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Prolog: Verborgen im Regenwald

Jennifer konnte hier überall sein.

Als ich mich auf die Suche nach ihr machte und zum ersten Mal den Sandweg hinauflief, konnte ich es kaum erwarten, sie zu finden. Ich wollte endlich wissen, wie dieses Pferd, von dem ich schon so viel gehört hatte, aussah. Ein Freund hatte mir immer wieder von Jennifer erzählt. Sie lebte seit sieben Jahren im Regenwald. Wild, frei und allein.

Mein Herz hüpfte mit jedem Schritt. Ich war umgeben von einem grünen Dickicht und mächtigen zugerankten Bäumen. Exotische Vögel schrien wie in einem riesigen Tropenhaus. Nur dieses hatte kein Dach. Die Sonne knallte herab und bei jeder Bewegung brach mir der Schweiß aus.

Aufmerksam erkundete ich das unübersichtliche Gelände am vor mir liegenden Hang, bewegte mich langsam auf ausgetretenen Pfaden fort, hielt dabei immer wieder inne und suchte die Umgebung ab.

Ich entdeckte Jennifer schließlich auf einem Feld. Sie bediente sich seelenruhig am Grünzeug und hatte mich noch nicht bemerkt.

In etwa fünfzig Metern Entfernung blieb ich stehen. Ich hätte jubeln können vor Freude, doch ich hatte Angst, sie zu verschrecken. Ihre Mähne und ihr rotbraunes Fell waren zerzaust, aber sie wirkte gesund und stark.

Dann warf sie mir plötzlich einen kurzen Blick zu und flüchtete. Hinterherzulaufen wäre sinnlos gewesen.

Im Schatten setzte ich mich an den mächtigen Stamm eines Kapokbaumes und lauschte, erschöpft von der Suche. Das Meer rauschte von fern, Vögel zwitscherten durcheinander.

Ich wartete gespannt.

Auf einmal glaubte ich, ganz schwach Schritte auf dem Laub zu hören. Da war sie wieder: Jennifer lief hin und her, als wollte sie mich umkreisen, und kam behutsam Meter für Meter näher.

Als ich sicher war, dass sie es sehen konnte, holte ich eine Mango aus der Tasche und wickelte sie aus der Tüte aus. Ihre Ohren stellten sich auf. Neugierig hielt sie inne und starrte auf die Frucht in meiner ausgestreckten Hand.

Ein zögerlicher Schritt nach vorn, dann tänzelte sie wieder zur Seite. Skeptisch und unentschlossen hielt sie sicheren Abstand zwischen uns, obwohl ich auf dem Boden saß. Ihr Körper war viel mächtiger als meiner, eher wäre sie eine Bedrohung für mich gewesen.

Ich beobachtete sie geduldig. Einen Versuch war es wert: Nach einigen Minuten erhob ich mich langsam und bedächtig. Doch kaum hatte ich zwei Schritte auf sie zugemacht, galoppierte sie davon und ich sah die fuchsfarbene Stute zwischen den Bäumen verschwinden.

Was hatte sie so scheu werden lassen? Ich wusste es nicht. Doch egal, ich hatte sie tatsächlich gefunden.

Erschöpft lief ich den Pfad entlang zurück zur verlassenen Straße. Es war ein unglaublich starker Impuls in mir: Ich wollte dieses Pferd, das keinen Menschen in seine Nähe ließ, unbedingt haben.

TEIL 1

»Wache Seelen haben Sonnenaugen und Sonnenaugen blicken in das Ewige.«

Ernst von Wildenbruch

Heimweh geht vorbei

Ich träume viel. Auch tagsüber.

Wer immer einen Traum vor Augen hat, der ist stets auf der Suche, dem ist nie langweilig.

Mein Leben in Träumen: Zuerst war da der Traum von Unabhängigkeit, dann von künstlerischer Entfaltung, von einem Leben mit Pferden, vom Rampenlicht der Bühne – und von der Liebe, die alles vergessen macht.

Doch obwohl ich versucht habe, meine Träume zu leben, fiel ich irgendwann in ein tiefes schwarzes Loch. Und lernte am Ende, dass mein großes Glück in dem liegt, was ich mir nicht erträumen konnte …

Die Schule ist schon immer ein guter Platz zum Träumen gewesen. Die Schule und ich, wir waren nicht füreinander geschaffen. Ich war 15, ging in die neunte Klasse und träumte von Freiheit. Spätestens nach der zehnten würde ich die Idylle des bayrischen Landlebens ein für alle Mal hinter mir lassen, das wusste ich schon früh. Nichts sprach gegen das Leben hier in der Region – auf dem Land zwischen Nürnberg und Regensburg hatte ich mich austoben können. Meine Eltern hatten für ein Haus mit Garten für sich und ihre drei Kinder gesorgt und es fehlte uns an nichts. Aber wie das so ist – man wird älter und ahnt, dass die Welt noch mehr zu bieten hat.

Die grauen Klassenräume und Flure jedenfalls unterdrückten in mir jede Lust zu lernen und erst recht die Lust, mich noch ein Jahr hier an der Volksschule durchzukämpfen.

