, indem er sich in den Umhang des Pharao krallte.

»Du elender Furz!«, gellte der Pharao, wenig königlich. »Aus dir mach ich Hackfleisch!«

Da kam auch schon der Höllenhund, um den biblischen Propheten und den Herrscher über Ober- und Unterägypten in das Reich des Todes zu zerren. Oder der Ausruf »Hackfleisch!« hatte ihn angelockt – das war auf den ersten Blick nicht ganz klar.

Hinter dem Höllenhund näherte sich ein weiteres Monster – halb Mensch, halb Schwein – mit verzerrtem Gesicht und Schaum vor dem Mund. Moses spürte den heißen Atem des gewaltigen Tieres und hörte die gellenden Schreie des Fabelwesens. Er sah noch, wie beide sich auf den Pharao stürzten.

Dann schwanden ihm die Sinne.

1. Akt: Lehrjahre einer Spielwütigen

So musste sich Gott gefühlt haben, kurz nachdem er die Erde geschaffen und mit einem Aufseufzen erkannt hatte, dass doch nicht alles gut war und sich zwischen den Highlights wie Sonnenaufgängen und Wasserfällen Murks eingeschlichen hatte. Nämlich der Mensch.

Dachte Regisseur Lasker Schudrow und seufzte schwer. Keine Frage: als Hirte seiner Theaterschäfchen hatte er versagt.

Wenn alles gut ging, würde es »DIE ZEHN GEBOTE – Das Musical« werden.

Nicht Les Dix Commandements, ein Musical aus der Feder dreier Franzosen, das im Land von Froschschenkel und Gauloise recht erfolgreich war, sondern die Neufassung von Menno Jensen und Wilfried Nägele, die alles bisher Dagewesene sprengen sollte. Aber im Moment hatte es eher den Anschein, als mache die World Wrestling Foundation Station in Schwäbisch Hall.

Auf der ausladenden Treppe von St. Michael lagen der Pharao und Moses verknotet auf den Stufen. Eigentlich handelte es sich um Gernot Haussmann, Bariton, und Ron Raimundo, Tenor.

Das Fabelwesen, das oberhalb des Nabels ein junger Mann von betörender Schönheit und darunter ein borstiges Schwein war, hieß Benno Bleibtreu und war für die Kostüme des Stückes verantwortlich. Das Zerreißen eines mit viel Liebe geschneiderten Kostüms kam für ihn einem Akt der Blasphemie gleich. Monatelang hatte er mit seinem untrüglichen Gespür für die Wirkung der richtigen Kleidung nach diesem Goldbrokat gesucht, hatte mit der halsstarrigen Unbeirrbarkeit eines Berner Oberländers dem Unverstand des Regisseurs getrotzt, der meinte »Das sieht doch außer euch Profis niemand!« Dann hatte er endlich den perfekten Stoff gefunden – und nun meuchelten diese Idioten seine Kreation.

Also fluchte Bleibtreu verständlicherweise Obszönitäten auf Schwyzerdütsch und versuchte den Pharao von Moses herunterzureißen. Natürlich ohne dabei den güldenen Umhang des Pharao zu beschädigen.

Und bei dem Höllenhund handelte es sich um Bernhardiner Pawlow, ein zutiefst friedfertiges Tier, dessen Lebensziel darin bestand, möglichst viele Menschen liebevoll abzuschlecken und damit in den Genuss seines Sabbers zu bringen, der von der Natur derart konzipiert war, dass durchweg alles, aber vor allem Bernhardinerhaare, daran kleben blieb.

Schwäbisch Hall.

Wer draußen in der Welt »Schwäbisch Hall« hört, pfeift meist als Erstes den Auf-diese-Steine-können-Sie-bauen-Jingle. Aber es gibt auch eine Stadt zur Bausparkasse. Eine ganz besondere Stadt mit grandioser historischer Architektur, pulsierender moderner Kultur, abwechslungsreichen Freizeitangeboten, kulinarischen Höhepunkten. Eben die kleinste Metropole der Welt, wie sie sich selbst nennt.

Doch der Wert einer Stadt misst sich nicht an den Sehenswürdigkeiten, den Highlights. Den Wert einer Stadt erkennt man an den Gesichtern der Bewohner und ihrer Gäste. Und wenn man nach Hall kommt, sieht man auf diesen Gesichtern fast immer ein Lächeln.

Schwäbisch Hall – eine Wohlfühlstadt.

Nun ja, wer an diesem Tag, zu dieser Stunde vor der Treppe von St. Michael, diesem Hotspot der Stadt, gestanden hätte, der hätte das womöglich nicht geglaubt.

