cover

Jan Koneffke

Die sieben Leben
des Felix Kannmacher

Roman

 

Imagepub

Für Cristina und Ema
in Erinnerung an Cristian

I

(1935–1940)

 

Im Ersten Kapitel erreiche ich, Felix Kannmacher alias Johann Gottwald, den Golf von Baltschik, begegne Delphinen, Eseln und Kamelen, Pessimisten aus Gewohnheit und verhinderten Zwillingen, beobachte (unfreiwillig) fremde Finger an fremden Knien, muß mich von einem Kind schikanieren lassen, erfinde (wiederum unfreiwillig) Geschichten und soll mit einer Tatarin verheiratet werden, bis ein Mord im Palast der Sultanin meinem Aufenthalt im Paradies ein vorzeitiges Ende bereitet

Aufwachen, Virginia, wir sind in Baltschik!

Heute kommt es mir vor, als sei meine Erinnerung eine erfundene Geschichte. Erreichte ich an jenem Julitag, Mitte der dreißiger Jahre, den Golf von Baltschik, oder bilde ich mir diese Ankunft nur ein? War ich dieser Mensch, der bei aufgehender Sonne verschlafen aufs offene Meer starrte, ein junger Mann, der sich von mir entfernt hat und den ich aus dieser Entfernung kaum wiedererkenne?

Ich war nicht alleine im Automobil, das staubbedeckt zu einem Bergabhang rollte, der Aussicht auf Hafen und Stadt bot. Links neben mir auf der hinteren Sitzbank des Cabriolets saß ein Mann mit olivbrauner Haut, schwarzem pomadisierten Haar, einer scharfkantigen Nase und sinnlichen Lippen. Auf dem Beifahrersitz schlief ein Kind, von dem nichts zu erkennen war, außer den Fersen und Zehen, die nackt aus der Wolldecke ragten. Als der Wagen am Bergabhang hielt, zog der Fahrer, ein mageres Kerlchen mit wettergegerbter Haut, borstigem Schnauzbart und knubbliger Nase, seine Chauffeurskappe tief ins Gesicht und nutzte den Aufenthalt zu einem Nickerchen.

Unserem Cabriolet mit vierstelliger Kennziffer und dem Buchstaben »B«, der den Herkunftsort Bukarest anzeigte, folgte ein weiterer Kraftwagen ohne Verdeck, den ein Bursche mit schmuddligem Ziegenbart lenkte, in dem Eigelb und Eierschalen klebten. Sein Begleiter zur Rechten hingegen war frisch rasiert (wann konnte er sich nur rasiert haben, fragte ich mich), steckte in einem Seidenanzug, auf dem sich kein einziges Staubkorn entdecken ließ, hatte milchweiße Handschuhe an und trug eine Melone.

Es war eine atemberaubende Aussicht, die man von der Felskante aus auf das Meer hatte, das sich kobaltblau gegen den Horizont dehnte und am Ufer aus glitzerndem Silber war. Schwarze Boote verließen den Hafen, von Ruderern mit roten Fezen bewegt, und um ein Dampfschiff, das ruhig seine Bahn vor der Sonne zog, sprangen Delphine. Baltschik war umgeben von Bergen. Gegen die kahlen, im Sonnenschein flackernden Kalkfelsen wirkte das Tal um so lieblicher. Im Dickicht aus Efeu, Glyzinien, wildem Wein, Bougainvillea, Kakteen, Platanen und Zypressen blinzelten weiße und gelbliche Mauern, linsten Kamine und schwarzrote Schindeln, Minarette und goldene Kuppeln.

Heute kommt es mir vor, als ob meine Erinnerung eine Luftspiegelung vor den Kalkfelsen sei, die Baltschik in ein loderndes Weiß tauchten. Der Mann neben mir rieb sich den Schlaf aus den Augen und schwang sich vom Polster aufs Trittbrett, wo er eine Weile in schweigender Andacht versank, bevor er sich zu seiner Tochter umwandte. »Aufwachen, Virginia, wir sind in Baltschik!«

Dieser Mann war mein Retter und hieß Victor Marcu. Er hatte mich in seinem Wagen im Herbst ’34 aus Deutschland geschmuggelt und im heimischen Bukarest seine Beziehungen spielen lassen, um mir einen Paß zu besorgen. Ich lief keine Gefahr mehr, des Landes verwiesen zu werden, und mußte nicht erst um ein Bleiberecht betteln. Angeblich nannte ich mich Johann Gottwald, war Teil einer Minderheit, die man als »Sachsen« bezeichnete, und deutscher Abstammung. Ich kam aus Kronstadt am Rand der Karpaten, wo meine Eltern ein Gasthaus betrieben. Laut diesem Paß hatte mich meine Mutter am 6. August 1907 zur Welt gebracht, und ich hatte (vermutlich) in Pflaumenschnaps-, Trester- und Bierdunst das Laufen und Sprechen erlernt. Folglich war ich bei unserer Ankunft am Schwarzen Meer knapp 28 und nicht bereits 30. Meinen Beruf gab der Paß mit »Klavierlehrer« an (was ein ziemlich geschmackloser Scherz meines Retters war).

Daß ich Felix Kannmacher hieß, aus dem Pommerschen kam, Emigrant war und keinen Beruf hatte, wußten nur Marcu und seine vertrautesten Freunde. Und Tochter Virginia, versteht sich. Zu dieser Zeit war sie dreizehneinhalb, eine Krabbe mit staksigen Beinen, verschmitztem Gesicht und auffallenden Augen, die kobaltblau waren wie der Golf von Baltschik. Vom schwarzen Haar, das sie sich an den Ohren zu Schnecken flocht, ging ein phosphoreszierender Schimmer aus, wenn es nicht finster zu knistern begann und Gewitternachtstimmung verbreitete. Das hing mit den kindlichen Launen zusammen, die Virginia beherrschten und schwankender waren als ein Ruderboot auf hoher See. Als sie neben dem Vater am Abhang stand, rief sie: »Baltschika, ich bin wieder bei dir«, als handele es sich bei dem Ort in der Talsenke um eine Spielkameradin.

Nein, Musiklehrer war ich beileibe nicht. Marcu hatte mich bei sich als »Kinderfrau« eingestellt. Um sich Virginia zu widmen, fehlte es meinem Retter an Zeit. In den Konzerthallen Europas galt er als »Genie am Piano« und »Gott am Klavier«. Er brach wieder und wieder zu Gastspielen auf und kam monatelang nicht nach Hause.

Mir konnte er seine Tochter ruhig anvertrauen. Erstens war ich ein Deutscher, und Deutsche benahmen sich korrekt. Zweitens war ich der Sohn eines preußischen Schulmeisters, was er als besondere Empfehlung betrachtete. Und er rechnete mit meiner Dankbarkeit. Er war sich sicher und durfte sich sicher sein, daß ich mir Virginias Erziehung zu Herzen nahm, um sein Vertrauen zu rechtfertigen.

Ich sollte Virginia bei schulischen Aufgaben beistehen und sie in Deutsch unterrichten. Von mir sollte sie Ordnungssinn lernen und Pflichtbewußtsein (beides ließ sie vollkommen vermissen). Ich sollte Virginia zur Ehrlichkeit anhalten und sie mit der Dichtung von Goethe vertraut machen, sobald sie das Deutsche beherrschte.