Und dann sah ich die Unabhängigkeit winken und folgte diesem Lockruf.

»Muss es so weit weg sein?«, fragte mein Vater besorgt, als ich ihm von dieser anderen Schule erzählte.

Ich hatte mir ein bisschen mehr Euphorie seinerseits erhofft. Immerhin hatte ich ihm gerade begeistert eröffnet, dass ich eine andere Schule besuchen wolle, um einen besseren Abschluss zu schaffen. War das nicht das Wichtigste für einen Lehrervater? Ich konnte doch nichts für den Zufall, dass die Schule acht Fahrstunden von zu Hause entfernt lag.

Die Frage meines Vaters war allerdings rhetorisch gemeint gewesen.

Ich antwortete nicht und lächelte ihn nur an.

»Wie kommst du auf so eine verrückte Idee?«, hakte er dann verwundert nach und stützte die Ellbogen auf den Küchentisch. »Du absolvierst die zehnte Klasse hier!« Er sah mich herausfordernd an.

Ich lehnte mich in meinem Stuhl nach hinten und verschränkte die Arme. »Die Schule oder keine. Du hättest sie sehen müssen.« Aber er war nicht dabei gewesen. Wie so oft in letzter Zeit. Es waren nur meine Mutter, meine Geschwister und ich für ein paar Tage verreist: In einer Kleinstadt in Niedersachsen lebte die Schwester meiner Mutter. Während unseres Aufenthalts hatte es sich dann ergeben, dass wir auch eine Kunstausstellung in einer Schule besuchten.

Ich konnte meinem Vater nicht beschreiben, warum mir dort alles freundlicher, einladender und sogar heller erschien, als wäre dort einfach alles möglich …

»Versuchst du es jetzt mit Erpressung? Und wenn ich Nein sage, gehst du dann nicht mehr zur Schule? Was willst du dann mit deinem Neunte-Klasse-Abschluss anstellen?«

Damit erwischte er mich auf dem falschen Fuß, das wusste er. Aber er kam damit nicht durch.

»Dann werd ich Reiterin im Zirkus!« Das war aus dem Ärmel geschüttelt. Ich senkte meinen Blick.

Mein Vater lachte leise und wirkte trotzdem wütend. »Du wärst dort allein, ohne Mama oder Papa.«

»Genau.« Ich blickte hoch und lächelte.

»Ich meine damit, du bist zu jung, um schon auszuziehen.«

»Ich kann für mich selbst sorgen und ich bin ja nicht ganz allein.« Immerhin lebte dort meine Tante. Es war alles schon abgesprochen. Sie hatte ein Zimmer für mich und würde gegenüber der Schule als mein Vormund auftreten.

Meine Mutter stand am Küchentresen und fing den Hilfe suchenden Blick meines Vaters auf. Sie zuckte mit den Schultern. »Es ist wirklich eine gute Schule. Ich kann mir vorstellen, dass es funktioniert.« Sie erzählte ihm etwas von anthroposophischer Ausrichtung und obwohl mein Vater ruhig zuhörte, rang er mit der Fassung. Ich verstand ihn nicht.

»Ihr zwei macht mich wahnsinnig«, sagte er nach ein paar Minuten Schweigen, jedes Wort einzeln betonend, und stand auf.

»Ich wandere nicht aus, ja? Es ist nur für ein Jahr!«, rief ich wütend. Dann war er eben nicht einverstanden. Ich hatte meine Mutter auf meiner Seite.

»Was ist mit deinem Pferd?«

Auch nichts anderes als Erpressung. »Da finde ich schon eine Lösung …«

»Viel Zeit bleibt dir nicht mehr. Die Sommerferien dort oben sind bald vorbei.« In lehrerhafter Pose stützte er sich stehend mit den Armen auf den Küchentisch. »Ihr könnt den Kombi haben, aber ich bin gegen das hier und deshalb werde ich dich nicht da hoch fahren.« Damit ging er.

Meine Mutter zog hilflos die Schultern hoch und setzte sich mit ihrem Tee an den Tisch. »Wir müssen entscheiden, was du alles mitnimmst.«

An meinem ersten Schultag im Norden schloss ich mein Fahrrad ab und ging im Kampf gegen meine Nervosität langsam über den Schulhof. Zehn Meter vor der Mauer musste ich dann einfach stehen bleiben und das Wandgemälde betrachten, eine farbige Ausgabe von Picassos Guernica in leuchtenden Farben. Hier würde alles besser werden, dachte ich. Hier wusste keiner, dass ich mich schwertat mit der Schule, am liebsten aus dem Fenster sah, wenn der Matheunterricht mich mal wieder besonders langweilte, und es nie erwarten konnte, nach Schulschluss endlich das zu tun, was mir Spaß machte.

Mein Herz klopfte, als ich durch die Flügeltür in das neue Gebäude trat. Darauf hatte ich seit Wochen gewartet. Jetzt lernte ich hier alles endlich richtig kennen. Mit meinem Rucksack auf dem Rücken und einer ordentlichen Ladung Stolz betrat ich den Klassenraum. Ich hatte einen Schritt gewagt, den ich anderen in meiner Klasse voraus hatte: Ich übernahm für mich selbst Verantwortung.

