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Psychotherapie in Psychiatrie und Psychosomatik

 

Herausgegeben von

Gerhard Dammann

Isa Sammet

Bernhard Grimmer

Bernhard Grimmer, Till Afflerbach,
Gerhard Dammann (Hrsg.)

Psychoandrologie

Psychische Störungen des Mannes und ihre Behandlung

Verlag W. Kohlhammer

 

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1. Auflage 2016

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-028489-0

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-028490-6

epub:    ISBN 978-3-17-028491-3

mobi:    ISBN 978-3-17-028492-0

 

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Die Reihe
»Psychotherapie in Psychiatrie und Psychosomatik«

 

 

 

 

Der psychotherapeutische Ansatz gewinnt gegenwärtig in der Psychiatrie und Psychosomatik neben dem dominierenden neurobiologischen und psychopharmakologischen Modell (»Biologische Psychiatrie«) wieder zunehmend an Bedeutung. Trotz dieser Renaissance gibt es noch vergleichsweise wenig aktuelle Literatur, die psychiatrische und psychosomatische Störungsbilder unter vorwiegend psychotherapeutischem Fokus beleuchtet.

Die Bände dieser neuen Reihe sollen dabei aktuelle Entwicklungen dokumentieren:

•  die starke Beachtung der Evidenzbasierung in der Psychotherapie

•  die Entwicklung integrativer Therapieansätze, die Aspekte von kognitiv-behavioralen und von psychodynamischen Verfahren umfassen

•  neue theoretische Paradigmata (etwa die Epigenetik oder die Bindungstheorie und die Theorie komplexer Systeme in der Psychotherapie)

•  aktuelle Möglichkeiten, mit biologischen Verfahren psychotherapeutische Veränderungen messbar zu machen

•  die Entwicklung einer stärker individuellen, subgruppen- und altersorientierten Perspektive (»personalisierte Psychiatrie«)

•  neu entstehende Brücken zwischen den bisher stärker getrennten Fachdisziplinen »Psychiatrie und Psychotherapie« sowie »Psychosomatische Medizin« und »Klinische Psychologie«

•  eine Wiederentdeckung wichtiger psychoanalytischer Perspektiven (Beziehung, Übertragung, Beachtung der konflikthaften Biografie etc.) auch in anderen Psychotherapie-Schulen.

Die Bücher sind eng verbunden mit einer Tagungsreihe, die wir in Münsterlingen am Bodensee durchführen. Die 1839 gegründete Psychiatrische Klinik Münsterlingen, die heute akademisches Lehrkrankenhaus ist, hat, in der schweizerischen psychiatrischen Tradition stehend, eine starke psychotherapeutische Ausrichtung und in den letzten Jahren auch eine störungsspezifische Akzentuierung erfahren. Hier entwickelten und entdeckten der Psychoanalytiker Hermann Rorschach um 1913 den Formdeutversuch und der phänomenologische Psychiater Roland Kuhn im Jahr 1956 das erste Antidepressivum Imipramin.

Die Bände der Reihe »Psychotherapie in Psychiatrie und Psychosomatik« sollen jedoch mehr als reine Tagungsbände sein. Aktuelle Felder aus dem Gebiet der gesamten Psychiatrie und Psychosomatik sollen praxisnah dargestellt werden. Es wird keine theoretische Vollständigkeit wie bei Lehrbüchern angestrebt, der Schwerpunkt liegt weniger auf Ätiologie oder Diagnostik als klar auf den psychotherapeutischen Zugängen in schulenübergreifender und störungsspezifischer Sicht.

Gerhard Dammann, Bernhard Grimmer und Isa Sammet

Vorwort

 

 

 

 

Im soziologischen und psychologischen Diskurs der vergangenen Jahre entsteht der Anschein, dass dem Mann und der Männlichkeit in deren spezifischer Entwicklung, Identität, Funktion, Psychodynamik und Rolle zunehmend etwas Pathologisches zugeschrieben wird: Sind nicht die Männer verantwortlich für Krieg, Machtexzesse und sexualisierte Gewalt in unserer Welt? Immer mehr Störungsbilder werden mit dem männlichen Geschlecht in Verbindung gebracht: ADHS, Autismus-Spektrums-Störungen, narzisstische und antisoziale Persönlichkeitsstörungen, frühe und schwere Verläufe der Schizophrenie. In der politischen Soziologie spricht man von den »radikalen Verlierern«: Schon die Jungen gelten zunehmend als unflexibler und schwieriger als Mädchen.

Dabei ist weitgehend unklar, ob es sich in diesen Bereichen um höhere psychologische Vulnerabilitäten handelt und welche Faktoren dafür verantwortlich sein könnten oder ob, zumindest partiell, männliche Eigenschaften an sich zunehmend pathologisiert werden.

Aber was ist das spezifisch Männliche, das Väterliche – wie ist sein Blick auf die Welt? Aus welchen Gründen kommen sie oder kommen sie gerade nicht in psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlungen und welche Herausforderungen ergeben sich dabei für Therapeutinnen und Therapeuten? Sich diesen Fragen in der nachpatriarchalischen Gesellschaft zu nähern ist nicht ohne Tücken, setzt man sich doch allzu leicht dem Verdacht aus, alten Klischees, Geschlechterrollenstereotypien und Determinismen nachzuhängen.