Heute kommt es mir vor, als ob unsere Ankunft am Golf von Baltschik ein vergangener Traum sei. Eselsschreie erreichten uns aus den verschatteten Gassen, das Klappern von Holzreifen mischte sich zwischen entfernte, verwehende Stimmen. Auf Terrassen zum Meer wuchsen Rosen und Wein, in der Weite bewegten sich schneeweiße Segel.

Virginia betrachtete mich voller Spott. »Tata«, wandte sie sich an den Vater, »Herr Felix ist bleich wie der Januarmond. Begreiflich, begreiflich«, bemerkte sie altklug, »wer aus einer kalten und nebligen Gegend kommt, erlebt einen Schock, wenn er ins Paradies gelangt.« Das war eine Idee, von der sie sich nicht abbringen ließ: Meine Heimat am baltischen Meer mußte duster und grau sein, ein im Nebel versinkendes Wiesen- und Sumpfland, das Wichte und Gnomen bewohnten. Sie lebten in Maulwurfsbehausungen, klopften in Bergwerken und stachen Torf. Sie sprangen im ewigen Dunkel um Feuerstellen, waren mit Fellen bekleidet und ritten auf Rentieren. Und sie redeten Deutsch, diese knarrende Sprache, die rauher war als der Nordost.

»Wenn das keine Ergriffenheit ist«, sagte Marcu und wandte sich Bubi Giurgiuca zu, dem schmuddligen Mann aus dem anderen Kraftwagen, der sich ausgiebig in seinen Ziegenbart schneuzte (dieser Filzbart war praktischer, als es ein Taschentuch sein konnte). »Von wegen Ergriffenheit«, knurrte Giurgiuca, »es bringt mich zum Weinen, wenn ich an das Geld denke, das du mit deinem Hausbau verplempert hast.«

Das Ferienhaus in der Bucht hatte sinnlose Kosten verursacht, fand Bubi Giurgiuca, der zum einen Victor Marcus Konzertagent war und zum anderen seine Finanzen verwaltete. Bubi hatte es niemals verwunden, wie teuer alleine das Bauland gewesen war. Schuld war die Beliebtheit des Ortes bei Hofschranzen, Industriellen und Hauptstadtpolitikern. Was sie in diese Gegend zog, nah der bulgarischen Grenze, waren nicht nur die Kakteen und Zypressen, das heiße und trockene Klima am Golf. Es war der Palast der Monarchin Maria (der Mutter von Carol II. und Witwe des vor rund acht Jahren verstorbenen Ferdinand), das mit seinen Rosenterrassen, Kapellen und Kuppeln am Silberstrand liegende Schloß.

Ich bemerkte, daß Titi, der Fahrer, der aufrecht und steif vor dem Lenkrad sein Nickerchen hielt, in dieser Sekunde ein Auge aufklappte. Er glich einer Eule, die mit einem Auge wacht, ohne das andere zu wecken. Seine Aufmerksamkeit galt dem Esel, der zockelnd bergauf kam. Auf dem Tier, dunkelbraun und mit je einem kreisrunden weißen Fleck um beide Augen, saß eine Frau, von den Zehen bis zum Scheitel verborgen von schwarzem Stoff, der nur einen Sehschlitz freiließ.

Ich hatte bereits auf der Nachtfahrt von Fatma erfahren, die als guter Geist von Baltschik galt und von der niemand wußte, wo sie in der Ortschaft zu Hause war. Fatma ließ sich nur blicken, wenn hoher Besuch eintraf. Sie ritt auf dem Esel zur Felskante, um die Monarchin Maria willkommen zu heißen (die man in Baltschik als Sultanin verehrte), und Victor Marcu, den »Gott am Klavier«.

Es blieb ein Geheimnis, von wem sie erfuhr, wann der hohe Besuch nach Baltschik kam. Was die Monarchin Maria anging, konnte sie aus den Vorkehrungen, die die Dienerschaft traf, auf die Ankunft der Herrscherin schließen. Schwerer war zu verstehen, wie sie erriet, wann das »Genie am Piano« sein Haus beziehen wollte (Giurgiuca versicherte, er unterrichte sie nicht).

Marcu marschierte zu der schwarzen Gestalt, die jetzt bewegungslos neben dem Esel stand. Er nahm Fatmas faltige Hand in die seine und lauschte dem heiseren Willkommensgruß.

Fatmas Stimme drang bis an die Felskante, wo ich zusammen mit Virginia, Giurgiuca und Haralamb Vona, dem Mann mit Melone und milchweißen Handschuhen, das Schauspiel beobachtete. »Finde dein Seelenheil in unserem Land«, sagte sie, »finde Ruhe an unseren drei Quellen, Danak Göz, Tchatal Tchesmar, Ak Bunar. Nimm dir in unserer Oase, was du begehrst. Setze dich an unsere Tafel und speise, duftendes Brot und gebratenes Huhn und Kavarma. Trinke aus unseren bauchigen Kannen, berausche dich an unserm Wein, den wir Allah verdanken. Allah ist weise und freigebig. Er gibt uns das Korn, das uns satt macht, den nahrhaften Fisch und das Wasser, um unseren Durst zu stillen. Er segnet das fruchtbare Land und das reiche Meer. Und er segnet den Fremden, der zu uns kommt. Ich segne dich in seinem Namen, mein Sohn.«

Marcu verneigte sich vor der vermummten Gestalt zum Beweis seiner Demut und Dankbarkeit. Er hatte den Segen erhalten und wollte sich abwenden. »Warte, mein Sohn«, sagte Fatma und packte sein Handgelenk, »es wird etwas Schlimmes geschehen, die Sterne am Himmelszelt sagen es mir. Paß auf, mit wem du dich umgibst. Sei wachsam bei dem, was du sprichst. Und achte auf unsere Sultanin. Es wird etwas Schlimmes geschehen, mein Sohn.« Sie knuffte den Esel, der vorn auf die Knie ging, um seine Herrin aufsteigen zu lassen. Und als sie ein Schnalzen ausstieß, lief er los (es war mehr ein Bummeln und Zockeln), umrundete faul unser Cabriolet (dieses Mal klappte Titi sein anderes Auge auf) und trottete klappernd bergab.

Und was ist mit meiner Geschichte?

Mittags, wenn es zu heiß war, um Unterricht zu erteilen, hockten wir auf einer Steinbank im Garten, beschattet vom Feigenbaum, der in der Seebrise raschelte. Virginia verspeiste den Schaumkringel, den ich vom Taschengeld, das Victor Marcu mir gab, um seine Tochter mit Naschkram bei Laune zu halten, bei Hagi Jusub erstanden hatte, der seine Backwaren am Hafenplatz feilbot.

»Und was ist mit meiner Geschichte?« Seufzend nahm ich den Stieltopf aus Kupfer vom Steintisch, um mir meinen dritten Kaffee einzugießen. Dauernd verlangte Virginia Geschichten von mir aus dem dusteren Land an der Ostsee. Leider fielen mir keine mehr ein. Sie kannte bereits alle Schauerlegenden und Sagen, die mir aus der Kindheit vertraut waren. Mit Wiederholungen abspeisen ließ sie sich nicht, Wiederholungen konnten sie fuchsteufelswild machen. Und sie merkte im Handumdrehen, wenn ich es wagte, einen pommerschen Schnack wiederholen zu wollen.