Denn dort tobte das Chaos. Aber immerhin: der Entertainmentwert war enorm ...

»Er will nur spielen«, rief Mirabelle Gessner, die gar nicht das Frauchen von Bernhardiner Pawlow war, die aber immer und zu allem ihren Senf abgeben musste. Sie hatte den Riesenhund am buschigen Schwanz gepackt und wollte ihn von den rangelnden Männerkörpern wegziehen. Ein hoffnungsloses Unterfangen – der Bernhardiner wog weitaus mehr als sie. Er bemerkte nicht einmal, dass da jemand an seinem Hinterende hing.

Trotz ihrer 38 Lenze konnte Mirabelle optisch die Adoleszente noch plausibel verkörpern, darum spielte sie in »DIE ZEHN GEBOTE – Das Musical« die Enkelin des Pharao, die sich in den charismatischen Moses verliebt. Dummerweise war sie im wirklichen Leben die Frau des Pharaodarstellers, hatte sich aber dennoch in den charmanten Tenor verguckt, der den Moses gab. Der Pharao hatte mit seiner nicht zum Stück gehörenden Kostümzerreißnummer überprüfen wollen, ob seine Frau seinem Nebenbuhler tatsächlich die Goldkette geschenkt hatte, deren Rechnung – ausgestellt von einem örtlichen Juwelier – er zwischen ihrer Reizwäsche in der Hotelkommodenschublade gefunden hatte.

Der angesagte Jungregisseur Lasker Schudrow, der mit einer aufsehenerregend modernen Inszenierung der Bühnenfassung des Wiener Telefonbuchs am Burgtheater weltweit für Furore gesorgt hatte und nur wegen seiner – wie er glaubte – mit der Durchschnittlichkeit normaler Menschen nicht kompatiblen Genialität an einer »Cabriobühne« , sprich: einem Freilichttheater, gelandet war, zupfte sich am ergrauenden Pferdeschwanz, warf seiner Gurkentruppe, wie er sie gern zu nennen pflegte, einen säuerlichen Blick zu, atmete heftig aus, setzte das Megafon an die Lippen und rief: »Pause!«

Dann drehte er sich zu seiner Regieassistentin um und sagte: »Ich kann so nicht arbeiten. Besorg' mir ein ›Mohrenköpfle‹!«

Clara Pauly pustete sich eine Strähne aus dem Gesicht, um besser sehen zu können, wie die schusselige Regieassistentin Liese von Bühlow sofort in den Goldenen Adler trabte, um ihrem Chef beflissen das gewünschte Bier zu besorgen, dessen Name – ›Mohrenköpfle‹ – nicht liebevoll schwäbelnd das Bild eines Afroamerikaners aus der früheren Besatzungsmacht hervorrufen sollte, sondern der Kosename für das schwarzbehauptete einheimische Schwäbisch-Hällische Landschwein war. Quasi das Bier zum Braten. Auch bratenlos lecker.

Liese von Bühlow besaß absolut keine Persönlichkeit und sagte immer nur »dings« und »äh«, und schon wenige Sekunden, nachdem sie einen Ort verlassen hatte, war es den Zurückgebliebenen unmöglich, sich an ihre Gesichtszüge zu erinnern. Aber sie war die Effizienz in Person. Dennoch begriff Clara, die ihr Leben lang versucht hatte, spürbaren Eindruck zu hinterlassen, nicht, wie jemand sich so zurücknehmen konnte.

Es war 11 Uhr 55 vormittags, an einem brütend heißen Mittwoch Ende Mai. Man konnte sich nicht vorstellen, dass noch vor einem Jahr um diese Zeit die Truppe bei Graupel und Bodenfrost beinahe erfroren wäre. Ein Hoch auf die Klimakatastrophe!

Wer bei dieser Probe nicht gerade auf den Stufen zu tun hatte, saß unter einem Sonnenschirm zu Füßen der Treppe, im Dunstkreis des Regisseurs, der seine ›Familie‹ gern um sich scharte. Nur die fünf Musiker – ein Posaunist, ein Sackpfeifer, ein Kora-Spieler, ein Trommler und ein Geiger – harrten oben im Schatten des steinernen Erzengels Michael aus. Schudrow hätte ja gern ein Sinfonieorchester engagiert, aber das hatte ihm der Intendant aus Budgetgründen ebenso verwehrt wie das Wagenrennen à la Ben Hur.

Clara spielte zum ersten Mal als Statistin bei den Schwäbisch Haller Freilichtspielen mit. Genau genommen spielte sie überhaupt zum allerersten Mal.