Wir sind überzeugt, dass echte Emanzipation in Gesellschaft und Therapie des kritischen Diskurses und der Betrachtung aller Geschlechter bedarf. Dabei entsteht der Eindruck, dass der Mann hinsichtlich einer konstruktiven Betrachtungsweise seiner Besonderheiten und Bedürfnisse in Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie traditionell etwas im Abseits steht. Entgegen diverser elaborierter Betrachtungsweisen zu frauenspezifischen Störungen und Bedürfnissen ist der Mann, vom Jungen bis zum Greis, zumindest in genderspezifischer Betrachtungsweise noch weitgehend terra incognita. Erst in den letzten Jahren beginnt hier eine vertiefte Auseinandersetzung, die sich auch an aktuell verschiedenen Tagungen zum Thema oder einer Häufung populärwissenschaftlicher Ratgeberliteratur ablesen lässt.

Freuds berühmte Frage: »Was will das Weib?«, müsste heute fast paraphrasiert werden: »Was ist mit dem Mann?«. In dem vorliegenden Band geben renommierte Autorinnen und Autoren verschiedene Antworten auf diese Frage aus soziologischer und zeitgeschichtlicher, medizinischer, psychiatrischer, psychoanalytischer, entwicklungspsychologischer und paartherapeutischer Sicht. Es geht um junge und alte Männer, um Väter und Söhne, um beheimatete und emigrierte Männer, um Männer in Beziehung zu Frauen, um ihre Beziehung zum eigenen Körper, zu den unbelebten Dingen und um ihre Sexualität. Es geht um »typisch« männliche psychische wie somatische Leidensformen und um Männer in der Psychotherapie.

Bernhard Grimmer
Till Afflerbach
Gerhard Dammann

Münsterlingen, im Oktober 2015

Inhalt

 

 

 

 

  1. Die Reihe »Psychotherapie in Psychiatrie und Psychosomatik«
  2. Vorwort
  3. 1 Zwischen Erwerbsarbeit und Familie – Zum Wandel männlicher Lebenslagen
  4. Michael Meuser
  5. 2 Betrachtungen zur Männergesundheit
  6. Theodor Klotz
  7. 3 Männliche Jugendliche – Körper, Identität und Beziehungen
  8. Inge Seiffge-Krenke
  9. 4 Ältere Männer und Psychotherapie – Von der Geschichte eines Ressentiments
  10. Meinold Peters
  11. 5 Macht und Ohnmacht – Migranten mit somatoformen Schmerzstörungen
  12. Thomas Maier
  13. 6 Impulsivität bei Jugendlichen
  14. Dieter Bürgin
  15. 7 Fluchtdrang – Externalisierung, Internet und Männlichkeit
  16. Till Afflerbach
  17. 8 Männliche Perversionen
  18. Sophinette Becker
  19. 9 Der Mann in der psychodynamischen Psychotherapie – Geschlechtsspezifische Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse
  20. Bernhard Grimmer
  21. 10 Funktionen des Vaters und mögliche Folgen ihrer Zerstörung
  22. Gerhard Dammann
  23. 11 »Typisch Mann!« – Nur ein Klischee oder steckt mehr dahinter?
  24. Astrid Riehl-Emde
  25. Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
  26. Stichwortverzeichnis

1          Zwischen Erwerbsarbeit und Familie – Zum Wandel männlicher Lebenslagen

Michael Meuser

 

Seit Beginn des 21. Jahrhunderts ist die gesellschaftliche Situation von Männern, sind männliche Lebenslagen vermehrt in den Blick der medialen Öffentlichkeit geraten. Der Grundtenor der Berichterstattung ist von einem Krisennarrativ bestimmt. Wenn vom »Ende der Männer« – und dem »Aufstieg der Frauen« (Rosin 2013) – oder von der »Not am Mann« (Die Zeit, Nr.2/2014) die Rede ist, scheint der Niedergang des männlichen Geschlechts nicht mehr fern zu sein. Die Männer scheinen sich auf der Seite der Verlierer gegenwärtiger gesellschaftlicher Entwicklungen zu befinden –Verlierer im Geschlechterkonflikt, wenn nicht Modernisierungsverlierer schlechthin. Solche Dramatisierungen mögen einer medialen Aufmerksamkeitsökonomie geschuldet sein. Unabhängig von den Aufgeregtheiten, die mit dem Krisendiskurs erzeugt werden, ist allerdings festzuhalten, dass tradierte männliche Lebenslagen im Zuge des Wandels von Geschlechter-, Familien- und Erwerbsverhältnissen in vielfacher Weise herausgefordert sind. Männer sind gefordert, sich neu zu positionieren.