Ich solle Virginia mit Samthandschuhen anfassen, hatte mich Marcu ermahnt. Er gebe ja zu, sie sei anspruchsvoll, heikel und flatterhaft, kurz: ein verzogenes Balg. Es sei schwierig, sie sich nicht zur Feindin zu machen. Und wer sei schuld an der Launenhaftigkeit seiner Tochter? Niemand anders als seine verfressene, einhundert Kilogramm wiegende Tanti Catinca. Aus Bequemlichkeit, Dummheit und Eigennutz habe Catinca das Kindchen verkommen lassen. Monatlich habe das gierige Luder von Tante sein Geld eingestrichen, bis sie eine goldene Stopfgans gewesen sei, und den Zweck seiner Zahlungen vergessen. Und daß diese Schlampe das Kindchen am Ende nicht an eine Sippe Zigeuner verkauft habe, sei nur seinem Geld zu verdanken.

Was er bei diesen Beschimpfungen verschwieg, das war seine verquere Beziehung zur Tochter, die mehr als sechs Jahre mit Tanti Catinca verbracht hatte, ohne den Vater zu kennen. Er hatte dem Kind eine Ewigkeit nicht verziehen, den Tod seiner Mutter verschuldet zu haben, die bei der Geburt von Virginia verblutet war. Sie mußte erst sieben Geburtstage feiern, bis er bereit war, sie wieder zu sich zu nehmen. Um so verzweifelter liebten sich beide, und diese Verzweiflung in der Verehrung des Vaters, auf den sie nichts kommen ließ, machte das Kind um so launischer.

Wenn ich mich bei seiner Tochter verhaßt machte, konnte er mich als Erzieher nicht halten, das wußten Marcu und ich nur zu gut. Und außerdem konnte ich nicht mehr im Haus bleiben. Ich verdiente zwar nichts auf der Stelle als Kinderfrau. Ich durfte kostenlos essen und wohnen und alle sechs Monate kleidete er mich neu ein. Was mich besorgt machte, war etwas anderes: Ich verlor seinen Schutz, wenn er mich aus dem Haus warf, und mußte mich in der Fremde alleine zurechtfinden.

Ich war erpreßbar, und meine Erpresserin war ein verzogenes Kind. Eine geschichtenversessene Blage. Mir blieb keine andere Wahl. Ich mußte mir neue Geschichten ausdenken und sie, was um so anstrengender war, ins Rumänische bringen, um Virginia nicht zu verprellen (sie verstand zwar im Deutschen bereits eine Menge, trotzdem zwang sie mich, selbst in den Unterrichtsstunden, Rumänisch zu sprechen, sei es aus Bequemlichkeit, sei es aus schierer Gemeinheit). Nachts kaute ich an meinem Bleistift und kritzelte Schauerlegenden in eine Rumänischgrammatik, die griffbereit auf meinem Nachttisch lag. Und ich lernte sie auswendig, sicherheitshalber.

Mit der Zeit konnte ich auf das Auswendiglernen verzichten. Es reichte mir, Stichpunkte niederzuschreiben, die als Spickzettel meiner Erinnerung dienten.

An diesem heißen und knisternden Mittag, den wir auf der Steinbank im Garten verbrachten, hatte ich keine neue Geschichte parat. Schuld war meine Zecherei in der vergangenen Nacht. Statt mich auf die Mittagszeit vorzubereiten, hatte ich Stunde um Stunde mit Haralamb Vona vor Mamuts Cafè verbracht.

Vona, der an der Ecole des Beaux Arts in Paris studiert hatte und einen italienischen Großvater vorweisen konnte, der Bauingenieur in Constanţa gewesen war, kannte sich aus mit den Baustilen am Schwarzen Meer und der Landschaft Baltschiks im Besonderen. Aufgrund dieser Kenntnisse und seiner Vorstellungen einer einfachen, sich konstruktiven Prinzipien verschreibenden Architektur hatte Vona von Marcu den Auftrag erhalten, sein Ferienhaus in der Bucht von Baltschik zu bauen. Er war mehr als ein Dandy mit seiner Melone, den Handschuhen und dem Spazierstock mit Silbergriff, ein belesener und unterhaltsamer Mann. Im Widerspruch zu seinen architektonischen Auffassungen, die moderner nicht sein konnten (und, wie er zugab, vom Bauhaus beeinflußt waren), war er beileibe kein Fortschrittsverfechter. Das hing mit seiner Ansicht vom Menschen zusammen, der, laut Haralamb Vona, nichts anderes im Sinn hatte, als seine Ketten zu sprengen, diese Ketten aus Regeln, Gesetzen und Pflichten, um seinen Verbrecherinstinkten zu folgen. »Der Mensch ist ein Raubtier«, war seine Devise, »und wenn er sich erst von der Kette befreit hat, kennt er kein Erbarmen und badet in Blut.«

Um so erstaunlicher war seine Deutschlandverehrung. Er verhimmelte Kant, Albert Einstein und Beethoven. Meine Heimat war in seinen Augen ein Land der Kultur, steilen Denkens und tiefer Empfindung. »Deutschland versinkt nicht in Barbarei«, sagte er, »wollen wir wetten? Der Damm wird nicht brechen. Dieser Damm aus Vergeistigung, Sitte und Rechtschaffenheit ist zu stark, mein Freund, glauben Sie mir. Denken Sie nur an ein Streichquartett Beethovens und das Moralgesetz Kants. Und vergleichen Sie beides mit Hitler.« Er winkte ab.

Es fiel mir schwer, Vona zu widersprechen. Und das hatte nichts mit dem Streichquartett Beethovens oder dem Kantischen Imperativ zu tun. Ich wollte mich nicht mehr erinnern. Nicht in dieser warmen und friedlichen Nacht. Der am Himmel hoch rollende Mond tauchte Hafen und Gassen in sirrendes Silberlicht. Und Mamut, der stumm und behaglich am Baum lehnte, sog an seiner ellenlangen Pfeife und nickte, als ob er mir Mut machen wolle. Und meine Zweifel verflogen. Adolf Hitler war nichts als ein fernes Gespenst.

Mein Schweigen erboste Virginia, und um es mir heimzuzahlen, schimpfte sie auf meine Sprache. Es fehle dem Deutschen an Klarheit und Strenge, die man im Lateinischen antreffe. Es habe nichts von der Weichheit balkanischer Berge, die in der bulgarischen Sprache zu finden sei, von Wellenklang und Sonnenfeuer, das man dem Griechischen anmerke. Mit einem Zopf spielend, den sie sich als Bart vors Gesicht legte, linste Virginia mich streitlustig an. »Und wenn das Lateinische gelb ist, das Griechische blau, das Bulgarische silbergrau«, sagte sie, »was ist das Deutsche, Herr Felix? Und wenn das Lateinische schmeckt wie Orangen, das Griechische wie eine Meeresfrucht und das Bulgarische wie eine Paprika – wie schmeckt das Deutsche?«

»Herr Felix ist nicht aus der Ruhe zu bringen«, beschwerte sie sich, als ich stumm blieb, am Becherrand nippte und mit meinen Augen zum Meer schweifte. Sonnenweiß schwappte es gegen den Strand. In der flirrenden Mittagsglut, die es verschlang, konnte man keine Boote erkennen.