Wenn man Clara bitten würde, sich selbst zu beschreiben, würde sie sagen: »Eine Frau mittleren Alters, dennoch am Anfang eines neuen Lebens. Äußerlich kein Hingucker, aber ein Vulkan im Inneren« Seit ihrer Scheidung hatte sie von den Unterhaltszahlungen ihres Mannes gelebt und sich irgendwie ungebraucht gefühlt. Doch dann war es wie aus heiterem Himmel über sie gekommen: die Erleuchtung, was sie mit dem Rest ihres Lebens anfangen sollte. Sie würde Schauspielerin werden, dazu fühlte sie sich schlagartig heftig berufen. Etwas in ihrem Innern sagte ihr, dass sie eines Tages die Welt begeistern würde, und sie brannte, ja loderte danach, es allen zu zeigen. Nur wollte es niemand sehen. Keine Schauspielschule, kein Agent, nicht einmal ein Laientheater. Darum hatte sie sich, als sie in ihrer Hamburger Tageszeitung las, dass eine neue Musicalproduktion noch Statisten suchte, umgehend gemeldet. Und wurde genommen! Doch dann wurde die Produktion wegen schwerer, nicht zu überbrückender Gegensätze zwischen Intendanz und Regisseur kurzfristig in die süddeutsche Provinz verlegt. Sie hatte sich als einzige Anwärterin auf einen Statistenposten bereit erklärt, auf eigene Kosten für vier Monate nach Schwäbisch Hall zu ziehen, wohin die Produktion quasi verkauft worden war.

»Ehrlich, das ist nicht nötig«, hatte man ihr gesagt. »Wir finden in Schwäbisch Hall genug Statisten.«

»Nein, ich komme gern!«, hatte Clara insistiert, wie immer taub für zarte Anspielungen.

Was nichts kostet, nimmt man – nicht nur am Theater – mit Kusshand, also fand sich Clara eines Tages auf der Großen Treppe von Schwäbisch Hall wieder.

Die Große Treppe von St. Michael.

500 Jahre war sie nun alt, sah aber für ihr Alter noch verdammt knackig aus. Manch einen erinnerte sie an eine steingewordene Welle, deren Stufen in der Mittagshitze wie kleine Schaumkronen flirrten, andere sahen ein umgekehrtes Amphitheater in ihr.

Sie selbst war einfach da. Mächtig und ausladend. Und freute sich des Lebens. Es konnte ihr gar nicht umtriebig genug zugehen. Wenn sie spürte, dass Menschen voller Begeisterung und Leidenschaft ihre Stufen auf- und abliefen, dann fühlte sie sich glücklich.

Und ja, wer von der Rathausmauer aus nur lange genug auf die Stufen sah, der merkte: die Treppe lächelte!

Es war am Freilichttheater Schwäbisch Hall nicht üblich, fremde Produktionen einzukaufen. Hinter den Freilichtspielen stand ein wohldurchdachtes Konzept, das allenfalls durch Co-Inszenierungen mit anderen Häusern ergänzt wurde, nicht aber durch Package-Einkäufe völlig fremder Produktionen.

Doch in diesem Fall hatte das Schicksal seine Hand im Spiel: Es ließ den für die ursprüngliche Produktion geplanten Regisseur schwer verunfallen (keine Sorge, nach dreimonatiger Reha geht es ihm mittlerweile wieder glänzend), und kaum war in letzter Minute ein adäquater Ersatzmann gefunden worden, erkrankte der vorgesehene männliche Hauptdarsteller nach seinem Nigeriaurlaub an Malaria, die Choreografin bekam von ihrem Arzt wegen Komplikationen in der Schwangerschaft strikte Bettruhe verordnet und der weiblichen Hauptdarstellerin wurde ihre Liebe zu einem Bankräuber zum Verhängnis: Sie wurde wegen Beihilfe rechtskräftig zu sechs Monaten Haft verurteilt. Da war es einem Geschenk des Schicksals gleichgekommen, als ein befreundeter Festspielortleiter Lasker Schudrows Musical empfahl: witzig, spritzig, finanzierbar und wichtiger noch, für die Treppe in Hall geeignet. Dass es sich um ein Danaer-Geschenk handelte, trat erst ganz allmählich zutage. Allmählich, aber überdeutlich.

Nun stand Intendant Christoph Biermeier am Fenster des KBB, des Künstlerischen Betriebsbüros der Freilichtspiele, das im Clausnizer-Haus, einem der historischen Gebäude am Marktplatz untergebracht war, mit direktem Blick auf die Treppe von St. Michael. Der Intendant sah leicht gequält auf den ersten Probentag der ZEHN GEBOTE, auf die rangelnden Hauptdarsteller und die Ordner rund um die Absperrung, die natürlich dazu da waren, für Ruhe zu sorgen, aber eben unter den Passanten und nicht unter den Darstellern.