Lothar Böhnisch (2003, S. 25) identifiziert mit Blick auf die gesellschaftliche Position des Mannes »zwei Argumentationsfiguren zur Krise des Mannseins«; die eine bezieht sich auf den »gesellschaftlichen Aufstieg der Frau«, die andere auf die Verstrickung des Mannseins »in die Logik der Ökonomie«. Angesichts der »Berufsbezogenheit des Mannes« sei dessen Krise »auch immer mit der Krise der Berufs- und Arbeitsgesellschaft verbunden« (ebd., S. 198). Die mit den beiden Argumentationsfiguren angesprochenen Verhältnisse sind eng aufeinander bezogen und schließen ein drittes ein: das der Familie. Veränderungen in einem Bereich tangieren die anderen. Der seit den 1960er Jahren sich vollziehende Bildungsaufstieg der Frauen verändert deren Position auf dem Arbeitsmarkt, sie werden zu potenziellen Konkurrentinnen der Männer. Die gestiegene und weiterhin steigende Erwerbsquote der Frauen macht das Problem der Vereinbarkeit von Beruf und Familie der Tendenz nach zu einer beide, Mann und Frau, betreffenden Frage, lässt mithin die Position des Mannes in der Familie nicht unberührt. Der Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft geht mit einem Abbau von Arbeitsplätzen in der Industrieproduktion, in der männliche Arbeitskräfte in der Überzahl sind, und einem Zuwachs von Arbeitsplätzen im Dienstleistungsbereich einher, in dem weibliche Arbeitskräfte überwiegen.

Diese Entwicklungen implizieren nicht zwangsläufig, dass tradierte Hierarchien im Geschlechterverhältnis in ihr Gegenteil verkehrt werden, wie es von Teilen des Krisendiskurses vermittelt wird. Sie haben aber zur Folge, »dass sich die männliche Herrschaft nicht mehr mit der Evidenz des Selbstverständlichen durchsetzt« (Bourdieu 1997, S. 226). Sie muss in wachsendem Maße begründet und legitimiert werden. Hohe Führungspositionen in der Wirtschaft z. B. sind nach wie vor nahezu ausschließlich mit Männern besetzt. Wie die andauernde Debatte über Quotenregelungen zeigt, wird dies aber nicht mehr als eine Selbstverständlichkeit wahrgenommen. Die Quotendiskussion ist ein typisches Beispiel für die Herausforderung einer tradierten Männlichkeitsposition.

1.1        Industriegesellschaftliche Männlichkeitskonstruktion

Die Tragweite der Herausforderungen ergibt sich vor dem Hintergrund einer fortbestehenden Wirkmächtigkeit der industriegesellschaftlichen Männlichkeitskonstruktion. Auch wenn das Zeitalter der Industriegesellschaft an sein Ende gekommen sein mag, weisen in diesem Zeitalter entstandene symbolische Ordnungen und kulturelle Deutungsmuster eine beachtliche Persistenz auf. Das kulturelle Verständnis von Männlichkeit und Weiblichkeit ist weiterhin in erheblichem Maße von den Deutungsmustern bestimmt, die den Geschlechterdiskurs der bürgerlichen Gesellschaft prägen, die in einem engen zeitlichen und ideellen Bezug zur Industriegesellschaft steht. Dieser Diskurs ist bekanntlich von einem Denken in Geschlechterpolaritäten und einer geschlechtsexklusiv konzipierten Trennung der Sphären von Produktion und Reproduktion bestimmt, die den Mann der öffentlichen Sphäre von Beruf und Politik zuordnet, die Frau der privaten der Familie. Vor diesem Hintergrund hat sich eine Männlichkeitskonstruktion entwickelt, die um den Beruf und – im Falle des bürgerlichen männlichen Individuums – die berufliche Karriere zentriert ist.

Wie die historische Geschlechterforschung zeigt, hat sich diese Männlichkeitskonstruktion ab Mitte des 19. Jahrhunderts durchgesetzt. In der frühbürgerlichen Epoche war der Mann durchaus noch in das Geschehen in der Familie involviert. Er, und nicht die Frau, war der primäre Adressat der Erziehungsempfehlungen der Aufklärung. Der Mann war als fürsorglicher Vater in der Familie präsent (Francis 2002; Martschukat und Stieglitz 2005; Trepp 1996). Im Zuge einer wachsenden Geschlechterpolarisierung entwickelte sich die mit der Figur des abwesenden Vaters bezeichnete Konstellation, in welcher der Mann zunehmend eine randständige Position in der Familie einnimmt und seine familienbezogene Position durch das definiert ist, was er im Beruf für die Familie leistet: als Ernährer der Familie. In der Familiensoziologie haben Parsons und Bales diese Positionszuweisung Mitte des 20. Jahrhunderts als das Bestimmungsmerkmal der erwachsenen männlichen Geschlechtsrolle definiert. Diese sei fundiert »in his job and through it by his status-giving and income-earning functions for the family« (Parsons und Bales 1955, S. 14 f.).

Die hier zum Ausdruck kommende Berufszentriertheit bestimmt bis in die Gegenwart Erwartungen an Männer wie auch deren Selbstverständnis. Dies zeigt sich in unterschiedlicher Weise. Aus der Biografieforschung ist bekannt, dass Männer ihre Biografie typischerweise entlang ihres Berufslebens erzählen und dies auch dann noch tun, wenn dieses diskontinuierlich verlaufen ist (Scholz 2004, 2005; Gildemeister und Robert 2008, S. 268 ff.). Im Rahmen der industriegesellschaftlichen Männlichkeitskonstruktion kann Männlichkeit nicht anders als vom Beruf her konzipiert werden. Ein anderes legitimes Vokabular ist gleichsam nicht zuhanden (Meuser 2005). Ein weiterer Indikator ist, dass Männer den Entschluss zu einer Familiengründung häufiger als Frauen an eine gesicherte berufliche Perspektive knüpfen (Schmitt 2005).