Und dann kam der Moment, als ich mich vorstellen sollte. »Hallo, ich heiße Veronika und komme aus Regensburg.« Ja, ich rollte das R, aber ich fand mein Hochdeutsch ganz ordentlich. Einige kicherten trotzdem. Egal, sagte ich mir, das machte mir gar nichts aus. Mein Dialekt würde sich noch legen. Alles eine Frage der Zeit.

Sie verging schnell, die Zeit. Die Unterrichtsstunden flogen nur so dahin. Die Lehrer waren alle ziemlich in Ordnung. Es gab zwei Mädchen in meiner Klasse, mit denen ich bald nachmittags Eis essen ging oder manchmal abends ins Kino. Dazwischen lagen unausgefüllte Nachmittage und Wochenenden, an denen ich mich mit mir selbst beschäftigen musste. Ich verbrachte viel Zeit mit meiner Tante, die unablässig reden konnte, wenn sie nicht gerade müde war von ihrem Schichtdienst im Krankenhaus. Wir kochten zusammen und sie versuchte mir das Stricken beizubringen. Bald zählte ich die Maschen und die Wochen bis zu den Herbstferien.

Ab da verging die Zeit dann auf einmal quälend langsam. Die Tage wurden kürzer und mir kam es so vor, als wenn die Wolken kaum noch Sonne durchließen. Vor dem Fenster meines Zimmers sah ich den Giebel des Nachbarhauses. Der Regen tropfte rhythmisch von der Dachrinne herunter. Auf meinem Schreibtisch standen ein Familienfoto – das letzte Bild zu fünft, bevor mein Vater ausgezogen war – und ein Foto von mir und meiner besten Freundin. An der Wand klebten die Pferdefotos, die schon in meinem Kinderzimmer zu Hause über dem Bett hingen, eines davon zeigte Jessica, meine Fuchsstute. Ich saß auf ihrem Rücken und strahlte in die Kamera, mein Collie-Mischling Wichtel blickte erwartungsfreudig zu mir hoch. Das Foto war gerade mal vor einem Jahr entstanden, an dem Tag, als mein Vater mir Jessica gekauft hatte. Jetzt hatte sie eine neue Besitzerin.

Mein Blick glitt von den Fotos zu dem Blatt Papier vor mir auf dem Schreibtisch. Ein Kalligrafie-Buch lag aufgeschlagen daneben. Ich wollte eigentlich einen Brief in Schönschrift an meine Oma schreiben. Das tat ich jede Woche. Aber heute fielen mir nur traurige Gedanken ein, die ich höchstens einem Tagebuch anvertrauen würde. Stattdessen tauchte ich die Feder in die schwarze Tinte und malte zufällige Linien und Bögen, bis das Blatt voll war. Es war ein Sonntagmittag im November. Der Tag war einfach nur grau, nicht nur das Wetter, alles an diesem Tag.

Ich legte die Schreibfeder ab und drehte mich in meinem Stuhl herum. Das Zimmer war voll mit meinen persönlichen Dingen, aber es war nicht mein Zuhause. Mein Leben hier war nur vorübergehend. Ich fühlte mich wohl, aber eben nur vorübergehend. So wie man sich auf einer Zugfahrt wohlfühlen kann, weil man weiß, dass man in ein paar Stunden am Ziel ist. Mein Ziel war aber noch weit entfernt. Auf dem Weg bis zum Ende des Schuljahres lagen noch der Winter, der Frühling und die Monate davor, dazwischen und danach, die sich nicht entscheiden konnten, was sie sein wollten.

Es klopfte an meiner Zimmertür und meine Tante steckte ihren blonden Lockenkopf herein: »Ich muss zur Arbeit. Ich hab Spätdienst, du wirst mich also heute nicht mehr sehen. Tut mir leid.«

»Kein Problem, bis morgen.«

Ich brauchte Ablenkung und nahm mir noch einmal mein Hausaufgabenheft: Das Buch für den Deutschunterricht hatte ich gelesen, alle Hausaufgaben waren erledigt und ich hatte mir freiwillig den Stoff der letzten Geschichtsstunden angesehen. Am Vormittag hatte ich schon ausgiebig mit meiner Freundin und meiner Schwester Helene telefoniert, die aufs Gymnasium gewechselt hatte.

Am Telefon musste ich nicht auf meine Aussprache achten. Diesmal hatte ich geweint, als ich zum Schluss mit meiner Mutter sprach. Normalerweise bin ich keine Heulsuse, sogar beim Abschied hatte ich mir die Tränen verkniffen. Schließlich hatte ich ja meinen Kopf durchgesetzt. Aber meine Mutter durchschaute mich schnell – ich hatte Heimweh. Und wenn ich heulte, dann richtig.

»Heimweh geht vorbei«, sagte sie tröstend. Klar, aber Beschäftigung wäre hilfreich. Meine Tante war jeden Tag nach der Schule für mich da. Am Wochenende aber hatte sie oft Schicht im Krankenhaus.