Intendant Biermeier seufzte schwer. Nur die Ruhe, das wird schon noch werden, sagte er sich. Dann warf er ein Gummibärchen ein.

Bestimmt hatte es Gott seinerzeit genauso gehalten.

Schauspieler sind keine normalen Menschen. Sie spielen nur typische Menschen.

In Gefühlsdingen beherrschen sie eine enorme Flexibilität. Sie können bei einer simplen Autoinspektion in Tränen ausbrechen. Oder bei einer blutigen Kollegenkeilerei die tiefe Gelassenheit eines buddhistischen Zen-Mönches während seiner Morgenmeditation an den Tag legen.

Bei der Szene, die sich an diesem Vormittag auf den Stufen der Großen Treppe abspielte, zeigte sich die ganze Bandbreite ihres emotionalen Könnens. Wer sich nicht kontemplativ mit seinen Textseiten Luft zufächelte, der weinte. Allerdings flossen nur Lachtränen.

Es muss leider gesagt werden, dass die Kollegen von Raimundo und Haussmann mehrheitlich mit allerlei Anfeuerungsrufen das Chaos noch weiter schürten. Die Schauspieltruppe rief lautstark »Haut euch!« und »Schlammcatchen, Schlammcatchen!«

Pawlow bellte, Kostümbildner Bleibtreu fluchte immer noch derb in seiner Muttersprache, die fünf Musiker setzten zur Titelmelodie von »Spiel mir das Lied vom Tod« an, Schudrow brüllte durch sein Megafon »Pause, hab' ich gesagt, verdammtnocheins!« und da setzten auch noch die vollen Glocken von St. Michael zum 12-Uhr-Geläut ein.

Angesichts dieser in ihrer Gesamtheit unschönen Kakofonie bekamen die kleinen Schwäbisch-Hällischen Landschweinferkel, die in einem Mini-Streichelzoo vor dem Touristik-Büro am Gesäuge ihrer Mutter gelegen hatten, die Panik und quietschten, was das Zeug hielt.

Nun trat auch der Oberbürgermeister an das Fenster seiner Amtsstube im Rathaus und betrachtete die Szenerie kopfschüttelnd. Darüber musste er sich bei Gelegenheit mit dem Intendanten unterhalten. Bei dem Lärm konnte doch kein Mensch arbeiten.

Er schüttelte nochmals den Kopf, warf aber kein Gummibärchen ein.

Um 12 Uhr 02 bereitete das Theaterfaktotum dem Spuk ein Ende.

In Lederhose und T-Shirt – seiner Allwetteruniform, auch bei den derzeit herrschenden 30 Grad Celsius im Schatten – stapfte der Mann fürs Grobe die Treppe hinunter, packte Bleibtreu an den Hosenträgern und Haussmann am güldenen Umhang und zog sie von Moses weg. Pawlow hörte auf zu bellen und schnüffelte beseelt an der Lederhose wie an einem toten Tier. Von seiner Seite aus war es Liebe auf den ersten Riecher.

»Okay, alle runter von der Treppe!« , rief das Faktotum mit markiger Stimme. »Wer noch gehen kann, trägt die anderen.«

Die Glocken beendeten ihr Geläut und die Ferkel saugten wieder hungrig schmatzend an Muttersau Hertha.

Friede senkte sich über den Marktplatz.

Haussmann riss sich los, stapfte die Stufen zum Sonnenschirm und dem Kollegenhaufen hinunter und klopfte sich imaginären Staub vom Umhang. Unten angekommen, breitete er in großer Geste die Arme aus. Sein Haaransatz war ein wenig weiter hinten, als er sein sollte, und sein Bauch ein wenig weiter vorn. Jetzt schmetterte er baritonal: »Schmäht mich, hasst mich, verachtet mich, aber ich kann aus meinem Herzen keine Mördergrube machen. Wenn ich getroffen werde, blute ich.«

Wer jedoch blutete, war nicht er, sondern Moses alias Ron Raimundo, der sich ächzend – die Hand im Kreuz – erhob und die Treppe hinunterwankte.

Der Tenor war ein Frauentyp und erlebte solche Szenen öfters mit Männern, denen er entweder tatsächlich Hörner aufgesetzt hatte oder die das nur glaubten. Meistens hatten die Männer allerdings recht. Doch selbst dann, wenn dem nicht so war: Raimundo war ein zutiefst friedfertiger Mann und schlug nie zurück. Nicht einmal in Notwehr.