»Für einen Großteil der Männer wird die Familiengründung antizipatorisch mit der Übernahme der Ernährerposition verknüpft. Dementsprechend ist eine biografische Familienplanung und der Übergang in die Elternschaft in der Regel erst möglich, wenn die berufliche Entwicklung so weit fortgeschritten ist, dass vergleichsweise sichere Perspektiven bestehen« (Kühn 2005, S. 137).

Mit welcher Fraglosigkeit die Berufszentriertheit männliche Selbstentwürfe bestimmt, zeigt sich nicht zuletzt bei jungen Männern in prekären sozialen Lagen, die über nur geringe Bildungsqualifikationen bzw. keinen Schulabschluss verfügen. Auch unter diesen jungen Männern, denen der Zugang zu einem Normalarbeitsverhältnis hochgradig erschwert, wenn nicht völlig verbaut ist, sind »eine arbeitsgesellschaftliche Normalorientierung« (Kreher 2007, S. 161) und eine »starke Fixierung […] auf die Erwerbsarbeitssphäre« (ebd., S. 94) zu beobachten. Dies impliziert eine Orientierung an der Figur des Mannes als Ernährer der Familie. Klaus Dörre zeigt, dass »die ungebrochene Ausstrahlungskraft des Normalarbeitsverhältnisses […] bis in die ›Zone der Entkopplung‹ hineinreicht« (2007, S. 293). Zu den »Entkoppelten« zählt Dörre »Gruppen – Langzeitarbeitslose, Sozialhilfebezieher oder (illegale) Migranten – ohne realistische Chance auf eine Integration in reguläre Erwerbsarbeit« (2007, S. 292).

1.2        Transformationen I: Erwerbsarbeit

Die zentrale Stütze des tradierten industriegesellschaftlichen Männlichkeitskonstrukts ist das sog. Normalarbeitsverhältnis. Als normal gilt dasjenige Arbeitsverhältnis, das die Mehrzahl der Beschäftigungsverhältnisse in Zeiten wirtschaftlicher Prosperität kennzeichnet(e), wie sie insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorherrschte. Die zentralen Merkmale sind eine geregelte, abhängige Vollzeitbeschäftigung, Arbeitsplatzkontinuität und sozialstaatliche Absicherung. Zwar sind in der EU die meisten Männer weiterhin in einem Normalarbeitsverhältnis beschäftigt, gleichwohl sind Tendenzen zu dessen Erosion deutlich sichtbar (Lengersdorf und Meuser 2010, S. 92 ff.).

»Insgesamt wird die traditionelle Form der Arbeit auf der Grundlage von Vollzeitbeschäftigung, klaren beruflichen Aufgabenstellungen und eines für den gesamten Lebenszyklus gültigen Karrieremusters langsam aber sicher untergraben und aufgelöst« (Castells 2001, S. 307).

Entwicklungen, die einer Auflösung des Normalarbeitsverhältnisses Vorschub leisten, sind die Zunahme atypischer, prekärer und diskontinuierlicher Beschäftigungsverhältnisse, neue Formen projektförmiger Arbeitsorganisation, Prozesse unternehmensinterner Kommodifizierung und der Rückbau sozialstaatlicher Sicherungssysteme. In Deutschland ist nahezu die Hälfte der neu abgeschlossenen Arbeitsverträge befristet. Eine wachsende Zahl männlicher Erwerbsbiografien weist Diskontinuitäten auf. Angesichts der fortbestehenden Berufszentriertheit männlicher Lebensentwürfe beinhalten diese Entwicklungen das Potenzial der Verunsicherung. Dass die Berufszentriertheit bruchlos zu realisieren ist, erweist sich für eine wachsende Zahl von Männern als Illusion.

Auf der anderen Seite spielt Berufstätigkeit eine immer größere Rolle in weiblichen Biografien. Die Erwerbsquoten von Männern und Frauen haben sich in den letzten 50 Jahren kontinuierlich einander angenähert. Lag die Differenz der Erwerbsquoten vor 50 Jahren noch bei über 40%, so liegt sie heute nur noch bei 10% (Jurczyk und Lange 2014, S. 41). Frauen sind zu Konkurrentinnen der Männer auf dem Arbeitsmarkt geworden. Birger Priddat zufolge gibt es eine Leitbildverschiebung »von einem hierarchisch-komplementären, Frauen subordinierenden Leitbild zu einem, in dem Frauen und Männer sowohl um gleichrangige Positionen konkurrieren als auch in gleichrangigen Teams kooperieren müssen« (2004, S. 165). Dies dürfte in besonderem Maße für den tertiären Sektor der Dienstleistungs- und Wissensberufe gelten, in denen die Mehrzahl der Frauen beschäftigt ist. Allerdings ist die Teilzeitquote der Frauen erheblich höher als die der Männer; in Deutschland beträgt die Relation bei den abhängig Beschäftigten im Jahr 2013 47,9 zu 10,3% (WSI GenderDatenPortal: http://www.boeckler.de/51985.htm, Zugriff am 18.08. 2015). Diese Differenz verweist auf die fortbestehende (Haupt-)Zuständigkeit der Frauen für die Familienarbeit (Hausarbeit und Kinderbetreuung), sodass sich das Problem der Vereinbarkeit von Beruf und Familie ihnen ungleich stärker als den Männern stellt. Es ist aber auch festzustellen, dass eine wachsende Zahl von (oft kinderlosen) hoch qualifizierten Frauen »sich in Abgrenzung zu traditionellen Zuschreibungen zunehmend über das Muster der zunächst Männern vorbehaltenen ›Arbeitsmarktindividualisierung‹, das heißt primär über Erwerbsarbeit« definiert (Nickel 2009, S. 217).