Doch es gab ja noch die Kinks. Ich schaltete den Kassettenplayer ein und breitete die große Mal-Pappe und Acrylfarben vor mir auf dem Boden aus. Gleich morgen brauchte ich Nachschub an Malpapier. Mit Pinsel und Farben ging die Zeit am schnellsten vorbei. Im Kunstunterricht stand ich wegen meines neuen Hobbys schon wie ein Streber da. Wenn wir eine Aufgabe für zu Hause bekamen, fertigte ich manchmal mehrere Varianten an, einfach so, weil ich in Fahrt war.

Ich schreckte hoch von meinem Kunstwerk, als der Knopf am Kassettenplayer hochschoss, weil die A-Seite vorbei war. Vor mir auf dem Blatt flog eine blaue Taube über den Himmel. Es gefiel mir. Meine Beine waren eingeschlafen und ich brauchte frische Luft.

Es gibt kein schlechtes Wetter, nur falsche Kleidung, sagte meine Tante immer. Also schlüpfte ich in meine Regenjacke und schob mein Fahrrad vom Hof. Draußen war niemand zu sehen. Ich kurvte um die Pfützen herum, nahm die Straße, die aus dem Ort herausführte, bis ich auf einen Feldweg abbog. Wie besessen trat ich in die Pedale, sah nur mein Vorderrad und den schlammigen Weg. Der Fahrtwind trieb mir die Tränen aus den Augenwinkeln. Nur der Fahrtwind. Was machte ich hier eigentlich? Wichtel vermisste mich bestimmt wie wahnsinnig. Und auch er fehlte mir. Und meine Schwester und meinen Bruder vermisste ich natürlich ebenfalls.

Langsam hörte der Regen auf.

Ich schoss durch eine Pfütze, die unerwartet tief war. Natürlich rutschte ich aus und landete halb im Wasser. Fluchend stand ich auf und zog das Fahrrad hoch. Meine Hose war matschig bis zu den Knien. Ich wischte meine Hände an der Hose ab und fühlte mich plötzlich ganz klein. Das Einzige, was ich in diesem Moment wollte, war eine Umarmung meiner Mutter und ihre sanften Hände, die über mein Haar streichelten. Oder Wichtel, der seine Schnauze an mein Bein stieß und um Aufmerksamkeit bettelte.

Ich schob mein Rad weiter. Die Nässe formte sich zu Nebel, der tief über der Wiese schwebte. Über dem Horizont riss der Himmel auf und Blassblau schimmerte durch das Grauweiß. Auf einer umzäunten Wiese entdeckte ich einen Holzunterstand. Dahinter bewegte sich etwas. Ein Kopf mit strubbeliger Mähne schaute um die Ecke. Dann kam ein zweiter hellbrauner Kopf zum Vorschein und testete, ob es trocken blieb von oben. Ich schnalzte und wartete. Langsam trabten die beiden Pferde durch den Bodennebel in meine Richtung – ein fuchsrotes und ein braun-weiß geschecktes.

»Hey, ihr beiden. Hallo!«, sagte ich leise und streckte meine Hand aus. Die zartere der beiden Stuten stupste meine Hand an. Ich ließ sie schnuppern und berührte vorsichtig ihren Nasenrücken. Sie erinnerte mich an Jessica. Plötzlich sah ich nur noch verschwommen und spürte Tränen aufsteigen.

»Schön habt ihr es hier.« Sie schnaubte. Ich streichelte ihr warmes, noch feuchtes Fell und auch die andere Stute schien jetzt nur auf Streicheleinheiten zu warten. Mit ihren tiefen, dunklen Augen sahen mich die beiden an. Ich berührte ihre warmen samtenen Nüstern.

Die Tränen liefen mir die Wangen herunter und trockneten langsam. Ich summte vor mich hin, auch wenn das kein »sunny afternoon« war.

Während die Pferde anfingen zu grasen, setzte ich mich auf das Holzgatter und sah ihnen zu. Sie blieben bei mir, bis es dämmerte und ich losfuhr. Ich nahm mir vor, am nächsten Tag wiederzukommen, diesmal mit ein paar Äpfeln in der Tasche. Vielleicht traf ich ja jemanden hier und konnte so herausfinden, wem die Pferde gehörten.

Zurück zu Hause nahm ich mir das Telefon und rief meinen Vater an.

Wir beide am Telefon, das war meist eine kurze Angelegenheit. Aber heute war es anders.

»Veronika, ich mach mir doch nur Sorgen, weil du so weit weg bist!«

Ich musste einen Kloß im Hals hinunterschlucken, bevor ich sprechen konnte. »Ich hab mir etwas überlegt. Ich möchte doch nicht im Zirkus arbeiten.«

Ich hörte ihn lachen.