In der Ferienzeit Deutsch lernen zu sollen, verstimmte sie. Und den Mißmut ließ sie nicht am Vater aus, der sie zum Deutschlernen verdonnerte. Nein. Ich war es, an dem sie Rache nahm. Sie versetzte mir heimliche Tritte beim Nachtessen, wenn Victor Marcu erfahren wollte, ob sie beim Unterricht Fortschritte mache. »Ja«, sagte ich schluckend und rieb mir mein Schienbein. Sie steckte mir eine Zigarre vom Vater zu, wenn sich seine Freunde zum Bridgespiel versammelten, und nannte mich anschließend einen verdammten Dieb, der sich an seinen teuren Havannas vergehe. Das zu bestreiten war schwer angesichts der Havanna, die aus meiner Hemdtasche lugte. Und vor seinen Freunden, die auf meine Brust starrten, Virginia als Schwindlerin bloßzustellen, das brachte Marcu, der ahnte, was los war, nicht fertig.

Virginia befreite sich von den Sandalen und sprang bis zur Mauer, an die sie sich einbeinig flegelte. Mit dem rechten Fuß kratzte sie sich an der Wade, die sonnenverbrannt aus dem Kleid ragte. Als sie wieder zum Feigenbaum schlenderte, zeigte sie diese bedrohliche Stirnfalte, bei der mit dem Schlimmsten zu rechnen war.

»Statt mich mit dieser schaurigen Sprache zu piesacken, sollten Sie lieber die Nase ins Buch stecken, um im Rumänischen besser zu werden. Unsere Sprache ist goldener Honig. Sie zergeht auf der Zunge und schmeichelt dem Gaumen. Sie ist reich wie der Sultan in Konstantinopel. Sie ist wie eine summende Wiese im Sommer und saftiger als eine Wassermelone. Werden Sie sich das merken, Herr Felix? Und wenn Sie mir weiterhin eine Geschichte verweigern, werde ich meine Stirn an der Mauer aufschlagen und behaupten, Sie seien es gewesen.«

Sie eilte erneut bis zur Steinbalustrade, mit der die Terrasse zum Abhang begrenzt war. Ich zweifelte nicht an Virginias Entschlossenheit. »Halt«, rief ich und sprang von der Bank auf. Sie drehte sich kurz zu mir um und schnitt eine Grimasse aus Trotz und Verachtung.

Wer mir beisprang, das war Vater Marcu. Er kam mit verklebtem Haar aus seinem Zimmer, wo er eine Stunde geruht hatte (nachts erlaubte er sich keinen Schlaf). Daß Streit in der Luft lag, erriet er im Nu. Er tapste mit klatschenden Sohlen zur Tochter, um sie in die Arme zu schließen. Mir schenkte er nicht einen Hauch von Beachtung. Er werde mit Ismail ausfahren zum Angeln, ob sie nicht mitkommen wolle. »Ja«, maulte Virginia verdrossen. »Und der bleibt zu Hause, nicht wahr?« vergewisserte sie sich beim Vater und starrte mich feindselig an. Victor Marcu antwortete mit einem Nicken.

Klavierspielerfinger

Bei Sonnenaufgang weckte mich wieder und wieder das heisere »I-a« eines Esels. Oder der Muezzin holte mich aus dem Schlaf (Kirchenglocken, Schiffstuten und scheppernde Milchkannen). Und wenn ich mich auf meinem Pritschenbett rekelte, kam ich mir heiter und schwerelos vor. Ich war frei vom verzehrenden Heimweh, das im ersten Bukarestwinter mein treuer Begleiter gewesen war. Ein Emigrant zu sein, schmerzte mich nicht mehr. Ich lehnte es ab, mich in Selbstmitleid zu ergehen und mir ewig mein Schicksal vor Augen zu halten, das eines Klavierspielers, der nicht mehr spielen konnte. Zwei Finger der linken Hand (Mittel- und Ringfinger) und einer der rechten (der kleinste), die mir ein SA-Mann zerquetscht hatte, waren schlecht verheilt. Teils krumm, teils empfindungslos, fehlte es allen drei Fingern an Kraft und Beweglichkeit.

Dieser Sturm auf das Eßlokal im Nikolaiviertel mit seiner verglasten Terrasse zur Spree, dessen Besitzer ein Jude gewesen war – ein Jude, der nie einen Schabbes einhielt, in kein Bethaus ging, zackiger war als der zackigste Preuße und wie ein Bierkutscher berlinerte –, wo ich Monat um Monat die kauende Kundschaft mit »Mondscheinsonate«, Allegri von Mozart und Schmankerln von Strauß und Lehar unterhielt, bis die SA-Bande in die Kristallleuchter, Scheiben und Spiegel und Topfpalmen schoß und das Schimmelpiano mit Beilen zerhackte, das ich Dummkopf umarmte, als sei es mein Eigentum, nicht ohne zu heulen: »Bitte nicht, nicht das Schimmelpiano, verschonen Sie das Instrument!«, was den kantigen, jungen SA-Mann veranlaßte, mich zur Toilette im Keller zu schleifen, wo sie bereits den Besitzer mißhandelten, der sich auf den Kacheln wand, wimmernd und blutverschmiert, mir zu befehlen: »Auf den Bauch, Scheißkerl, Arme ausstrecken!«, und auf meine Finger zu springen mit seinen genagelten Stiefeln, »was flennst du, du Memme, sie waren dir nur einen dreckigen Juden wert!«, kam mir in Baltschik mehr und mehr wie ein Alptraum vor, der vor der aufgehenden Sonne verdampfte. Barfuß tappte ich auf die Terrasse und atmete salzige Meeresluft ein.

Um acht ließ sich Marcu ans Steinwaypiano fallen, spielte Konzerte von Brahms und Rachmaninov, schmetterte, summte und sang den Orchesterpart und schrie ins Adagio: »Wo bleibt mein Kaffee, Aise? Koch mir zwei Eier. Ich sterbe vor Hunger.« Aise, die in einem Holzhaus beim Fluß wohnte, Witwe und zehnfache Großmutter war, bewirtschaftete Marcus Haus in den Sommermonaten. Sie hatte ein winziges Faltengesicht, das mich an einen runzligen Apfel erinnerte, der in der Sonne vertrocknet war. Aise ging tief gebeugt und sie hinkte beim Laufen. Trotzdem erledigte sie alle Arbeiten ruhig und behende, als koste es sie keine Kraft. Und wenn Victor Marcu schrie: »Meinen Kaffee, Aise!«, stand sie im Nu mit dem dampfenden Stieltopf auf einem Tablett vor dem Steinway.

Aises Augen, die Reinheit und Einfachheit ausstrahlten, bekam man fast nie zu Gesicht. Sie schaute zu Boden, auf einen der persischen Wandteller, drehte sich unwillig weg. Sie bewegte sich in einer Glocke aus Schweigsamkeit. Man konnte meinen, sie sei stumm von Geburt an. Aise redete nur mit den Tieren. Mit dem streunenden Hund, dem sie Fleischabfall zuwarf, dem Huhn, das sie anschleppte, um es zu kochen, ja selbst beim Rupfen, von schwirrenden Federn umgeben, sprach sie mit dem leblosen Tier, das sie vorwurfsvoll anstarrte, mit den Fliegen, die sich auf den Maisfladen setzten, der Schildkröte, die um den Hofbrunnen kroch, dem Esel der kleinen Tatarin vorm Haus, der sein Maul in den Haferballen steckte. Nur mit den Tieren stand Aise auf Du und Du, Ehrerbietung und Scham trennte sie von uns Fremden.