Vor dem Hintergrund beider Entwicklungen ist zu konstatieren, dass der Erwerbsarbeit ihre Bedeutung als Differenzierungskriterium zwischen männlichen und weiblichen Lebensentwürfen zumindest ein Stück weit abhandenkommt. Diskontinuität und Prekarität, Merkmale, die für viele typische Frauenarbeitsplätze charakteristisch sind, kennzeichnen mehr und mehr auch Beschäftigungsverhältnisse von Männern. Der Beruf wird zumindest für hochqualifizierte Frauen, deren Zahl im Zuge der Bildungsexpansion der vergangenen 50 Jahre stark angestiegen ist, in einem Maße zum Strukturgeber des Lebenslaufs, wie dies traditionell bei Männern der Fall ist.

Ingrid Kurz-Scherf zufolge ist die Krise der Arbeit »nicht zuletzt auch eine Krise der androzentrischen Strukturen moderner Arbeitsgesellschaften« (2005, S. 18). »Generell folgen die mit dem Wandel der Arbeit verbundenen Risiken und Chancen zumindest nicht per se und durchgängig dem tradierten Geschlechter-Code der Privilegierung von Männern und der Diskriminierung von Frauen« (ebd.). In diesem Sinne enthalten die skizzierten Entwicklungen das Potenzial, die tradierte, die gesellschaftliche Dominanz des männlichen Geschlechts garantierende Geschlechterordnung wenn nicht aufzulösen, so doch zu gefährden. Dies stellt Männer vermehrt vor die Herausforderung, sich neu zu positionieren.

1.3        Transformationen II: Familie

Im Rahmen der tradierten Geschlechterordnung sind die Sphären von Beruf und Familie für den Mann durch die Rolle des Ernährers der Familie verknüpft. Diese Verknüpfung wird zum einen durch die bezeichneten Transformationen im Feld der Erwerbsarbeit gelockert. Die Ernährerrolle ist an die Berufsrolle gebunden. Wenn diese gefährdet ist, wird jene schnell zur Fiktion. Zum anderen hat die männliche Ernährerposition infolge des Strukturwandels der Familie sowohl ihre Fraglosigkeit verloren – das Modell des männlichen Familienernährers hat einen deutlichen Legitimationsverlust erfahren – als auch ist der Anteil der Haushalte mit einem männlichen Alleinernährer zurückgegangen. Bereits Ende der 1990er Jahre hielten in einer Befragung »etwa 71 Prozent der Männer und 75 Prozent der Frauen die Erzieherfunktion des Vaters für wichtiger als seine Ernährerfunktion« (Fthenakis und Minsel 2002, S. 66). Diese Daten verweisen darauf, dass zumindest eine alleinige oder prioritäre Definition von Vaterschaft über die Ernährerfunktion nur noch bei einem Viertel der deutschen Bevölkerung anschlussfähig ist. Väter, die sich der Erzieherfunktion verweigern, laufen einer Untersuchung des Allensbach-Instituts zufolge Gefahr, als »Rabenväter« stigmatisiert zu werden. 33% der im Rahmen der »Vorwerk Familienstudie 2007« befragten Männer und Frauen hielten den Begriff »Rabenvater« für passend, um solche Männer zu bezeichnen, die die Erziehung der Kinder der Mutter überlassen (Institut für Demoskopie 2007, S. 29). Die geschlechtliche Umschrift eines Begriffs, der – als ›Rabenmutter‹ – zunächst für Erziehungspersonen weiblichen Geschlechts reserviert war, verweist darauf, dass die Kinderbetreuung Teil des Anforderungsprofils eines ›modernen‹ Vaters geworden ist. Vaterschaft unterliegt einer neuen, das Engagement in der Familie einbeziehenden Normierung. Sowohl in der EU als auch in Deutschland findet dies seinen Niederschlag in der Familienpolitik, die seit ca. einem Jahrzehnt begonnen hat, mit ihren Programmen nicht mehr nur Mütter, sondern auch Väter zu adressieren (Ehnis und Beckmannn 2010; Hofäcker 2007). In der deutschen Familienpolitik geschieht dies in sichtbarster Weise in Gestalt der 2007 erfolgten Novellierung des Bundeselternzeitgesetzes, das die Zahlung von Elterngeld für 14 statt nur für 12 Monate vorsieht, wenn beide Partner in Elternzeit gehen, mit einer Mindestdauer pro Person von zwei Monaten. Die zusätzlichen zwei Monate werden mit Blick darauf, dass die große Mehrheit der Väter (ca. 78%), die in Elternzeit gehen, dies für zwei Monate tut, in der medialen Berichterstattung häufig als »Vätermonate« bezeichnet.