»Ich will etwas Kreatives machen, wenn ich zurückkomme. Und am besten in der Nähe bleiben.«

»Ist es so schlimm für dich, dass du doch wieder nach Hause willst?«

»Nein … meistens nicht … nur wenn ich hier zu lange allein herumsitze. Papa, ich hab mir ja nicht eingebildet, dass das hier leicht ist.«

»Du bist ein Dickkopf, du schaffst das.«

Beim Einschlafen sah ich mich schon als Künstlerin mit extravaganten Blusen, bunten Kopftüchern und Farbe unter den Fingernägeln und der Gedanke meldete sich am nächsten Morgen wieder. Irgendetwas Kreatives – ich brauchte Beratung. Nach dem Kunstunterricht fragte ich meinen Lehrer nach seiner Meinung dazu – vielleicht bildete ich mir ja nur etwas ein und hatte gar kein Talent in dieser Richtung.

»Du willst wissen, ob Kunst etwas wäre, was du weiterverfolgen solltest?«

»Es macht mir Spaß, es muss ja nicht Malerei sein, aber es gibt doch sicher einige Berufe, in denen man kreativ etwas gestalten kann.«

»Kunst kann man natürlich studieren, Abitur vorausgesetzt.«

Ich schüttelte den Kopf. »Kein Abitur. Ich muss etwas Praktisches machen.« Wenn ich Abi hätte machen wollen, hätte ich zu Hause längst aufs Gymnasium wechseln können – aber das war nichts für mich.

»Es gibt Fachoberschulen mit dem Bereich Design/Gestaltung. Da wird viel praktisch gearbeitet.«

»Ich werde mal schauen, wo es so eine in Bayern gibt.«

»Du willst wieder zurück nach Hause?«

Ich nickte.

»Bis zum Ende des Schuljahres ist ja noch Zeit und dann willst du vielleicht doch nicht mehr weg hier.«

Er betrachtete mein Bild mit der Taube. »Du hast Ideen, das ist mir schon aufgefallen. Wenn andere noch grübeln, womit sie anfangen sollen, bist du schon mitten in der Arbeit. Mach was draus!«

»Wenn das mal im Matheunterricht auch so wäre.«

Da leuchteten seine Augen plötzlich auf. »Hast du Lust auf ein größeres Projekt? Du kennst doch das Wandgemälde von Picasso draußen?«

Seine Idee war, das Gemälde zu erweitern, im Picasso-Stil. Er bräuchte nur einen Entwurf von mir, das könnte ich dann an die Wand bringen. »Wenn dir das nicht zu viel Arbeit ist – das kann Wochen dauern.«

Für mich war das keine Arbeit. Zwei Wochen lang malte ich an meinem Kunstwerk auf der drei Meter hohen Wand – ein Mädchen mit einer Taube, in dreifacher Ausführung, wachsend von klein auf groß. Die blaue Farbe blieb unter meinen Fingernägeln kleben und ließ sich nicht mehr wegschrubben. Ein paar Tage, nachdem ich fertig war, stand ein Fotograf vor mir. Er wollte ein Foto davon machen, für die örtliche Zeitung – die Künstlerin vor ihrem Werk, mit Mütze und altem vollgekleckstem Wollpulli.

Ich lächelte breit, als er die Kamera vors Gesicht hob und abdrückte.

Mädchentraum

Der Schmutz in meinen Handflächen vermischte sich mit Schweiß, als ich auf das Pferd zuging. Der junge Hengst zerrte am Halfter, mein Chef hatte ihn fest im Griff. Trotzdem hatte er mich mit seinem Buckeln aus dem Sattel katapultiert. Die dunkle Schicht, die sich unter meinen Fingernägeln festgesetzt hatte, war keine Farbe, sondern Sand, Erde, Mist, Zeichen meiner Knochenarbeit der vergangenen sechs Monate im Dressurstall. An der Fachoberschule in Nürnberg, bei der ich mich beworben hatte, war mein Schulabschluss aus Niedersachsen nicht anerkannt worden. Im Dressurstall hingegen war das zum Glück kein Problem. Erst mal widmete ich mich also meiner anderen Leidenschaft – den Pferden. Künstlerin konnte ich später immer noch werden. »Ich versuche es gleich noch mal«, sagte ich mit fester Stimme, nachdem ich mich wieder gefangen hatte. Ich war nicht das erste Mal von einem Pferd gefallen. Der Hengst trappelte mit den Hufen hin und her. Ich musste gut auf meine Füße aufpassen, als ich neben ihm stand, und stieg dann schnell in den Steigbügel. In einem Zug schwang ich das rechte Bein über seinen Rücken und saß wieder im Sattel.

Ich wollte ihn mit meiner Stimme beruhigen, während ich die Zügel fest anzog. »Ja, das magst du nicht, ich weiß. Ganz ruhig. Nur ein paar Minuten. Und los.«

Sanft drückte ich meine Unterschenkel in seine Seiten und er setzte sich in Bewegung. Seine Halsmuskulatur war angespannt und als wollte er gegen die Zügel anrennen, schoss er plötzlich los. Mein Chef konnte ihn nicht halten.

Ich zog stärker an den Zügeln, versuchte ihn zu bremsen, setzte mich tiefer in den Sattel. Der Hengst riss die Vorderhufe hoch, meine Füße glitten aus den Steigbügeln und ich hob ab. Im Fallen ließ ich die Zügel los und landete auf der Seite.