Wenn er drei Stunden am Steinway verbracht hatte (der von kleineren Ausmaßen war als sein Steinway in Bukarest), strich Marcu von Zimmer zu Zimmer. Er liebte das Haus in der Bucht von Baltschik. An einer Wand hingen griechische Teller und an einer anderen persische. Im Wohnzimmer stand ein mit Tieren und Blumen bemalter chinesischer Schrank. Von der Decke hingen auf den Basaren von Konstantinopel erstandene Lampen. Und aus Italien hatte er sich teuren Vorhangstoff anliefern lassen, Vorhangstoff aus Kreton, der in warmem Orange schwelgte und den Zimmern zur Mittagszeit Schutz vor der Sonne bot, ohne sie in vergeßliches Dunkel zu tauchen. Ein zitternder Schein drang ins Haus zwischen luftiger Klarheit und stiller Verborgenheit.

Er weckte Virginia, die bis in die Puppen schlief, und kitzelte sie bis zum Feigenbaum auf der Terrasse, wo bereits Tischleindeckdich zugange gewesen war. Mit dem Spazierstock, den er in die Luft warf und auffing, kam Haralamb Vona vom Hofbrunnen. Zu seinem Leidwesen hatte er keine Erlaubnis vom Hausherrn erhalten, ein Bad einzubauen (ein Bad paßte nicht in die einfache Welt von Baltschik). Er verbreitete Duftwasserwolken um sich und war frisch wie ein windiger Tag an der Ostsee. »Muß der Mensch wieder fressen?« bemerkte er finster, einen Spruch, den er vor keiner Mahlzeit vergaß. Niemand beachtete mehr diese rauhe Ersetzung von »Laßt es euch schmecken«. Kauend schob Marcu den Brotkorb an seinen Platz und wandte sich an seine Tochter. »Beherrschst du den Genetiv, Kindchen? Beherrschst du den Dativ? Wo bist du im Lehrbuch?« Virginia antwortete nicht. Sie zerschnitt ein Radieschen, ein zweites und drittes und viertes, bestreute die inneren Seiten mit Salz und biß knackend ins Fleisch.

Außerdem ließ sich in dieser Minute Giurgiuca im Schatten des Feigenbaums nieder. »Ich esse nichts, nicht einen Happen«, versetzte er grimmig, als wolle er uns einen Korb geben. Niemand hatte von Bubi verlangt, einen Happen zu essen. Und niemand legte auf seine Gegenwart Wert, nicht zuletzt, weil er stank wie ein Raubtierstall.

Seine Laune war hundsmiserabel. Nicht nur der Seeaufenthalt setzte Bubi zu (er scheute das Wasser in jeder Beziehung). Daß Haralamb Vona im Haus wohnen durfte und er selbst bei Bulgaren in der Nachbarschaft einquartiert war (sein Quartier sei ein schimmliges Loch, schimpfte er), betrachtete Bubi als schwere Beleidigung. »Du bist undankbar«, bellte er wieder und wieder, »wer hat dir deinen Besitz verschafft, wenn nicht ich! Und du schickst mich zu diesen verlausten Bulgaren.«

Es war nicht ganz falsch, was er sagte. Er verhandelte hart mit Konzertveranstaltern, Direktoren von Schallplattenfirmen und Rundfunkverantwortlichen von New York bis Berlin und preßte sie aus wie Zitronen. Er verhalf dem »Genie am Piano« zu haushohen Einnahmen, die er mit Spekulationen vervielfachte. In den zahllosen Konten und Wertpapieranlagen fand sich, abgesehen von Bubi, kein Mensch mehr zurecht, was wiederum Marcus Mißtrauen anheizte, der andererseits nicht im Geringsten bereit war, sich in den sauren Finanzkram einweihen zu lassen. Heimlich verachtete er seine »rechte Hand«, was Bubi nicht sonderlich kratzte. Angesichts der Prozente, die er von den Einnahmen abzweigte, ließ sich diese Verachtung verschmerzen.

Schwerer verwinden ließ sich die Bevorzugung anderer. Insbesondere die eines Menschen, der in seinen Augen vor Eitelkeit platzte, ein Klugscheißer war und ein schlauer Schmarotzer. Erkennbare Eifersucht nagte an Bubi Giurgiuca.

Bubi war barfuß, nicht anders als wir. Außer Vona, der nie aus den blinkenden Schuhen stieg, zogen wir in Baltschik keine an. Wir liefen barfuß zu Hafen und Strandbad, wir kraxelten barfuß zur Spitze der Kalkfelsen. Was Bubi von uns unterschied, war die Tatsache, daß er sich seine Fersen und Hacken nie wusch – sie waren verkrustet, sie starrten vor Dreck – und mit Hingabe zwischen den Zehen pulte.

Mit vor Ekel verzerrtem Gesicht schaute der Architekt Bubis grabenden Fingern zu, bis er es nicht mehr aushielt und von seinem Stuhl hochsprang. Unter dem Vorwand, den Zeitschriftenaufsatz beenden zu wollen, mit dem er sich abplage (»Kubische Formen in der Architektur«), verabschiedete er sich aufs Zimmer.

»Endlich sind wir allein«, seufzte Bubi und ließ seine Zehen augenblicklich in Ruhe. Er beeilte sich, ein Telegramm aus der Weste zu kramen, das er mit dem Daumennagel glattstrich. Mit falschem Bedauern, das Rachsucht verriet, sagte er: »Leider muß ich dich an deine Pflichten erinnern. Das ist das Paris-Programm, und ich empfehle, es umgehend einzustudieren. Debussy hast du bisher vermieden, nicht wahr? Und Salle Pleyel verlangt Debussy.« – »Du willst mir den Urlaub verderben, du Lump«, sagte Marcu, »zum Teufel mit deinem Paris-Programm!«, und er stapfte ins Haus, um sich umzuziehen.

Von elf bis halb eins ging er baden. Er tauchte und schwamm in der Tiefe des Golfs, der mal silbrig glitzerte, mal lapislazuliblau war, mal leuchtete wie ein Smaragd. Wenn er wieder ans Ufer kam, schlenderte er pudelnaß zu den Strandbadbesucherinnen. In schulter- und beinfreier Badebekleidung und vor einem Windschutz aus Segeltuch zwischen zwei Holzstecken lagerten sie auf dem Sand, neben sich einen Korb, der ein Buch enthielt, Feigen und Puffmais, Niveacreme und Zeitschriften aus Paris. Lebhaft und schlagfertig waren die Ehefrauen seiner am Hang wohnenden Freunde (sechs Malern, die sich in die Landschaft Baltschiks verliebt hatten). Sie zeigten die weiblichen Reize am freigebigsten. Eitler und wesentlich geiziger waren die Industriellen- und Politikergattinnen. In der Regel begleitet von Bediensteten, die Marcu mit Mißtrauen und Hochmut behandelten, benahmen sie sich stachelig und spitz. Nicht alle verhielten sich abweisend. Bei der einen oder anderen Politikergattin begriff er im Handumdrehen, mehr als willkommen zu sein. Sie langweilten sich in der Ehe zu Tode und schnappten nach Luft wie ein Fisch auf dem Trocknen. Diese verzweifelten Frauen waren Marcu zu anstrengend. Er erlaubte sich nur einen kurzen Flirt, sprang auf die Beine und rannte ins Meer, um sich als toter Mann auf dem Salzwasser treiben zu lassen.