Im Jahr 2011 gab es in Deutschland in knapp einem Viertel (24%) der Paargemeinschaften mit minderjährigen Kindern einen männlichen Alleinernährer. Elf Jahre zuvor war dies noch bei knapp einem Drittel (31%) der Fall. Die mit 45% am stärksten verbreitete und in diesem Zeitraum am stärksten angestiegene Konstellation (von 33 auf 45%) ist der Vollzeit arbeitende Mann und die Teilzeit arbeitende Frau. Die Konstellation, in der beide Partner Vollzeit erwerbstätig sind, ist mit 18% vertreten (gegenüber 24% im Jahr 2000) (BMAS 2013, S. 127). Diese Daten zeigen zum einen, dass das traditionelle bürgerliche Familienmodell in seiner Reinform einer strikten geschlechtlichen Sphärentrennung an Verbreitung verloren hat, mit 24% allerdings noch nicht zu einer Randerscheinung geworden ist. Sie zeigen zum anderen, dass die Sphärentrennung nicht aufgelöst ist, sondern in modifizierter Form fortbesteht. Der Vater ist in der verbreitetsten Konstellation zwar nicht mehr der Allein-, aber immer noch der Haupternährer. Matzner (2004, S. 339 ff.) hat in einer Typologie von Vaterschaftskonzepten u. a. zwischen dem »traditionellen« und dem »modernen« Ernährer unterschieden. Während jener an einer klaren geschlechtlichen Arbeitsteilung in der Familie festhält und die Erziehung der Kinder an die Mutter delegiert, handhabt dieser die Arbeitsteilung weniger strikt und agiert als »Assistent« (ebd., S. 368) der familienzentrierten Mutter, dem an einer engen emotionalen Beziehung zu den Kindern gelegen und der in Maßen an ihrer Erziehung beteiligt ist. Diese modifizierte oder, wenn man so will, modernisierte Form der geschlechtlichen Arbeitsteilung in der Familie dürfte für die am stärksten verbreitete Konstellation des Vollzeit arbeitenden Mannes und der Teilzeit arbeitenden Frau charakteristisch sein.

1.4        Ambivalente Suchbewegungen

Trotz der skizzierten Transformationen im Feld der Erwerbsarbeit ist diese weiterhin ein zentraler normativer Bezugspunkt für Männlichkeitskonstruktionen, und trotz des Strukturwandels der Familie bleibt die Figur des männlichen Familienernährers Teil des gegenwärtigen väterlichen Anforderungsprofils. Männer unterliegen weiterhin stärker als Frauen der Erwartung einer generellen, durch Familienpflichten nicht begrenzten »Arbeitsmarktverfügbarkeit« (Born und Krüger 2002, S. 138). Das Ansinnen eines Vaters, die Arbeitszeit zu reduzieren, um mehr Zeit für die Kinderbetreuung zu haben, erzeugt in der Regel Irritationen bei Vorgesetzten und Kollegen wie Kolleginnen und wird nicht selten zurückgewiesen, während es als ›natürliches Recht‹ der Mutter gilt, dies zu tun (Döge und Behnke 2005; Oberndorfer und Rost 2004). In Bewerbungsgesprächen werden Väter selten mit der Frage konfrontiert, wie sie berufliche Anforderungen und elterliche Pflichten miteinander zu vereinbaren gedenken, während dies bei Müttern häufig geschieht (Behnke und Meuser 2003). Das »Vereinbarkeitsmanagement« wird den Müttern institutionell zugerechnet. Es wird von diesen allerdings auch meistens als ihre Aufgabe angenommen, selbst dann, wenn sie voll erwerbstätig sind und eine berufliche Karriere verfolgen (Behnke und Meuser 2005).

Allerdings ist das gegenwärtige väterliche Anforderungsprofil, wie oben dargelegt, um erzieherische Funktionen ergänzt. Ein auf die Ernährerfunktion begrenztes Verständnis von Vaterschaft ist weitgehend obsolet geworden (Posssinger 2013, S. 125 ff.). Fürsorglichkeit wird zu einem wichtigen Bestandteil von Väterlichkeit, und eine solche Väterlichkeit findet Eingang in Männlichkeitskonzepte. Das neue Anforderungsprofil weist jedoch beträchtliche Unschärfen auf. Es ist vor allem ex negativo definiert, in Abgrenzung zum traditionellen Leitbild des Ernährers. Während eindeutig benannt werden kann, was erforderlich ist, um diesem Leitbild gerecht zu werden, mangelt es an einer klaren Bestimmung der Eigenschaften, die den sogenannten neuen Vater ausmachen. Nicht von den Erwartungen an seine Ernährerfunktion entlastet, entwickelt sich eine neue Erfahrungsmodalität eines Getriebenseins in dem Sinne, »zu wenig Zeit für Beruf und Familie« (Höyng 2012, S. 275) zu haben. Dies erzeugt vielfältige Suchbewegungen. Der eingangs skizzierte Krisendiskurs ist ein Ausdruck dessen.