Er ließ sich auf den freien Stuhl neben Clara Pauly fallen. »Du hast nicht zufällig ein Taschentuch dabei? Gegen mein Nasenbluten?« Angesichts von Gewaltszenen bekam er grundsätzlich Nasenbluten.

»Doch, hier.« Sie reichte ihm ein zerknittertes Einmalzellstofftuch.

»Danke dir.« Zart strich er mit seiner Linken über ihren Unterarm.

Und in diesem Augenblick sah Clara Pauly zum ersten Mal tief in seine veilchenblauen Augen.

Ein Fehler!

»Mein Gott, wegen dem bisschen Blut musst du jetzt doch nicht aussetzen?« Lasker Schudrow baute sich vor dem Tenor auf, der den Kopf in den Nacken gelegt hatte.

»Wie soll ich denn singen, wenn mir das Blut hektoliterweise in den Mundraum rinnt?«

Schudrow schürzte die Lippen. Für ihn waren die Schauspieler keine Partner, mit denen man etwas Wichtiges der menschlichen Natur oder des menschlichen Zusammenlebens exemplarisch aufzeigen konnte, sondern nichts weiter als seine Instrumente, Knetmasse, mit der er etwas gestaltete. Knetmasse war im Gegensatz zu Menschen aus Fleisch und Blut allzeit bereit – er nahm sich fest vor, zur Schonung seines Nervenkostüms als Nächstes von der Theaterbühne zum animierten Knetfilm zu wechseln.

Schudrow seufzte auf. »Dann proben wir jetzt eben die Szene mit deinem Double. Jean? Wo ist Jean?« Er setzte das Megafon an die Lippen. »Jean, verdammter Franzose, bei Fuß!«

Jean Belmont – ein Bilderbuch-Macho mit schwarzer Lockenmähne, borstigen Drei-Tage-Stoppeln am Kinn und einer krausen Matte im offenen Kragen seines Karohemdes – saß, weil er zu dieser Uhrzeit im Probenplan gar nicht vorgesehen war, wasserpfeifenrauchend mit der neuesten Ausgabe des Playboy an einem der dunkelbraunen Holztische vor der Fontäne des Anlagencafés, also circa zwei Kilometer Luftlinie entfernt und somit außerhalb der Schudrow'schen Megafonreichweite.

Auf den Befehl »Bei Fuß« reagierte nur Pawlow, der als wohlerzogener Hund auf Schudrow zulief und Sitz machte. Natürlich erwartete er ein Leckerli, und als er keines bekam, fing er an, dem Jungregisseur seinen beachtlichen Bernhardinerschädel auffordernd in den Schritt zu rammen. »Schafft den Köter fort und holt mir diesen gottverdammten Franzmann!«, gellte Schudrow durch das Megafon, dass die Mauern der Häuser bebten und die Ferkel wieder zu einer panischen Quietschsinfonie anhuben.

»Jean, Jean, Jean«, skandierte fröhlich die Schauspielertruppe.

»Wer von euch Saubeuteln hat sich meine Repetierringkabelendhülsenpresszange gekrallt?«, brüllte das Faktotum.

»Wuff!«, bellte Pawlow.

»Oink!« , grunzte Muttersau Hertha.

Der Oberbürgermeister griff zum Telefonhörer und wählte die Nummer des Intendanten.

Und wieder musste ein Gummibärchen dran glauben ...

Clara Pauly bekam von all dem nichts mit.

Sie tupfte mit ihren Tempo-Taschentüchern das Blut von der rasierten Brust des Tenors, wobei er ihr dankbar die Hand tätschelte und »Du bist ein Schatz« murmelte.

Clara wähnte sich im Glück.

Großer Irrtum!

Was keiner der Beteiligten wusste: das war noch die gute Zeit. Die Zeit vor den Morden ...

2. Akt: DIE ZEHN GEBOTE – Das Musical

Sanft flatterte der Nil im Wind, während sich die Dämmerung über das Land senkte.

In diesem speziellen Fall war der Nil eine gewaltige, leuchtend blaue Stoffplane, die sich von oben nach unten über die Treppen von St. Michael zog. Jemand rief »Fiat lux« und im Licht eines Scheinwerfers aus dem oberen Stock des gegenüberliegenden Rathauses verwandelte sich die Plane in Sekundenschnelle in kräftiges Blutrot.

Ein furioser Special Effect.

Lasker Schudrow, der in seiner Regiemethode nicht an Lob glaubte, sagte nur: »Tja, schaut ganz gut aus. Und jetzt will ich den Busch brennen sehen.«

Da noch keine Aufführungen liefen, konnte man auch abends proben. Und sei es nur die Spezialeffekte.