Bisweilen lud er eine der Ehefrauen seiner sechs Freunde zum Essen nach Hause ein. Und auf dem Heimweg traf er ein paar andere Bekannte. Man hockte zusammen in Mamuts Kaffeehaus, wo man Mokka und Wein zu sich nahm. Gegen halb zwei knurrte allen der Magen, der sich nicht mehr mit Weißbrot und Kapern beschwichtigen ließ, und zum Schluß saßen außer dem Hausherrn, Giurgiuca und Vona, Virginia und mir sieben andere Personen am Eßtisch im Garten.

Aise schien mit einem Fingerschnick aus zwanzig Kohlwickeln vierzig zu machen und mit einem Augenaufschlag aus zwei Maisfladen acht. Ruhig und stumm deckte sie sieben Teller mehr, schnitt das Weißbrot, entkorkte die Flaschen.

Man klatschte und tratschte, man politisierte und philosophierte, man stritt und vertrug sich. Man sprach im besonderen vom Schloß der Monarchin – vom Garten aus war nur die Spitze des Schloßminaretts zu erkennen und das Schutzschiff Marias, die auf dem Wasser im Mittagsglast ankernde Jacht – und im allgemeinen von Baltschik.

»Baltschik ist ein heiliger Ort«, sagte Marcu, »an dem ich mich reinigen kann. Wenn ich im Golf bade, kommt es mir vor, als ob ich meine Seelenschlacken abwasche. Und barfuß von Klippe zu Klippe springend, werde ich wieder zum sorglosen Kind. Ich habe nie richtig begriffen, warum.« – »Was uns in dieser Landschaft begegnet, ist Klarheit«, erwiderte Haralamb Vona, »eine Reinheit und Aufrichtigkeit, die wir nur aus der Kindheit kennen.« – »Unsinn«, entgegnete Bubi Giurgiuca, »es ist das besondere Klima. Klima und Nahrung, das sind die entscheidenden Faktoren, die den Menschen zu dem machen, was er ist. Zwischen den Hitze abgebenden Kalkfelsen heizt sich das Tal wie ein Ofen auf. In Baltschik wachsen Mittelmeerpflanzen, die man in Mamaia oder Mangalia nicht finden kann.«

»Ho!« machte Marcu, »dein ewiger Materialismus treibt mich in den Seelenruin.« – »Meinetwegen«, versetzte ein Schiffsadjutant, der Besatzungsmitglied auf der Jacht der Monarchin war, »mit der Pflanzenwelt haben Sie recht, Herr Giurgiuca. Ich war in Tunis und Algier, ich habe Sizilien bereist und die griechischen Inseln. Und unser Schwarzes Meer kenne ich aus dem Effeff, vom Bosporus hoch bis zur Krim. Mit allen Hafenanlagen bin ich vertraut, mit Fischhallen, Zollschuppen, Seemannslokalen. Ich kenne die Vegetation an den Ufern des Schwarzen Meeres, und mit der Pflanzenwelt haben Sie recht.« Mit einem Weißbrotrest tupfte er sich seine fettigen Mundwinkel ab. »Nichtsdestotrotz muß ich scharf widersprechen. Trotz Feigenbaumwald und Granatapfelhain, Aprikosen, Zitronen und Mandeln. Schauen Sie sich um, mein Herr, schauen Sie sich um zu den kahlen und lodernden Kalkfelsen. Und denken Sie nur an die Winter im Tal, wenn das Schwarze Meer gegen die Klippen anrennt. Baltschik ist nicht ausschließlich lieblich, beileibe nicht. Gleichzeitig ist es ein karger und rauher Ort. Kargheit und Lieblichkeit halten sich in dieser Welt in empfindlichem Gleichgewicht.«– »Bravo!« meldete sich eine Stimme. »Und Baltschik ist die Schwelle zum Orient«, sagte Marietta, die an Marcus Seite saß.

Sie war mit Nicolae Matei verheiratet, dem Maler, den alle Welt Nicu rief und der irgendwo auf einer einsamen Bergspitze stand, fern von den Menschen und menschlicher Nichtigkeit, wo er mit der Natur metaphysisch im Einklang war, wie Marietta versicherte. In bekleckertem Hemd, einen fransigen Hut auf der Halbglatze, schwang er den Pinsel und bannte den flirrenden Golf auf die Leinwand. Er war zu weit weg, um dem Freund auf die Finger zu schauen, die sich mit den Knien Mariettas befaßten. Heimlich, versteht sich, nicht vor allen Augen. Niemand bemerkte es, denke ich, außer mir, und ich verdankte mein Wissen Virginia, die absichtlich Messer und Gabel zu Boden fallen ließ.

»Wiederholen!« befahl sie mir zischend wie einem Hund, der Stock oder Knochen zu Frauchen bringen soll, »sonst werde ich losheulen und Sie vor den anderen beschuldigen, mir in die Rippen zu boxen. Ja, ich werde behaupten, Sie tun mir absichtlich weh.« Virginia war eine begnadete Schauspielerin, und ich zweifelte nicht an der Wirkung, die sie bei den anderen erzielte, wenn sie erst zu flennen begann. Mitleid zu erregen, beherrschte sie blendend, oh ja. Ich betrachtete sie voller hilfloser Wut, und sie strahlte mich engelhaft unschuldig an.

Mir blieb keine andere Wahl, als dem Biest zu gehorchen. Ich rutschte vom Platz auf der Bank in die Tiefe, hockte mich in den Staub unterm Tisch und ergriff das Besteck vor den wippenden Beinen Virginias, die mir mit dem Fuß ins Gesicht treten wollte. Um dem Tritt zu entgehen, wich ich schleunigst zur Seite, fiel auf meinen Hintern und saß vor den Knien Mariettas, die rundlich und weich aus dem Kleid ragten. Ich bemerkte, sie hatten Besuch. Victor Marcu erforschte sie mit seinen Fingern, behutsam und liebevoll, frech und verlangend, und Marietta erschauderte sichtlich.

»Und man darf nicht vergessen, wie viele Kulturen diese Gegend erlebt hat«, rief Haralamb Vona aus, »denken Sie an die hellenische, skythische, römische und byzantinische Hochkultur. Nicht zuletzt an die islamische. Und alle sind sie in Baltschik miteinander verschmolzen.« – »Ja, miteinander verschmolzen sind sie«, stimmte Marcu bei und seine Hand schloß sich fest um Mariettas Knie.

Ich kam wieder hoch, legte Messer und Gabel aufs Tischtuch und wischte den Staub von der Hose, was meine Peinigerin nicht beeindruckte. Sie erlaubte mir nur eine kurze Verschnaufpause, betrachtete mich von der Seite, verschlagener als eine Schlange, und wartete ab, bis ich mich meinen Krautwickeln zuwenden wollte. Erneut warf sie Gabel und Messer zu Boden. »Wiederholen, wiederholen!« zischte sie mir ins Ohr.

Marcu machte bei seinen Erkundungen Fortschritte und hielt sich nicht mehr bei den Knien Mariettas auf. Er schob seine Hand zu den Schenkeln, behindert vom Kleid, das nicht hochrutschen wollte, bis Marietta begriff und den Hintern anhob. Marcu zerrte am Stoff, der sich endlich verschieben ließ. Und als er die Schenkel Mariettas freigab, starrte ich auf das Dreieck des Badeanzugs. Marineblau schimmerte es zwischen den sich bereitwillig spreizenden Beinen.

Als ich mich auf meinen Platz setzte, stieß mich der Schiffsadjutant mit dem Ellbogen an. »Was machen Sie dauernd am Boden, mein Herr?« – »Ja, was zieht unseren Freund permanent in die Tiefe?« verlangte der Maler Halunga zu wissen. Alle wandten sich in meine Richtung. »Er will die Dinge von anderer Warte betrachten als wir«, kam mir Haralamb Vona zu Hilfe.