Umfragedaten und die Entwicklung der Elternzeitnahme durch Väter zeigen, dass Vaterschaft gegenwärtig durch beide Anforderungen, Ernährer und Erzieher, bestimmt ist. In einer Studie zu Vaterschaftskonzepten junger Männer gaben knapp 95% der Befragten sowohl an, es sei Aufgabe des Vaters, den Lebensunterhalt für die Familie zu verdienen, als auch, es sei dessen Aufgabe, sich Zeit für das Kind zu nehmen. 80% sahen es als Aufgabe des Vaters, das Kind zu betreuen und zu beaufsichtigen (Zerle und Krok 2009, S. 130). Seit der Novellierung des Elternzeit- und Elterngeldgesetzes im Jahr 2007 hat sich der Anteil der Väter, die in Elternzeit gehen, von 3,5% im Jahr 2006 auf gegenwärtig knapp 30% nahezu verzehnfacht (Schutter und Zerle-Elsäßer 2012, S. 220; Statistisches Bundesamt 2014, S. 62). Dieser deutliche Anstieg verweist darauf, dass am Aufwachsen des Kindes teilzuhaben Eingang in die Praxis von Vaterschaft zu finden begonnen hat. Der Umstand, dass 78% der Väter, die Elternzeit nehmen, dies für den Mindestzeitraum von zwei Monaten tun und lediglich 8% zehn bis zwölf Monate nehmen, verdeutlicht hingegen die gleichzeitige Persistenz, wenn nicht Dominanz der Ernährerfunktion. In die gleiche Richtung weist der Befund aus der Studie zu Vaterschaftskonzepten junger Männer, dass, obschon die Zustimmungsrate zu Betreuungsaufgaben des Vaters äußerst hoch war, eine Bereitschaft, »die eigene Karriere zugunsten des Kindes zurückzustellen«, nur von 43% der Befragten geäußert wurde (Zerle und Krok 2009, S. 130).

Die vorherrschende Lösung, dem doppelten Anspruch von Ernährer und Erzieher gerecht zu werden, besteht darin, dem zweiten Anspruch nach Maßgabe der Möglichkeiten, die der erste lässt, zu genügen. Dies wird u. a. daran deutlich, dass sich das väterliche Engagement in der Familie auf das Wochenende konzentriert. Unter der Woche beträgt laut den Daten der Zeitbudgetstudie des Statistischen Bundesamtes von 2000/2001 der Zeitaufwand der Mütter für Kinderbetreuung das 1,8fache des Aufwandes der Väter, am Wochenende sinkt der Wert auf 1,3.1 Daniela Grunow (2007, S. 63) zeigt auf der Basis von SOEP-Daten, dass Väter am Sonntag ca. doppelt so viel Zeit für Kinderbetreuung aufbringen wie an Wochentagen. Claudia Zerle und Isabelle Keddi (2011, S. 63) zufolge lassen sich bei Vollzeit erwerbstätigen Müttern und Vätern für den Sonntag »keine signifikanten Unterschiede« feststellen.

Diese Daten verdeutlichen sowohl, dass es die von Ralph LaRossa (1988) bereits vor einem Vierteljahrhundert konstatierte Kluft zwischen (ein hohes Maß an Engagement in der Familie forderndem) Vaterschaftsdiskurs und (ein solches Engagement erst in Ansätzen realisierender) Vaterschaftspraxis weiterhin gibt, als auch, dass die populäre Rede vom abwesenden Vater die gegenwärtige Realität in den Familien nicht mehr angemessen wiedergibt (Meuser 2014).

1.5        Neubestimmung von Männlichkeit zwischen Erwerbsarbeit und Familie

In dem Maße, in dem das Engagement von Männern in der Familie zunimmt bzw. sich dem Ernährer der Erzieher hinzugesellt, wird der Binnenraum der Familie neben der (in der Regel weiterhin prioritären) Erwerbsarbeit zu einem für die männliche Selbstvergewisserung relevanten Ort. Dies zeigt sich in großer Deutlichkeit vor allem bei den – gegenwärtig noch eine Minderheit ausmachenden – Vätern, die sich in hohem Maße und längerfristig an Familienarbeiten, insbesondere der Kinderbetreuung, beteiligen. Ihnen ist es wichtig, klarzustellen, dass ihr familiales Engagement nicht mit einem ›Männlichkeitsverlust‹ verbunden ist. Dieses Bedürfnis resultiert daraus, dass ihr Engagement vor dem Hintergrund der tradierten Männlichkeitskonstruktion nicht den Status des Selbstverständlichen hat. Verschiedene Studien berichten von Erfahrungen solcher Väter, ihnen werde vorgehalten, sie seien nicht männlich (Döge und Behnke 2005; Doucet 2006, S. 209; Merla 2008). Allerdings ist es unklar, ob es sich hierbei um explizite Zuschreibungen anderer (Männer und Frauen) handelt oder um eher diffuse Wahrnehmungen und entsprechende Deutungen unspezifischer Reaktionen anderer. Laura Merla hält als ein Ergebnis einer Studie zu belgischen, für einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten zu Hause bleibenden Vätern fest, dass diese »reported diffuse feelings that others sometimes considered them as effeminate or weak, or put into question their sexual orientation« (2008, S. 123). Solche diffusen Gefühle weisen freilich nicht minder als explizite Unmännlichkeitsvorwürfe darauf hin, dass väterliches Engagement in der Familie und Männlichkeit nicht ohne Probleme zu vereinbaren sind.