Sand klebte an meiner Wange. Meine Schulter schmerzte. Ich brauchte einen Moment, bis ich mich aufrappeln konnte. Der Hengst stand ruhig da. Er hatte seinen Willen bekommen.

Mein Chef näherte sich ihm vorsichtig und packte ihn wieder am Halfter. »Alles in Ordnung?«, fragte er. Ich nickte. »Dabei lief er so schön an der Longe. Gestern hat er sich das Aufsitzen doch schon gefallen lassen.«

Ich klopfte mir den Staub von der Hose und lächelte geknickt. Jede Bewegung tat mir weh. »Mit dem haben wir wohl noch ein bisschen Arbeit vor uns!«

Ich übernahm den Hengst und führte ihn hinaus auf die Weide. Als ich ihm das Halfter abnahm, galoppierte er sofort los.

Das war bisher die schmerzhafteste Unterrichtsstunde gewesen, vom Muskelkater in der Anfangszeit abgesehen. Für heute hatte ich genug vom Reiten und war froh, dass ich mich jetzt wieder ums Ausmisten kümmern konnte: 27 Pferdeboxen – ich brauchte zwei Stunden, bis ich durch war. Zum Glück konnte ich dabei wenigstens kurz Suleika Hallo sagen, meiner Shagya-Araberstute, ein Geschenk meines Vaters zum guten Schulabschluss. Sie wartete schon darauf, dass sie dran war mit dem Reiten. Doch ich musste Suleika auf später vertrösten und fegte zuerst weiter den Hof. Bald schon versank ich angesichts der monotonen Arbeit in Gedanken. »Du hast echt was drauf!«, riss mich auf einmal eine Stimme aus meinen Träumen. Ich schreckte hoch, als Johannes scheppernd seine beiden Eimer neben sich abstellte. Er stützte die Hände in die Hüften.

Ich mochte Johannes. Er war zwanzig Jahre alt, schlaksig und arbeitete von früh bis spät wie wir alle hier, aber er hatte immer ein Lächeln auf den Lippen. Wenn ich um fünf Uhr morgens in den Stall kam, war Johannes stets schon da. Manchmal setzten wir uns am Vormittag zusammen hin, aßen unsere Brote und er teilte seinen Kaffee mit mir. Anfangs hatte er mir oft geholfen, wenn ich abends nicht fertig geworden war.

»Was?«, fragte ich verwirrt.

»Wie du einfach wieder aufgestiegen bist nach dem Sturz.«

»Das gehört dazu.« Ich lächelte. Selbst wenn das Pferd nicht wollte, ich musste es einfach wieder versuchen.

»Du bist zäh!«

»So leicht wird mich niemand los.«

Er lachte. »Hast du dir wehgetan?«

»Nicht schlimm.«

»Ich mach jetzt Feierabend. Bis morgen Früh.«

Johannes brachte die Eimer um die Ecke und war weg.

Es war 19 Uhr und nachdem ich den Hof gefegt hatte, war auch für mich Feierabend. Am liebsten wäre ich direkt ins Bett gefallen. Stattdessen nahm ich ein Halfter und ging zu Suleika, die gerade anfing, gegen die Wand ihrer Box zu treten. Von der anderen Seite der Wand kam lautes Wiehern.

»Suleika, hör doch auf. Zeit für Bewegung.« Mir tat alles weh, als ich aufstieg. Aber es musste sein. Den Sattel ließ ich weg, weil ich ihn nicht mehr heben wollte und ich es viel lieber mochte, Suleikas Rücken zu spüren.

Eine halbe Stunde ritten wir über die Felder hinter dem Hof.

Suleika war das eigensinnigste Pferd, das mir je begegnet ist, und ich liebte sie dafür. Sie ließ niemand anderen in ihre Box, aber das war kein Problem, denn das Ausmisten und Füttern war ja hier meine Aufgabe. Wenn sie nur die anderen Pferde in Ruhe gelassen hätte. Ich hatte den Eindruck, sie war eifersüchtig.

Nach dem Ausritt brachte ich sie für die Nacht auf die Koppel. Hoffentlich sorgte sie bei den anderen Pferden nicht für Ärger.

Es war gerade dunkel, als ich Halfter und Putzzeug wegräumte. Ich schlurfte mit schweren Beinen über den Hof auf das Wohnhaus zu.

Mir fielen fast die Augen zu und ich freute mich auf die Dusche und mein Bett, als ich plötzlich meinen Namen hörte.

»Warte, ich hab noch was mit dir zu besprechen«, rief mein Chef und kam auf mich zu. Oh nein. Ich hatte dem Pferd in der Dressurstunde heute nichts entgegenzusetzen gehabt, weil ich zu jung war, ein erst 17-jähriges Mädchen. Das war es, was er bemängeln würde. Irgendwie wartete ich schon die ganze Zeit darauf. Die Ausbildung im Dressurstall war eigentlich erst ab 18 vorgesehen. Mein Chef war indes kulant gewesen und hatte die ausdrückliche Erlaubnis meiner Eltern akzeptiert und jetzt bereute er es. Dabei war ich kein zartes Mädchen und ich hatte auch kein Problem mit harter Arbeit. Ich würde ihm versprechen, schneller zu arbeiten. Ich war nun mal als Lehrling für die Drecksarbeit zuständig.