»Victor, wer ist das?« erkundigte sich Marietta und musterte mich voller Argwohn. Sie hatte sich von Marcus Fingern befreit, die engelhaft unschuldig (wie das Gesicht seiner Tochter) ein Streichholz in Brand setzten. Marcu steckte sich seelenruhig eine Havanna an. Erstens dachte er sich seinen Teil. Paffend wanderte er mit den Augen von mir zu Virginia und wieder zu mir. Und um Scham zu empfinden, falls ich seine Kniefummeleien beobachtet hatte, war Marcu zu selbstherrlich.

»Das ist Johann Gottwald«, versetzte er, »der meine Tochter erzieht und in Deutsch unterrichtet. Eigentlich war er Klavierlehrer und er spielte himmlisch Klavier, liebe Freunde. Nicht schlechter als ich, Leute, das ist kein Schmu. Meine Ohren«, er tippte sich an seine Ohren, »sind Zeugen. Bis es zu diesem scheußlichen Unfall kam und er sich drei seiner Finger verletzte. Er kann nicht mehr spielen, der Arme. Und in seiner Not wandte er sich an mich.« – »Er ist aus Deutschland«, bemerkte der Adjutant, ob als Feststellung oder als Frage, war nicht zu entscheiden. »Unsinn«, entgegnete Marcu, wie aus der Pistole geschossen, »er kommt nicht aus Deutschland. Er ist einer von unseren Sachsen.«

Ich wußte, er traute dem Schiffsadjutanten nicht. Er hatte den Mann im Verdacht, Spitzeldienste zu leisten und der Siguranţă Bericht zu erstatten. An diesem Verdacht war nichts Aufsehenerregendes. Er kannte ausschließlich zwei Gruppen von Menschen: seine Freunde und engen Vertrauten oder mit den Geheimdiensten kungelnde Leute. Mit der Siguranţă, dem NKWD, der Gestapo, den Ungarn, Bulgaren oder Türken.

»Klar ist er ein Sachse«, rief Geo Halunga, »das merkt man an seinem Akzent. Unverkennbar, ich sage es euch, unverkennbar.« – »Das ist bloß der deutsche Akzent, mein Herr«, sagte der Adjutant, »und ob der Deutsche Berliner ist oder aus Hermannstadt kommt, weiß man nie.« – »Ich weiß es«, erwiderte Marcu entschieden, »er ist Sohn eines Gastwirts in Kronstadt, er ging aufs Honterus-Lyzeum in Kronstadt, erhielt seine Taufe in der Kathedrale von Kronstadt und Schluß.« Und indem er vom Stuhl aufstand und seine Arme hob, brachte er seine Bekannten zum Schweigen. »Meine Gastfreundschaft sollte man nicht strapazieren, Freunde. Ich muß mich dringend aufs Ohr legen. Und heute nacht ist ja wieder ein Tag.«

Sich von Marietta mit Handkuß verabschiedend und seiner Tochter zuwinkend, verschwand er im Haus. Seine Freunde zerstreuten sich in alle Richtungen. Und ich blieb mit Virginia allein.

Wie andere in Geld schwimmen,
schwimmen wir in Zeit

Sie setzte sich vor mich, im Schneidersitz, fordernd, erwartungsvoll, und sagte nichts. Sie mußte nichts sagen, ich wußte ja, was sie verlangte. Und an diesem Nachmittag war ich nicht unvorbereitet. Meine Geschichte verdankte ich Haralamb Vona, besser: unserer beider vor Mamuts Kaffeehaus verbrachten Nacht.

Mamuts Cafè war ein niedriges Holzhaus am Hafenplatz mit kleinteiligen, spinnennetzverhangenen Fenstern, die in karminroten Rahmen zur Decke hochstiegen. Eine Sitzbank mit Kissen verlief um drei Seiten der Wand.

Wir mieden die stickige Luft im Kaffeehaus, die nach frischem Mokka und Knoblauch roch, und zogen den wackligen Tisch auf der Straße vor, den eine Platane am Mittag beschattete und der im Dunkeln mit Flecken aus Mondschein bedeckt war.

Mamut, der sein Lokal in den Sommermonaten nie zumachte (und es im Winter mit Brettern vernagelte), im Sitzen schlief, auf einem Sack voller Kaffeebohnen, in weißem Hemd, blauer Weste, mit fleckigem Schurz vor den Beinen, einem Abwischtuch auf seiner Schulter und nie ohne Fez auf dem Kopf, hatte ein sonnenverbranntes Gesicht voller Furchen. Seine Augen, die flink waren und freundlich blinzelten, wirkten trotzdem verhangen und von Schwermut umschattet.

»Nichts ist trauriger, als es die Augen von Mamut sind«, sagte Haralamb Vona und nahm einen Schluck aus dem Weinglas, »und warum, ist nicht schwer zu verstehen. Schauen Sie sich nur seine Freunde an.« Er nickte zwei Türken vorm Kaffeehaus zu, die Turbane aufhatten und breite Leibbinden trugen und uns rauchend beobachteten. »Was blieb vom osmanischen Reich von Kleinasien bis Afrika, vom Nahen Osten zur Donau, das unsere Ahnen und Urahnen in Schrecken versetzte? Nichts als Schwermut, mein Freund, nichts als Pfeifenrauch. Um zu verhindern, daß sie in den Harem verschleppt werden, brachte man in Baltschik seinerzeit vierzig Jungfrauen um. Man steckte jede in einen mit Steinen beschwerten Sack und warf sie von den Klippen ins Meer. Was blieb von der Grausamkeit der Ottomanen, des Sultans, des Großwesirs, der Janitscharen? Mamut und seine Freunde sind traurig und weise. Ja, wer nicht mehr herrscht, keine Macht mehr besitzt, der wird endlich weise und findet zur Ruhe, die tiefer ist als eine Neumondnacht.«

Vona bestellte bei Mamut Kaffee. »Wir Rumänen sind ein lustiges Volk«, fuhr er fort, »und was Schwermut und Weisheit angeht, stecken wir in den Kinderschuhen. Ein anderes Volk haben wir niemals beherrscht und ein Reich zu regieren nie erlernt. Und das teilt sich unserem Charakter mit. Kindlich erfreuen wir uns unseres Lebens. Und wie andere in Geld schwimmen, schwimmen wir in Zeit. Wie bei Sahara und bei Pyramiden beginnt unsere Zeit oberhalb der Jahrhunderte.

Ich schreibe bereits eine Ewigkeit an meinem Aufsatz zu ›Kubischen Formen in der Architektur‹. Er war beinahe fertig, als es gegen Weihnacht ging und ich in die Berge zum Skiurlaub aufbrach. Kurz vor der vereinbarten Drucklegung reiste ich zu einem Osterbesuch bei der Mutter ab. Wir nehmen uns dringende Arbeiten vor, sagen wir im April, und verschieben sie auf den Oktober. Und im Oktober erneut auf April. Von Anfang Juni bis Mitte September verbringen wir den Tag auf dem heimischen Kanapee in verdunkelten Stuben bei endlosen Nickerchen. Verwaltungsbeamte, Doktoren, Journalisten und Richter schwingen sich auf den Zug, der ans Meer rollt. Man vertagt Strafprozesse und Operationen und unsere Zeitungen erscheinen nicht mehr.