Darüber, wie die Akzentuierung der eigenen Männlichkeit erfolgt, ist angesichts einer spärlichen Forschungslage wenig bekannt. Ein Weg besteht in einer Distinktion gegenüber der Art, wie Frauen Arbeiten der Kinderbetreuung verrichten. Andrea Doucet (2006, S. 122) berichtet, dass die Mehrzahl der von ihr interviewten Väter Unterschiede zwischen »mothering« und »fathering« betonen und ihr »fathering« vom »mothering« und möglichen femininen Konnotationen abgrenzen. Berit Brandt und Elin Kvande (1998) halten als Ergebnis einer der ersten Studien zum Verhältnis von Männlichkeit und Kinderbetreuung fest, die von ihnen untersuchten Väter hätten einen eigenen Weg der Betreuung gefunden; man könne ihn »masculine care« nennen, da die Vater-Kind-Beziehung sich vor allem in gemeinsamen Unternehmungen manifestiere, die nach dem Muster von unter Männern gepflegten Freundschaften organisiert seien. Sie sähen sich als aktive Väter, nicht aber in der Hausfrauenrolle. Brandt und Kvande beschreiben die Art, wie diese Väter Kinderbetreuung praktizieren, als eine Ausdehnung der männlichen Sphäre (»extension of the masculine sphere«) (1998, S. 309).

Auch in einer eigenen Studie zu involvierter Vaterschaft zeigte sich, dass Väter, die in größerem Umfang und längerfristig Aufgaben der Kinderbetreuung übernehmen, bemüht sind, darzulegen, dass das intrafamiliale Engagement ihrer Männlichkeit keinen Abbruch tut. Sie beschreiben dieses Engagement in einer Begrifflichkeit, die an die Semantik männlicher Stärke und Autonomie anknüpft (Behnke und Meuser 2013). So wird die Behauptung des Anspruchs auf Elternzeit gegenüber dem Chef als Ausdruck der eigenen Entschlossenheit und des Mutes, seine Interessen durchzusetzen, geschildert und hiermit ein ›Männlichkeitsvorsprung‹ gegenüber den Kollegen geltend gemacht, die sich dies nicht trauten. Auch die eigene Fähigkeit, die Kinder gut betreuen zu können, wenn die Mutter über einen längeren Zeitraum abwesend ist, wird zum Dokument der Männlichkeit. Die Strategien, mit denen involvierte Väter die Spannung zwischen Fürsorge und Männlichkeit zu bewältigen versuchen, bewegen sich zwischen einer Rahmung ihres familialen Engagements als Teil eines Bemühens um eine alternative Männlichkeit und einer Integration dieses Engagements in konventionelle Muster von Männlichkeit (Merla 2008, S. 127 f.). Hierbei handelt es sich nicht um einander ausschließende Strategien, beides findet sich durchaus parallel. Darin dokumentiert sich die Ambivalenz dieses neuen Vaterschaftsmodells.

Fazit

Das industriegesellschaftliche Männlichkeitskonstrukt entfaltet weiterhin, trotz gravierender Veränderungen seiner institutionellen Grundlagen im Feld der Erwerbsarbeit, eine beträchtliche Wirkung. Allerdings weist es sichtbare Erschöpfungserscheinungen auf (Meuser und Scholz 2012).2 In seiner Reinform, die nicht zuletzt den Mann als alleinigen Ernährer der Familie vorsieht, kann es nur noch von einer Minderheit von Männern realisiert werden. Dass gleichzeitig mit dem Wegbrechen der institutionellen und ökonomischen Grundlagen des tradierten, auf die Ernährerfunktion begrenzten Vaterschaftskonzepts ein neuer, das Engagement in der Familie betonender Vaterschaftsdiskurs an Bedeutung gewinnt, ist gewiss keine Zufälligkeit. Die damit in Aussicht gestellten Alternativen zu dem tradierten Männlichkeitskonstrukt haben allerdings (bislang) nicht die fraglose Gültigkeit und Selbstverständlichkeit, die dieses kennzeichnete. Die Konturen eines Männlichkeitsentwurfs jenseits der Berufsorientierung sind vage. Das – freilich zunehmend kontrafaktische – Versprechen habitueller Sicherheit, welches das tradierte Männlichkeitskonstrukt kennzeichnet, vermögen die alternativen Männlichkeitsentwürfe nicht zu geben. Daher sind die wegen der Erschöpfungstendenzen jenes Konstrukts notwendig gewordenen Suchbewegungen zwangsläufig von einer starken Ambivalenz geprägt. Im Zuge dieser Suchbewegungen findet allerdings insofern eine Modernisierung von Männlichkeit statt, als diese in wachsendem Maße reflexiv wird. Sie kann immer weniger als etwas fraglos Gegebenes erfahren werden. Männer müssen mehr als je zuvor eigene, nicht mehr von der Tradition vorgegebene Antworten darauf finden, wie sie ihr Leben zwischen Erwerbsarbeit und Familie gestalten wollen. Dies kann als Chance im Sinne einer Erweiterung von Handlungsspielräumen erfahren werden, aber auch als eine erzwungene Modernisierung von Männlichkeit, die tradierte Gewissheiten zerstört. Eine Rückkehr zu den verlorenen Gewissheiten ist allerdings nicht möglich. Der Diskurs einer Krise des Mannes mag zwar das Ziel verfolgen, gefährdete Männlichkeitspositionen zu verteidigen. Doch selbst wenn dies gelänge, wäre ihnen die Selbstverständlichkeit abhandengekommen, die sie vormals kennzeichnete. Die Notwendigkeit, einen Lebensentwurf zwischen Erwerbsarbeit und Familie zu finden, dürfte vorerst für männliche Lebenslagen prägend sein – wobei im Dazwischen viele Positionen möglich sind.

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