»Ich schätze, du hast es schon selbst mitbekommen.« Ich nickte und wollte gerade ansetzen, da sprach er weiter. »Leider musst du eine andere Lösung für dein Pferd finden. Sie bringt zu viel Unruhe in den Stall.« Ich war kurz sprachlos, während er auf eine Antwort wartete. »Überrascht dich das?«

»Nein, Sie haben völlig recht.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich hatte ehrlich gesagt mit etwas ganz anderem gerechnet.«

»Womit?«

»Ich kam mit dem Jungpferd heute nicht zurecht. Das ärgert mich immer noch.«

»Mach dir keine Sorgen. Der heute ist ein Ausreißer. Du hast ein sehr feines Gespür für jedes Pferd. Das hab ich schon gesehen, als du beim ersten Mal vorgeritten bist. Sonst hätte ich dich nicht eingestellt, glaub mir.«

Meine Mundwinkel wanderten nach oben. Ich hatte mich wohl gut angestellt. Das hier schien mir der klassische Weg zu sein – vorbestimmt für ein Mädchen, das mit neun Jahren anfing mit Reitstunden und Voltigieren und mit zwölf Jahren das erste Pflegepferd hatte. Niemand in meiner Familie teilte meine Pferdeliebe. Aber hier fühlte ich mich gut aufgehoben, als hätte ich ein zweites Zuhause gefunden.

»Es ist zwar noch zwei Jahre hin, aber vielleicht stelle ich dich nach der Ausbildung ein. Jemanden wie dich kann ich gut gebrauchen als Bereiterin«, fügte mein Chef hinzu.

»Wow, vielen Dank … Tja, Suleika ist wohl nicht für einen so großen Stall geschaffen …«

»Alles klar. Du findest schon eine Lösung. Gute Nacht!«

Er stapfte davon. Jetzt erst wurde mir langsam bewusst, was das für Suleika bedeutete. Mir war nach Schreien und Fluchen. Hatte er mir das unbedingt jetzt am Abend sagen müssen? Ich war zu müde, um mir jetzt noch Gedanken darüber zu machen. Das war eine ganz große verdammte … es war einfach nicht fair.

Gleich die erste Kaufinteressentin war dann begeistert von Suleikas Statur und ihrem gepflegten weißen Fell. Sie kaufte sie für einen guten Preis als Zuchtpferd. Es gab ab da für mich keinen Grund mehr, am Wochenende hierzubleiben, und so nahm ich jeden Freitag den Zug nach Hause. In meinem alten Kinderzimmer schlief ich durch und kurierte meinen Muskelkater. Ich hatte Schwielen an den Händen, an Oberarmmuskulatur beträchtlich zugelegt und einen Rückenschmerz, der sich hartnäckig hielt. Aber ich blieb auch konsequent dabei, in der Überzeugung, dass ich mich schon irgendwann an die körperliche Arbeit, das frühe Aufstehen und die Überstunden gewöhnen würde.

Mit 27 Pferden und überdies Reitschülern und Pferdebesitzern mit Sonderwünschen lief es nicht immer nach Plan. Das war nach einem Jahr noch genauso wie zu Beginn.

Und dann war wieder einmal so ein Tag, der unendlich viel Energie kostete. Die Woche war erst zur Hälfte vorbei, aber ich fühlte mich, als wäre ich gerade einen Marathon gelaufen, nur ohne die Euphorie, eher so, als wäre es nur die erste Etappe gewesen. Der Arbeitstag war mein persönlicher Marathon. Ich fiel aus dem Bett in meine schmuddeligen Arbeitsklamotten, schlurfte über den dunklen Hof und kniff die Augen zusammen, um mich vor dem Licht im Stall zu schützen.

Johannes pfiff ein Lied, ich schaufelte und schippte wie ein Zombie und versuchte dabei, das Stöhnen zu unterdrücken, wenn sich mein Rücken meldete, damit ich nicht auch noch klang wie einer. Ich streute Stroh aus, karrte Dreck weg und wagte nicht, mich auch nur eine Minute auf die Mistgabel zu stützen, weil ich befürchtete, im Stehen einzuschlafen.

Die drei Mädchen, die nachmittags zum Reitunterricht kamen, beneideten mich trotzdem. Sie waren wie ich früher. Ihre Augen leuchteten, als sie mit ihren Reitstiefeln und -helmen den Stall betraten und ihr jeweiliges Lieblingspferd begrüßten. Ich beaufsichtigte sie, als sie ehrfürchtig ihr Pferd striegelten, kratzte mit ihnen zusammen die Hufe aus und dann legten wir die Pferde nacheinander zum Warmlaufen an die Longe. Sie strahlten, als sie endlich oben saßen und ihre Runden drehten. Der Unterricht mit den Mädchen war mein Höhepunkt des Tages.