Ich kannte einen Vertreter von Krupp, der mit Handkoffer, Schreibmaschinenkoffer und seinem Assistenten im Juni in Bukarest eintraf, um einen Vertrag abzuschließen. Man hatte im Vorfeld verhandelt und beiderseits war man sich einig. Es fehlte nichts, bis auf ein Komma in Paragraph zwei, Ort, Vertragsabschlußdatum und Unterschrift. Binnen zweier Tage, das war seine Zeitrechnung, sei der Vertrag unterschrieben und paraphiert.

In seiner Partnerfirma traf er niemanden an, außer dem schlurfenden Hausmeister und einem Wachhund. Firmenchef, Vizechef und Prokuristen und alle anderen Firmenmitarbeiter hatten sich in den Urlaub verabschiedet. Und seine Telefonate erbrachten nichts. Er bekam nur verschlafene Hausangestellte zu fassen, die ahnungslos waren oder ahnungslos taten, was den Aufenthaltsort seiner Partner anging.

Wir begegneten uns an der Calea Victoriei, im Capşa, wo er mit bedripstem Gesicht seinen Whiskey trank und mir sein Leid klagte. Heimzureisen, das lehnte er ab, nein, nicht ohne Vertrag, nein, ergebnislos nicht. Ewig griff er zur Taschenuhr in seiner Weste, um festzustellen, daß wieder zwei kostbare Stunden des Lebens verstrichen waren. Er kalkulierte den Tonnenbetrag Stahl, den man in zwei Stunden verfertigen konnte, und den sich aus dieser Menge ergebenden Umsatz. Auf den verknitterten Seiten des Liefervertrags, den er in der Jakkettasche vor seinem Herzen trug, rechnete er den Gewinn zweier Stunden aus und die Verdoppelung dieser Gewinnsumme am Wertpapiermarkt von New York.

Dieser Mann, seines Zeichens Jurist, war ein Sturkopf, und was schwerer wog: ein Deutscher. Dreieinhalb Monate schwitzte er sich seine Seele in Bukarest aus. Und als sein Vertragspartner wiederkam, sonnenverbrannt und erholt, voller Tatendrang und Ideen, war unser Mann mit den Nerven am Ende. Weinend zeigte er mir seinen frisch unterschriebenen und paraphierten Vertrag. Es ging um ein Handelsvolumen bescheidenen Umfangs, wie ich aus den Zahlen ersah. Und zu meinem Erstaunen erkundigte er sich bei mir, ob der hiesigen Post zu vertrauen sei. Es sei Oktober, beruhigte ich den Mann, und zu keiner Jahreszeit seien wir fleißiger. Bedenklicher sei es ab Mitte November, wenn unsere Kraft bereits wieder erlahme. Er bedankte sich, sichtlich erleichtert. Als ich zu wissen verlangte, warum er den Liefervertrag auf den Postweg bringen wolle, ob er nicht bald abreise, wand sich der Mann vor Verlegenheit. Es dauerte, bis er mir beichtete, stammelnd und rot im Gesicht, seine Heimfahrt verschoben zu haben.

In den kommenden Monaten blieb er dem Capşa fern. Was er in Bukarest trieb, das erfuhr ich aus zweiter Hand. Er hatte sich in eine Telefonistin verliebt und beabsichtigte, sie zu heiraten. Seine Verlobte, die aus der Provinzhauptstadt Iaşi kam, war angeblich eine auffallende Erscheinung mit reinem Gesicht, weißer Haut, schmaler Taille und einem verlockendem Busen. Und bald hieß es im Capşa, sie sei eine Hure, die sich von aller Welt flachlegen lasse. Ob diese Behauptungen zutrafen oder dem Neid entsprangen, kann ich nicht sagen.

Als er wieder ins Capşa kam, war er verheiratet und seine moldawische Ehefrau schwanger. Er verdiente inzwischen sein Geld bei der Firma, die er noch vor kurzem beim Whiskey verflucht hatte, und war stellvertretender Vizechef.

Unsere Begegnung fiel auf einen Tag Ende Mai. Er habe Urlaub verdient, meinte er mit dem Ernst eines Landmanns, den sechs Wochen Arbeit verbittern, und ließ sich von mir ein Hotel an der See empfehlen. Bis Mitternacht blieb er im Capşa, bis Mitternacht spielte er abwechselnd Karten und Schach, kippte englischen Whiskey und rauchte. Und bei einer Bridgepartie mit hohem Geldeinsatz warf er seine goldene Taschenuhr auf den Tisch, als seine Brieftasche leer war. Ja, vollkommen bedenkenlos, ohne zu zaudern, setzte er seine Taschenuhr ein. Und wirkte regelrecht selig, als er sie verlor.

Verstehen Sie mich, lieber Freund? Dieser Mann hatte sich von uns anstecken lassen. Kindlich erfreute er sich seines Lebens und war reich, reich an Zeit, sein Besitz konnte es mit den Kruppschen Millionen aufnehmen!«

Vona verlangte ein neues Glas Wein, und wir schauten versonnen zum gelbroten Mond hoch, um den ein Schwarm Nachtwolken flog. Am Fluß in der Talsenke quakte ein Frosch und ein Fuchs bellte zwischen den Klippen. Und aus der Ferne drang Blechblasmusik, die vom Haus Victor Marcus am Hang kam. Sein Grammophon schmetterte auf der Terrasse, wo er mit Bekannten und Freunden das Tanzbein schwang, zu Schlagern aus Bukarest, Foxtrott und Tango.

Wir gingen erst heim, als das Grammophon schwieg und der Fackelschein auf der Terrasse erlosch. Es war ruhig im Haus, keine Seele mehr wach. »Und wieder herrscht Gottes barmherzige Stille«, scherzte Haralamb Vona zum Abschied. Ich ging in mein Zimmer, wo ich zur Rumänischgrammatik griff und auf dem Bettrand im Gaslampenschein ein paar Stichpunkte auf das Papier warf.

Ein preußischer Posten vorm Reich
der Gesetze und Pflichten

»Wir hatten daheim eine Standuhr, die mindestens einhundert Jahre alt war und aus einer Dresdner Uhrenwerkstatt stammte. Sie wies keinen Schnickschnack auf, keine Verzierungen, keinen Figurenzug, nichts, was besonders ins Auge stach. Ein schlichter Nußbaumholzkasten mit Ziffernblatt aus, mittlerweile beschlagenem, Messing. Und sie war riesige ein Meter neunzig hoch.«

»Das ist nicht riesig«, versetzte Virginia.

»Wenn man ein Knirps ist, kommt einem das riesig vor, und zu dieser Zeit war ich ein Knirps. Außerdem stand sie im niedrigen Hausflur, der nie einen Sonnenstrahl abbekam und es mit unserem Kohlenkeller aufnehmen konnte. Um so riesiger kam sie mir vor. Wenn sie in meinem Beisein zum Stundenschlag ansetzte, erschauderte ich bis ins Mark. Und dieses Rasseln und Husten, das aus tiefster Tiefe kam, war erst der Anfang. Beim Glockenschlag donnerte es wie Kanonen, und in unseren Zimmern begann es zu klirren und zu scheppern. Ich hielt mir meine Ohren zu, um nicht zu ertauben. Zudem schlug sie dreizehn, am Mittag, nicht eins, und am Abend, um acht, herrschte sie mich gleich zwanzigmal mit eiserner Strenge zu Bett.