Und dann betrat sie auch schon den Stall. Wie Cruella de Vil auf der Suche nach den Dalmatinern stand sie auf einmal wie aus dem Nichts aufgetaucht da. Ihre schwarz-weiß gefleckte Stola, die sie sich immer über die Schultern hängte, zu ihren rot geschminkten, missbilligend verzogenen Lippen erinnerte mich immer wieder unwillkürlich an den Disney-Film.

»Ist Kira vorbereitet?«

Ich erschrak und sah auf die Uhr. Mit den Mädchen hatte ich die Zeit etwas außer Acht gelassen. Cruellas Pferd müsste bereits gesattelt und gebürstet sein. Nicht mal das Warmreiten übernahm diese Frau gern selbst. Lieber bezahlte sie andere dafür.

»Es tut mir leid, dafür hatte ich noch keine Zeit. Kira steht noch auf der Weide.«

Da kam Johannes um die Ecke und blieb im Stalleingang stehen. Er nickte mir zu und ging schnellen Schrittes los. Ein Retter in höchster Not.

Cruella hatte uns ihr Pferd zum Bereiten gebracht, weil es vom Vorbesitzer völlig verzogen gewesen wäre, wie sie behauptete. Ich hatte mich vier Wochen lang fast täglich mit der Stute beschäftigt, erst unter Anleitung meines Ausbilders, dann, nachdem er sie mir anvertraut hatte, allein. Manchmal versuchte sie noch ihren Sturkopf durchzusetzen, aber ich wiederholte konsequent die Befehle, bis sie mich verstand. Sie lief an der Longe ihre Runden und führte die Gangarten perfekt aus, wenn ich im Sattel saß. Ich sah kein Problem mehr. Die Lektion heute hatte ich deshalb etwas kürzer gehalten, weil noch so viel zu tun war. Ich verstand nicht, wie Cruella dieses Pferd als verzogen bezeichnen konnte. So schlimm war es nicht. Ging es ihr nur darum, schön auszusehen, oder wirklich um die Liebe zum Pferd? Cruella und ich hatten jedenfalls nicht viel gemeinsam.

Jetzt sah sie mich missbilligend an und ließ ihren Blick von unten nach oben schweifen, von meinen Gummistiefeln über meine schäbigen, schmutzigen Klamotten bis hinauf zu meinen Haaren, die ich heute früh um fünf schnell zusammengeknotet hatte. Hätte sie den ganzen Tag im Stall geackert, statt in ihrem Bürosessel zu thronen, sähe sie auch anders aus … Die konnte mich mal. Ohne die Miene zu verziehen, drehte ich mich um und ging Johannes entgegen, der mit Kira um die Ecke kam. Ich nahm sie ihm ab und murmelte ein Dankeschön. Dann schlug ich Cruella vor, mir bei der Vorbereitung zu helfen. Das wäre auch positiv für die Bindung zwischen Pferd und Reiterin, erklärte ich ihr und wusste sogleich, dass das ein Fehler war.

»Das Pferd kennt mich gut genug. Angesichts des Geldes, das ich an den Reitstall zahle, ist dein Vorschlag eine Frechheit!« Sie lachte und wandte sich ab, wahrscheinlich um meinem Chef brühwarm davon zu erzählen. »Im Übrigen verfüge ich über etliche Jahre mehr Reiterfahrung als du. Ich hatte nur die besten Pferde und die haben mir alle gehorcht!«

Das Pferd tat mir leid. Für Cruella war es nicht mehr als ein Sportgerät. Bestimmt hatte sie wieder etwas an Kira auszusetzen, wenn sie fertig war.

Ich widmete mich dem schönen Pferd mit Hingabe und unterdrückte die Tränen. Für einen Heulkrampf war keine Zeit – die anderen Pferde warteten auf ihr Kraftfutter und ich verkniff mir zu zeigen, wie wütend ich war.

In diesem Moment hätte ich am liebsten alles hingeschmissen. Ich wollte den Tag nur noch hinter mich bringen und den danach auch und dann nach Hause fahren. Und vielleicht gar nicht mehr wiederkommen. Aber das ging ja nicht. Es musste weitergehen.

Ich longierte die Pferde, ließ sie Schritt gehen, traben und galoppieren, Bahn um Bahn, wechselte die Gangart und achtete auf ihre Haltung. Es war doch meine verdammte Pflicht, dass sie begriffen, was ich von ihnen wollte. Mein Chef hielt doch so viel auf mich – ich durfte ihn nicht enttäuschen.

Wenn sie das Grundsätzliche dann gelernt hatten, kam die nächste Stufe: Figuren reiten.

Am Ende eines langen Tages wollte ich mich oft gar nicht mehr wieder auf ein Pferd setzen. Erschöpft fiel ich ins Bett und hoffte auf die regenerierende Kraft des Schlafes. Nur zu einem letzten Gedanken war ich fähig, bevor ich wegdriftete: Wenn ich Pferde doch so liebte, warum hatte ich dann so häufig keine Lust mehr, morgens aufzustehen?

Kurzentschlossen